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MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG Nr. 4 (491) FEBRUAR 2019 06 RUSSLANDS NACHBARN Erläuterungen des Obersten Gerichts zu Vertragsverhältnissen A m 25. Dezember 2018 hat das Plenum des Obersten Gerichts die Verordnung Nr. 49 „Über einige Fragen der Anwendung allge- meiner Bestimmungen des Zivilge- setzbuches der Russischen Föderation zum Abschluss und zur Auslegung von Verträgen“ verabschiedet und damit eine größere Anzahl von Erläuterungen in diesem Bereich gegeben. Das Oberste Gericht stellte klar, dass ein Ver- trag nicht nur nach der offiziellen Annah- me des Angebots zum Vertragsschluss als abgeschlossen gilt, sondern auch dann, wenn die Parteien die Vertragsbedingun- gen bei Verhandlungen erarbeitet und vereinbart haben beziehungsweise wenn die Parteien tatsächlich mit der Vertragser- füllung begonnen haben. So gilt zum Bei- spiel ein Liefervertrag als abgeschlossen, auch wenn er nicht unterzeichnet wurde, der Käufer jedoch eine Vorauszahlung für die Ware geleistet hat. Für den Verkäufer entsteht in diesem Fall die Pflicht, die Ware an den Käufer zu liefern. Laut der Verordnung Nr. 49 sind die Gerich- te berechtigt, bei einer zwangsweisen Durchsetzung des Vertragsabschlusses mit der Gegenpartei auf dem Gerichts- weg die Meinungsverschiedenheiten der Vertragsparteien beizulegen, Unstim- migkeiten oder Widersprüche im Vertrag eigenständig zur Diskussion zu stellen und Bedingungen in einer anderen als der von den Parteien vorgeschlagenen Fassung festzulegen. Wenn das Gericht über den Abschluss eines Vertrages entscheidet, gilt der Vertrag ab dem Zeitpunkt des Inkraft- tretens der Entscheidung als abgeschlos- sen. Eine separate Vertragsunterzeichnung ist nicht mehr erforderlich. Eine interessante Erläuterung für die Aus- legung eines Vertrags besteht darin, dass seine strittigen Punkte nicht im Sinne der Partei, die den Vertragsentwurf erstellt hat (in der Regel ein professioneller Teilnehmer des Geschäftsverkehrs – eine Bank, eine Versicherungsgesellschaft usw.) gedeutet werden sollten, sondern zu Gunsten der Gegenpartei. Das Oberste Gericht hat auch erneut erklärt, dass ein Vertrag nicht nach seinem Titel, sondern nach dem Wesen der Beziehungen der Parteien ausgelegt werden sollte. In Bezug auf den Vorvertrag (in dem die Parteien die Absicht festhalten, den Haupt- vertrag später abzuschließen) betonte das Oberste Gericht, dass dieser Vertrag schrift- lich geschlossen werden muss (seine staat- liche Registrierung ist jedoch in keinem Fall erforderlich). Es reicht aus, im Vorvertrag den Gegenstand (d.h. das Hauptrechts- verhältnis) des zukünftigen Vertrags zu definieren. Die Angabe anderer Punkte ist nicht obligatorisch. Ein Vorvertrag kann auch dann geschlossen werden, wenn er noch nicht ausgeführt werden kann (z.B. wenn die Ware, die an den Käufer geliefert werden soll, noch nicht hergestellt wurde). Wenn eine Partei des Vorvertrags sich dem Abschluss des Hauptvertrags entzieht, kann ein solcher Streitfall innerhalb von sechs Monaten vor Gericht gebracht werden. Das Oberste Gericht hat auch Beispiele für die Bestimmungen von Rahmenverträgen angeführt – grundsätzliche Bestimmun- gen wie das generelle Vorgehen bei der Vermarktung einer Ware, die Höhe der Vergütung, die Haftung