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Das Modell Byzanz und seine Einfliisse auf die Lebenswelt Osteuropas Peter Fischer-Appelt 1. Byzanz aIs Zentrum und Peripherie Europas "Geschichtsschreibung ist eine Tochter der Mythologie, runde zweitausend Jahre alt, doch wie es scheint, immer noch nicht ganz emanzipiert." Gilt dieses Urteil in besonderer Weise fUr den Umgang mit der Geschichte des Balkans, den dort Teile der nationalen Historiographie pflegen, so trifft es doch in gleichem MaJ3e auf die westliche Sicht desjenigen Anteils der europaischen Geschichte zu, der yom Einjluss des byzantinischen Reichs bestimmt wurde. Hans-Georg Beck (1910-1999), der Historiker der Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich, macht mit jenem Urteil darauf aufrnerksam, dass die europaische Geschichtsschreibung tiber Generationen hinweg dem ostlichen Bereich der europaischen Kultur das Sig- num der Irrelevanz aufgepragt hat. Voraussetzung dafUr war und ist ein untergrtindig kosmologisch inspirierter "Kult der Mitte", der die eigene, vertraute Umgebung zum normativen Zentrum der Weltorientierung erhob. Dieser westliche Narzissmus habe insbesondere das "Modell Byzanz" in verfalschender Bewertung seiner histori- schen Leistungen "an den Randern der europaischen Geschichte" angesiedelt und so unser Europabild auf das westliche Drittel des Kontinents verengt. I Es Wtirde in der Tat gentigen, als Beleg fUr diese Unterschatzung der byzantini- schen Kultur das Schlagwort "Byzantinismus" anzufiihren, mit dem sein mutmaJ3li- cher Erfmder, der Publizist Maximilian Harden (1861-1927), das unterwUrfige Ge- habe am Hofe des letzten deutschen Kaisers an den Pranger stellte. Doch nicht nur in der deutschen, sondern in allen westeuropaischen Sprachen gilt das Wort "byzanti- nisch" als Synonym fUr Dekadenz, UnterwUrfigkeit und leeres Zeremonienwesen. Dem "schismatischen" Osten ist durch ein lange gepflegtes kirchliches Feindbild ein Negativ-Image aufgepragt worden, das im aufkomrnenden Rationalismus des 18. Jahrhunderts zur Fratze einer "vernunftlosen" Gesellschaft geriet, die man in dunklem christlichen Obskurantismus erstarrt sah. Kein anderer als der beriihmte britische Historiker Edward Gibbon (1737-1794) hat dies em Vorurteil zu lang anhaI- tender wissenschaftlicher Geitung verholfen, ais er in seinem sechsbandigen Haupt- werk History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776-1788) in glanzen- dem Stil die These von der Schuld des Christentums am Untergang Roms vertrat und den aufklarerischen Fortschritt des Westens von der langen Agonie des Ostens im angeblich "fmsteren Mitteialter" absetzte. 2 So wenig dieses Urteil fUr die byzanti- Hans-Georg Beck: An den Randem der europ!1ischen Geschichte. Das Modell Byzanz. Festvortrag. 2 In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1975, 1-18, 1. Edward Gibbon: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Ed. by John Bagnell Bury. 7 Vols. London 1896-1900; dt.: Die Geschichte des Verfalles und Untergangs des r(jmischen Welt- R. Hering et al. (eds.), Lebendige Sozialgeschichte © Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2003

Lebendige Sozialgeschichte || Das Modell Byzanz und seine Einflüsse auf die Lebenswelt Osteuropas

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Das Modell Byzanz und seine Einfliisse auf die Lebenswelt Osteuropas

Peter Fischer-Appelt

1. Byzanz aIs Zentrum und Peripherie Europas

"Geschichtsschreibung ist eine Tochter der Mythologie, runde zweitausend Jahre alt, doch wie es scheint, immer noch nicht ganz emanzipiert." Gilt dieses Urteil in besonderer Weise fUr den Umgang mit der Geschichte des Balkans, den dort Teile der nationalen Historiographie pflegen, so trifft es doch in gleichem MaJ3e auf die westliche Sicht desjenigen Anteils der europaischen Geschichte zu, der yom Einjluss des byzantinischen Reichs bestimmt wurde. Hans-Georg Beck (1910-1999), der Historiker der Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich, macht mit jenem Urteil darauf aufrnerksam, dass die europaische Geschichtsschreibung tiber Generationen hinweg dem ostlichen Bereich der europaischen Kultur das Sig­num der Irrelevanz aufgepragt hat. V oraussetzung dafUr war und ist ein untergrtindig kosmologisch inspirierter "Kult der Mitte", der die eigene, vertraute Umgebung zum normativen Zentrum der Weltorientierung erhob. Dieser westliche Narzissmus habe insbesondere das "Modell Byzanz" in verfalschender Bewertung seiner histori­schen Leistungen "an den Randern der europaischen Geschichte" angesiedelt und so unser Europabild auf das westliche Drittel des Kontinents verengt. I

