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Der Leib, der Raum und die Gefühle Hermann Schmitz EDITION SIRIUS Hermann Schmitz Der Leib, der Raum und die Gefühle EDITION SIRIUS ————————————— Bielefeld und Locarno 2007 Leseprobe

Leseprobe - EDITION SIRIUS · Der Leib, der Raum und die Gefühle ... Es wird in Gestalt einer Insel in der Brust- oder auch Bauchgegend gespürt, in der simultan Engung und Weitung

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Der Leib, der Raumund die Gefühle

Hermann Schmitz

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ISBN 978-3-89528-610-0

Der Leib ist der Ausgangspunkt unseres gesamten Daseins. Das Zulassen leiblicher Betroffenheit lässt erst seine Möglichkeiten und Fähigkeiten begreifen und ermöglicht das Voranschreiten zu den durch ihn vermittelten Gefühlen und Räumen.

Im überraschenden Wiedererkennen wird deutlich, daß wir nicht nur subjektiv erleben, erleiden und agieren, sondern an einer gemeinsamen leiblichen Konstitution teilhaben. Dies beraubt uns jedoch keineswegs unserer individuellen Ziele und Möglichkeiten, die um neue Wege der „Zwischenleiblichkeit“ vertieft und erweitert werden können. Schmitz‘ differenzierte Analysen leiblicher Wahrnehmung (u.a. „Engung“ und „Weitung“, „Einleibung“ und „Ausleibung“ sowie „leibliche Kommunikation“), seine Ausführungen zum Raum (u.a. „leiblicher Raum“, „Gefühlsraum“) und zur „ästhetischen Andacht als Distanz in Ergriffenheit“ sind von größter gedanklicher Originalität und darüber hinaus wichtige Bausteine einer „philosophische Therapeutik“. Das affektive Betroffensein von Gefühlen ist immer leiblich.

Das Buch richtet sich an alle, die sich und die Welt „vom Leib her“ neu begreifen wollen: an Philosophen, Künstler, Psychologen und Psychotherapeuten, Pädagogen und alle Interessierte, die auf leicht verständliche Weise die von Hermann Schmitz seit über vierzig Jahren entwickelte Neue Phänomenologie kennenlernen möchten.

Hermann Schmitz lehrte bis zu seiner Emeritierung 1993 als Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Er ist der bedeutendste „Leib-Philosoph“ der neueren Philosophiegeschichte. Seine gesamte philosophische Arbeit dient der Überbrückung der Kluft zwischen der unwillkürlichen Lebenserfahrung und der unsere Kultur dominierenden Vergegenständlichung, die vom Reduktionismus der griechischen Philosophie und der modernen Naturwissenschaften geprägt ist.

Hermann Schmitz

Der Leib, der Raumund die Gefühle

EDITION SIRIUS—————————————

Bielefeld und Locarno2007

Leseprobe

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Bildes von Hans Haessig.

Um eine Vorrede vermehrte und aktualisierte Neuauflageder Ausgabe von 1998.

© EDITION SIRIUS Bielefeld und Locarno 2007im AISTHESIS VERLAGPostfach 10 04 27, D-33504 BielefeldCasella Postale 362, CH-6600 LocarnoSatz: Germano Wallmann, www.geisterwort.deDruck: docupoint GmbH, MagdeburgAlle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89528-610-0www.edition-sirius.dewww.aisthesis.de

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Vorrede zur Neuauflage ................................................... 7

Neue Phänomenologie ..................................................... 11

Der Leib .................................................................... 15

Das Gefühl ................................................................ 23

Wahrnehmung als leibliche Kommunikation ............... 28

Der Raum ........................................................................... 46

Der leibliche Raum .................................................. 47

Der Gefühlsraum ..................................................... 57

Der Ortsraum und die Fläche ................................ 64

Die Wohnung ........................................................... 74

Ästhetische Andacht: Distanz in der Ergriffenheit ..... 81

Anmerkungen ..................................................................... 94

Neue Phänomenologie

Die Neue Phänomenologie widmet sich der Aufgabe, dieAbstraktionsbasis der Theorie- und Bewertungsbildung tie-fer in die unwillkürliche Lebenserfahrung hineinzulegen.Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe ich die zähprägende Schicht vermeintlicher Selbstverständlichkeiten,die zwischen der unwillkürlichen Lebenserfahrung einer-seits, den Begriffen, Theorien und Bewertungen anderer-seits den Filter bildet. Die Abstraktionsbasis entscheidetdarüber, was so wichtig genommen wird, daß es durchWorte und Begriffe Eingang in Theorien und Bewertungenfindet. Deshalb sind gegensätzliche Theorien und Bewer-tungen auf derselben Abstraktionsbasis möglich.