der Parteien, das Verfahren zur Lösung von Streitfragen und das zuständige Gericht. Dabei ist es nicht erforderlich, einen Hinweis auf den Rahmenvertrag in Einzelverträge aufzu- nehmen, die auf der Grundlage eines Rahmenvertrages geschlossen werden. In Einzelverträgen können Angaben zu Lie- ferterminen, der Menge und der Qualität der Ware gemacht werden. Die Verordnung Nr. 49 enthält außerdem Erläuterungen zum Abschluss von Abon- nementverträgen. In solchen Verträgen (sie werden zum Beispiel für die perma- nente Erbringung von Dienstleistungen geschlossen) ist es möglich, sowohl das genaue Ausführungsvolumen als auch die Obergrenze der Forderungen des Abon- nenten festzulegen. Wenn der Abonnent beschließt, keine vertraglichen Leistun- gen mehr in Anspruch zu nehmen oder nur in einem geringeren Umfang, muss er dennoch Abonnementzahlungen leisten, es sei denn, das Gesetz oder der Vertrag sehen etwas anderes vor. Eine weitere Erläuterung des Obersten Gerichts betrifft die Zusicherungen der Parteien in Bezug auf die Umstände eines Geschäftsabschlusses (z.B. zu den vorteil- haften Eigenschaften einer Ware oder dazu, dass die Gegenpartei keine Gesell- schafterzustimmung für das Geschäft benötigt). Solche Zusicherungen werden dem Geschäftsakt gleichgestellt und kön- nen, wenn sie unwahrhaftig sind, vor- schriftsgemäß für ungültig erklärt werden. Elena Balashova, LL.M., Juristin Geschäftsführende Partnerin der Anwaltskanzlei Balashova Legal Consultants Partnerin bei Balashova, Bruck & Partners www.balashova-legal.com Elena Balashova Leben im Ausnahmezustand Fünf Jahre Krieg in der Ostukraine: Besuch in einem Dorf an der Frontlinie Stell dir vor, es ist Krieg und du bist mittendrin: Für die Ein- wohner von Opytne bei Donezk ist das bittere Realität – und auch im fünften Kriegswinter kein Ende in Sicht. Wie lebt es sich in dem Dorf auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet? Ein Orts- termin. Von André Widmer Jelena Lebedewa steht am Esstisch in einem Gebäude neben dem vom Krieg stark gezeichneten Haus der Familie in Opytne. Draußen ist es grau und kalt. Jelena rezitiert aus einem eigenen Gedicht. „Die Ukra- ine braucht uns einfach nicht, so eine einfache Antwort auf viele Fra- gen. Die Ukraine wurde zur Stief- mutter und hat unsere Schicksale aufgegeben. Sie schaut uns nicht mehr an, hat die Augen geschlossen und uns mit Leichtigkeit lebendig begraben.“ Das ostukrainische Opytne, wo Jelena und ihr Mann Rodion zu Hause sind, ist nur eineinhalb Kilometer von der Start- und Lan- debahn des zerstörten Flughafens Donezk entfernt, dessen zwei Ter- minals heute Ruinen sind. In dem Dorf leben noch 38 der vor dem Krieg rund 750 Einwohner. Nach zwei schweren Schlachten wurde die ukrainische Armee 2015 von den prorussischen Separatisten vom Gelände des Flughafens ver- trieben und zog sich an den Rand des Flugfeldes zurück. Zwischen Opytne und dem Flughafen befin- den sich nun die Schützengräben auf ukrainischer Seite. Opytne liegt in der sogenannten grauen Zone, dem 500 Kilometer langen und teils mehrere Kilome- ter breiten Frontstreifen. In die- ser Zone befinden sich Dutzende von Ortschaften, die teilweise nur schwer erreichbar und von der Versorgung von außen fast gänz- lich abgeschnitten sind, erst recht im Winter. Die Zufahrt beispiels- weise nach