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25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 1
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
DEUTSCHLANDFUNK DEUTSCHLANDFUNK DEUTSCHLANDFUNK DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel
DEUTSCHLANDFUNK DEUTSCHLANDFUNK DEUTSCHLANDFUNK DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel
Redaktion: Ulrike Bajohr
DossierDossierDossierDossier
Lebensberichte aus Nordkorea
Von Jens Jarisch
Produktion: RBB/ NDR/ SWR / DLF 2011Produktion: RBB/ NDR/ SWR / DLF 2011Produktion: RBB/ NDR/ SWR / DLF 2011Produktion: RBB/ NDR/ SWR / DLF 2011
Urheberrechtlicher Urheberrechtlicher Urheberrechtlicher Urheberrechtlicher HinweisHinweisHinweisHinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar -
Sendung: Freitag, 17. Juni 2011, 19.15 - 20.00 Uhr
hydraulische Tür, U-Bahnhof, Durchsage
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 2
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Ansage:
Lebensberichte aus Nordkorea
ein Feature von Jens Jarisch
Büroraum
Kim Mi-Li:
.
Übersetzer: Kim MiLi sagt: Wenn Nordkoreanern die Flucht hierher nach Südkorea
gelingt, werden sie drei Monate lang vom südkoreanischen Geheimdienst
befragt. In dieser Zeit erhalten die Flüchtlinge auch Schulungen zur
Eingliederung in das Leben in Südkorea. Kim MiLi ist Mitarbeiterin beim
Bürgerbündnis für Menschenrechte in Nordkorea, eine
Nichtregierungsorganisation, die einige dieser Bildungsprogramme für
Flüchtlinge durchführt.
Nordkoreaner in Südkorea werden immer noch stark diskriminiert. Es ist also
das Beste, im Alltag gar nicht als Nordkoreaner aufzufallen, und dazu bieten
wir unter anderem auch Sprachkurse an. Obwohl es eigentlich nur um
Feinheiten im Dialekt oder in der Verwendung bestimmter Begriffe geht, sind
es eben diese feinen Unterschiede, an denen nordkoreanische Flüchtlinge
erkannt werden.
In unseren Räumen hier in Seoul sprechen wir mit den Flüchtlingen über
ihre Erfahrungen in der Heimat. Oft begleiten wir sie über mehrere Jahre.
Es gibt ja fast keine Begegnungen, so gut wie keinen Austausch, es gibt nicht einmal eine
Telefonleitung zwischen dem Norden und dem Süden Koreas. Die Berichte
der Geflüchteten sind daher für uns eine unersetzliche Einsicht in das Leben
auf der anderen Seite.
Tür, geschlossener Raum
Interviewer: Wurden Sie in Pjöngjang geboren?
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 3
Skript von Jens Jarisch
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Dolmetscherin: ?
Soldatin: ,
.
Interviewer: Wie sieht das Pjöngjang in Ihrer Erinnerung aus?
Soldatin: ... .
Also, als ich jung war, war das Leben in Pjöngjang sehr gut. Im Supermarkt
gab es gewöhnlich Kekse und Bonbons, und wenn man auf den Fischmarkt
gegangen ist, lagen dort jede Menge Krebse, getrockneter Seelachs oder
Tintenfisch.
.
Es war sehr still damals.
... .
Es ist auch heute noch still, es gibt in Nordkorea ja nicht viele Autos.
. .
Doch als ich klein war gab es auch noch weniger Menschen ...
...
.
Unser Vater war Soldat - er war meistens gar nicht zu Hause. Deswegen
hatte ich, als ich jünger war, meistens Angst vor meinem Vater.
Interviewer: Hat Ihr Vater noch im Koreakrieg gekämpft?
Soldatin: .
Ja, mein Vater war bei mehreren Schlachten im Koreakrieg dabei.
Wir haben eigentlich immer mit dem Gedanken gelebt, dass ein Krieg zwischen Nord- und
Südkorea zwangsläufig stattfinden wird ... und als wir noch in der
Grundschule waren, da sind meine Geschwister und ich am Abend oft hinaus
zum Bunker gegangen und haben dort geschlafen.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 4
Skript von Jens Jarisch
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Interviewer: Was haben Sie dann gemacht, nachdem Sie die Schule abgeschlossen
hatten?
Soldatin: Also, auf der Mittelschule wurde uns immer wieder eingetrichtert: für das
Vaterland und die Wiedervereinigung Körper und Geist zu opfern. Ich war
achtzehn Jahre und bereit dazu. Und deshalb habe ich mich freiwillig zum
Militär gemeldet.
Interviewer: Haben Sie sich wohlgefühlt in der Uniform?
Soldatin: .
Man kann eigentlich kein bequemes Leben in dieser Uniform haben. Ich war
damals im Hauptquartier der Luftwaffe bei der RaketenEinheit beschäftigt.
Hatte man GefechtDienst, dann musste man die Uniform samt Stiefel
vierundzwanzig Stunden lang ununterbrochen anhaben, und auch in der
Uniform schlafen. Während des gesamten Militärdienstes ist es verboten, die
Familie zu besuchen oder von irgendjemandem besucht zu werden, man hat
also etwa ein Jahrzehnt lang keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der
Armee. Also gab es für uns auch keinen Anlass, die Uniform mal abzulegen.
Wenn ich im Sommer Wache stand und ein warmer Wind wehte, dann habe
ich mir manchmal vorgestellt, wie schön es wäre, ein Kleid zu tragen.
Interviewer: Das ist ja auch eine Zeit, in der man sich verliebt. Wie war das für Sie?
Soldatin: Tja ... während der Militärzeit ist es nicht erlaubt, zu heiraten.
.
Das bedeutet, dass es auch nicht möglich ist, jemanden zu lieben.
Interviewer: Aber manchmal kann man sich doch gar nicht dagegen wehren, jemanden
zu mögen?
Soldatin: . ...