Es Wtirde in der Tat gentigen, als Beleg fUr diese Unterschatzung der byzantini­schen Kultur das Schlagwort "Byzantinismus" anzufiihren, mit dem sein mutmaJ3li­cher Erfmder, der Publizist Maximilian Harden (1861-1927), das unterwUrfige Ge­habe am Hofe des letzten deutschen Kaisers an den Pranger stellte. Doch nicht nur in der deutschen, sondern in allen westeuropaischen Sprachen gilt das Wort "byzanti­nisch" als Synonym fUr Dekadenz, UnterwUrfigkeit und leeres Zeremonienwesen. Dem "schismatischen" Osten ist durch ein lange gepflegtes kirchliches Feindbild ein Negativ-Image aufgepragt worden, das im aufkomrnenden Rationalismus des 18. Jahrhunderts zur Fratze einer "vernunftlosen" Gesellschaft geriet, die man in dunklem christlichen Obskurantismus erstarrt sah. Kein anderer als der beriihmte britische Historiker Edward Gibbon (1737-1794) hat dies em Vorurteil zu lang anhaI­tender wissenschaftlicher Geitung verholfen, ais er in seinem sechsbandigen Haupt­werk History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776-1788) in glanzen­dem Stil die These von der Schuld des Christentums am Untergang Roms vertrat und den aufklarerischen F ortschritt des Westens von der langen Agonie des Ostens im angeblich "fmsteren Mitteialter" absetzte.2 So wenig dieses Urteil fUr die byzanti-

Hans-Georg Beck: An den Randem der europ!1ischen Geschichte. Das Modell Byzanz. Festvortrag. 2 In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1975, 1-18, 1.

Edward Gibbon: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Ed. by John Bagnell Bury. 7 Vols. London 1896-1900; dt.: Die Geschichte des Verfalles und Untergangs des r(jmischen Welt-

R. Hering et al. (eds.), Lebendige Sozialgeschichte© Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2003

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nische Geschichte und Kultur wenigstens bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts zutrifft, so hartnackig halt es sich doch als Grundschema der Abgrenzung bis heute, wenn wir etwa die prononciert vorgetragene These von Herbert Kremp (* 1928) in der Welt vom 6. April 1999 lesen: "Die standig verbreitete Behauptung, die Kriege von 1991 (Angriff der Serben auf Slovenien und Kroatien) bis zur Kosovo-Inter­vention fanden ,mitten in Europa' statt, trifft nur im geographischen Sinne zu -hingegen weder im politischen noch im kulturellen." So bleibt unser Verstandnis von Europa, seinen Zentren und seiner Peripherie, bis heute umstritten.3

Diese Oberlegungen emeuem die Einsicht, dass Europa nicht aus einer einzigen Lebenswelt, sondem aus einer Pluralitat von Lebenswelten besteht. Dem entspricht die Beobachtung, dass Europa in seiner Geschichte niemals nur ein Zentrum hatte, von dem politische Macht und kulturelle Ausstrahlung ausgingen. Die europaische Kultur beruht historisch auf der ebenso fruchtbaren Beriihrung wie konfliktreichen Durchdringung, aber auch zurUckweisenden Ausgrenzung solcher Lebenswelten. Sie beruht aktuell auf der Flihigkeit, diese Lebenswelten zu verstehen, ihre Symbiosen zu erhalten, ihren Gegensatz zu mildem und Rationalitat sowohl im Umgang mit

reiches, nebst einer biographischen Skizze Uber den Verfasser. Hg. von Johann Sporschil. 2. Aufl. Leipzig 1843.