Die Abstraktionsbasis einer Kultur wird teilweise durchdie Suggestionskraft sprachlicher Strukturen, zum anderenTeil durch epochale geschichtliche Prägungen bestimmt.Wir stecken gleichsam in einem Urwald geschichtlicherVorprägungen, der nicht durch den bloßen Entschluß zurUnbefangenheit in freies Feld verwandelt werden kann.Vielmehr muß man sich durch den Urwald durchschlagen,um ererbte vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu durch-schauen und in hinlänglichem Maß Herr der eigenen Vor-aussetzungen zu werden. Deswegen ist Phänomenologienur im Zusammenhang mit kritisch-historischer Einstel-lung sinnvoll. Diese muß für die Zwecke der NeuenPhänomenologie hauptsächlich den für die Prägung derdominanten europäischen Intellektualkultur entscheiden-den Paradigmenwechsel bei den Griechen in der 2. Hälftedes 5. vorchristlichen Jahrhunderts ins Auge fassen. Diemeisten Versuche, sich durch das Labyrinth der Verkünste-lungen des Denkens und Wollens historisch zurückzuta-sten, brechen viel früher ab, nämlich bei den großen Ba-

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rockdenkern des 17. Jahrhunderts wie Francis Bacon, Hob-bes, Galilei, Descartes und Leibniz. Das ist kurzsichtig.Diese Denker haben keine neue Abstraktionsbasis gelegt,sondern auf der ererbten weitergebaut, um durch Formulie-rung des Prinzips und der Methode der Weltbemächtigungdas in der längst etablierten Perspektive schlummernde Po-tential zu der folgenden Explosion des naturwissenschaft-lich-technischen Fortschritts zu befreien. Indem man sichdavon mitreißen ließ, ist die Verkünstelung inzwischen soweit gediehen, daß das Denken den Spezialisten der Com-putermanipulation und das Zeugnis vom Sich-Befindenund Zumutesein der Menschen dem nahezu ausgestorbe-nen Volk der Dichter überlassen werden muß. Diese Sche-rung ist gefährlich, weil sich unter der Oberfläche derRationalisierung die ungesichtete Dynamik des affektivenBetroffenseins staut und irgendwann unkontrollierbardurchbricht, z.B. in Deutschland unter der Herrschaft derNationalsozialisten. Deswegen ist die Neue Phänomenolo-gie darum bemüht, die klaffende Spanne zwischen Begrei-fen und Betroffensein durch gedankliches Durchleuchtender unwillkürlichen Lebenserfahrung mit genauen und ge-schmeidigen Begriffen zu füllen und dadurch das Betroffen-sein der Besinnung anzueignen. Die ältere Phänomenologieum Husserl, Scheler, Heidegger, Sartre und Merleau-Pontywar dieser Aufgabe nicht gewachsen, weil ihr der Durch-bruch durch die Kruste der dominanten Abstraktionsbasisentweder gar nicht oder bestenfalls als Bruch und nicht alsAufbau einer neuen, tieferliegenden Stellung gelang.

In der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, kurzvor Platon und Aristoteles, ereignet sich im europäischen,d.h. hier griechischen, Denken ein Bruch, durch den sichan die Stelle eines archaischen Paradigmas für das mensch-liche Welt- und Selbstverständnis ein neues Paradigmasetzt, das seither die dominante europäische Intellektualkul-

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tur bestimmt.1 Das alte Paradigma bezeichne ich als archai-schen Dynamismus. Seine Abstraktionsbasis besteht in vielsa-genden Eindrücken, die typisiert und in einem polarisiertenSchema von Kräften mit leiblich gespürter Grundlage ge-ordnet werden. In Griechenland handelt es sich dabei na-mentlich um das Gegensatzpaar des flink Beweglichen,Flammenhaften auf der einen und des Schwerfälligen, Sper-rigen auf der anderen Seite, z.B. bei Parmenides, Empe-dokles und alten Pythagoreern; in anderen Kulturen, dieeine Abstraktionsbasis desselben Typs zugrundelegen, wirdder Gegensatz etwas anders charakterisiert, z.B. in Chinadurch Yang und Yin. Unter der dominanten europäischenIntellektualkultur zieht sich jahrtausendelang, etwa bis zumEnde der romantischen Naturphilosophie in der erstenHälfte des vorigen Jahrhunderts, eine Unterströmung hin,die das archaische Paradigma im Prinzip festhält, nur daßdas einfache Gegensatzpaar eventuell zum Tripel oderQuadrupel u. dgl. erweitert wird; dahin gehören Humoral-pathologie (die 4 Temperamente), Astrologie, Alchemie,paracelsische Medizin, pharmazeutische Signaturenlehre. Re-ste leben bis heute weiter in der populären Astrologie, dieMenschentypen nach Tierkreiszeichen unterscheidet. Dasmenschliche Erleben ist im archaischen Paradigma wederzentralisiert noch abgegrenzt; die Person, die »ich« sagt,steht ohne Hausmacht in einem Konzert von Regungsher-den – unserem Gewissen, das Stimme und Biß hat, unge-fähr vergleichbar –, die meist leiblich lokalisiert sind, undist dem Einbruch ergreifender Mächte – Erregungen wieEros und Wut oder Göttern – ausgesetzt. Allerdings setztschon im Herrschaftsbereich des archaischen Paradigmaseine energische und konsequente Entwicklung ein, die zurAbgrenzung und Zentralisierung des Erlebens drängt.