Ja, natürlich. Da gab es auch einen Mann, der mich mochte. Aber so etwas
konnte man natürlich nicht öffentlich zeigen. Man hat dann ganz heimlich
Briefe geschrieben oder manchmal auch Bilder gemalt ... wenn jemand
solch einen Brief entdeckt hätte, wäre man sofort unehrenhaft aus der
Armee entlassen worden. Deswegen haben wir unsere Gefühle natürlich
sehr stark unterdrückt ...
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 5
Skript von Jens Jarisch
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.
Es wird auch sehr viel Kontrolle ausgeübt. Und außerdem gibt es jede
Woche sogenannte Treffen zur allgemeinen Harmonisierung des Lebens.
Das ist nicht nur in der Armee so. Auf den Treffen zur allgemeinen
Harmonisierung des Lebens muss sich dann erst jeder selbst kritisieren,
und wird anschließend von den anderen auf seine Fehler hingewiesen und gegebenenfalls
auch bestraft.
...
Interviewer: Wurden Sie dann anschließend für Ihr vorbildliches Verhalten belohnt?
Soldatin: Ich habe die NationalMedaille dritten Grades erhalten ... und weil ich auch in
der Partei war - nach dem Militärdienst bekommt ja jeder von der
Volksverwaltung eine Arbeitsstelle zugeteilt - wurde ich dann zum
Volksvorsteher einer Nachbarschaft in Pjöngjang ernannt.
.
Ein Volksvorsteher dort lebt in einer Nachbarschaft und muss alle
zugehörigen Haushalte in ihrem politischen, sozialen und privaten Leben
überwachen. Das kann man sich etwa so vorstellen wie die Tätigkeit eines
Spions. Ja, selbst, wie viele Löffel sich beispielsweise im Besitz einer
Familie befinden und so weiter ... so etwas muss ein Vorsteher wissen.
Oder, wenn bei einer Familie Verwandte vom Land übernachten wollen, dann
muss ich die Erlaubnis dafür erteilen, und alles protokollieren.
. , , .
Kurz gesagt, muss man die einem zugeteilten Familien seelisch kontrollieren
und ihren Zustand der Sicherheitsbehörde sowie der Partei berichten.
Interviewer: Und das haben Sie gemacht?
Soldatin: Ja, das war mein Beruf. Dafür habe ich auch ein monatliches Gehalt
bekommen.
Interviewer: Und Sie wohnten auch inmitten der Menschen, die Sie überwacht haben?
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 6
Skript von Jens Jarisch
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Soldatin: Ja. Ich hatte inzwischen geheiratet und mit meinem Mann zwei Kinder
bekommen. Wir lebten in der Nachbarschaft. Wenn einige Bewohner der
Nachbarschaft irgendwo beieinander saßen und miteinander redeten, dann
hörten sie plötzlich auf, wenn ich vorbeiging.
Interviewer: Waren Sie dann auch zuständig für Ihre eigene Familie?
Soldatin: Ja, natürlich. Deswegen sagt man auch, dass Mann und Frau, wenn sie sich
den Rücken zudrehen, Fremde sind. Man kann vor dem eigenen Mann nicht
alles aussprechen, und umgekehrt ...
... ?
Ob so etwas gesendet werden sollte?
Tür, geschlossener Raum
Schülerin: 2 1 ... ? ...
.
Interviewer: Hat es dir in Nordkorea gefallen, zur Schule zu gehen?
Schülerin: , ... ..
... . . ... ... .
.
Ja, die Schulzeit war sehr gut, aber dort in der Grundschule war es so kalt -
das war hoch im Norden, daher ist es dort sehr kalt - im Winter muss man
immer Holz zum Heizen mitbringen. Hier in Südkorea ist das Schulleben ja
sehr bequem, wissen Sie? Aber dort soll man so viele Sachen mitbringen.
Jeder versucht natürlich auch einen Sitzplatz neben der Feuerstelle zu
bekommen. Aber das hat unsere Lehrerin alles entschieden. Die Lehrerin
holt jede Woche die, die hinten saßen, nach vorne, und die, die am Fenster
saßen, mehr in die Mitte.
. .
Also die Schulzeit war, wenn man von der Kälte absieht, schon in Ordnung.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 7
Skript von Jens Jarisch
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.
Die Schule ist dann so um zwei Uhr vorbei. Aber danach gibt es noch
freiwillige Arbeit. Da geht dann die Klasse auf einen Acker oder so und hilft
bei der Feldarbeit. Es heißt: entweder freiwillige Arbeit oder Geld oder auch
so Dünger für das Feld oder auch Holz.
... .
Wenn man solche Sachen geben kann, dann muss man eben nicht zur
Feldarbeit.
.
Also, ich bin meist nicht aufs Feld gegangen.
Ich hab aber auch mit meiner Mutter auf dem Feld gearbeitet
. .
Mein Vater ist, als ich drei Jahre alt war, nach China geflohen und hat sich
nicht mehr gemeldet. Und die Mutter meiner Cousine - also meine Tante -
war auch schon geflohen, und hat ihre Tochter bei uns gelassen. So waren
wir zu Hause nur Frauen.
Unsere Mutter hat auch Süßkartoffeln und Sojabohnen angebaut. Daraus
hat sie Soju-Schnaps gemacht und Tofu hergestellt und beides verkauft. Es
gibt ja für jede Nachbarschaft so einen Volksvorsteher. Der hat jedem ein
kleines Stück Land zugewiesen und auf dem Land, das uns zugeteilt wurde,
hat meine Mutter fleißig Sojabohnen angebaut. Meine Mutter ist dann immer
früh morgens so um drei, vier Uhr zur Mühle gegangen, wo die Bohnen
gemahlen wurden.
Interviewer: Erinnerst du dich noch an den Volksvorsteher?
Schülerin: Diese Person war sehr ... naja, sie hat selbst nie gearbeitet und uns alles
machen lassen. Nur weil sie eine hohe Position hatte.
...