3 Der Kampf urn die "Mitte" Europas wird neuerdings auch in jener Konstruktion erkennbar, welche die Zugehorigkeit der urn die Jahrtausendwende entstandenen Reiche in BOhmen, Polen und Ungaro zum Abendland mit dem Streben nach Teilhabe an der lateinisch-christlichen Kultur begrUndet: ein Projekt der im Februar 1991 gegrUndeten Visegrad-Gruppe (polen, Slowakei, Tschechien, Ungam), urn die bevorzugte Aufnahme der zugehOrigen Staaten in die Europaische Union in einer Allianz mit dem wiedervereinigten Deutschland der Kohl-Ara auch historisch zu legitimieren. Dieses Konzept liegt der groB angelegten und umfangreich erlauterten Ausstellung "Europas Mitte urn 1000" zugrunde, die unter der Schirmherrschaft der runf Staatsprllsidenten als 27. Europaratsausstellung zwischen dem 20.8.2000 und dem 29.9.2002 in den Stadten Budapest, Krakau, Berlin, Mannheim, Prag und Bratisla­va gezeigt wurde; deutsche Ausgabe: Europas Mitte urn 1000. Hg. von Alfried Wieczorek und Hans­Martin Hinz. 3 Bde. Stuttgart 2000. Das Konzept der Ausstellung folgt dem Postulat des polnischen Historikers Oskar Halecki (1891-1976), der nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst ein zwischen West­europa und Osteuropa gelegenes "Mitteleuropa" umriss, das einen westlich-germanischen und einen slavisch-ungarischen Teil in sich vereine. Allerdings vertrat Halecki in dieser geographischen Dreitei­lung eine groB gedachte kulturelle Gemeinschaft Europas, deren christlich-Okumenisches Geschichts­bild er den Postulaten des historischen Materialismus entgegensetzte; Oscar Halecki: The Limits and Divisions of European History. London-New York 1950, 18,35, 121,202. Sein Entwurf schloss die westeuropaisch-atlantische Gemeinschaft und den geschichtlichen Raum der byzantinisch-griechi­schen und der byzantinisch-slavischen Orthodoxie ebenso ein, wie er die asiatischen Einflusse auf Russland und die islamischen EinflUsse auf den Balkan als nicht-christlich und demgemaB als nicht­europllisch ausschloss; Oscar Halecki: The Millenium of Europe. Notre Dame/IND 1963, XVf., 3, 5, 39-44, 333, 372, 389. Die Mitteleuropa-Debatte der achtziger Jahre - vgl. In Search of Central Europe. Ed. by George ScMpflin and Nancy Wood. Cambridge 1989 - verkUrzte diesen weit gedach­ten, aber schon selektiven Europa-Begriff unter dem Einfluss des ungarischen Historikers JenO SzUcs (1928-1988) weiterhin urn SUdosteuropa: "Since this last area was to secede from the European structure along with the gradual decline of Byzantium by the end of the Middle Ages, I shall disregard it"; JenO SzUcs: The Three Historical Regions of Europe. An outline. In: Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 29 (1983), 131-184, 134. Ahnliche Gedanken vertraten die Schriftsteller Czeslaw Milosz (* 1911) und Milan Kundera (* 1929). Angesichts der fortschreitenden Instrumentali­sierung des Europa-Gedankens sind aufrnerksame Beobachter "entsetzt Uber die Art und Weise, in der die Mitteleuropa-Idee neuerdings fur eine Politik der Ausgrenzung und des Relativismus missbraucht wird"; vgl. Timothy Garton Ash: Mitteleuropa? Aber wo liegt es? In: Ders.: Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa. MOnchen-Wien 1999,415-432,432.

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dem kulturellen Erbe der Vergangenheit wie bei der Verwirklichung der Menschen­und Minderheitenrechte zur Geltung zu bringen. Denn diese Lebenswelten sind ihrer Entstehung nach Lernwelten, in denen Elemente partikularer Besonderheit mit solchen universaler Bedeutung verbunden sind: Perspektiven einsichtsreichen Glau­bens und offener Weltvemunft, in denen der Fortschritt vemlinftiger Verstandigung gegen den Riickschritt irnmer neu belebter Feindbilder aufzufmden und zum Prinzip einer neuen Aneignung des geschichtlichen Erbes zu erheben ist.4

Lernwelten Europas in West und Ost: Was macht bei allen unleugbaren Gemein­samkeiten der grundlegenden Herkunft ihren Unterschied aus? Es ist in der Tat nicht dasselbe, ob wir fragen, wofur wir lemen, oder ob wir uns daran orientieren, wodurch wir lemen. Wir kennen die lateinische Sentenz, dass wir nicht fUr die Schule, son­dem fUr das Leben lemen. Nicht wodurch, sondem wofur wir lemen, kennzeichnet den padagogischen Imperativ, der das westliche Denken formt. Gute Praxis zu bewir­ken gilt uns als Zweck oder wenigstens, mit Wilhelm von Humboldt (1767-1835), als Folge des richtigen Lemens. Diese Zweckrationalitat bestirnmt die ausgreifende Weite, aber auch die instrumentelle Enge des westlichen Denkens. Ein zukunfts­orientierter Forschrittsglauben, begleitet von prinzipieller oder irnmanenter Kritik, begrlindet hier die Perspektive des richtigen Lemens. Dagegen ist das ostliche Denken von einem Hauptstrom griechisch-orientalischer Weisheit gepragt, der die tragisch-archaische Erfahrung anspricht, wodurch wir lemen. Das Schliisselwort lau­tet: pathematos, durch Leiden gelehrt. Wir lemen tiefer durch das Leiden als durch das Leben. Rechtglaubige Erinnerung an die erlosungsgewirkte Uberwindung des Leidens zu bewahren gilt dort als Ursprung und Anfang des richtigen Lemens. Diese Ursprungsrationalitat bestirnmt die mystische Tiefe, aber auch eine gewisse, welt­abgewandte Enge des ostlichen Denkens. Sie erklart zu ihrem Teil, warum die strukturorthodoxen Nationen Osteuropas in all ihren geschichtlich verbundenen, christlichen und muslimischen Volksteilen ein ganz anderes MaB an Leidensfahig­keit entwickelt und verarbeitet haben, als dies im Westen heute hingenommen wird. Sie erklart zu ihrem Teil auch, warum diese Nationen in der Mobilisierung ihrer aktiven Krafte einen so miihsamen Weg in die modeme demokratische Staatlichkeit zu gehen haben. Sic liisst es eher erstaWllich als selbstverstandlich erscheinen, wie

