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Leistungsfach Deutsch Schriftliche Abiturprüfung 2021 Beispielaufgaben

Leistungsfach Deutsch Schriftliche Abiturprüfung …...Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 266. Aufgabenstellung : Erörtern Sie in

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Page 1: Leistungsfach Deutsch Schriftliche Abiturprüfung …...Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 266. Aufgabenstellung : Erörtern Sie in

Leistungsfach Deutsch

Schriftliche Abiturprüfung

2021

Beispielaufgaben

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Allgemeine Informationen zur schriftlichen Prüfung im Leistungsfach Deutsch (2021)

Weiterentwicklung der schriftlichen Abiturprüfung i m Leistungsfach Baden-Württemberg nimmt zur Abiturprüfung 2021 Formatanpassungen in den Aufgaben der schriftlichen Abiturprüfung in den Fächern Mathematik und Deutsch sowie in den Modernen Fremdsprachen vor. Anlass für die Formatanpassungen ist zum einen die kontinuierliche Weiterentwicklung der Aufgabenformate in Baden-Württemberg; zum anderen wurde auf der Ebene der KMK vereinbart, im Sinne der besseren Vergleichbarkeit in den KMK-Prüfungs-fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch Aufgaben aus dem gemeinsamen Aufgabenpool der Länder ab dem Abitur 2021 unverändert einzusetzen. Um zu gewährleis-ten, dass Baden-Württemberg Aufgaben unterschiedlicher Aufgabenarten entnehmen und unverändert einsetzen kann, mussten Änderungen an den Aufgabenformaten in der Abitur-prüfung vorgenommen werden. Seit dem Abitur 2001 sind die Prüfungsformate in den Mo-dernen Fremdsprachen identisch. Da diese Linie auch in Zukunft fortgesetzt werden soll, gelten die Formatanpassungen neben Englisch und Französisch auch für die übrigen Mo-dernen Fremdsprachen. Die Schulen wurden über die Formatanpassungen mit Schreiben vom 7. Januar 2019 infor-miert. Aufgabenarten im Fach Deutsch In der schriftlichen Abiturprüfung im Leistungsfach Deutsch wählen die Schülerinnen und Schüler ab 2021 eine von drei vorgelegten Aufgaben . Der Fachlehrerin, dem Fachlehrer werden drei Aufgaben (I, II, III) vorgelegt: Aufgabe I Erörterung literarischer Texte

A. Erörterung eines literarischen Textes oder B. Erörterung zweier literarischer Texte („Werke im

Kontext“) Aufgabe II Interpretation literarischer Texte

A. Interpretation eines Kurzprosatextes oder B. Interpretation eines Gedichts oder vergleichende

Interpretation zweier Gedichte Aufgabe III Analyse und Erörterung pragmatischer Texte bzw.

materialgestütztes Schreiben A. Materialgestütztes Verfassen eines argumentieren-

den Textes (Kommentar) oder B. Analyse und Erörterung eines pragmatischen Textes

(Schwerpunkt Analyse oder Schwerpunkt Erörte-rung)

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Allgemeine Informationen zur schriftlichen Prüfung im Leistungsfach Deutsch (2021)

Die Aufgabenvarianten A und B werden jeweils alternativ gestellt, d. h. jeder Satz Prüfungs-aufgaben enthält in Aufgabe I, II und III entweder Variante A oder B. Den Aufgaben I und II liegen die Pflichtlektüren und das Leitthema Lyrik wie folgt zugrunde: Aufgabe I, Variante A: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil

oder Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene

Aufgabe I, Variante B: E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf

und Hermann Hesse: Der Steppenwolf

Aufgabe II, Variante B: Leitthema Lyrik

Die Schülerin, der Schüler

- erhält alle drei Aufgaben; - wählt davon eine Aufgabe aus und bearbeitet diese; - vermerkt auf der Reinschrift, welche Aufgabe sie/er bearbeitet hat; - ist verpflichtet, die Vollständigkeit der vorgelegten Aufgaben vor Bearbeitungsbeginn zu

überprüfen (Anzahl der Blätter, Anlagen usw.). Beispielaufgaben Bei den Aufgaben - I, Variante A (Erörterung eines literarischen Textes), - I, Variante B (Erörterung zweier literarischer Texte) und - III, Variante A (Materialgestütztes Verfassen eines argumentierenden Textes) handelt es sich um neue Aufgabenarten . Um die Lehrkräfte bei der Integration der neuen Aufgabenformate zu unterstützen, wurden Beispielaufgaben erstellt. Die vorliegenden Beispielaufgaben zu den drei neuen Aufgabenar-ten in der schriftlichen Abiturprüfung im Fach Deutsch sollen sicherstellen, dass die Schüle-rinnen und Schüler im Leistungsfach bereits von Beginn der Kursstufe an mit den neuen Aufgabenarten vertraut gemacht werden. Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungsmöglichkeiten sind jeweils möglich, wenn sie der Auf-gabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind. Die Lehrkräfte werden gebeten, die neuen Aufgabenarten bei der Konzeption von Klausuren zu berücksichtigen. Die Beispielaufgaben werden im Rahmen der regionalen Fortbildung multipliziert und stehen online unter www.km-bw.de zum Download bereit.

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MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT

Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien

Leistungsfach Deutsch Aufgabe I A Beispielaufgaben 2021 Blatt 1 - 2

Aufgabe I, Typ A

Erörterung eines literarischen Textes

Thema: Johann Wolfgang von Goethe, Faust

Dieter Borchmeyer: Faust – Goethes verkappte Komödi e

Die Tragödie als ‚verkappte‘ Komödie. […] Goethes „Faust“ ist wirklich „Comedia“ in einem

umfassenden – die divergierendsten Formen der Komik umspannenden – Sinne, vom Sata-

nischen zum Göttlichen, von farcenhafter1 Sexualkomik zu himmlischer Heiterkeit aufstei-

gend. [… Darin] scheint das Tragische zu verschwinden – ganz abgesehen davon, dass die

Titelgestalt der „Tragödie“ selber eine durchaus untragische Gestalt ist. […] Faust fehlt die 5

elementare Bedingung des Tragischen: das Leiden. Daher wendet sich ihm auch in keinem

Moment das Mitleiden des Zuschauers oder Lesers zu. Über Faust hat noch nie ein Mensch

eine Träne vergossen. Woran liegt das? Aristoteles hat im dreizehnten Kapitel seiner „Poetik“

die ‚Ähnlichkeit‘ zwischen Held und Zuschauer als eine der Bedingungen der tragischen Wir-

kung bezeichnet, denn sie allein ermöglicht die Identifikation des Zuschauers mit dem Prota-10

gonisten. Furcht und Mitleid sind Identifikationsaffekte. Faust indessen – der „Übermensch“,

der stets über die conditio humana2 hinausstrebt (V. 490) – ist niemals ‚ähnlich‘, erhebt sich

über jede begrenzende, bedingende Menschenform und erlaubt daher auch keine Identifika-

tion, die an diese Form gebunden ist. Er, der nach Mephistos Worten „der Erde Freuden

überspringt“ (V. 1859), er überspringt auch deren Leiden. 15

Immer entzieht Faust sich im Brennpunkt des Scheiterns, da „der Menschheit ganzer Jam-

mer“ ihn anfasst (V. 4406), den tragischen Konsequenzen seines Tuns, indem er seine bis-

herige Erdenform zugunsten einer anderen ablegt. Von der Wissenschaft, vor dem Zusam-

menbruch seines Wissensgebäudes, flüchtet er in die weiße und […] in die schwarze Magie.