Die Person war so ...
... ...
... gewissenlos.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 8
Skript von Jens Jarisch
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.
Die saß nur da und ließ es sich gut gehen, hat gegessen und Geld verdient.
.
Hier in Südkorea denken die Leute immer, dass Nordkorea so schlecht sei.
...
Aber nicht die Menschen in Nordkorea sind schlecht ... der Präsident ordnet
ja alles an und die Bürger machen bloß, was er sagt, sie machen das nicht,
weil sie das möchten. Auf jeden Fall haben die Leute hier schon so eine
schlechte Einstellung ... Wenn man immer sagt, Nordkorea ist schlecht und
böse, da ist es doch verständlich, dass die Nordkoreaner gekränkt sind,
wenn sie das hören, und wütend, sie haben ja auch ihren Stolz.
.
Bürozimmer
Kim Keun-Sik: ...
Übersetzer: Der Krieg ist ja noch nicht zu Ende, sagt Kim KeunSik. Sondern es herrscht
lediglich ein Waffenstillstand - weit über ein halbes Jahrhundert schon -
und dadurch haben wir auf der militärischen Ebene unsere jungen Koreaner beider Staaten, die
sich am achtunddreißigsten Breitengrad immer noch in Waffen schießbereit
gegenüberstehen. Wir befinden uns in einem unruhigen Zustand, wo jederzeit
ein Funke überspringen könnte, der die Waffenruhe beendet und den Krieg
wieder ausbrechen lässt.
In der südkoreanischen Verfassung steht festgeschrieben, dass Nordkorea
ein feindliches Land ist. Durch diese Rechtslage ist es südkoreanischen
Bürgern zum Beispiel verboten, Nordkoreaner zu treffen, oder über
Nordkoreaner positiv zu reden - oder, was auch gesetzlich festgelegt ist -
Nordkoreaner zu bemitleiden. Das sind die Realitäten, die auch Kim KeunSik
als Professor der Universität für NordkoreaStudien in Seoul einschränken.
Es gibt immer noch Leute in Südkorea, die aufgrund dieser Rechtslage ins
Gefängnis gehen müssen, weil sie sich positiv über Nordkoreaner geäußert
haben.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 9
Skript von Jens Jarisch
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Bis zum heutigen Tag sind etwa zwanzigtausend Nordkoreaner hierher
gekommen, aber nur sehr wenige haben sich auch in die südkoreanische
Gesellschaft integrieren können.
Sie führen eine Art Schattenleben.
Klopfen, Tür, geschlossener Raum
Interviewer: Wann sind Sie nach Südkorea gekommen?
Sohn: 2002 4 ... , . 2002 4 ...
Vor acht Jahren bin ich hierhergekommen. Ja, vor achteinhalb Jahren ...
Ich war einundzwanzig Jahre alt.
Interviewer: Aus was für einem Ort in Nordkorea kommen Sie?
Sohn: . , . ?
. ?
...
Also, es war schon eine Stadt, eine Hafenstadt an der Westküste ...
Unser Vater war Soldat, und es ging uns gut. Nicht, dass es allen
Soldatenfamilien in Nordkorea immer gut gegangen wäre, aber unser Vater
hatte eine besondere Gabe. Und zwar wusste er, wie man Fernseher
repariert. Er hat für eine Art PropagandaAbteilung des Militärs gearbeitet,
deren Aufgabe es war, die Soldaten mit Nachrichten zu versorgen. Bis er
eines Tages auf einmal aus der Armee entlassen wurde, hat er so etwas
gemacht.
TV ...
, TV .
In Nordkorea war ein Fernseher in den Wohnungen der Leute auch ein
wichtiges Statussymbol, vielleicht sogar der wichtigste Teil der Einrichtung.
Doch die Fernseher waren oft defekt. Unser Vater war deswegen sehr
gefragt bei den Leuten. Wenn er einen Fernseher repariert hatte, dann
haben sie ihn zum Essen eingeladen oder ihm Stoff für eine Hose geschenkt
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 10
Skript von Jens Jarisch
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oder ihm auch Reis oder Schweinefleisch oder solche Dinge gegeben.
Deshalb ging es unserer Familie immer recht gut.
Interviewer: Haben Sie auch gerne ferngesehen?
Sohn: ?
Ich?
, TV ...
Ja, das habe ich eigentlich schon.
. ...
...
Aber in Nordkorea laufen nicht so viele gute Sachen. Es läuft immer
dasselbe. Ab und zu kommen aber mal Zeichentrickfilme oder Serien, oder
auch manchmal ausländische Filme, also russische oder chinesische ...
.
... und dann klebten wir förmlich am Bildschirm.
Interviewer: Wie kam es dazu, dass Ihr Vater aus der Armee entlassen wurde?
Sohn: .
So genau weiß ich das eigentlich auch nicht.
... ...
Aber was ich weiß, ist, dass unser Vater wegen seiner Arbeit oft nach
Pjöngjang gefahren ist. Ein Vorgesetzter brachte unserem Vater ein
Porzellanstück aus der chinesischen QingDynastie, also eine Antiquität, und
hat ihn gebeten, sich für ihn in Pjöngjang umzuhören und es zu verkaufen.
Über Bekannte, die in Handelsfirmen mit Auslandskontakten gearbeitet
haben, fand unser Vater dann einen japanischen Geschäftsmann, der die
Antiquität für einen sehr hohen Betrag kaufen wollte. Es wurde abgemacht,
dass unser Vater in Pjöngjang auf den japanischen Geschäftsmann warten
sollte. Um die Tage bis dahin zu überbrücken, ging unser Vater in das Haus
eines anderen Bekannten, der hatte eine gute Position bei einer
Regierungsstelle, und erzählte ihm von dem Porzellanstück und dass er nun
auf den Käufer warten wolle.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 11
Skript von Jens Jarisch
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.