Was unter dem Begriff "Leben swelt" verstanden wird, ist in seiner kultur- und sozialwissen­schaftlichen Bedeutung von Edmund Husserl (1859-1938) phlinomenologisch untersucht und von Max Weber (1864-1920) unter dem Begriff "nomologisches Wissen" thematisiert worden; er nennt es unser alltagliches "Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln, insbesondere ober die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen"; Max Weber: Gesammelte Aufsatze zur Wissenschaftslehre. TObingen 1951, 276f. Zur Weiterfuhrung des Begriffs der Lebenswelt vgl. JOrgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 4. durchges. Aufl. FrankfurtlMain 1987, Bd. 2, 182-228. Oer Begriff der "Lemwelt" wird hier eingefilhrt, urn das Postulat zu verdeutlichen, dass "Lebenswelten" so lange nicht als in sich verfestigte und nach auBen abgeschlossene "Kultur­welten" aufgefasst werden kOnnen, wie sich nachweisen lasst, dass die strukturelle Oifferenzierung zwischen Kultur, Gesellschaft und Personlichkeit die historische Grundeinstellung einer Lebenswelt durch einen Zuwachs an Rationalitat relativiert, d.h. die Erfahrung des Gelingens und Misslingens gegenOber der Instanz des Anderen und Fremden in den Horizont einer von Selbstkritik geleiteten kommunikativen Praxis stellt. Dieser Nachweis kann in unserem begrenzten Rahmen nicht im Ein­zelnen und Ganzen, sondem nur punktuell geleistet werden. Ober "gerichtete Variationen und Lebens­weltstrukturen" als Ergebnis von Lemprozessen vgl. ebd., 218.

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viele der neuen Demokratien diesen Weg unter schwierigsten okonomischen Um­stllnden mit konsolidierbarem Erfolg ein wesentliches StOck zurtlckgelegt haben.

2. Byzanz als Ursprung der Lebenswelt der Orthodoxie

Es war das Imperium Romanum, das fUr unser heutiges, wie wir gesehen haben, nicht unbestrittenes Verstllndnis die Grundlage fUr einen weit gedachten Begriff von Euro­pa gelegt hat. Das Christentum als Staatsreligion und die Verlegung der Hauptstadt von Rom in das tausendjllhrige Byzanz am Bosporus durch Kaiser Konstantin den GroBen (urn 280-337) im Jahre 330, das war der letzte ingeniose Versuch, die groBe Synthese des romischen Reiches zwischen Ost und West aufrechtzuerhalten. Rom aber und der Westen hielten den Wellen der germanischen Volkerwanderung nicht stand, wllhrend Konstantinopel die Geflihrdung durch Perser, A waren und Araber ab­wehren konnte. Zwischen dem alten und dem neuen Zentrum des romischen Reiches ofihete sich auf dem Balkan ein groBriiurniges slavisches Einwanderungsgebiet, das der byzantinischen Kirche im Wettstreit mit der westlichen Kirche ein weites Mis­sionsgebiet erschloss. So entstand zuerst in Mllhren, dann im SOdosten und Osten des Kontinents vom Ende des 9. Jahrhunderts an aus byzantinisch-bulgarischen UrsprOn­gen eine neue europiiische Kultur, die mit eigener Schrift und Literatur, mit eigener Kirchensprache und Liturgie dem byzantinisch-slavischen Typus der Orthodoxie an­gehOrt.s Auch auf den Westen Obte das byzantinische Reich zu jener Zeit einen nach­haltigen, politisch-konzeptionellen Einfluss aus.6 Die karolingische Reichsidee, die das europiiische Einigungswerk unserer Zeit inspiriert hat, ist das getreue Spiegel­bild der byzantinischen Reichskultur. Am Vorbild des Rhomiier-Reiches orientierte sich der unter friinkischer Herrschaft erstarkte, aber ruckstiindige Westen: an der un­antastbaren Legitimitiit seiner politischen Anspruche, an dem beneideten Monopol seiner kulturellen Ausstrahlung, an der vollendeten Form seines festen diplomatischen Instrumentariurns, an der politisch-symbolischen Gestalt der Kaisermacht; nicht aber - und das ist ein entscheidender Unterschied - an der absoluten Theokratie in Byzanz, nicht also an der religiosen Kaiseridee, die der Kern der antik-ostlichen Kultur ist.7 Genau dieser Unterschied aber ist es, der das seit der Kaiserkronung Karls des GroBen (747-814) im Jahre 800 erstarkende Papsttum und die Westkirche auf den langen Weg einer allmiihlichen Unabhiingigkeit von staatlicher Macht bringt und deren sakrale Anspruche beschneidet.