Opytne aus der benach- barten Kleinstadt Awdijiwka führt über einen Feldweg, aus Wodjane über einen Feldweg und anschlie- ßend über die Umgehungsstraße Donezk–Awdijiwka, die aus Grün- den des Frontverlaufs aber eigent- lich gesperrt ist. Schwere Militär- fahrzeuge beschädigen zusätzlich die Feldwege und machen diese für die Zivilisten nur schlechter passierbar. Idealerweise benutzt man ein geländegängiges Fahrzeug für diese Verbindungen. An den Straßenrändern warnen Schilder mit Totenkopfbild vor der Gefahr von Minen. Die meisten der verbliebenen Menschen in Opytne sind Rent- ner. So wie Maria Gorpinitsch, die gerade auch auf einem Bett bei den Lebedews sitzt. Oft reicht die monatliche Rente von durch- schnittlich etwa 80 Euro nur knapp fürs Überleben – wenn überhaupt. Gerade ältere Menschen haben kaum Alternativen, um wegzuzie- hen. Marias Sohn beispielsweise ist bei einem Granateneinschlag vor einigen Jahren ums Leben gekommen. „Ich gehe nicht weg, das ist mein Land“ War ein Wegzug nie ein Thema für die Lebedews? Rodion fragt: „Was wird dann aus den Alten? Sie sind von uns abhängig. Wie können wir die alte Maria alleine lassen?“ Fünf Jahre dauert der Krieg nun schon an und man sei keinen Schritt vor- angekommen. Die Menschen seien Geiseln der politischen Situation. „Ich gehe definitiv nicht weg, das ist mein Land.“ Wer Opytne verlässt, dessen Haus ist definitiv verloren. Maro- deure haben auch hier schon ihr Unwesen getrieben, Brauchbares aus den Häusern und Werkstätten gestohlen. Sogar die kaputten über- irdischen Stromleitungen sind vor Diebstahl nicht sicher. 2017 berich- tete das ukrainische Newsportal Hromadske.ua von einer Einwoh- nerin aus der Ortschaft Pisky. Sie schilderte, wie ein Bekannter von ihr, welcher bei der Polizei arbei- tet, einen Lastwagen einer ukraini- schen Armeeinheit festsetzte, wel- cher Gartentore von Privatgrund- stücken und aus Gärten mitführte. Wasser-, Strom- und Gasver- sorgung funktionieren in Opytne nicht mehr. In Rodions und Jelenas Wohnraum kommt der Strom aus einer Autobatterie, das Wasser aus einem Kanister über dem Spültisch, geheizt wird mit einem Holzofen. „Ärzte ohne Grenzen“ besuchen die Bedürftigen hier immerhin einmal pro Monat. „Diesen Monat sind sie nicht gekommen, weil die Straße unpassierbar war“, erzählt Elena. Rodion Lebedew ist die gute Seele des Dorfes. Er ist der örtli- che Koordinator der ukrainischen Hilfsorganisation Proliska, die ihrerseits mit dem UN-Flücht- lingshilfswerk UNHCR zusam- menarbeitet. Er versorgt hilfsbe- dürftige Dorfeinwohner mit dem Nötigsten. Nach seiner Darstellung haben sich Vertreter der staatli- chen Gesundheitsbehörde in den fünf Kriegsjahren nur wenige Male in Opytne blicken lassen. Dorfbe- wohner vermuten zudem, dass man sie aus dem Gebiet weghaben wolle, um eine Pufferzone nahe der Front zu errichten. Darum erhalten die Dörfler wohl auch kaum Hilfe von staatlicher Seite und müssen sich auf private Initiativen oder Hilfsor- ganisationen verlassen. Staat beteiligt sich an Umzugskosten In der Tat gibt es Angebote für umzugswillige Menschen aus den Frontgebieten weg in entlegene- re Dörfer: Der ukrainische Staat übernimmt im Rahmen des auf intern Vertriebene angepassten „Lebendig begraben“: Die Lebedews und Nachbarinnen in ihrer Behausung in Opytne. André Widmer (2)