Daraufhin hat der Bekannte dann unserem Vater die Antiquität einfach
weggenommen. Weil dieser Bekannte eben sehr viel Macht hatte, was hätte
unser Vater da auch sagen können? Er ist dann einfach nach Hause
gekommen und hat dem ursprünglichen Besitzer des Porzellanstücks die
ganze Geschichte erzählt, aber meinen Sie, er hat das geglaubt? Er hat
unseren Vater angezeigt, und deshalb wurde er aus der Armee entlassen.
Interviewer: Und es gab keine Stelle, die Ihrem Vater hätte helfen können?
Sohn: Doch, offiziell gibt es solche Beschwerdestellen, doch dort erfährt man nur
noch mehr Nachteile. Aus der Armee entlassen zu werden war eine große
Demütigung für unseren Vater, er konnte die Blicke der anderen nicht
ertragen. Weil er viele Kontakte in Pjöngjang hatte, ist er dorthin gezogen.
.
Er blieb zwei Jahre fort. Unsere Mutter war zu der Zeit glücklicherweise als
Verkäuferin in einem Laden angestellt und konnte oft irgendwelche Dinge
mit nach Hause bringen. Das hat unserem Leben sehr weitergeholfen.
Unser Vater war immer ein gutmütiger Vater, und wollte schon gern zu uns
kommen, ebenso sehr wie wir das wollten. Aber wenn er nach Hause fuhr,
konnte er auch nicht mit leeren Händen kommen, sonst hätte er sich
geschämt.
Interviewer: Was hat Ihr Vater denn in dieser Zeit gearbeitet?
Sohn: Es gibt eine eigenartige Arbeit, nämlich das FremdwährungsBeschaffen.
Es ist ja so: in Nordkorea muss jeder einer staatlichen Stelle zugeordnet sein, also angestellt
sein bei einem Betrieb oder einer Behörde oder so. Da es keinen
Privatbesitz gibt, gehört auch die Arbeitskraft dem Staat, und es ist illegal,
keine Arbeitsstelle zu haben. Sagen wir mal, Sie gehören einer Fabrik an:
dann bekommen Sie von der Fabrik eine Wohnung, Sie gehen in der Fabrik
arbeiten, Ihre Kinder besuchen den FabrikKindergarten, und in dem Laden
der Fabrik erhalten Sie Ihre Zuteilung an Lebensmitteln. Aber seit Beginn
der Neunziger Jahre ging es ja wirtschaftlich immer weiter bergab, und Sie
hatten zwar das Recht, in dem FabrikLaden zwei Kilo Reis zu kaufen, aber
die Regale waren leer.
Interviewer: Dann arbeitet man umsonst ...
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Skript von Jens Jarisch
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Sohn: Ja, die Produktion in den Fabriken kam auch oft zum Stillstand, weil die
nötigen Rohstoffe fehlten. Also hat der Staat den Betrieben erlaubt, sich
eigenmächtig zu versorgen. Hier kommen FremdwährungsBeschaffer ins
Spiel: Unser Vater kaufte im Namen der Fabrik, aber von seinem eigenen
Geld: Muscheln, Ginseng und Metalle ... alles, was er günstig in Nordkorea
bekommen konnte, und verkaufte diese Waren teuer ins Ausland. In erster
Linie hat er mit Eisen und anderen Metallen gehandelt. Besonders aber der
Handel mit Eisen, Kupfer, Silber und so weiter ist in Nordkorea strengstens
verboten, und wenn man erwischt wird, droht darauf die Todesstrafe durch
Erschießung. Wenn unser Vater das jedoch im Namen einer staatlichen
Fabrik tat, war es so ungefähr geduldet.
In Nordkorea wird inzwischen niemand mehr rechtmäßig für seine Arbeit
belohnt, was eben dazu führt, dass sich die Menschen irgendwie selbst
helfen müssen, und dafür auch illegale Methoden einsetzen. Auch unser
Vater hat das so gemacht. Zum Beispiel wenn er einen bestimmten Gewinn
hatte, sagen wir mal dreihundert Dollar, dann hat er einhundert davon
offiziell der Fabrik gegeben, weitere einhundert Dollar an die Führungskräfte
der Fabrik verteilt um sich mit ihnen gut zu stellen, und hundert Dollar hat er
dann behalten, um uns und sich selbst zu ernähren.
Interviewer: Das klingt so, als wären Sie trotzdem noch einigermaßen zurecht gekommen.
Sohn: Der Beruf des FremdwährungsBeschaffers war nicht gut angesehen und
auch sehr unsicher. Der Betrieb, der unserem Vater die Berechtigung zum
Handeln verlieh, erwartete ja, dass unser Vater ständig Gewinn ablieferte.
Und das gelang ihm nicht immer. Vielleicht platzte auch damals ein
Geschäft, jedenfalls verlor er diese Betriebszugehörigkeit, und als unser
Vater einmal unterwegs in eine Polizeikontrolle geraten ist, und keine
Arbeitsstelle nennen konnte ... ist er ins Gefängnis gekommen.
Dann wurde unsere Mutter schwer krank, und ich bin nach Pjöngjang
gefahren, um Medikamente für sie zu beschaffen, aber als ich wieder zu ihr
zurückkam, war sie schon gestorben. Meine ältere Schwester war bereits
zur Armee gegangen und für uns nicht mehr erreichbar. Ich hielt den
Belastungen nicht stand und wurde von der Schule verwiesen. Als der
Volksvorsteher rausgefunden hat, dass ich inzwischen mit meiner jüngeren
Schwester allein in der Wohnung lebte, wurden wir rausgeworfen. Oft hatten
wir nicht mehr genug zu essen. Da ist mir dann der Gedanke gekommen,
dass ich hier wirklich nicht mehr leben kann.
.
Und so bin ich dann über China nach Südkorea geflüchtet.
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Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Interviewer: Sind Sie ganz allein geflohen?
Sohn: , .
Ja, allein. Ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, ich wollte nur fort und
bin einfach blind losgezogen.