1 Farce: Derb-komisches Lustspiel, das durch die übertriebene Darstellung unwahrscheinli-cher Situationen bis hin zum Absurden, Elemente von Parodie und Satire, Sprachwitz und sexuelle Anspielungen, starker Typisierung der Figuren und Verwechslungen gekennzeichnet ist. 2 conditio humana (lat.): Bedingungen und Umstände des Menschseins, Natur des Men-schen.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I A Beispielaufgaben 2021 Blatt 2 - 2

Durch Zauber verjüngt, d. h. eines Teils seiner eigenen Lebensgeschichte mit ihren Erinne-20

rungswerten beraubt, verwandelt er sich in den liebenden Jüngling, und als er in dieser Ge-

stalt ein tragisches Verhängnis auslöst, entzieht er sich ihm – nach vergeblichen Versuchen,

es durch Trennung zu unterlaufen („Wald und Höhle“) oder zu verdrängen („Walpurgisnacht“)

– im Moment der Katastrophe durch regelrechte Flucht. […]

Faust ist der große Vergesser! Nur durch das Abstreifen der Erinnerung – die Bedingung 25

seines untragischen Charakters – kann er immer wieder von vorn anfangen, eine Existenz-

form gegen die andere vertauschen und in seinem „Selbst“ genießen, was der „ganzen

Menschheit zugeteilt“ ist (V. 1770 f.). Zwar löst er immer wieder Tragödien aus […], aber er

selbst wird von ihnen nicht im Innersten betroffen. Wenn „Faust“ eine Tragödie ist, dann ist

sie es gegen Faust selber. Ist dieser nicht tragisch, so ist er allerdings, so scheint es, erst 30

recht nicht komisch. So wie noch niemand über ihn geweint, so hat auch noch niemand über

ihn gelacht. Und doch hat er Züge einer […] komischen Gestalt. Anders als der tragische

Held, der immer ein einmaliges Individuum bleibt, ist er wie der komische Held […] ein Ty-

pus, eine Menschheitsallegorie, nicht auf ein einziges Menschenleben reduzierbar. Sein im-

mer erneutes Streben nach dem Absoluten, dem immer wieder durch die Kontingenz3 der 35

Dinge, durch den „Körper, der die Seele nicht aufkommen läßt“ (Bergson), ein Bein gestellt

wird, die Sequenz von Täuschungen, die seinen Lebensweg wie ein Schatten begleiten […]:

all das ist von einer ‚verkappten‘ Komik, die für den Lacher Mephisto eine offenkundige ist –

allerdings nur für ihn, aus seiner verzerrten Perspektive.

aus: Dieter Borchmeyer: Faust – Goethes verkappte Komödie. In: Die großen Komödien Europas, hrsg. v. Franz Norbert Mennemeier, Tübingen 2000, S. 199–226; Neupublikation im Goethezeitportal, http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/faust_borchmeyer.pdf, S. 21 f.

Aufgabenstellung:

1. Arbeiten Sie die wesentlichen Aussagen des Textes heraus.

2. Setzen Sie sich mit der Position Borchmeyers auseinander.

Bitte beachten Sie, dass der Schwerpunkt der Gewichtung auf der zweiten Teilaufgabe liegt.

3 Kontingenz : Zufälligkeit, Unberechenbarkeit von Ereignissen und Lebensumständen

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MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT

Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien

Leistungsfach Deutsch Aufgabe I B Beispielaufgaben 2021 Blatt 1 - 1

Aufgabe I, Typ B

Erörterung zweier literarischer Texte

Thema: E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf, Hermann Hesse: Der Steppenwolf

„Nicht nur das, was nicht erlaubt war, übt eine Anziehungskraft aus, sondern auch das, was

nicht möglich ist. Anscheinend empfindet der Mensch ein tiefes Bedürfnis, bis an die

persönlichen, sozialen und natürlichen Grenzen seiner Existenz vorzudringen, gleichsam von

dem Wunsch getrieben, über den engen Lebensrahmen, in den er hineingezwungen ist,

hinauszublicken.

Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 266. Aufgabenstellung : Erörtern Sie in einer vergleichenden Betrachtung, inwieweit Fromms Ausführungen auf Anselmus in Der goldne Topf und Harry Haller in Der Steppenwolf zutreffen.

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MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT

Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien

Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 1 - 9

Aufgabe III, Typ A

Materialgestütztes Verfassen eines argumentierenden Textes

Thema: Realität und Fiktion (Kommentar)

Aufgabenstellung :

In seinem Zeitungsartikel „Vorsicht Dostojewski“ für die Online-Ausgabe der Süddeutschen

Zeitung vom 4. August 2018 berichtet der Journalist Sebastian Herrmann: „Studenten der

britischen Universität Cambridge fanden vor einiger Zeit, dass verletzliche Studierende vor

Shakespeare geschützt werden sollten. Die Aktivisten kämpften dafür, dass dessen Stücke

in Kursen mit Warnhinweisen versehen werden sollten, mit sogenannten Trigger Warnings1“

(vgl. Material 3).

An Ihrer Schule ist eine lebhafte Diskussion darüber entstanden, ob auch im Deutsch-

unterricht solche Warnungen für Schülerinnen und Schüler bei der Lektüre historischer und

aktueller literarischer Werke eingeführt werden sollten.

Verfassen Sie auf der Grundlage der Materialien 1-5 sowie Ihres eigenen Wissens zum

Thema „Realität und Fiktion“ einen Kommentar (Umfang: ca. 1000-1500 Wörter) als Beitrag

zu dieser Diskussion, der auf der Schulhomepage veröffentlicht werden soll und sich an die

Schulgemeinschaft richtet. Formulieren Sie eine geeignete Überschrift.

1 Trigger: auslösender Schlüsselreiz, z. B. für Erinnerungen, Emotionen u. a.

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MINISTERIUM FÜR KULTUS, JUGEND UND SPORT

Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien

Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 2 - 9

Materialien:

Material 1: Jost Schneider: Fiktionalität und Fakti zität

In der alltäglichen Praxis der literarischen Kommunikation wird die exakte Unterscheidung

zwischen Erfundenem und Nicht-Erfundenem fast nie zu einem Problem. Das liegt allerdings

keineswegs daran, dass der durchschnittliche Leser über ein unfehlbares Differenzierungs-

kriterium verfügt, das er mit traumwandlerischer Sicherheit anwendet und das ihm jederzeit

zu entscheiden erlaubt, ob ein Text als fiktional oder als nicht-fiktional einzustufen ist. 5

Vielmehr ist die Ursache für dieses mangelnde Problembewusstsein darin zu suchen, dass

der Durchschnittsleser bei der Entscheidung über den Fiktionalitätsgrad eines Textes

offenbar nicht mit einem zweiwertigen, sondern mit einem dreiwertigen Kategoriensystem

arbeitet. Für ihn gibt es also nicht nur das Fiktionale und das Nicht-Fiktionale, sondern

darüber hinaus noch eine dazwischen stehende Mischkategorie, eine Grauzone, in der 10

Tatsachen und Sachverhalte mit ambivalentem Wirklichkeitsstatus gespeichert werden.

Dieser ambivalente Status resultiert daraus, dass der durchschnittliche, nicht mit

wissenschaftlicher Nüchternheit in den Rezeptionsvorgang eintretende Leser nicht nur mit

rational-kognitiven, sondern auch mit emotional-sinnlichen Evidenzen operiert. Wenn das

‚Involvement‘ des Lesers, seine innere Anteilnahme bei der Lektüre, ein gewisses Niveau 15

überschreitet, können Figuren, Lokalitäten oder Geschehnisse allem Anschein nach eine

derartige Präsenz und Plastizität gewinnen, dass er ihnen den Wirklichkeitscharakter bis zu

einem gewissen Grad nicht mehr absprechen kann. Emotionale und kognitive Evidenz

stehen dann in einem Konflikt, der die Einrichtung der besagten dritten Kategorie, also die

Einrichtung einer Grauzone zwischen Erfundenem und Nicht-Erfundenem, erforderlich 20

macht.