Leben im Ausnahmezustand · 2019. 3. 5. · auch im fünften Kriegswinter kein Ende in Sicht. Wie lebt es sich in dem Dorf auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet? Ein Orts-termin. Von

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  • MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG Nr. 4 (491) FEBRUAR 201906 R U S S L A N D S N A C H B A R N

    Erläuterungen des Obersten Gerichts zu Vertragsverhältnissen

    Am 25. Dezember 2018 hat das Plenum des Obersten Gerichts die Verordnung Nr. 49 „Über einige Fragen der Anwendung allge-meiner Bestimmungen des Zivilge-setzbuches der Russischen Föderation zum Abschluss und zur Auslegung von Verträgen“ verabschiedet und damit eine größere Anzahl von Erläuterungen in diesem Bereich gegeben.Das Oberste Gericht stellte klar, dass ein Ver-trag nicht nur nach der offiziellen Annah-me des Angebots zum Vertragsschluss als abgeschlossen gilt, sondern auch dann,

    wenn die Parteien die Vertragsbedingun-gen bei Verhandlungen erarbeitet und vereinbart haben beziehungsweise wenn die Parteien tatsächlich mit der Vertragser-füllung begonnen haben. So gilt zum Bei-spiel ein Liefervertrag als abgeschlossen, auch wenn er nicht unterzeichnet wurde, der Käufer jedoch eine Vorauszahlung für die Ware geleistet hat. Für den Verkäufer entsteht in diesem Fall die Pflicht, die Ware an den Käufer zu liefern.Laut der Verordnung Nr. 49 sind die Gerich-te berechtigt, bei einer zwangsweisen Durchsetzung des Vertragsabschlusses mit der Gegenpartei auf dem Gerichts-weg die Meinungsverschiedenheiten der Vertragsparteien beizulegen, Unstim-migkeiten oder Widersprüche im Vertrag eigenständig zur Diskussion zu stellen und Bedingungen in einer anderen als der von den Parteien vorgeschlagenen Fassung festzulegen. Wenn das Gericht über den Abschluss eines Vertrages entscheidet, gilt der Vertrag ab dem Zeitpunkt des Inkraft-tretens der Entscheidung als abgeschlos-sen. Eine separate Vertragsunterzeichnung ist nicht mehr erforderlich.

    Eine interessante Erläuterung für die Aus-legung eines Vertrags besteht darin, dass seine strittigen Punkte nicht im Sinne der Partei, die den Vertragsentwurf erstellt hat (in der Regel ein professioneller Teilnehmer des Geschäftsverkehrs – eine Bank, eine Versicherungsgesellschaft usw.) gedeutet werden sollten, sondern zu Gunsten der Gegenpartei. Das Oberste Gericht hat auch erneut erklärt, dass ein Vertrag nicht nach seinem Titel, sondern nach dem Wesen der Beziehungen der Parteien ausgelegt werden sollte.In Bezug auf den Vorvertrag (in dem die Parteien die Absicht festhalten, den Haupt-vertrag später abzuschließen) betonte das Oberste Gericht, dass dieser Vertrag schrift-lich geschlossen werden muss (seine staat-liche Registrierung ist jedoch in keinem Fall erforderlich). Es reicht aus, im Vorvertrag den Gegenstand (d.h. das Hauptrechts-verhältnis) des zukünftigen Vertrags zu definieren. Die Angabe anderer Punkte ist nicht obligatorisch. Ein Vorvertrag kann auch dann geschlossen werden, wenn er noch nicht ausgeführt werden kann (z.B. wenn die Ware, die an den Käufer geliefert