Interviewer: Und Ihre Familie ist noch in Nordkorea?
Sohn: . .
Ja, sie sind noch alle dort.
...
Ich habe auch oft versucht, Kontakt aufzunehmen, aber niemand aus
unserer Familie hatte zum Zeitpunkt meiner Flucht einen festen Wohnsitz,
und deshalb weiß ich nicht, wo sie jetzt sind. Das ist sehr bedrückend.
Interviewer: Haben Sie sich von Ihrer Familie verabschieden können?
Sohn: . .
Nein, ich habe nichts gesagt.
Interviewer: Haben Sie einen Brief hinterlassen?
Sohn: .
Nein.
... .
Sie wissen eigentlich nicht, dass ich geflohen bin.
.
.
Ich habe nicht nachgedacht über die Zeit danach. Es ging damals allen
Menschen wirklich sehr sehr schlecht, es gab auch viele, die noch auf dem
Weg zur Grenze verhungert sind.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 14
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Vielleicht denkt meine Familie, dass mir etwas Ähnliches passiert sein muss.
Besprechungszimmer
Kim Hyun-Kyung: .
.
Übersetzer: Kim HyunKyung sagt, es sei schwierig, über Nordkorea ausgewogen und
zutreffend zu berichten. Als Journalistin in Südkorea kann sie deshalb aber
nicht einfach ganz auf die Berichterstattung verzichten. Sie sagt: Wenn man
alle Informationen auswertet und miteinander abgleicht, ergibt sich ein
einigermaßen stimmiges Bild, anhand dessen die Zuverlässigkeit neuer
Berichte beurteilt werden kann.
Schwerer wiegt viel mehr die ideologische Auseinandersetzung, die es nach
wie vor mit Nordkorea gibt, sagt Kim HyunKyung. Es ist in Südkorea
deswegen fast unmöglich, das Leben in Nordkorea zu schildern, ohne in
diese ideologische Kontroverse hineinzugeraten. Eine aufrichtige,
unvoreingenommene Annäherung wird dadurch ausgeschlossen.
Tür, geschlossener Raum, Stuhlschieben
Militärpolizist: .
1990 ... 92 ? ... 92
...
...
In Nordkorea herrschte damals die schwierigste Zeit ... die meisten Leute
hatten ein sehr hartes Leben. Der Handel mit Osteuropa war zum Erliegen
gekommen, Überschwemmungen und Dürreperioden verursachten
Ernteausfälle.
.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 15
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Kim Jongil hat sich nicht für das Wohl seines Volkes interessiert, er wollte
nur seine Macht festigen.
MP ,
.
Da ich damals das Leben eines Militärpolizisten führte, habe ich das alles
selbst genau miterlebt.
,
, ...
Militärpolizisten waren selbstverständlich Menschen, deren Pflicht es war,
die Ordnung aufrecht zu erhalten. Wir sind die Ausführenden des Gesetzes
von Kim Jongil, wir sind der Hammer seines Wortes, wir haben die Pflicht,
den Menschen Gewalt anzutun - nur solche Gedanken hatten wir im Gehirn.
Offiziell sollten wir als Freund und Helfer des Volkes auftreten, in Wirklichkeit
aber durften wir brutal zuschlagen.
, , ...
Und wirklich, wenn wir damals an einem Bahnhof ankamen, da begegneten
wir den BlumenSchwalben, bettelnden Kindern, die kein Zuhause hatten ...
so etwas hatte man niemals zuvor gesehen. Ja, in der Tat, es ist eine echte
Geschichte. In P'yŏngsŏng in der Provinz SüdP'yŏngan gibt es viele
Universitäten. Die Frauen dort sind meistens im Alter zwischen siebzehn
und einundzwanzig. Da sie in Unterkünften für Studenten leben und
ansonsten auf sich gestellt sind, haben sie ein schweres Leben. Also kamen
sie nach draußen und haben ihre Körper verkauft.
...
Also, es gab GetreideFladen, die waren nur so groß, und ganz dünn, das
nannte man P'yŏngsŏngBrot - und fünf von diesen P'yŏngsŏngBroten, das
war der Preis für ihren Körper. Egal, ob es noch junge Mädchen waren, sie
kamen alle nach draußen und haben das gemacht, um zu überleben.
... ...
Und es traten auch immer häufiger Fälle von Diebstahl auf. Kim Jongils
Sicherheitsministerium hat deswegen hintenrum einen Befehl rausgegeben,
einen geheimen Befehl, nämlich: Egal, ob es nur eine kleine Straftat ist,
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 16
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
erschießt den Täter auf der Stelle. Solch eine Anweisung bekamen wir. Mit
einem Wort, wenn jetzt ein kleiner Dieb jemandem etwas aus der Tasche
nahm und in den Stadtpark lief, haben wir ihn dort geschnappt. Er musste
sich vor uns hinknien, und dann haben wir ihn sieben Mal hintereinander in
den Kopf geschossen.
?
"Warum bringe ich diesen Menschen um?"
Eine Hinrichtung darf doch nur nach einem gesetzlichen Verfahren
stattfinden?
? ,
Aber weil es uns befohlen wird ...
.
... bemühen wir uns, unsere Treue zu Kim Jongil unter Beweis zu stellen,
und dafür wird man dann auch belobigt. Mit einem Wort, man fühlt sich
überhaupt nicht so, als hätte man jemanden ermordet, und man hat auch
kein Schuldgefühl. Heute denke ich anders darüber.
Nun, ich wurde schließlich zum Offizier befördert. Und als Offizier in einem
Bataillon hatte ich damit endlich auch die Erlaubnis, zu heiraten.
.
.
Ich reiste also für ein paar Wochen zurück in meinen Heimatort, und dort
sah ich sie. Damals war die nordkoreanische Gesellschaftsrealität sehr hart, deswegen war es
der Wunsch vieler Mädchen, einen Soldaten zu heiraten.
Meine Eltern wussten, dass meine Frau früher schon einmal verheiratet war.