So ist es zu erklären, dass z. B. populäre Schauspieler nicht selten auch im Privatleben mit

ihrer Paraderolle identifiziert werden, dass sich Wohnungssuchende an die Fernsehanstalt

wenden, wenn in einer Fernsehserie eine Wohnung frei wird, dass Leser von eindeutig

erfundenen Horrorgeschichten unter Umständen starke körperliche Reaktionen zeigen, dass 25

Lesezirkel einem Autor Geldspenden für seine in Not geratene Hauptfigur schicken, dass die

Schauplätze erfolgreicher Kinofilme einen Touristenansturm erleben, dass Stadtführungen

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 3 - 9

und Literaturreisen durch das Berlin Fontanes oder das Venedig Donna Leons angeboten

werden und was dergleichen Phänomene mehr sind, die auf ein beträchtliches Maß an

Gelassenheit im Umgang mit real-fiktionalen Übergangsphänomenen schließen lassen. […]30

aus: Schneider, Jost: Fiktionalität und Faktizität. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegen-stände und Grundbegriffe. Bd. 1. Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart 2013, S. 12-14.

Material 2: Eine Leserin beschreibt ihr Leseverhalt en

„Stundenlang konnte ich - und kann ich - in Buchhandlungen herumlaufen. Schauen,

stöbern, anlesen, blättern und meist auch kaufen (nach langem Hin- und Herüberlegen, was

denn nun das Beste sei). Zu Hause habe ich stets eine Art ‚Lesezeremonie‘. Ich fange an,

mir den Umschlag anzusehen, lese den Klappentext, die Autorenbiografie (falls vorhanden),

den Originaltitel, die einzelnen Kapitel. Dann überlege ich, was wohl passiert, worum es geht 5

usw. Anschließend wird angefangen, das Buch von vorn bis hinten zu lesen. Am Ende

angelangt, muss ich oft noch stundenlang über das nachdenken, was ich da gelesen habe.

Manchmal, wenn ich viel Zeit habe und ein Buch in einem Rutsch lese, weil es so fesselnd

ist, dass ich es nicht beiseitelegen kann, bin ich für den Rest des Tages irgendwie ganz

‚benebelt‘ oder ‚entrückt‘, eben noch ganz in der Welt des eben Gelesenen. Dies passiert 10

allerdings nur bei Büchern, zumeist sind es Romane, die ich für mich privat lese. Nichts für

die Uni oder das Studium. Private Lektüre lese ich allein und ungestört. Ich kann es nicht

haben, wenn Musik läuft oder Leute sich neben mir unterhalten, es muss still sein und ich

muss mich unbeobachtet fühlen, damit es mir nicht peinlich ist, wenn ich laut auflache oder

ganz sentimental und ergriffen bin, je nachdem, um was für ein Buch es sich handelt. Seit 15

jeher finde ich, dass es sich (privat) am besten im Bett lesen lässt.“

aus: Graf, Werner: Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz. Münster 2004, S. 50.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 4 - 9

Material 3: Sebastian Herrmann: Vorsicht, Dostojews ki

Einige Studierende verlangen, auf Gewalt in ihrer L iteratur hingewiesen zu werden. Ist

das wirklich nötig?

Und auf einmal stellt sich die Frage, ob Studenten die Lektüre der Werke von William

Shakespeare zumutbar ist. In Stücken wie „Titus Andronicus“ fließt oft reichlich Blut; Mord

und Totschlag waren eben schon Thema vieler Erzählungen, bevor es den TV-„Tatort“ gab.

Studenten der britischen Universität Cambridge fanden vor einiger Zeit, dass verletzliche

Studierende vor Shakespeare geschützt werden sollten. Die Aktivisten kämpften dafür, dass 5

dessen Stücke in Kursen mit Warnhinweisen versehen werden sollten, mit sogenannten

Trigger Warnings.

Sie sind nicht allein. Auch an anderen Bildungseinrichtungen gelten klassische Werke

mittlerweile als problematisch, wenn nicht gar gefährlich. So haben Studenten in den USA

dafür gekämpft, in Seminaren vor der Lektüre auf die problematischen sexuellen Inhalte der 10

„Metamorphosen“ des römischen Dichters Ovid hinzuweisen. Oder zu betonen, dass das

Frauenbild in F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ schwierig sei; oder dass Alltag im 19.

Jahrhundert, wie von Mark Twain in „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ geschildert, von

Rassismus geprägt war. An vielen Unis bereitet das Lehrpersonal also junge Menschen

darauf vor, dass Texte aufwühlende Passagen enthalten. Traumatisierte Studierende sollen 15

auf diese Weise vor plötzlichen emotionalen Konfrontationen bewahrt werden, die ihre

seelischen Wunden wieder aufbrechen lassen.

An sich ist das eine hehre Idee, die jedoch viel Kritik provozierte: Wie sollen Erwachsene im

oft recht ungnädigen Leben zurechtkommen, so fragte der Psychologe Jonathan Haidt

sinngemäß, wenn sie als Studenten in Watte gepackt werden? Tatsächlich könnten die 20

Trigger Warnings kontraproduktiv wirken und Ängste erst recht verstärken.

Indizien dafür liefert eine Studie, die nun Psychologen um Benjamin Bellet von der Harvard

University veröffentlicht haben. Die Forscher ließen Probanden Passagen aus Werken von

Fjodor Dostojewski, Herman Melville und anderen Autoren lesen, in denen teilweise blutige

Schilderungen auftauchen. Lasen die Teilnehmer zuvor eine Warnung, dass sie nun 25

„verstörende Inhalte, die Angstzustände auslösen könnten“, sehen würden, wirkte das bei

manchen wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wer an die dunkle Macht der Sprache

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glaubte, spürte nach der Lektüre größere Angst, wenn er zuvor einen Warnhinweis

gelesen hatte.

„Der beobachtete Effekt ist klein“, räumen die Psychologen ein. Doch selbst wenn künftige 30

Studien die angstverstärkende Wirkung der Warnungen nicht bestätigen sollten, bleibt ein

Befund: Die Hinweise lindern oder verhindern Angst jedenfalls nicht, sie sind wertlos.

Überhaupt widerspräche die Idee etablierten Traumatherapien, so die Psychologen um

Bellet. Statt solche Patienten ganz vor kritischen Reizen zu bewahren, werden sie solchen in

milder Dosierung ausgesetzt, um einen Umgang damit zu lernen. Verunsicherte Studenten 35

könnten Trigger Warnings hingegen als Anlass dafür betrachten, die Lektüre aufwühlender

Texte ganz zu meiden. Das allerdings gab es schon immer, nur dass junge Menschen

klassische Literatur früher noch aus banalen Gründen verweigerten: Sie fanden sie

wahnsinnig öde.

https://www.sueddeutsche.de/bildung/psychologie-vorsicht-dostojewski-1.4075728, 04.08.2018, letzter Zugriff: 28.03.2019

Material 4: Sabine Peschel: Der Werther-Effekt: Wenn Selbstmord zum Faszinosum

wird

Seit der Antike haben sich literarische und philoso phische Texte mit dem Suizid

beschäftigt – manchmal mit tödlicher Verführungsgew alt. Setzen Filme und Todes-

spiele im Internet diese Tradition fort?

Die Realität beeinflusst die Literatur, verändert sie beständig in ihrer Sprache und ihren

Formen. Dass Texte und Bücher umgekehrt aber auch eine ganz direkte Wirkung auf das 5

Leben von Menschen haben können, ist ebenso eine Tatsache. Die ist allerdings im

allgemeinen Bewusstsein wenig verankert: Schließlich handelt es sich ja ‚nur‘ um Fiktion.