    werden soll, noch nicht hergestellt wurde). Wenn eine Partei des Vorvertrags sich dem Abschluss des Hauptvertrags entzieht, kann ein solcher Streitfall innerhalb von sechs Monaten vor Gericht gebracht werden.Das Oberste Gericht hat auch Beispiele für die Bestimmungen von Rahmenverträgen angeführt – grundsätzliche Bestimmun-gen wie das generelle Vorgehen bei der Vermarktung einer Ware, die Höhe der Vergütung, die Haftung der Parteien, das Verfahren zur Lösung von Streitfragen und das zuständige Gericht. Dabei ist es nicht erforderlich, einen Hinweis auf den Rahmenvertrag in Einzelverträge aufzu-nehmen, die auf der Grundlage eines Rahmenvertrages geschlossen werden. In Einzelverträgen können Angaben zu Lie-ferterminen, der Menge und der Qualität der Ware gemacht werden.Die Verordnung Nr. 49 enthält außerdem Erläuterungen zum Abschluss von Abon-nementverträgen. In solchen Verträgen (sie werden zum Beispiel für die perma-nente Erbringung von Dienstleistungen geschlossen) ist es möglich, sowohl das genaue Ausführungsvolumen als auch die

    Obergrenze der Forderungen des Abon-nenten festzulegen. Wenn der Abonnent beschließt, keine vertraglichen Leistun-gen mehr in Anspruch zu nehmen oder nur in einem geringeren Umfang, muss er dennoch Abonnementzahlungen leisten, es sei denn, das Gesetz oder der Vertrag sehen etwas anderes vor.Eine weitere Erläuterung des Obersten Gerichts betrifft die Zusicherungen der Parteien in Bezug auf die Umstände eines Geschäftsabschlusses (z.B. zu den vorteil-haften Eigenschaften einer Ware oder dazu, dass die Gegenpartei keine Gesell-schafterzustimmung für das Geschäft benötigt). Solche Zusicherungen werden dem Geschäftsakt gleichgestellt und kön-nen, wenn sie unwahrhaftig sind, vor-schriftsgemäß für ungültig erklärt werden.

    Elena Balashova, LL.M., JuristinGeschäftsführende Partnerin der Anwaltskanzlei Balashova Legal ConsultantsPartnerin bei Balashova, Bruck & Partnerswww.balashova-legal.com

    Elena Balashova

    Leben im AusnahmezustandFünf Jahre Krieg in der Ostukraine: Besuch in einem Dorf an der Frontlinie

    Stell dir vor, es ist Krieg und du bist mittendrin: Für die Ein-wohner von Opytne bei Donezk ist das bittere Realität – und auch im fünften Kriegswinter kein Ende in Sicht. Wie lebt es sich in dem Dorf auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet? Ein Orts-termin.

    Von André Widmer

    Jelena Lebedewa steht am Esstisch in einem Gebäude neben dem vom Krieg stark gezeichneten Haus der Familie in Opytne. Draußen ist es grau und kalt. Jelena rezitiert aus einem eigenen Gedicht. „Die Ukra-ine braucht uns einfach nicht, so eine einfache Antwort auf viele Fra-gen. Die Ukraine wurde zur Stief-mutter und hat unsere Schicksale aufgegeben. Sie schaut uns nicht mehr an, hat die Augen geschlossen und uns mit Leichtigkeit lebendig begraben.“

    Das ostukrainische Opytne, wo Jelena und ihr Mann Rodion zu Hause sind, ist nur eineinhalb Kilometer von der Start- und Lan-debahn des zerstörten Flughafens Donezk entfernt, dessen zwei Ter-minals heute Ruinen sind. In dem Dorf leben noch 38 der vor dem Krieg rund 750 Einwohner. Nach zwei schweren Schlachten wurde die ukrainische Armee 2015 von den prorussischen Separatisten vom Gelände des Flughafens ver-trieben und zog sich an den Rand des Flugfeldes zurück. Zwischen Opytne und dem Flughafen befin-den sich nun die Schützengräben auf ukrainischer Seite.