Und sie wussten auch, dass sie während ihrer ersten Ehe gegen das Gesetz
der Sittlichkeit verstoßen hatte. Mit einem Wort, meine Frau hatte dieselbe
Eigenschaft wie der Wind. Meine Eltern hätten mich vor ihr warnen müssen,
doch sie haben sich nicht getraut. Denn in Nordkorea zählt die berufliche
Position mehr als die familiäre. Deswegen fanden meine eigenen Eltern es
schwierig, mit mir aufrichtig zu reden. Da die Autorität meines Amtes damals
so groß war, verstehen Sie? Weil ich schon meine Absicht erklärt hatte,
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 17
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
diese Frau zu heiraten, hatten meine Eltern Angst, sich mir in den Weg zu
stellen. Deshalb haben meine Eltern geschwiegen.
So wurden wir eine kleine Militärfamilie. Wir waren wie Mandarinenenten,
meine Frau hat sich am Anfang wirklich gut um mich gekümmert. Wenn ich
am Feierabend nach Hause gekommen bin, hat sie mir meine Tasche
abgenommen und etwas gekocht. Am Anfang sieht ja immer alles ganz gut
aus.
Da es der Wirtschaft aber nicht gut ging, wurde mir kein Lohn ausgezahlt.
In Nordkorea ist es normal, wenn man als Soldat kein Geld bekommt. Die Soldatenfamilie erhält
Zuteilungen von Reis, Mais und Kartoffeln. Doch man muss ja noch etwas
dazu essen, und in der Stadt benötigt man dafür Geld. Mit einem Wort:
wollten wir auch nur ein paar Pfefferschoten vom Markt holen oder andere
Gewürze, brauchten wir noch einen Nebenverdienst.
.
'
.
Meine Frau hat also unter der Hand alten Schmuck von Leuten aufgekauft
und nach China weiterverkauft, und ich konnte während meinem Dienst hier
und dort mal jemandem in die Tasche greifen. Verstehen Sie? Manchen
Leuten haben wir in Kontrollen ein Vergehen angehängt, um von ihnen Geld
zu erpressen.
.
.
Mit einem Wort: Wer seine Rechte sehr gut kennt, kann sich einigermaßen
selbstsicher bewegen. Wer seine Rechte aber nicht gut kennt, ist verletzlich.
Aus diesem Grund werden auch die Gesetze dem Volk nicht mitgeteilt. So
kann die Regierung mit den Menschen machen, was sie will, und wir
machen es genauso. Mit einem Wort, es gilt das Recht des Stärkeren. Nur,
wenn ich meine Stärke zeige, behalte ich auch das Recht. So sollten Sie das
betrachten.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 18
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Beispielsweise halte ich eine Person an und sage: "Sie machen da etwas
Verbotenes", und diese Person rechtfertigt sich und ich merke, dass ihr
Einwand berechtigt ist ... dann kann ich nicht einfach sagen, "Oh, tut mir leid,
ich habe mich geirrt, Sie können weitergehen." Sondern ich sage:
"Du wagst es, mir zu widersprechen, du Hundefrau?"
Sofort herrscht das Autoritätsbewusstsein in meinem Kopf. Und wenn sich
die Person weiterhin beschwert, und zum Beispiel sagt, "Warum muss ich
mir von Ihnen Schimpfwörter anhören?", dann fliegt die Faust raus.
Ich denke dabei nicht, "Du hast es verdient, von mir geschlagen zu werden,
weil du die und die Straftat begangen hast," sondern ich denke, "Weil mir die
Autorität gegeben ist, dich zu schlagen, musst du von mir geschlagen
werden, unabhängig davon, ob du etwas richtig oder falsch gemacht hast."
Letztendlich verhalten wir uns so, um nicht zu verlieren. Man muss genau so
viel Autorität, wie einem gegeben ist, auch anwenden.
Die Frauen schlagen wir ins Gesicht. Wir sind zu Frauen nicht so wie bei
Männern, wir treten sie nicht mit unseren Stiefeln ins Gesicht, oder in den
Bauch, wenn sie am Boden liegen. Die Frauen schlagen wir ins Gesicht, und
wenn sie dann noch etwas dagegen sagen, dann nehmen wir sie an den
Haaren und stoßen sie nieder auf den Boden, manchmal schlagen wir sie
mit dem Gewehrkolben. In unseren Köpfen ist dieses Autoritätsbewusstsein
eingeschmolzen, und über unsere Körper entlädt es sich als Gewalt.
Aber währenddessen spüre ich nicht, dass es überhaupt Gewalt ist. Die
Gesellschaft erlaubt den Menschen nicht, auf ihre Gefühle zu hören. Man
schlägt einfach ... wenn ich mit ein, zwei Worten nicht weiterkomme, dann
fliegt meine Faust. Weil ich eigentlich keinen gerechten Grund habe, kommt
die Gewalt aus mir heraus. So ist es. Man denkt dabei nur, dass es ein
Dienst ist. Ein guter Dienst, ich kann damit gewinnen.
.
So sollten Sie das sehen.
... ?
...
. .
Aber dann hat mich jemand wegen dem Schmuckhandel meiner Frau
angezeigt. Die Leute waren neidisch, weil wir besser gelebt haben als sie.
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 19
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
So sollten Sie das sehen. Deshalb wurde ich unehrenhaft aus der Armee
entlassen.
Tür, geschlossener Raum
kleine Schwester: ... ...
.
Unsere Familie kommt aus einem Ort ganz im Norden, in der Nähe des
TumenFlusses, der die Grenze zu China bildet. Mein Vater hat in der
sogenannten ZwanzigsterJanuarFabrik gearbeitet und meine Mutter
war im Krankenhaus des Kohlebergwerks angestellt.
... . ...
... ? , .
? ,
.