Johann Wolfgang von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ hatte einen

solchen Effekt. In seiner ersten, 1774 noch anonym veröffentlichten Fassung prägte er eine

ganze Epoche: Mit Gefühl statt Vernunft und Empfindsamkeit anstelle von Aufklärung 10

erreichte der damals erst 25-jährige Autor eine junge Generation. Das Zeitalter des Sturm

und Drang war geboren – und mit ihm eine fast grenzenlose Leidenschaftlichkeit.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 6 - 9

Verführung zum Selbstmord

Werther gibt sich einer hoffnungslosen Liebe hin, die ihn in den Selbstmord treibt –

schwärmerisch, radikal, an der Welt verzweifelnd. Und ungeheuer berührend. Der fiktionale 15

Suizid löste einen realen Nachahmungseffekt aus: Etwa ein Dutzend junge Menschen sollen

sich im Geiste Werthers umgebracht haben. Die Debatte um Goethes Bestseller – der erste

der deutschen Literaturgeschichte – wurde äußerst emotional geführt. Der „Werther“ verführe

junge Menschen zum Selbstmord und untergrabe moralische und religiöse Werte, schimpf-

ten die Kritiker. Goethe selbst entschärfte seinen Roman in einer zweiten Fassung von 1787, 20

der Selbstmord sollte weniger attraktiv erscheinen.

Heute sprechen wir vom Werther-Effekt, wenn in Folge eines aus Medien, Literatur oder Film

bekannten Selbstmordes vermehrt Suizide geschehen. Die Netflix-Serie „13 Reasons Why“,

die auf Deutsch unter dem Titel „Tote Mädchen lügen nicht“ läuft, hat dieselbe Diskussion

ausgelöst, die schon Goethes Zeitgenossen geführt haben: 25

Muss man Jugendliche, erst recht labile junge Menschen, besser vor medialen Produkten mit

einem hohen Identifikationspotenzial schützen? Ist es moralisch verwerflich, den Weg zum

Selbstmord und den Suizid selbst so detailliert, anrührend und aus intensiver Nähe

darzustellen? Macht man sich vielleicht sogar im juristischen Sinne schuldig?

Fatale Vorbilder mit Medienwirkung 30

Die Macher der erfolgreichen Serie argumentieren, dass es gefährlicher sei, nicht über

Selbstmord zu sprechen, als ihn zum Thema zu machen. Ohnehin sei es in Zeiten des

Internets unmöglich, verführerische Angebote, die Jugendliche zum Suizid verleiten, zu

unterdrücken. Dass sie damit Recht haben, zeigen traurige Beispiele: Das Online-Spiel „Der

blaue Wal" soll in Russland bis zu 130 Minderjährige in den Tod getrieben haben, seitdem 35

es 2016 in sozialen Netzwerken auftauchte. […]

Die Literaturgeschichte ist voll von Beispielen unsterblich gewordener Selbstmorde,

fiktionaler und tatsächlicher. Bei Shakespeares Romeo und Julia führte ein kommunikatives

Missgeschick und der Druck der liebesfeindlichen Welt zum Tod von eigener Hand. Der

Doppelselbstmord des Dramatikers Heinrich von Kleist und seiner krebskranken Vertrauten 40

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Henriette Vogel vor mehr als 200 Jahren wird noch heute wie eine aufrüttelnde Botschaft

empfunden. […]

Faszination und Todessehnsucht

„Wir lasen zusammen den Werther und sprachen viel über den Selbstmord; sie sagte: ‚Recht

viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag's nicht erleben, 45

daß mich die Jugend verlässt'.“ Das schrieb die Schriftstellerin Bettina von Arnim Anfang des

19. Jahrhunderts über ihre innige Freundin, die Dichterin Karoline von Günderrode. Beide

zählen zu den bedeutenden, autonomen Frauen der deutschen literarischen Romantik. „Die

Günderrode“, wie sie genannt wurde, erstach sich kurz nach diesem Gespräch 1806 mit

einem goldenen Dolch. Sie war gerade 26 Jahre alt. […] 50

Literatur und Medien können zur Gewalt – auch gegen sich selbst – verführen. Ob sie aber

Grund oder – wie in den meisten Fällen sicherlich – nur Auslöser sind, lässt sich erst am

Einzelfall festmachen. Karoline von Günderrode brachte sich letztlich nicht wegen „Werther“

um, sondern wegen einer enttäuschten Liebe. Ihre Todessehnsucht aber sah sie in ihrem

literarischen Vorbild gespiegelt. „Tote Mädchen lügen nicht“ wird fortgesetzt.55

https://www.dw.com/de/der-werther-effekt-wenn-selbstmord-zum-faszinosum-wird/a-38882155, 18.05.2017, letzter Zugriff: 28.03.2019

Material 5: Marc Widmann: Leviten lesen

Schiller statt Schnee schippen: Ein Richter in Fuld a verurteilt jugendliche Straftäter

nicht mehr zu gemeinnütziger Arbeit – er lässt sie stattdessen Bücher lesen.

Er liebt den Jazz, und auch sonst ist der Fuldaer Jugendrichter Christoph Mangelsdorf ein

kreativer Mann. Wenn wieder ein Jugendlicher vor ihm sitzt, der beim Prügeln oder

betrunken auf dem Mofa erwischt wurde, verhängte Mangelsdorf bislang oft 20 bis 30 5

Arbeitsstunden Strafe. Aber so richtig zufrieden war er damit nicht. Besonders, wenn er das

Gefühl hatte, dem Täter gehe die Gerichtsverhandlung „über den Kopf hinweg“. Solche

Jugendliche leisten zwar ihre Arbeitsstunden ab, danach aber machen viele weiter wie

vorher. Mangelsdorf wollte wissen, wie er die Köpfe dieser Ersttäter erreicht, immerhin ist

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 8 - 9

das auch sein Auftrag laut Gesetz: Er soll nicht nur strafen, er soll vor allem erziehen. So 10

kam der Richter auf die Bücher.

Wer gemobbt wird, muss Evil lesen

Seit kurzem verhängt Mangelsdorf bei einigen handverlesenen Ersttätern keine

Arbeitsstunden im Tierheim mehr. Wenn ihm der Jugendliche geeignet erscheint, darf er

stattdessen einen Jugendroman lesen, freiwillig. Natürlich nicht irgendeinen. 14 Titel hat der 15

Fuldaer Richter auf einer Liste versammelt. Wer zum Beispiel in der Familie Probleme hat, in

der Schule gemobbt wird und selbst gewalttätig ist, dem setzt der Richter vielleicht Evil von

Jan Guillou vor. Das Buch ist nicht einfach, erzählt Mangelsdorf, es geht darin „um starke

Gewalthandlungen in einem Internat“. Beschrieben werden aber nicht nur die Angriffe,

sondern auch, was sie bei den Opfern auslösen. 20

Drei bis sechs Wochen bekommt der Täter, um den Roman zu lesen. In dieser Zeit muss er

einen Aufsatz schreiben und dabei Fragen wie diese beantworten: Welche Parallelen gibt es

zu meinem Leben? Wie hat sich die Hauptfigur verhalten? Was hätte ich an ihrer Stelle

getan? Zuletzt folgt ein ausführliches Gespräch mit einem Mitarbeiter der Jugendhilfe. 15

Jugendliche wurden in diesem Jahr so zum Lesen verdammt. Und schon jetzt sagt Bettina 25

Lenz: „Es hat sich gelohnt.“

Die Sozialpädagogin dürfte es wissen, denn sie betreut bei der Jugendhilfe Fulda die

straffälligen Täter und spricht mit ihnen über die Romane. „Die meisten haben sich wirklich in

den Büchern wiedergefunden“, sagt Lenz. Einer lieferte statt der geforderten fünf gleich 13

Seiten ab. Ein anderer will jetzt gar selbst ein Buch schreiben. Auch das ist ein Ziel des 30

Versuchs. Er soll nicht nur zum Nachdenken zwingen, sondern auch Phantasie und

Leselust anregen.