Das byzantinische Reich ist die politisch-kulturelle Gestalt dessen, was man das Jahrtausend der griechischen Sprache und des griechisch-hellenistischen Denkens nennen konnte. Ihr kirchlich-theologischer Gehalt liegt in der Idee der Liebe, deren

SOber die Anfllnge der schriftlichen Kultur der Slaven und die Begrllndung der byzantinischen Slaven­mission: Emil Georgiev: Die Kyrillo-Methodianische wissenschaftliche Problematik zum 1150. Geburtstag Konstantin-Kyrills. In: Bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte. Hg. von Wolfgang Gesemann, Kyrill Haralampieff und Helmut Schaller (Bulgarische Sammlung 1, SUdosteuropa­Studien 27). Neuried 1980,9-47.

6 Ober die Bedeutung des byzantinischen Reiches fUr die Entwicklung der Staats idee in Europa: Werner Ohnsorge: Das Zweikaiserproblem im frUheren Mittelalter. Hildesheim 1947, 15-31.

7 Ober die religiOse Kaiseridee in Byzanz: Anton Michel: Die Kaisermacht in der Ostkirche (843-1204). Mit einem Vorwort von Franz Dolger. Darmstadt 1959.

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hohes Triumphlied die katechetische Predigt des Heiligen Chrysostomos tiber das Gleichnis von den Arbeitem im Weinberg (Matth. 20,1-16) ist. Sie wird im Oster­gottesdienst von allen Kanzeln der orthodoxen Kirche verlesen. Demgegeniiber ist es die Idee der Gerechtigkeit, die das Jahrtausend des lateinischen Denkens pragt, dessen Ende wir tiberschritten haben. Ihr entspricht eine Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, die im Westen als Rechtsverhiiltnis gesehen wird.8 Die klassi­schen Grundlagen dieser Sicht sind das Bundesrecht und der Talmud des hebraisch­jtidischen Glaubens, die Rechtfertigungslehre des paulinischen Romerbriefes und das romisch-germanische Rechtsdenken. Diese Quellen haben das westliche Ver­standnis von Glaube, Kirche und Theologie zu immer neuen Reformbewegungen inspiriert, wie sie auch unser gesamtes soziales, politisches und staatliches Denken bestimmt haben. So sind die historischen Lebenswelten Europas, zu denen die jUdische Welt ebenso wie die islamischen Lebensraume gehoren, durch unterschied­liche Ansatze des Denkens und Verstehens gepragt worden. Zeitliche Abfolge und raumliche Uberlagerung, ja zuweilen auch parallele Stromungen des jeweiligen Denkens lassen gleichwohl keinen vemiinftigen Zweifel daran zu, dass die beiden grofien, aus dem romischen Imperium entstandenen Lem- und Lebenswelten Europas je ihre eigene Kontur und Grundstimmung besitzen.

Eine wesentliche Differenz dieser beiden Lebenswelten wird durch die Kirchen­spa/tung des Jahres 1054 markiert.9 Am 16. Juli dieses Jahres legte der Kardinal Humbert von Silva Candida (um 1000-1061) im Aufirag des Papstes Leo IX. (1049-1054) auf dem Hochaltar der Hagia Sophia die Bannbulle gegen den byzantinischen Patriarchen Michael!. Kerullarios (1043-1058) nieder; der Patriarch sprach darauf­hin seinerseits den Bann gegen die Autoren der Bulle, nicht gegen den Papst aus. Was auf den ersten Blick wie ein von Hitzkopfen verursachter Betriebsunfall der gelaufigen kirchendiplomatischen Kommunikation aussieht, war kein formales Schisma zwischen den beiden Kirchen; es signalisierte aber einen nahezu irreparab­len Bruch zwischen den beiden Halften der allgemeinen Christenheit, dem tiefere Ursachen zugrunde lagen. Auf der ostlichen Seite des alten romischen Imperiums, der lange Zeit auch weite Teile Italiens angehOrten, fmden wir die unlosliche Verankerung der engen Verbindung von Kirche und Staat in der Idee vom Gott­kaisertum des byzantinischen Monarchen. Unvereinbar damit erhebt sich auf der westlichen Seite die im Hochmittelalter voll entfaltete Idee der romischen Papal­gewalt in ihrem auf V orherrschaft bedachten Gegensatz zur kaiserlichen Macht. Rituelle Unterschiede wie der Gebrauch der ungesauerten Brote oder dogmatische Differenzen wie das beriihmte Filioque hatten und haben entgegen ihrer Instrumen­talisierung keine wirkliche kirchentrennende Bedeutung. Dagegen trug die wach-

8 Dber den Unterschied von fistlichem und westlichem Christentum: Ernst Benz: Geist und Leben der Ostkirche. Hamburg 1957,41-48; ebd., 45, heiBt es: ,,oer zentrale Begriff [in der Ostkirche, P.F.-A.]