Unsere Familie war zwar nicht richtig wohlhabend, aber wir waren auch nicht
arm. So ging es ungefähr bis zu meinem zehnten Lebensjahr. Als ich in die
vierte Klasse ging, gab es so ein Erlebnis. Ich war nach Schulschluss auf
dem Weg nach Hause und lief also mit den anderen in einer Gruppe.
Plötzlich wurde mir so schwindelig, dass ich schon Sternchen sah und mir
schwarz vor Augen wurde. Trotzdem hielt ich mich auf den Beinen und fiel
auch nicht in Ohnmacht. Nachdem ich mich dann wieder ein wenig gefangen
hatte, ging ich einfach nach Hause, und sagte niemandem etwas davon.
... ...
Da ist mir das erste Mal richtig bewusst geworden, dass ich wohl wirklich
nicht genug zu essen bekomme.
4 ...
Ich muss wohl ... zwölf ...
? .
... nein, elf Jahre alt war ich da.
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Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
. ,
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Wenn ich dann also mittags von der Schule nach Hause kam und den
Deckel des Eisentopfs anhob, waren vier Schüsselchen darin. In jeder
Schüssel war exakt gleich viel Maisbrei. Es war nicht so, dass mein Vater
eine größere Portion bekam, weil er der Vater war, oder ich nur wenig, weil
ich noch klein war.
...
Von da an war es dann so. Zuerst gab es noch Mais. Nach einiger Zeit gab
es schließlich nur noch einen Brei aus Mais und Wasser und später gab es
mehr und mehr Tage, an denen wir gar kein Mittagessen hatten und
hungern mussten.
? .
Als ich noch zur Schule ging, gab es immer wieder Klassenkameraden, die
nicht mehr kamen. Schon da gab es bereits viele Fälle von Leuten, die zu
Tode verhungert waren, oder Kinder, die von ihren Eltern zurückgelassen
wurden. Da hörte ich dann auf zu denken, dass man trotz des Hungers in
die Schule muss. Als es Herbst wurde, folgte ich meiner Mutter auf die
Felder, um Ähren aufzusammeln, die nach der Ernte liegengeblieben waren.
So etwas haben wir dann gemacht.
. .
Wir verkauften als erstes den Fernseher, und danach die Nähmaschine.
Später verkaufte unser Vater dann die Möbel und nach und nach unser
gesamtes Hab und Gut. Mein Vater hatte ein sehr freundliches und sanftes
Gemüt, aber zu der Zeit habe ich meinen Vater dafür sogar ein wenig
gehasst. Alles wurde verkauft, bis wir wirklich nur noch besaßen, was wir
gerade anhatten. Wir lebten in vollkommen ausgeräumten Zimmern.
...
.
Eines Tages hatte ich gehört, wie mein Vater auf die Toilette ging als wir
schliefen, danach legte er sich wie immer wieder hin. Da er vom Hunger
sehr krank war, ließen wir ihn den ganzen Morgen schlafen und meine
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Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Mutter und ich erledigten, was zu erledigen war. Aber mein Vater war
einfach zu still, weswegen meine Mutter nach ihm schaute. Sein Atem ging
sehr unregelmäßig und setzte auch mal aus ... ich beobachtete ihn die
ganze Zeit über ganz regungslos. Meine Mutter schüttelte und schlug ihn,
doch er konnte nicht mehr aufstehen.
Nachdem mein Vater gestorben war, haben wir keinen anderen Ausweg
mehr gesehen, als nach China zu flüchten.
.
China liegt hinter dem mächtigen TumenFluss, nicht weit von unserem Ort
entfernt. Und da der Fluss im Winter oft zugefroren ist, wollten wir diese
Jahreszeit nutzen. Weder meine Mutter, noch meine ältere Schwester oder
ich selbst konnten schwimmen. Eine Eisdecke auf dem Grenzfluss war also
der einzige Weg für uns nach China. Doch als wir ankamen, war der Fluss
nicht vereist. Das Flussbett ist sehr breit, aber nicht unbedingt auch tief, es
gibt dort mehrere Stellen, die aus dem Wasser herausragen. Wir hielten uns
an der Hand, und anfangs reichte das Wasser nur zu den Knien. Ich war die
erste, da ich auch am kleinsten war, die plötzlich keinen festen Grund mehr
unter den Füßen hatte. Meine Mutter schritt unermüdlich vorwärts, doch
dann begann auch meine Schwester im Wasser zu treiben. Als meine Mutter
das bemerkte, ging sie mit uns beiden an der Hand wieder zurück ...
ans nordkoreanische Ufer.
... .
. . ...
Dann kamen Soldaten. Wir hätten wegrennen müssen, aber es war eiskalt,
wir waren vollkommen durchnässt, meine Mutter war so sehr geschwächt,
dass sie kaum gehen konnte. Wir saßen zitternd am Ufer und hatten keine
andere Wahl, als uns freiwillig auszuliefern. Normalerweise ist es so, wenn
man gefangen genommen wird, kommt man sofort in ein Arbeitslager oder
dergleichen. Doch die Soldaten fanden uns wohl so bemitleidenswert, dass
sie uns eine warme Suppe gaben und eine Nacht bei ihnen im Feldlager
übernachten ließen. Sonst wären wir wahrscheinlich erfroren. Am nächsten
Tag gaben sie uns wieder zu Essen und Milchpulver mit auf den Weg und
ließen uns einfach laufen.
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Dafür waren wir sehr dankbar ...
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43'40'' min.
...
... mir kommen die Tränen ...
...
Wir zogen uns in die umliegenden Berge zurück. Ein ganzes Jahr lebten wir
dort in den Wäldern, bis im nächsten Winter der Grenzfluss endlich ganz
zugefroren war. Als wir dann eines frühen Morgens chinesisches Land
betraten, liefen wir einfach querfeldein.
.