„Ein Buch zu lesen ist erzieherisch wesentlich sinnvoller als im gemeinnützigen Verein

Schnee zu schippen“, sagt Marita Erfurth. In Dresden koordiniert die Sozialpädagogin ein

ganz ähnliches Projekt, das junge Ersttäter bereits seit 2008 zum Lesen bringt. Es diente 35

dem Fuldaer Richter als Vorbild. Mittlerweile 80 Titel finden sich im Dresdner Bücherkanon.

„Für unsere Jugendlichen ist das Lesen eine richtige Anstrengung“, sagt Erfurth, „erst

maulen sie meistens“.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Blatt 9 - 9

Danach aber lassen sich beeindruckende Wandlungen erleben. Zum Beispiel die eines 17-

Jährigen aus schwierigem Elternhaus. In der Schule hatte er zwei Mädchen belästigt, sich 40

vor ihnen entblößt. „War doch nur Spaß“, sagte er lange. Dann bekam er das Buch Leichte

Beute von Maureen Stewart vorgesetzt. Um Mobbing in der Schule geht es darin, um die

Gefühle der jungen Melissa, die ständig angegangen und angemacht wird. „Er hat sich sehr

große Gedanken gemacht“, sagt Erfurth über den Täter. Er brauchte lange, um das Buch zu

lesen, und Hilfe beim Beantworten der Fragen. Als er es endlich geschafft hatte, schrieb er 45

seinen Opfern einen Entschuldigungsbrief. Völlig freiwillig.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/strafmassnahmen-fuer-jugendliche-leviten-lesen-1.13883, 15.04.2010, letzter Zugriff: 28.03.2019

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I A Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 1 - 3

Aufgabe I, Variante A Erörterung eines literarischen Textes Thema: Johann Wolfgang von Goethe, Faust Dieter Borchmeyer: Faust – Goethes verkappte Komödi e Lösungshinweise

Die Aufgabe konfrontiert die Schülerinnen und Schüler mit einer Position zur Gattung des „Faust“ aus der Sekundärliteratur, die sich provokant gegen Goethes Einordnung des Dra-mas als „Tragödie“ stellt. Die zweiteilige Aufgabenstellung verlangt zunächst, dass die Be-gründung Borchmeyers knapp und klar herausgearbeitet wird. In der Erörterung wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit Borchmeyers These, bei Faust handle es sich um eine „untragische Gestalt“. Die Argumentation ist jeweils durch Belege abzusichern. Der Schwer-punkt liegt auf dem zweiten Aufgabenteil. 1. Arbeitsanweisung Nach einer funktionalen Einleitung führen die Schülerinnen und Schüler zum vorgelegten Textauszug hin. Borchmeyer formuliert gleich zu Beginn die Kernthese, beim „Faust“ handle es sich um eine „‚verkappte‘ Komödie“ (Z. 1). Denn, so Borchmeyer, der Protagonist sei eine „untragische Gestalt“ (Z. 6). Dies wird an drei Punkten festgemacht: Erstens sei Faust keine Identifikationsfigur, zum einen weil er selbst nicht leide. Zum anderen überschreite er die Grenzen des Menschlichen und könne daher nicht „Furcht und Mitleid“ (Z. 11) erregen, die nach Aristoteles wesentlich für die Tragödie seien. Zum Zweiten scheitere Faust nicht, son-dern entziehe sich immer wieder dem Scheitern. Er löse zwar tragische Ereignisse aus, sei aber selbst nicht von ihnen betroffen. Zudem sei er – drittens – kein „einmaliges Individuum“ (Z. 30), sondern ein Typus, dessen hochfliegendes Streben immer wieder von den Zufällen des Lebens durchkreuzt werde. 2. Arbeitsanweisung Die Schülerinnen und Schüler diskutieren und problematisieren die Ausführungen Borch-meyers und entwickeln eine eigenständige Position. Sie sollten dabei auch Grundkenntnisse der Gattungstheorie heranziehen; es kann aber dabei nicht darum gehen, dass die Schüle-rinnen und Schüler die intensive gattungstheoretische Debatte zum „Faust“ aufgreifen oder mit einer differenzierten Theorie der Komik operieren; beides führte zu weit. Auch Überle-gungen zum Faust II und seinem Ausgang können nicht erwartet werden. Borchmeyers Argumentation gegen die Tragödie kann deutlich problematisiert werden und ist nur in Ansätzen plausibel. Das liegt nicht nur daran, dass er provokant formuliert. Wenn er beispielsweise sagt, dass Faust „erst recht nicht komisch“ (Z. 28) scheine, wird ein direkter Widerspruch zu seinem Argumentationsziel nur durch die Modalität des Verbes „scheinen“ vermieden. Borchmeyer begründet seine Position zum einen damit, dass Faust kein Mitleid errege. Das ist sicher richtig. Auch die Begründungen des Textauszuges, dass Faust nicht leide und durch die Überschreitung der Grenzen des Menschen ausgezeichnet sei, sind zunächst ein-leuchtend. Das zweite Argument könnte durch Verweis auf seinen monomanischen Charak-ter und seine Distanziertheit ergänzt und präzisiert werden. Kritisch eingewendet werden könnte, dass Faust als Modellfall des neuzeitlichen Menschen bis zu einem gewissen Grad sehr wohl ein Wiedererkennen in dieser Figur und ihrem Scheitern ermöglicht.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I A Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 2 - 3