9 ist nicht die Gerechtigkeit, sondern die Liebe Gottes". Hierzu stotze ich mich auf die eigene Studie: Die Einigungsversuche zwischen der griechisch-ortho­doxen und der rfimisch-katholischen Kirche von 1054 bis zur Reformationszeit (unverMIentiichtes Ms., 1959). Vgl. auch: Georg StadtmOller: Europa auf dem Wege zur groBen Kirchenspaltung (1054) (Vortrage des Instituts fur Europaische Geschichte Mainz 29). Wiesbaden 1960.

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sende Kulturverschiedenheit, vor allem die seit langem herrschende gegenseitige Unkenntnis der Sprache in Ost und West, zur Entfremdung bei. Diese Kultur­differenz war zugleich Ursache und Ausdruck der schwer erkliirbaren Tatsache, dass ein und derselbe Glaube bei gleicher dogmatischer Lehre in gfulzlich verschiedener Weise kirchlich zelebrierte und perst>nlich erlebte Gestalt gewann - von groBen weltgeschichtlichen Ereignissen zu schweigen, die wie eine Serie von MeiBel­schlagen die beiden Halften der Christenheit auseinander trieben.

Wesentlich war in allem, dass Byzanz in der hohen Uberzeugung, sowohl das Zweite Rom als auch das Zweite Athen zu sein,10 die weit leuchtende Kraft seiner Bildungsidee, das reine Gegenbild des "fmsteren Mittelalters", der Modernisierung der Welt nicht anzupasssen bereit war. "Die Grenzsteine der Vater nicht zu ver­rilcken" war das unabanderliche Credo der byzantinischen Kultur. Wo im Westen die cluniazensische Reform das Kirchen- und Ordensleben veranderte, wo die Frilh­und Hochscholastik neues Denken hervorbrachte und die Renaissance schon auszu­greifen begann, da vermochten die wenigen bemerkenswerten Ansatze einer geisti­gen Erneuerung im Osten die byzantinische Kultur nicht wirklich zu durchdringen. Die Quellen der Innovation, die Byzanz der Welt t>iInete, flossen dagegen uberreichlich in die Entstehung Osteuropas, sie befruchteten den Westen von der Zeit Karls des GroBen an bis zur ersten Blutezeit von Humanismus und Renaissance, ja vereinzelt noch lange darilber hinaus. Sie uberlieferten dem neuen Zentrum Moskau die Funktion des Dritten Rom und gaben den Balkanvt>lkern den Kitt, der in den lahrhunderten der osmanischen Herrschaft ihr Gefiihl der ZusammengeMrigkeit durch die Kultur der Orthodoxie starkte.

3. Byzanz als QueUe der Spiritualitiit der Balkanliinder

Es ist die Tragik der groften Miichte, dass sie zu lange nachahmen, was ihnen einst Grofte und Erfolg gab. ll Byzanz ist das klassische Beispiel fUr diese historische Wahrheit. Es war nicht die Naivitat des okonomischen Erfolges oder die Arroganz der militarischen Starke, die in unseren Zeiten den Blick fUr andere bestimmende GroBen der Existenzgeflihrung trUben, sondem der eitle Stolz auf eine hoch stehende Bildungs- und Glaubenstradition, insoweit die gleiche mangelnde Bereitschaft zur Selbstkritik, die der umsichtigen Entschlossenheit zum rechtzeitigen Planen und Handeln entgegenstanden. Geschwacht durch den Vierten Kreuzzug, den der Westen unter der Ftihrung der Republik Venedig, einst der Zt>gling von Byzanz, gegen die

10 Noch mehr als in allen lahrhunderten zuvor besinnt sich der gebildete Byzantiner in der Zeit der politischen Ohnmacht (nach 1400) auf die alte hellenische Kultur, so der Notar Johannes Chortas­menos, der seinen Uber den Zustand Athens enttauschten Bekannten Demetrios Pepagomenos brieflich heimruft nach Konstantinopel- .. in das zweite Athenr' Der Briefubersetzt und abgedruckt in: Herbert Hunger (Hg.): Byzantinische Geisteswelt von Konstantin dem GroBen bis zum Fall Konstantinopels. Baden-Baden 1958, 291f.; vgl. 15f. Uber die Rolle von Byzanz in der europaischen Geistes- und

11 Kulturgeschichte. Diese Sentenz ist eine Variante der These von Barbara Tuchman, dass die Verwirklichung einer Politik, die dem Eigeninteresse der Regierenden entgegensteht, die vielleicht faszinierendste Parado­xie der Geschichte sei; vgl. Barbara Tuchman: Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. FrankfurtlMain 1984.