Schließlich gelangten wir an einen Ort namens Hunchun. Es ging dort schon
recht städtisch zu. Wir waren so erschöpft, dass wir uns einfach gegen ein
Reisbündel lehnten, wovon es in China ja viele gibt, und mitten am Tag in
einer Häusernische einschliefen. Doch dann wurden wir von einer Chinesin
geweckt. Wir wollten weglaufen, aber die Frau sagte auf Koreanisch, dass
sie uns helfen wolle und wir mitkommen sollten. Die Frau hielt ein Taxi an
und wir fuhren in die Innenstadt von Hunchun, wo die Frau ein Haus hatte.
Dort angekommen, bekamen wir zu essen,
.
... und dann schlug die Frau meiner Mutter vor, doch zu heiraten.
,
.
.
Um ehrlich zu sein, hatte meine Mutter kaum eine andere Wahl. Als ihr
versichert wurde, dass wir Kinder auch in die Schule kommen würden,
willigte sie ein.
Nach drei, vier Tagen kamen dann wirklich zwei dunkelhäutige Chinesen, also
Bauern, in das Haus. Als sie begannen, das Geld auf dem Tisch
abzuzählen, wurde uns erst richtig bewusst, dass in diesem Haus mit
Frauen gehandelt wurde, und dass meine Mutter nicht verheiratet, sondern
verkauft wurde.
Die beiden Chinesen zahlten zweitausend Yuan für meine Mutter.
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Skript von Jens Jarisch
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So kam es dann, dass wir mit ihnen gingen. Meine Schwester und ich waren
mit meiner Mutter zusammen zu einem günstigen Preis mitverkauft worden,
und dabei hatten meine Schwester und ich noch ziemliches Glück gehabt ...
wir sahen für unser Alter noch sehr jung aus, wie Sieben- oder Achtjährige -
zu jung, um einzeln verkauft zu werden und in Nachtclubs zu verschwinden.
Deshalb konnten wir bei unserer Mutter bleiben.
...
Der Mann, der für meine Mutter bezahlt hatte, war einer von sechs Brüdern.
Sie lebten in einer der ärmsten Gegenden von China, diese Leute konnten
noch nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben. Es war unwahrscheinlich,
dass eine Chinesin so jemanden heiratete, und so wurde ihnen eine Frau
angeboten, die aus Nordkorea geflüchtet war, und das war meine Mutter.
...
.
Wir lernten Chinesisch und dann stritten wir auch sehr viel. Das lief immer
darauf hinaus, dass meine Mutter dem Bauern sagte, sie würde weglaufen,
worauf er zu sagen pflegte, dass sie ihm dann die zweitausend Yuan
zurückgeben solle.
So lebten wir also etwa drei Jahre lang. Es war auch nicht so, dass genug
Geld übrig blieb, uns neue Kleidung zu kaufen oder uns zur Schule zu
schicken oder so. Und außerdem lebten wir ja weiterhin als illegale
Einwanderer dort. Meine Schwester und ich blieben daher zu Hause, und
wenn die Felder bestellt werden mussten, gingen wir raus und säten
Bohnen, ernteten, pflückten Heilkräuter und Pilze ...
. ...
... bis wir eines Tages plötzlich von chinesischen Beamten verhaftet
wurden.
...
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Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
Es war ein warmer Sommertag. Wir kamen in ein Abschiebelager an einem
Grenzkontrollpunkt, wo auch schon andere nordkoreanische Gefangene
warteten. Und dann wurden wir schließlich in einem Transportbus über den
TumenFluss nach Nordkorea überführt, wo wir in ein Arbeitslager gebracht
wurden.
Eigentlich ist es in Nordkorea die Regel - wenn man verhaftet wird - dass
man von der Polizei aus dem Heimatort abgeholt wird und dann dort in ein
Gefängnis kommt. Doch in unserem Heimatort waren wir aus dem
Familienregister gelöscht worden. Es war also niemand mehr für uns
zuständig.
In dem Arbeitslager wussten sie nicht, was sie nun mit uns machen sollten, und schließlich
ließen sie uns einfach laufen.
...
Ohne weiter nachzudenken gingen wir sofort zurück zum TumenFluss.
...
Zu dieser Zeit herrschte eine außergewöhnliche Dürre, und das Flussbett
war fast ausgetrocknet.
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Wir konnten durch das seichte Wasser einfach hindurchwaten, und kamen
so wieder in China an.
Wir wussten, dass wir nicht wieder alle drei auf einmal erwischt werden
durften, und es besser wäre, wenn wir nicht zusammenblieben. Wir
sprachen ja inzwischen gut Chinesisch, und so schlugen wir uns jeder für
sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, sparten Fahrtgeld, und trafen uns zwei
Jahre später in Shanghai. Dort arbeiteten wir in koreanischen Supermärkten
und Restaurants, und nach weiteren drei Jahren in Shanghai hatten wir
genug Geld beisammen, um nach Südkorea zu kommen.
Interviewer: Und heute leben Sie, Ihre Schwester und Ihre Mutter gesund in Seoul?
Und Sie studieren an der Universität?
kleine Schwester: .
Interviewer: Wenn es etwas gibt, was Sie jetzt noch vermissen, was wäre das?
25 Seiten Lebensberichte aus Nordkorea Seite 25
Skript von Jens Jarisch
43'40'' min.
kleine Schwester: ... ? ...
' ‘ ...
. ,
. ...
. ... ...
Straße, Stimmen, Schritte
Absage: Lebensberichte aus Nordkorea
ein Feature von Jens Jarisch
mit Ursula Werner, Jule Dormann, Tino Mewes, Henning Bormann,
Jessica Richter und Aaron Le
Übersetzungen und Projektassistenz - Na-Hyeon Shin
weitere Übersetzungen von Jae-Deok Lee, Hae-Rim Lee und Natalie Park
Ton - Kaspar Wollheim
Regie - Jens Jarisch
Redaktion - Renate Jurzik
Eine Produktion des Rundfunk Berlin-Brandenburg
mit dem Südwestrundfunk, dem Norddeutschen Rundfunk
und dem Deutschlandfunk in Zusammenarbeit mit
dem Goethe-Institut Seoul