Borchmeyers zweites Argument, dass sich Faust dem Scheitern immer wieder entziehe, ist bei näherer Betrachtung kaum zu halten. Schon die Szene „Nacht“ zeigt das wiederholte Scheitern an der Überwindung der menschlichen Erkenntnisgrenzen, das am Ende nur durch die Kindheitserinnerung ironisch unterbrochen wird. Zudem ist die Magie, die Borchmeyer anführt (vgl. Z. 19), in diesem Kontext keine Flucht aus der Wissenschaft, sondern kann ver-standen werden als die Form des Praktischwerdens von Wissenschaft, mithin als die Idee der Technik. Mit dem Eingehen der Wette wird das Scheitern dann geradezu zum Programm. Die Verjüngung in der „Hexenküche“ (vgl. Z. 19 ff.) beraubt Faust keineswegs der Erinne-rung, sondern macht aus ihm eine monströse Gestalt mit jungem Körper und erfahrenem Geist. Diese Kontinuität verweist auf ein tieferes Missverständnis Borchmeyers: Die Verjün-gung ist keine Flucht, sondern die Bedingung der Möglichkeit, durch die Beziehung zu Gret-chen als harmonischem menschlichen Wesen die erfüllte Liebe als eine der Möglichkeiten, die „der ganzen Menschheit zugeteilt ist, […] in meinem innern Selbst [zu] genießen“ (V. 1770 f., zit. in Z. 27 f.). Auch dies muss wegen des inneren Widerspruchs zum Programm des Selbstgenusses scheitern. Borchmeyers drittes Argument beruht auf der Feststellung, Faust sei ein „Typus“ (Z. 30). Das stimmt bedingt. Es ist zum einen zu eng: Faust verkörpert nicht einen bestimmten Charakter-typus, sondern er verkörpert ein anthropologisches Grundkonzept, den neuzeitlichen Men-schen, mithin mehr als nur einen Typus. Anderseits ist Faust kein komischer Typus; solche Typen sind ja durch klischeehafte Zuspitzungen gekennzeichnet, die durchaus karikierende Züge annehmen können. Dies trifft für Faust nicht zu – im Gegensatz etwa zum selbstbezo-genen Gelehrten Wagner, dem naiven Schüler oder der berechnenden Marthe. Insbesondere vertritt Faust nicht, wie Borchmeyer es nahelegt, den Typus des zerstreuten, weltfernen Ge-lehrten, der die Zufälle und kontingenten Bedingungen einer Situation mangels gesunden Menschenverstandes verkennt (vgl. Z. 35 f.) und daran komisch scheitert. Zum Dritten ist Faust deutlich als individueller Charakter ausgebildet. Gerade darin liegt seine Tragik be-gründet. Er ist als tragischer Held nicht einfach böse, seine Schuld besteht nicht in einer ein-fach willkürlichen Verfehlung; sie wird erst dadurch tragisch, dass sie unausweichlich ist, weil in ihr zwei Prinzipien gegen einander stehen. Faust scheitert an der Hybris des modernen Menschen, der alle menschlichen Möglichkeiten in seiner erlebenden Individualität aus-schöpfen möchte (vgl. V. 1770 f.), dies aber gerade als endliches Individuum nicht kann. Da-her ist die Ausgestaltung von Fausts individuellem Charakter im Drama zentral. Zudem scheitert er existentiell und wird immer wieder auch als authentisch Leidender gezeigt (z.B. die Szene „Wald und Höhle“, die nicht nur Faust hohes Pathos parodiert). Die Schülerinnen und Schüler können diese Auseinandersetzung einbetten in die weiterge-hende Frage nach der Gattungszugehörigkeit des „Faust“, wie sie zu Beginn des Textauszu-ges angedeutet wird. Auffällig ist, dass Borchmeyer nur dafür argumentiert, „das Tragische“ scheine „zu verschwinden“ (Z. 3 f.), indes im vorliegenden Textausschnitt keine Elemente des Komischen aufzeigt. Eine solche Argumentation erscheint einseitig und unvollständig.1 Hier kann im Gegenzug auf verschiedene Formen von Komik im Text hingewiesen werden. Der Außentext deutet einige zu Beginn an (vgl. Z. 2 f.), die Worterklärung zur Farce kann den Schülerinnen und Schülern Anregungen geben. Genannt werden könnten z.B. Formen des Wortwitzes (z.B. V. 2916, 3459 ff.), komische Figuren (s.o., ggf. auch der Herr im Prolog oder Mephisto als Narr, auch wenn er mehr ist als der ordnungsbestätigende „Schalk“ (V. 339), auf den der Herr ihn reduzieren will), Darstellungen des Derben, Obszönen und Grotesken („Hexenküche“, „Walpurgisnacht“), Parodien (z.B. wenn in der Szene „Garten“ zum Liebes- 1 In dem Aufsatz, der diese Stelle entnommen ist, werden weitere Elemente des Komischen aufgezeigt (z.B. Mi-schung der Stilebenen, Mephisto als Narr und Trickster, einseitige, bis zur Karikatur gehende Figuren wie Wag-ner, Darstellung des Sexus und von Obszönitäten, Elemente des Karneval, Komik als transzendierendes Mo-ment).

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I A Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 3 - 3

paar Gretchen und Faust das lüsterne Gegenmodell Marthes und Mephistos montiert wird) oder Satire (z.B. Gesellschaftssatire in „Vor dem Tor“, Geselligkeitssatire in „Auerbachs Kel-ler“, Satire der Französischen Revolution in „Hexenküche“, Literatursatire im „Walpurgis-nachtstraum“). Auf der anderen Seite können weitere Charakteristika der Tragödie angeführt werden, etwa die Fallhöhe des Gelehrten, das Scheitern an den menschlichen Erkenntnisgrenzen in „Nacht“, das Scheitern einer liebenden Hingabe an Gretchen an Fausts Selbstzentriertheit oder die Gretchentragödie als Bürgerliches Trauerspiel (hier auch Form des Pyramidenmo-dells, Anlage Gretchens auf Identifikation und damit Mitleiden). Sollten die Schülerinnen und Schüler zu dem Schluss kommen, „Faust“ zeige Merkmale bei-der Gattungen, sollte diese Feststellung nicht bei einem bloßen Sowohl-als-auch bleiben, das mit dem Etikett der Tragikomödie versehen wird; hier sollte in Grundzügen gezeigt wer-den, welche Funktionen eine Verschränkung der Gattungen für das Drama haben könnte (z.B. Erträglichmachen des Entsetzlichen und Ungeheuren). Für die Leistungsbewertung grundsätzlich maßgeblich sind strukturelle Klarheit, inhaltliche Differenziertheit und Ergiebigkeit der zugrundeliegenden Interpretation, argumentative Plau-sibilität und ein sicheres Urteilsvermögen. Auch für eine sehr gute Bewertung wird keine Vollständigkeit der Erörterung erwartet. Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungen sind möglich, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I B Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 1 - 3

Aufgabe I, Variante B Erörterung zweier literarischer Texte Thema: Johann Wolfgang von Goethe, Faust Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivit ät. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 266. Lösungshinweise Die Aufgabenstellung verlangt die pointierte Darstellung der vorgelegten These sowie ihre vergleichende Erörterung in Bezug auf die Figuren Anselmus und Harry Haller. Dabei sind wesentliche Begriffe des Zitats (insbesondere: Anziehungskraft des Unmöglichen ; menschliches „Bedürfnis , bis an die persönlichen, sozialen und natürlichen Grenzen seiner Existenz vorzudringen“) zu erläutern und auf die Figuren zu beziehen. Fromms Kernthese, dass der Mensch das Bedürfnis verspüre, „bis an die persönlichen, sozialen und natürlichen Grenzen seiner Existenz vorzudringen“ und dabei „über den engen Lebensrahmen, in den er hineingezwungen ist, hinauszublicken“ , kann auch für Anselmus und Harry Haller geltend gemacht werden. Eine Grenze markiert die Trennlinie, die Räume voneinander scheidet. Die Räume können sich sowohl im wörtlichen Sinne auf eine topografische Ordnung als auch im übertragenen Sinne auf Lebenswelten als verschiedene Existenzweisen beziehen. Anselmus bewegt sich im Spannungsfeld zwischen bürgerlicher Ordnung (Streben nach Anerkennung und beruflichem Erfolg, Hingezogenheit zu Veronika als Repräsentantin der bürgerlichen Welt) und Fantasiewelt (Erlebnisse unter dem Holunderbusch, Wasserspiegelungen während Bootsfahrt, Kopieren der geheimnisvollen Schriften im Haus des Archivarius ...) hin und her, bis er sich schließlich endgültig für Atlantis als dem Reich der Fantasie und Poesie entscheidet und die bürgerliche Welt hinter sich lässt. Sein kindliches, fantasiebegabtes Gemüt ermöglicht ihm Erfahrungen, die ihn die Welt der bürgerlichen Ordnung transzendieren lassen, ohne dass er sich zunächst bewusst für eine der Existenzweisen entschiede. So nimmt er im Wechsel gerne die Unterstützung seiner philisterhaften Freunde wie dem Konrektor Paulmann oder Veronika bzw. jene der märchenhaften Figuren wie Serpentina und dem Archivarius an. Der Grenzübertritt findet seine Entsprechung in der räumlichen Struktur der Erzählung: Indem Anselmus die Tür zum Haus des Archivarius als der Schwelle, die beide Welten voneinander scheidet, überschreitet und das Äpfelweib ihm als feindliche Macht, die dies zu verhindern sucht und ihm in der Gestalt des sich verwandelnden Türklopfers entgegentritt, überwindet, eröffnen sich ihm fantastische, märchenhafte Räume. Das Eingeschlossensein in der Kristallflasche markiert einen Rückschritt in seiner Entwicklung, an deren Ende er die Sphäre der bürgerlichen Welt zugunsten der fantastischen Welt verlässt, trifft ihn die Strafe doch just in dem Moment, in dem er sich Veronika und damit der bürgerlichen Welt zuwendet. Die Grenzen dieser Welt spürt er im Zustand des Eingeschlossenseins besonders deutlich und empfindet sie als bedrückend und einengend. Indem er die Erstarrung einer bürgerlichen Existenz als belastend empfindet, leitet er seine Befreiung ein, allerdings gelingt diese erst mit mythischer Unterstützung von außen, indem der Archivarius das Äpfelweib als

