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1 1 Herz 34 · 2009 · Nr. 1 © Urban & Vogel © Urban & Vogel 2009 Herz Leitlinien – Lehrbuchersatz, Handlungs- anweisung für den Alltag oder Fessel? Bernhard Maisch 1 , Rolf Dörr 2 Einst genügten zehn kurze Sätze auf zwei Tafeln: Die Zehn Gebote reichten dem Menschen über mehrere Jahrtausende als Leitlinien für ein Gott wohlgefäl- liges Leben. Sie waren präzise, eindeutig und auf den Punkt gebracht – für die Gläubigen und für die Schriftgelehrten. Und dennoch: Moses schmetterte sie beim ersten Umsetzungsversuch zu Boden, denn das „auserwählte Volk“ verhielt sich konträr. Leitlinien für Mediziner gibt es heute unzählige, für jede Krankheit, jedes Syndrom meist weit mehr als eine Handlungsempfehlung. Leitlinien kommen für den deutschen Kardiologen von AHA, ACC, ESC, AMWF, DGK, WHO, WHF und DGIM. Und jede nationale und internationale Fachgesellschaft steuert für die Internisten, die wir Kardiologen selbst- verständlich auch sind, weitere Leitlinien bei. Die Statistik zählt weit über 1 000 Exemplare, und jähr- lich werden es mehr. Die Anzahl wird auch für den Experten manchmal unüberschaubar, die Hand- lungsanweisungen sind oft uneinheitlich und unabge- stimmt. Sie umfassen nicht selten mehr als 100 Seiten und benötigen deshalb Kurzfassungen oder Po- cket-Guidelines, damit die wichtigsten Inhalte über- haupt gelesen werden. Und wie steht es mit der Umsetzung im Alltag einer ärztlichen Praxis, eines Krankenhauses, einer Klinik der Maximal- und Supramaximalversorgung? Welchen Nutzen haben die Leitlinien im Alltag ge- bracht? Eine verbesserte Blutdruckeinstellung von 29% in den Jahren 1988–1991 auf 34% im Jahr 2000 ist nur ein kleiner, wenn auch messbarer Fortschritt bei einem klassischen medizinischen Problem. Warum also ein weiteres Herz-Heft über Leitli- nien und Behandlungspfade? Alle kritischen Fragen und Überlegungen sind sicher berechtigt. Und doch gehen sie am zentralen Anliegen dieses Heftes vorbei. Wie vor 2 Jahren ist das Ziel dieser Ausgabe von Herz zum neuen Jahr 2009 etwas anders definiert: Relevante Leitlinien soll- ten auf einen praktikablen Behandlungspfad herun- tergebrochen oder aus neuen Leitlinien wirklich pra- xisrelevante Aspekte herausgefiltert werden [1]. Auch durch einprägsame Fälle können Leitlinien auf den Alltag herunterdekliniert werden. Beides ist bei den Beiträgen, die ausgewählte Aspekte der kardiovasku- lären Medizin abdecken, durch die Einbindung ausge- zeichneter Autoren wieder erfreulich gut gelungen. Gohlke et al. haben die 2007 aufgelegten euro- päischen und deutschen Leitlinien zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen zum Thema ge- macht und kommen zu knapp 20 griffigen Empfeh- lungen für den Alltag [2]. Krauss & Schunkert ha- ben Wichtiges zu den ESC-Leitlinien 2007 und den Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga (DHL) zur aktuellen Hochdruckbehandlung zusam- mengefasst und auf die noch immer bestehende Lü- cke zwischen den Empfehlungen einerseits und de- ren Umsetzung im Alltag andererseits hingewiesen [3]. Motz & Dörr kommentieren die ESC/EASD- Leitlinien und betonen die Bedeutung von Ände- rungen des Lebensstils und der gemeinsamen ärzt- lichen Betreuung durch Diabetologen und Kardio- logen bei dieser kardiovaskulären Hochrisikogruppe [4]. Möllmann et al. weisen in ihrem Beitrag zum akuten Koronarsyndrom auf die Notwendigkeit ei- ner kontinuierlichen Risikostratifizierung, einer frühzeitigen Koronarangiographie, aber auch das Damoklesschwert Antikoagulation einerseits und Blutungsrisiko andererseits hin [5]. Tillmanns et al. fragen nicht zu Unrecht, ob die Leitlinien in der Therapie der chronischen koronaren Herzkrankheit den medizinischen Alltag wiedergeben [6]. Bei den Kardiomyopathien und der Myokardi- tis/inflammatorischen Kardiomyopathie haben sich in den letzten 2 Jahren in AHA/ACC und ESC Un- terschiede in der Klassifikation ergeben. Die Wor- king Group Myocardial und Pericardial Diseases der ESC orientiert sich zu Recht am klinischen Phänotyp der Kardiomyopathien und erst in zweiter Linie an einem in der klinischen Ausprägung recht variablen Genotyp. Dieser Wertung schließen sich Pankuweit et al. in ihrem Beitrag zu Kardiomyopathien und Myokarditis im Spiegel neuer Klassifikationen [7] ebenso an wie der Vorstellung, dass die neuen Emp- fehlungen der AHA zur Endomyokardbiopsie zwar ein, aber eben nur ein, allerdings richtiger und wich- tiger Schritt in eine zukunftsfähige Richtung sind. Horstkotte & Piper beschreiben kritisch das Di- lemma und den Wandel in der Einschätzung der neu- en Empfehlungen zur Endokarditisprophylaxe: Die Evidenz für die neuen ebenso wie für die alten Emp- fehlungen war und bleibt allerdings dürftig [8]. Leitlinien und Behandlungspfade sind nur dann umsetzbar, wenn ihre Finanzierung nicht in Frage ge- 1 Klinik für Innere Medizin – Kardio- logie, Philipps-Universi- tät Marburg, 2 Praxisklinik Herz und Gefäße, Dresden. Herz 2009;34:1–2 DOI 10.1007/ s00059-009-3210-0 Editorial