    Opytne liegt in der sogenannten grauen Zone, dem 500 Kilometer langen und teils mehrere Kilome-ter breiten Frontstreifen. In die-ser Zone befinden sich Dutzende

    von Ortschaften, die teilweise nur schwer erreichbar und von der Versorgung von außen fast gänz-lich abgeschnitten sind, erst recht im Winter. Die Zufahrt beispiels-weise nach Opytne aus der benach-barten Kleinstadt Awdijiwka führt über einen Feldweg, aus Wodjane über einen Feldweg und anschlie-ßend über die Umgehungsstraße Donezk–Awdijiwka, die aus Grün-den des Frontverlaufs aber eigent-lich gesperrt ist. Schwere Militär-fahrzeuge beschädigen zusätzlich die Feldwege und machen diese für die Zivilisten nur schlechter passierbar. Idealerweise benutzt man ein geländegängiges Fahrzeug für diese Verbindungen. An den Straßenrändern warnen Schilder mit Totenkopfbild vor der Gefahr von Minen.

    Die meisten der verbliebenen Menschen in Opytne sind Rent-ner. So wie Maria Gorpinitsch, die gerade auch auf einem Bett bei den Lebedews sitzt. Oft reicht die monatliche Rente von durch-schnittlich etwa 80 Euro nur knapp fürs Überleben – wenn überhaupt. Gerade ältere Menschen haben kaum Alternativen, um wegzuzie-hen. Marias Sohn beispielsweise ist bei einem Granateneinschlag vor einigen Jahren ums Leben gekommen.

    „Ich gehe nicht weg, das ist mein Land“

    War ein Wegzug nie ein Thema für die Lebedews? Rodion fragt: „Was wird dann aus den Alten? Sie sind von uns abhängig. Wie können wir die alte Maria alleine lassen?“ Fünf Jahre dauert der Krieg nun schon an und man sei keinen Schritt vor-angekommen. Die Menschen seien Geiseln der politischen Situation.

    „Ich gehe definitiv nicht weg, das ist mein Land.“

    Wer Opytne verlässt, dessen Haus ist definitiv verloren. Maro-deure haben auch hier schon ihr Unwesen getrieben, Brauchbares aus den Häusern und Werkstätten gestohlen. Sogar die kaputten über-irdischen Stromleitungen sind vor Diebstahl nicht sicher. 2017 berich-tete das ukrainische Newsportal Hromadske.ua von einer Einwoh-nerin aus der Ortschaft Pisky. Sie schilderte, wie ein Bekannter von ihr, welcher bei der Polizei arbei-tet, einen Lastwagen einer ukraini-schen Armeeinheit festsetzte, wel-cher Gartentore von Privatgrund-stücken und aus Gärten mitführte.

    Wasser-, Strom- und Gasver-sorgung funktionieren in Opytne

    nicht mehr. In Rodions und Jelenas Wohnraum kommt der Strom aus einer Autobatterie, das Wasser aus einem Kanister über dem Spültisch, geheizt wird mit einem Holzofen. „Ärzte ohne Grenzen“ besuchen die Bedürftigen hier immerhin einmal pro Monat. „Diesen Monat sind sie nicht gekommen, weil die Straße unpassierbar war“, erzählt Elena.

    Rodion Lebedew ist die gute Seele des Dorfes. Er ist der örtli-che Koordinator der ukrainischen Hilfsorganisation Proliska, die ihrerseits mit dem UN-Flücht-lingshilfswerk UNHCR zusam-menarbeitet. Er versorgt hilfsbe-dürftige Dorfeinwohner mit dem Nötigsten. Nach seiner Darstellung haben sich Vertreter der staatli-

    chen Gesundheitsbehörde in den fünf Kriegsjahren nur wenige Male in Opytne blicken lassen. Dorfbe-wohner vermuten zudem, dass man sie aus dem Gebiet weghaben wolle, um eine Pufferzone nahe der Front zu errichten. Darum erhalten die Dörfler wohl auch kaum Hilfe von staatlicher Seite und müssen sich auf private Initiativen oder Hilfsor-ganisationen verlassen.

    Staat beteiligt sich an Umzugskosten

    In der Tat gibt es Angebote für umzugswillige Menschen aus den Frontgebieten weg in entlegene-re Dörfer: Der ukrainische Staat übernimmt im Rahmen des auf intern Vertriebene angepassten

    „Lebendig begraben“: Die Lebedews und Nachbarinnen in ihrer Behausung in Opytne.

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