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I B Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 2 - 3

feindliches Prinzip, das Anselmus’ Eintritt in die Welt des Zauberreichs Atlantis zu verhindern sucht, besiegt. Am Ende hat Anselmus den „engen Lebensrahmen“ in den er „hineingezwungen“ ist, die bürgerliche Welt, überwunden; er eskapiert und entscheidet sich bewusst für eine Existenz als Dichter in Atlantis als dem Reich der Fantasie und Poesie. Auch Harry Haller bewegt sich zwischen zwei Welten, nämlich zwischen der bürgerlichen Welt, der er sich nicht (mehr) als zugehörig fühlt, und der fantastischen Welt, für die v. a. das magische Theater steht. Auch hier finden sich die verschiedenen Räume in der Topografie der Schauplätze wieder, wenn Harry Haller seine Stube im Hause seiner Vermieterin und damit das bürgerliche Milieu verlässt, dabei über das nach Terpentin duftende Treppenhaus sinniert, worin sich metonymisch seine Sehnsucht nach einer wohlgeordneten bürgerlichen Existenz ausdrückt, um dann gemäß seines steppenwolfhaften Umhergetriebenseins durch die Straßen zu ziehen und sich schließlich im zwielichtigen Nachtleben und magischen Theater als den Gegenpolen einer bürgerlichen Welt wiederzufinden. Ähnlich wie Anselmus entspringt der Impuls, die Grenzen in die eine oder andere Richtung zu übertreten, dabei zunächst weniger einem intentionalen Akt, sondern ist vielmehr das Ergebnis des Hin- und Hergerissenseins zwischen beiden Polen. Gleich Anselmus bedarf auch Harry Haller der Helferfiguren (Hermine, Pablo, Maria), die ihn zum Eintritt in die Welt des magischen Theaters und des sinnlichen Genusses bewegen. Damit erweist sich auch der Steppenwolf als ein Charakter, der das Bedürfnis verspürt, den „engen Lebensrahmen“ seiner bürgerlichen Existenz zu erweitern, sich andererseits aber auch von einer bürgerlichen Existenz angezogen fühlt. Anders als bei Anselmus ist die Grenzüberwindung Harry Hallers noch stärker ins Innere der Person verlagert, überschreitet Harry Haller doch v. a. die Grenzen, die er sich selbst abgesteckt hat (wenn er z. B. entgegen seiner Überzeugung tanzen lernt, Jazzmusik hört und sich dem Sinnesleben hingibt), was schließlich dazu führt, dass er seine duale Identitätskonzeption zugunsten einer Pluralität der Aspekte seiner Persönlichkeit überwindet. Sowohl Anselmus als auch Harry Haller überwinden soziale , also gesellschaftlich gesetzte Grenzen : Anselmus neigt zu Tagträumereien und fantastischen Exzessen, die von den Repräsentanten des Dresdner Bürgertums als gegen geltende Normen verstoßendes Fehlverhalten gedeutet und auf übermäßigen Alkoholkonsum, Tagträumereien oder eine psychische Störung zurückgeführt bzw. allgemein als Ausdruck mangelnder Lebenstüchtigkeit gedeutet werden. Auch Harry Haller verletzt gesellschaftlich gesetzte Verhaltensnormen, wenn er den Professor und dessen Gattin bei einer Einladung in deren Hause brüskiert und sich dem Nachtleben und Exzessen, die nicht zuletzt durch verbotene Substanzen unterstützt werden, hingibt. Damit übt auch das, was, wie Fromm ausführt, nicht erlaubt ist, eine Anziehungskraft auf beide Charaktere aus, wenn man „erlaubt“ nicht nur im streng juristischen Sinne versteht, sondern auch als die Bezeichnung für ein Verhalten begreift, das gegen gesellschaftliche Normen verstößt. Allerdings ist der Verstoß gegen diese Normen von Anselmus nicht beabsichtigt, sondern eher Folge seiner Affinität zu der für die Bürger unverständlichen fantastischen Welt. Vielmehr leidet er unter der Zurückweisung der Repräsentanten der wohlanständigen bürgerlichen Alltagswelt. Ähnlich leidet auch Harry Haller darunter, dass er sich zwar zur bürgerlichen Welt hingezogen fühlt, sich aber auch selbst in dieser Welt fremd fühlt. Anders als Anselmus will er sich aber auch gleichzeitig von einer kleinbürgerlichen Welt, wie sie der Professor und dessen Gattin vertreten, abgrenzen und drückt seinen Hass auf Mittelmäßigkeit und bürgerliche Werte (Zufriedenheit, Goethestatue) aus.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe I B Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 3 - 3

Auf beide Figuren übt das, „was nicht möglich ist“ eine Anziehungskraft aus und beide streben nicht nur danach, „bis an die natürlichen Grenzen“ der Existenz „vorzudringen“, sondern auch danach, sie zu überwinden und dabei den eigenen existentiellen Horizont zumindest zu erweitern („über den engen Lebensrahmen [...] hinauszublicken“), wenn nicht gar zu transzendieren: Anselmus macht übernatürliche Erfahrungen, wenn er plötzlich die Sprache der Natur deutlich versteht, Objekte und Personen sich verwandeln sieht und in einem rauschhaften Zustand geheimnisvolle Schriften kopiert, wobei sich ihm der Sinn dieser Schriften auf wunderbare Weise eröffnet. Dass er sich von dieser Erweiterung seines Wahrnehmungsraumes angezogen fühlt und sie sich wünscht, drückt sich v. a. in seiner sehnsuchtsvollen Liebe zu der märchenhaften Serpentina aus. Erst die Liebe zu ihr, zu der er als fantasiebegabtes, kindliches Gemüt fähig ist, lässt ihn die Beschränktheit seiner bisherigen Existenz erkennen und erweckt in ihm die Sehnsucht, „über den engen Lebensrahmen“, in dem er bisher gelebt hat, hinauszublicken, womit er auch seine persönlichen Grenzen verschiebt. Noch deutlicher als Anselmus findet Harry Haller in einem Zustand der bürgerlichen Mittelmäßigkeit und Zufriedenheit keine Erfüllung und erweitert seinen Erfahrungshorizont, indem er psychedelische Erlebnisse macht und v. a. in der Schlussszene im magischen Theater deutlich die natürlichen Grenzen der Realität überschreitet. Für Harry Haller gilt dabei in besonderem Maße, dass er dabei bis an seine persönlichen Grenzen vordringt, zerfällt doch am Ende seine Persönlichkeit, die bereits zuvor in die dualistische Gegenüberstellung von bürgerlichem Harry Haller und Steppenwolf aufgespalten war, in mannigfaltige Facetten. Anselmus’ Streben nach einer Erweiterung seiner Existenz lässt ihn eine neue Welt entdecken, in der er ein erfülltes Dasein führen kann: Als Dichter lebt er glücklich mit Serpentina in Atlantis. Die Personen, die er in der Alltagswelt zurücklässt, profitieren allerdings kaum von dieser Entdeckung, hat er doch jegliche Verbindung zu seiner ursprünglichen Existenz gekappt. Lediglich dem Erzähler, und damit auch dem immer wieder direkt angesprochenen Leser, wird in Aussicht gestellt, im Sinne des serapiontischen Prinzips gelegentliche Ausflüge in diese Welt der Fantasie und Poesie zu unternehmen und damit das eigene Leben zu bereichern. Fromms Ausführungen treffen somit auf beide Charaktere zu, sowohl Anselmus als auch Harry Haller sehnen sich danach, ihren Erfahrungs- und Daseinsraum zu erweitern. Die Grenzüberschreitung hat aber bei den beiden Charakteren eine unterschiedliche Qualität: Während Anselmus zwischen verschiedenen Existenzweisen schwankt, spielt sich der Grundkonflikt Harry Hallers v.a. in seinem Inneren ab. Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungen sind möglich, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind.