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"Gottbehlitete Kaiserin der Stadte" richtete, und lange in ein griechisches und ein lateinisches Kaiserreich geteilt (1204-1261), widerstanden das geschrumpfte Impe­rium der Rhomaer und die Kaiserstadt Konstantinopel dem letzten Ansturm des Sul­tans Mehmed II. (1451-1481) nicht. Die Geschichte des byzantinischen Reiches geht nach einem lahrtausend tiefer kultureller, religioser und politischer Ausstrahlung auf den Osten, aber auch auf den Westen Europas im lahre 1453 zu Ende.

Das Abendland hat nun einen neuen Herausforderer: die Tilrken des Osman is chen Reiches, die ein halbes lahrtausend lang dem Balkan und weiten Teilen des ostlichen Mittelmeerraums ihren Stempel aufdrlicken werden. Diese Pragung reichte jedoch nicht so tief, als dass sie die Spiritualitat der Orthodoxie hatte iiberwinden konnen. Denn selbst in dieser langen Periode, deren mittlerer Abschnitt im 16. lahrhundert eine symbiotische Bliite beider Kulturen einschloss, fungierte die Orthodoxie als ein fester Bestandteil des Lebens der christlichen Balkanvolker. Es war die Art der osma­nischen Verwaltung, das tiirkische Millet-System,12 das den nichtmuslimischen Reli­gionen eine neue und zusatzliche Rolle zuwies. Gegeniiber den christlich-orthodoxen Bevolkerungsteilen setzte der Sultan seine administrativen MaBnahmen mit Hilfe des Patriarchen und der orthodoxen BischOfe durch, die in Wahrnehmung ihrer Amtsbefugnis die ihrer Gemeinschaft auferlegten Steuem zu entrichten hatten. Diese Amtsinhaber wurden so zu Ethnarchen, d.h. zu kirchlichen und zugleich politischen Leitem ihrer volkischen Einheiten. Als deren Loyalitat in der Zeit des osmanischen Niedergangs im 18. lahrhundert bezweifelt wurde, ersetzte die Pforte sie unter dem Einfluss der Phanarioten, Hofbeamter aus maBgeblichen griechischen Familien im Osmanischen Reich, durch griechisch-byzantinische Kirchenverwalter, ein Affront, der den Widerstandsgeist der orthodoxen Nationalkirchen zusatzlich herausforderte. Auf diese Weise iiberlebten diese Einheiten in ihrer orthodoxen Grundverfassung bis zur nationalen Erhebung des 19. lahrhunderts. Sie konnten so unter panslavistischen Vorzeichen den von lohann Gottfried Herder (1744-1803) gepragten Nationaistaats­gedanken einer ethnischen Kulturnation scheinbar bruchlos aufuehmen. 13

Ich habe die Lebens- und Denkform, die sich in dieser Iangen Geschichte byzanti­nischer und osmanischer Einfliisse auf dem Balkan herausbildete - einer Geschichte, die groJ3e Entbehrungen ebenso wie Verfolgung und Aufruhr und das Werden neuer

12 Millet, von arabisch milia, d.h. "Religion", bezeichnet religiilse, insbesondere christliche Gruppen verschiedenen Bekenntnisses im Osmanischen Reich. Diesen Denominationen gegentiber lasst der Sultan seine VerwaltungsmaBnahmen im Wege der Auftragsverwaltung durch die Leiter der religi6-sen Gemeinschaften (orthodoxes, jtidisches, armenisches Millet-System) ausfuhren, deren Selbst­verwaltung im Rahmen ihrer konfessionsbestimmten Hierarchie gestilrkt wird, aber auch politischen Charakter annimmt. Vgl. Peter F. Sugar: Southeastern Europe under Ottoman Rule 1354-1804. In: A History of East Central Europe. Ed. by Peter F. Sugar and Donald W. Treadgold. Vol. 5. Seattle­London 1977, Sf., 45-47, 231f., 253f., 277-279. Ein Beispiel fur die Langlebigkeit der Tradition ist aus neuerer Zeit Prasident Makarios (1913-1977), der mit vertauschter Rolle Ethnarch tiber die

13 til~kische Minderheit auf Zypern wurde; vgl. Beck (Anm. 1), 13f. Hlerzu Holm Sundhaussen: Der Einflu6 der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den V61kern der Habsburgermonarchie. Mtinchen 1973; ders.: Zwanzig Thesen zu Nation und Nationalstaat. In: Der Nationalstaat - ein historisches Obel? Thesen zur Diskussion (auf einer Konferenz der K6rber-Stiftung, Hamburg, und der Internationalen Stiftung HI. Kyrill und HI. Method, Sofia, in Sofia am 27.128.3.1998). Hg. von Athanas Natev. Sofia 1998, 7-12.