Das neue Paradigma, das in reiner Form zuerst bei De-mokrit hervortritt, ist durch Psychologismus, Reduktionis-

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mus und Introjektion im Zeichen des Innenweltdogmascharakterisiert. Das Innenweltdogma kann so formuliert wer-den: Für jeden Bewußthaber zerfällt die Welt in seine Au-ßenwelt und seine Innenwelt mit der Maßgabe, daß ihm einGegenstand seiner Außenwelt höchstens dann zu Bewußt-sein kommt, wenn dieser Gegenstand in seiner Innenweltmindestens einen Vertreter hat. Der Psychologismus bestehtin der Einquartierung des gesamten Erlebens eines Men-schen in seine Innenwelt wie in ein Haus mit Mauern undStockwerken, worin er als Vernunft Herr sein kann; diesesHaus führt jahrtausendelang den Namen »Seele« und dientder Abgrenzung und Zentralisierung des Erlebens im Inter-esse des Verfügenkönnens über die eigenen unwillkürlichenRegungen. Diesem Vorteil steht ein als Nachteil dem Psy-chologismus anhängendes Problem gegenüber: Wie kommtman aus der eigenen Innenwelt wieder heraus, z.B. zumverläßlichen Erkennen? Der Reduktionismus besteht in derAbschleifung der Außenwelt schlechthin – d.h. der Außen-welt nach Abzug aller Innenwelten – bis auf wenige Klas-sen besonders leicht (intermomentan und intersubjektiv)identifizierbarer, manipulierbarer und quantifizierbarerMerkmale, die an der Oberfläche fester Körper abgelesenwerden können und noch heute die gesamte Abstraktions-basis der Physik bilden; nach Aristoteles und Demokrithandelt es sich um Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung,Lage und Anordnung, die später so genannten primärenSinnesqualitäten. Ihnen wird zum Ersatz für die Einbettungin vielsagende Eindrücke, die bei der Abschleifung zer-schlagen worden sind, das Anhängen an Träger, die nachArt fester Körper vorgestellt werden, sogenannten Sub-stanzen, gewährt. Die Introjektion ist die Ablagerung desvom Reduktionismus abgeschliffenen Abfalls in der imDienst der Selbstbemächtigung bereitgestellten Innenwelt.Situationen – darunter die erwähnten vielsagenden Ein-

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drücke – und Atmosphären werden zerschlagen; ihre Be-deutsamkeit, die in einer nach außen ganzheitlich abgeho-benen, im Innern aber diffusen und nicht durchgängig ver-einzelten Mannigfaltigkeit von Sachverhalten, Programmenund Problemen besteht, wird subjektiviert und zu Aggrega-ten von Gedanken, Urteilen, Entschlüssen usw. in der Seeleumgedeutet; Atmosphären, die den Menschen leiblich spür-bar ergreifen oder beschleichen, werden in private Gefühleumgedeutet oder – wie im Fall des Wetters – in einen psy-chischen Anteil und einen physikalischen Zustand der Luft,eines der Lebenserfahrung konstruktiv unterlegten Gases,zerrissen; der spürbare Leib wird ganz vergessen oder, so-weit man Restbestände wie den Schmerz nicht vergessenkann, in einen Zustand des sezierbaren Körpers und eineunausgedehnte Empfindung in der Seele, die später auchandere Namen wie »das Gemüt«, »the mind« oder »das Be-wußtsein« erhält, aufgelöst.