Leitlinien – Lehrbuchersatz, Handlungsanweisung für den Alltag oder Fessel?

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© Urban & Vogel 2009Herz

Leitlinien – Lehrbuchersatz, Handlungs-anweisung für den Alltag oder Fessel?Bernhard Maisch1, Rolf Dörr2

Einst genügten zehn kurze Sätze auf zwei Tafeln: Die Zehn Gebote reichten dem Menschen über mehrere Jahrtausende als Leitlinien für ein Gott wohlgefäl-liges Leben. Sie waren präzise, eindeutig und auf den Punkt gebracht – für die Gläubigen und für die Schriftgelehrten. Und dennoch: Moses schmetterte sie beim ersten Umsetzungsversuch zu Boden, denn das „auserwählte Volk“ verhielt sich konträr.

Leitlinien für Mediziner gibt es heute unzählige, für jede Krankheit, jedes Syndrom meist weit mehr als eine Handlungsempfehlung. Leitlinien kommen für den deutschen Kardiologen von AHA, ACC, ESC, AMWF, DGK, WHO, WHF und DGIM. Und jede nationale und internationale Fachgesellschaft steuert für die Internisten, die wir Kardiologen selbst-verständlich auch sind, weitere Leitlinien bei. Die Statistik zählt weit über 1 000 Exemplare, und jähr-lich werden es mehr. Die Anzahl wird auch für den Experten manchmal unüberschaubar, die Hand-lungsanweisungen sind oft uneinheitlich und unabge-stimmt. Sie umfassen nicht selten mehr als 100 Seiten und benötigen deshalb Kurzfassungen oder Po-cket-Guidelines, damit die wichtigsten Inhalte über-haupt gelesen werden.

Und wie steht es mit der Umsetzung im Alltag einer ärztlichen Praxis, eines Krankenhauses, einer Klinik der Maximal- und Supramaximalversorgung? Welchen Nutzen haben die Leitlinien im Alltag ge-bracht? Eine verbesserte Blutdruckeinstellung von 29% in den Jahren 1988–1991 auf 34% im Jahr 2000 ist nur ein kleiner, wenn auch messbarer Fortschritt bei einem klassischen medizinischen Problem.

Warum also ein weiteres Herz-Heft über Leitli-nien und Behandlungspfade?

Alle kritischen Fragen und Überlegungen sind sicher berechtigt. Und doch gehen sie am zentralen Anliegen dieses Heftes vorbei. Wie vor 2 Jahren ist das Ziel dieser Ausgabe von Herz zum neuen Jahr 2009 etwas anders definiert: Relevante Leitlinien soll-ten auf einen praktikablen Behandlungspfad herun-tergebrochen oder aus neuen Leitlinien wirklich pra-xisrelevante Aspekte herausgefiltert werden [1]. Auch durch einprägsame Fälle können Leitlinien auf den Alltag herunterdekliniert werden. Beides ist bei den Beiträgen, die ausgewählte Aspekte der kardiovasku-lären Medizin abdecken, durch die Einbindung ausge-zeichneter Autoren wieder erfreulich gut gelungen.

Gohlke et al. haben die 2007 aufgelegten euro-päischen und deutschen Leitlinien zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen zum Thema ge-macht und kommen zu knapp 20 griffigen Empfeh-lungen für den Alltag [2]. Krauss & Schunkert ha-ben Wichtiges zu den ESC-Leitlinien 2007 und den Empfehlungen der Deutschen Hochdruckliga (DHL) zur aktuellen Hochdruckbehandlung zusam-mengefasst und auf die noch immer bestehende Lü-cke zwischen den Empfehlungen einerseits und de-ren Umsetzung im Alltag andererseits hingewiesen [3]. Motz & Dörr kommentieren die ESC/EASD-Leitlinien und betonen die Bedeutung von Ände-rungen des Lebensstils und der gemeinsamen ärzt-lichen Betreuung durch Diabetologen und Kardio-logen bei dieser kardiovaskulären Hochrisikogruppe [4]. Möllmann et al. weisen in ihrem Beitrag zum akuten Koronarsyndrom auf die Notwendigkeit ei-ner kontinuierlichen Risikostratifizierung, einer frühzeitigen Koronarangiographie, aber auch das Damoklesschwert Antikoagulation einerseits und Blutungsrisiko andererseits hin [5]. Tillmanns et al. fragen nicht zu Unrecht, ob die Leitlinien in der Therapie der chronischen koronaren Herzkrankheit den medizinischen Alltag wiedergeben [6].