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Nationen einschlieBt - "strukturorthodox" genannt. Diese Charakterisierung beruht auf der Beobachtung, dass sich die pragende Kraft dieser Lebenswelt auch durch die Zeit des kommunistisch erzwungenen Atheismus hindurch im Wesentlichen erhalten hat. Es ist der Rtickblick auf die "spirituellen Werte", eine sehr vage Formel, die der jeweiligen ethnisch-kulturellen Gemeinschaft das Gefiihl des solidarischen Zu­sammenhalts und verlasslicher Kommunikation gibt.

Zu dieser alltaglichen "Spiritualitat" gehOren nach meiner Beobachtung mindes­tens folgende sechs Elemente: 14

1. Der Stolz auf die Ursprunge der eigenen Nation. Er spiegelt sich in einem Selbstbewusstsein, das durch aufiere Umstande nicht niederzubeugen, aber immer durch Vorbilder groBerer Nationen mit weitem Uberblick angefochten ist. Dieses Selbstbewusstsein kann sich jedoch in Gefahrdungslagen bis zur halsstarrigen Un­beugsamkeit verfestigen, symbolisiert durch die Losung "Freiheit oder Tod".

2. Die Zeitlosigkeit der Prasenz groj3er nationaler Ereignisse und - ofter - tief gehender nationaler Widerfahrnisse im Bewusstsein der Menschen, von Ereignis­sen, die nach quasireligioser Begehung, von Widerfahrnissen, die nach Kompensa­tion, selten nach Rache verlangen.

3. Die Klage uber das Nichtgelingen - wechselnd - der gesellschaftlichen Wohl­fahrt und der nationalen Traume. Sie aufiert sich in ironischem Selbstmitleid, kann sich aber auch bis zu einem einseitigen Unrechtsbewusstsein tiber die Schuld ande­rer am eigenen Schicksal steigern.

4. Der Glaube an die kulturelle Identitat des eigenen Volkes. Er stUtzt sich auf eine bestimmte, meist legendar tiberformte Manifestation einer geistigen Urtat, deren Gedachtnis an bestimmten Orten, zuweilen auch Gebauden, haftet, die Zentren wiederkehrender Feierlichkeiten oder Ziel national-religioser Begehungen sind.

5. Ein witterungsahnlicher Realitatssinn, der wie ein Wamsystem funktioniert. Er hat eine gewisse AnfalIigkeit dafiir, sich eher auf ein Gerlicht als auf dessen meist nicht tiberprlifbaren Wahrheitsgehalt zu stUtzen; er neigt dazu, ein Vorhaben rur die vollbrachte Tat oder ein Symbol fiir die Sache selbst zu halten. Er ist weniger im Verstand als auf einer Gefiihlsebene angesiedelt, auf der Wunsch und Wirklichkeit nicht vollig getrennte GroBen sind.

6. Ein tiefes Bedtirfnis nach Anerkennung der eigenen Humanitat, die sich, insbesondere als Gastfreundschaft, weitaus herzlicher, groBzUgiger und zweckfreier aufiern kann als in den meisten westlichen Landern.

14 Hier versuche ich, in systematischer Form den Gehalt von Beobachtungen mitzuteilen, die ich seit 1965 auf etwa 250 Reisen in die Lander Ost- und SOdosteuropas und bei der AusObung von Amtem in Institutionen des dortigen Bildungs- und Kulturbereichs gesammelt habe. Dazu gehOren seit 1970 die AnknOpfung und Pflege von dreizehn Ostpartnerschaften filr die Universitat Hamburg, die MitgrOn­dung und Mitarbeit im Inter-University Centre Dubrovnik, die Mitwirkung in diversen intemationalen Organisationen des Hochschulbereichs, und in der Peri ode seit 1990 die Mitwirkung im ungarischen Akkreditations-Komitee (1994-1996), die Leitung der Intemationalen Stiftung HI. Kyrill und HI. Method in Sofia (1992-1998) und siebzig Beratungsmissionen zur Hochschulgesetzgebung im Auftrag des Europarates in die 21 neuen Signatarstaaten der Europaischen Kulturkonvention (1991-2000). Peter Borowsky hatte an den erwiihnten Ostpartnerschaften, insbesondere in der Zusammenarbeit mit den Historikem der EOtvOs Lonind Universitat Budapest, Anteil. Vgl. Zehn Jahre Partnerschaft 1980-1990: Universitat Hamburg - EOtvOs Lonind Tudomanyegyetem Budapest. Hamburg 1990,23,27,42.