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 1 - 3

Aufgabe III, Variante A Materialgestütztes Verfassen eines argumentierenden Textes Thema: Realität und Fiktion (Kommentar) Lösungshinweise Hinweise zur Aufgabenart und zur Textsorte „Komment ar“ Der Kommentar ist eine meinungsbetonte Darstellungsform. In einem Kommentar wird eine subjektive, aber argumentativ begründete und sachlich wertende Stellungnahme zu einem aktuellen domänenspezifischen Ereignis oder Thema formuliert. Die Textsorte erfordert Sachkenntnis, rationale Argumentation und sprachliche Prägnanz, die durch einen gezielten Einsatz sprachlicher Gestaltungsmittel unterstützt wird. Grundlegende Elemente des Kommentars sind eine inhaltlich korrekte und konzise Darstellung des zu kommentierenden Sachverhalts, eine argumentative Auseinandersetzung damit und eine Positionierung des Verfassers. Ein Kommentar soll zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema anregen, von der Position des Verfassers überzeugen und somit zur Meinungsbildung beitragen. Im Unterschied zum eher kürzer gehaltenen journalistischen Kommentar erfordert die Textsorte ‚Kommentar‘ als Aufsatzform im Deutschabitur eine ausführlichere Auseinander-setzung mit einem komplexen Thema. Die Anforderungen der Aufgabenart ergeben sich aus der Textsorte. Hinweise zur Bewertung Umsetzung der Textsorte ‚Kommentar‘ Ist der Text insgesamt konzeptionell schlüssig und gedanklich klar strukturiert? Entspricht der Text den Anforderungen der Textsorte ‚Kommentar‘ und denen der Aufgabenstellung? Sind die Teilbereiche Darstellung des zu kommentierenden Sachverhalts, Argumentation und persönliche Meinung des Verfassers klar voneinander zu unterscheiden? Inhaltliche Ausgestaltung Werden das Thema und die damit verbundene Problemstellung klar erkannt und umrissen? Werden die Materialien sachangemessen, funktional, eigenständig und differenziert in den Text integriert und wird deren Urheberschaft deutlich? Sind die wesentlichen inhaltlichen Aspekte des Themas, die die Materialien erkennen lassen, angemessen erschlossen und berücksichtigt? Werden kontroverse Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven sachlich und auftragsbezogen verarbeitet? Differenziertheit Wird das Thema angemessen differenziert dargestellt? Werden Teilaspekte des Themas für die Gesamtuntersuchung fruchtbar gemacht? Werden relevante Informationen aus den Materialien sinnvoll mit eigenen Kenntnissen verknüpft? Argumentation und Urteilsfähigkeit Sind Gedankenführung und Argumente schlüssig und überzeugend? Wird die eigene Position tragfähig, differenziert und nachvollziehbar begründet? Sind eigene Argumente klar abgegrenzt von Argumenten aus den Materialien?

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Abiturprüfung an den allgemein bildenden Gymnasien Leistungsfach Deutsch Aufgabe III A Beispielaufgaben 2021 Lösungshinweise Blatt 2 - 3

Sprachliche Angemessenheit Entspricht die sprachliche Gestaltung der Textsorte ‚Kommentar‘? Wird eine klare und prägnante Sprache mit eigenständigen Formulierungen verwendet? Werden sprachliche Mittel funktional eingesetzt? Wird angemessen, funktional und korrekt zitiert? Zeigt der Text eine sichere Verwendung von Fachsprache? Werden standardsprachliche Normen (Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik) sicher umgesetzt? Hinweise auf mögliche Ergebnisse Schülerinnen und Schüler gehen im Literaturunterricht mit Texten um, die Grundfragen des menschlichen Lebens und auch Grenzsituationen thematisieren. Dabei lernen sie, wie Themen in literarischen Texten inhaltlich und ästhetisch gestaltet sind und welche Rolle Fiktionalität als grundlegendes Merkmal literarischer Texte spielt. Die Verfahren der Analyse und Interpretation unterstützen sie darin, Texte als Medium für zeitgenössische Auseinandersetzungen mit zu unterschiedlichen Zeiten aktuellen Thematiken zu verstehen. Die Materialien M1-M5 beleuchten das Zusammenspiel von Realität und Fiktion zum einen allgemein, zum anderen anhand des aktuellen Beispiels der Diskussion um „Trigger Warnings“, die an Universitäten im angloamerikanischen Raum aufgetreten ist. M1 und M2 beziehen sich auf Lesehaltungen im Umgang mit literarischen Texten und die – auch von Übergangsphänomenen geprägte – Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion. Die Materialien M3 - M5 bieten konkrete Beispiele für Wechselwirkungen zwischen Realität und Fiktion. Die Darstellung des Phänomens „Realität und Fiktion“ anhand der Materialien beinhaltet im Wesentlichen folgende Aspekte:

� Realität und Fiktion in der alltäglichen Praxis; Übergangsphänomene bei der Rezeption von Texten unterschiedlicher medialer Form (M1)

� unterschiedliche Leseabsichten und Lesesituationen mit verschiedenen Graden an emotionaler Beteiligung (M2)

� unterschiedliche Wirkungen literarischer u.a. Texte auf Leser (M1-M5) � mögliche verstörende Wirkung durch problematische Inhalte wie Mord, sexuelle

Übergriffe, Rassismus, Selbstmord (M 3, M 4) � mögliche positive Veränderungen von Verhalten und Einstellungen durch das Lesen

literarischer Texte (M5) Gründe, die für die Einführung von Trigger Warnings im Deutschunterricht angeführt werden können:

� Existenz einer „Grauzone, in der Tatsachen und Sachverhalte mit ambivalentem Wirklichkeitsstatus gespeichert werden“, Übergangsphänomene (M1)

� emotionale Wirkungen literarischer Texte auf Leser, Involviertheit (M1, M2) � mögliche negative Veränderungen von Verhalten und Einstellungen durch die Lektüre

von Texten (M1, M3, M4) � Rücksichtnahme auf mögliche Vorbelastungen bei Lesern (M3) � aktuelle und historisch belegte ‚verführende Wirkung‘ literarischer Texte (z. B. TV-

Serien, Zensur, „Werther-Effekt“, M4)

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zusätzlich z. B.:

� bereits bestehende Warnhinweise z. B. vor Sendungen in Fernsehen und Internet (auch: FSK)

� eingeschränkte Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern bei der Auswahl literarischer Texte im Deutschunterricht

Gründe, die gegen die Einführung von Trigger Warnings im Deutschunterricht angeführt werden können:

� Bezug literarischer Texte auf die Lebenswirklichkeit; Thematisierung von Grundfragen des menschlichen Lebens (M3, M4, M5)

� Vorbereitung auf die Lebenswirklichkeit (M3, M4) � Übergangsphänomene als Teil der Lebenswirklichkeit (M1) � Trigger Warnings können Ängste verstärken (M3) � Verfahrensweisen der Traumatherapie (M3) � Literatur setzt oft lediglich individuell oder gesellschaftlich bereits Angelegtes in Gang

(M3, M4) zusätzlich z. B.:

� Trigger Warnings als Ausdruck mangelnder Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Fiktion

� Spielräume fiktionaler u.a. Texte, Probehandeln, vermittelter Erfahrungsgewinn