Bei den Kardiomyopathien und der Myokardi-tis/inflammatorischen Kardiomyopathie haben sich in den letzten 2 Jahren in AHA/ACC und ESC Un-terschiede in der Klassifikation ergeben. Die Wor-king Group Myocardial und Pericardial Diseases der ESC orientiert sich zu Recht am klinischen Phänotyp der Kardiomyopathien und erst in zweiter Linie an einem in der klinischen Ausprägung recht variablen Genotyp. Dieser Wertung schließen sich Pankuweit et al. in ihrem Beitrag zu Kardiomyopathien und Myokarditis im Spiegel neuer Klassifikationen [7] ebenso an wie der Vorstellung, dass die neuen Emp-fehlungen der AHA zur Endomyokardbiopsie zwar ein, aber eben nur ein, allerdings richtiger und wich-tiger Schritt in eine zukunftsfähige Richtung sind.

Horstkotte & Piper beschreiben kritisch das Di-lemma und den Wandel in der Einschätzung der neu-en Empfehlungen zur Endokarditisprophylaxe: Die Evidenz für die neuen ebenso wie für die alten Emp-fehlungen war und bleibt allerdings dürftig [8].

Leitlinien und Behandlungspfade sind nur dann umsetzbar, wenn ihre Finanzierung nicht in Frage ge-

1 Klinik für Innere Medizin – Kardio-logie, Philipps-Universi-tät Marburg,

2 Praxisklinik Herz und Gefäße, Dresden.

Herz 2009;34:1–2

DOI 10.1007/s00059-009-3210-0

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stellt ist. Ein nicht zu unterschätzender Hemmschuh der niedergelassenen Kardiologen bei der Umset-zung aller Leitlinien ist das zu geringe Regelleistungs-volumen mit einer nichtinvasiven kardiologischen Gesamtpauschale je nach KV-Bereich von maximal ca. 50–80 Euro pro Patient und Quartal seit Anfang des Jahres 2009. Diese spartanische Finanzierung wird zur Folge haben, dass Patienten nur noch einmal pro Quartal einen Arztkontakt bekommen werden.

Leitlinien können Lehr- und Handbücher nicht ersetzen. Sie sind Zeitdokumente des Status quo in Diagnostik und Therapie. Sie haben auch nicht den juristischen Anspruch einer Richtlinie, die wie die Zehn Gebote Absolutheitscharakter über Jahrtausen-de beanspruchen darf, denn ihr zeitlicher Verfallswert kann in Jahren gemessen werden – dies auch dank des medizinischen Fortschritts und der noch immer prakti-zierbaren Freiheit ärztlichen Handels, die auf den Ein-zelfall bezogene ärztliche Maßnahmen ermöglicht, die nicht leitlinienkonform sind. Sie dürfen auch keine Fessel sein und Innovation und medizinischen Fort-schritt unmöglich machen. Aber sie definieren Korri-dore täglichen diagnostischen und therapeutischen Handelns und werden durch geeignete Behandlungs-pfade und „typische“ Fallbeispiele lebendig.

Autoren und Herausgeber wünschen Ihnen mit diesem Heft viele Anregungen für die eigene Tätig-keit und eine nachdenkenswerte Lektüre in den ers-ten Tagen des neuen Jahres.

Literatur1. Maisch B, Dörr R. Von Leitlinien zu Behandlungspfaden.

Herz 2006;31:819.2. Gohlke H, Albus C, Gysan DB, et al. Cardiovascular preventi-

on in clinical practice (ESC and German guidelines 2007) Herz 2009;34:4–14.

3. Krauss T, Schunkert H. Management der arteriellen Hyper-tonie (ESC-Leitlinie 2007/DHL-Leitlinie 2008). Herz 2009;34:15–20.

4. Motz W, Dörr R. ESC/EASD-Leitlinien zu Diabetes und kar-diovaskulären Erkrankungen. Herz 2009;34:21–9.

5. Möllmann H, Nef H, Hamm CW. Das akute Koronarsyndrom ohne ST-Hebung. Herz 2009;34:30–8.

6. Tillmanns H, Erdogan A, Sedding D. Treatment of chronic CAD – Do the guidelines (ESC, AHA) reflect daily practice? Herz 2009;34:39–54.

7. Pankuweit S, Richter A, Ruppert V, Maisch B. Kardiomyopa-thien und Myokardbiopsie im Spiegel der neuen Klassifika-tionen. Herz 2009;34:55–62.

8. Horstkotte D, Piper C. Endokarditisprophylaxe: Was hat sich geändert? Herz 2009;34:64–8.

Korrespondenz-anschrift

Prof. Dr. Bernhard Maisch, FESC, FACCDirektor der Klinik

für Innere Medizin – Kardiologie

Philipps-Universität Marburg

Baldingerstraße35043 Marburg

Telefon (+49/6421) 586-6462, Fax -8954 )

E-Mail: [email protected]

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