Meine Neue Phänomenologie soll keineswegs das archai-sche Paradigma wiederherstellen, wohl aber die offenkun-digen Mängel und Verkünstelungen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichungder Welt beseitigen und dadurch eine Abstraktionsbasis be-reitstellen, die in der Lebenserfahrung tiefer verankert istals die seit Demokrit, Platon und Aristoteles die dominanteeuropäische Intellektualkultur beherrschende. Wie das ge-schehen kann, will ich, andere wichtige Untersuchungsbe-reiche übergehend, an zwei besonders eingängigen Beispie-len skizzieren: Leib und Gefühl.

Der Leib

Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das,was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann,

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ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören,Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körper-schemas (d.h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastensabgeleiteten habituellen Vorstellungsgebildes vom eigenenKörper) zu stützen. Der Leib ist besetzt mit leiblichen Re-gungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Atmung, Be-hagen, affektives Betroffensein von Gefühlen. Er ist unteil-bar flächenlos ausgedehnt als prädimensionales (d.h. nichtbezifferbar dimensioniertes, z.B. nicht dreidimensionales)Volumen, das in Engung und Weitung Dynamik besitzt.Man macht sich das leicht am leiblich spürbaren Einatmenklar. Es wird in Gestalt einer Insel in der Brust- oder auchBauchgegend gespürt, in der simultan Engung und Weitungkonkurrieren, wobei anfangs die Weitung und später, gegenEnde des Einatmens, die Engung überwiegt; diese Insel istvoluminös, aber weder von Flächen umschlossen nochdurch Flächen zerlegbar und daher auch nicht dreidimen-sional, da die 3 als Dimensionszahl nur im Aufsteigen vonder 2 her sinnvoll eingeführt werden kann. Solch ein prä-dimensionales Volumen kommt auch in anderen Erfah-rungsbereichen vor, etwa im Wasser für den Schwimmer,der nicht auf die Oberfläche blickt, und als Schallvolumen,das beim schrillen Pfiff scharf, spitz und eng ist, beimdumpfen Gong oder Glockenschlag aber ausladend weitund weich. Der Leib ist fast immer – außer z.B. im heftigenSchreck – von solchen Leibesinseln besetzt, ein Gewogeverschwommener Inseln, die sich ohne stetigen Zusam-menhang meist flüchtig bilden, umbilden und auflösen, ineinigen Fällen aber auch mit mehr oder weniger konstanterAusrüstung beharren, dies besonders im oralen und analenBereich und an den Sohlen. Solche Leibesinseln kommenauch außerhalb des eigenen Körpers vor, z.B. als Phan-tomglieder der Amputierten. Seine Einheit erhält der Leibnicht durch einen stetigen Umriß. Seine Haut kann man be-

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sehen und betasten, aber nicht am eigenen Leib spüren; dieWeckung von Aufmerksamkeit auf die eigene Haut in derVorstellung anhand des perzeptiven Körperschemas kannallerdings die Sensibilität für das Spüren von Leibesinselnsteigern. Die Einheit des Leibes ist einerseits dynamischdurch die Gebundenheit an die Enge in Gestalt einer En-gung oder Spannung, die entweder aktuell gespürt wirdoder in Abwesenheit indirekt aufdringlich ist, als etwas, wo-von man z.B. in Entzücken oder Schweben in Seligkeit ent-kommen ist. Diese dynamische Einheit ist wie eine Veran-kerung der Leibesinseln; ausgedehnt, und zwar wiederumflächenlos unteilbar ausgedehnt, manifestiert sich die Ein-heit des Leibes in den ganzheitlichen, nicht auf Leibesinselnverteilten leiblichen Regungen, wie Frische, Mattigkeit, Be-hagen, Unbehagen, Müdigkeit, sofern man sich im Ganzenmüde fühlt und nicht nur müde Beine oder müde Augenhat; hierzu gehören auch die Regungen bei den den Leibganzheitlich durchziehenden Gebärden von Stolz, Ge-knicktheit usw.

Die ganzheitlichen leiblichen Regungen besetzen einenleiblichen Ganzort, die teilheitlichen leiblichen Regungendie Orte einzelner Leibesinseln. Alle diese im Spüren ameigenen Leib präsenten Orte sind absolute Orte. Untereinem absoluten Ort verstehe ich einen Ort, der bereits unab-hängig von Lage- und Abstandsbeziehungen, wodurch sichOrte in einem System relativer Orte gegenseitig bestim-men,2 obwohl zusätzlich eventuell auch noch so, bestimmtist. Für die Orte einzelner Leibesinseln macht man sich die-se Eigenschaft leicht an der Reaktion auf die plötzliche Rei-zung einer Hautstelle klar. Wenn irgendwo unversehens einJucken, Brennen oder dgl. z.B. die störende Anwesenheiteines Insekts zu verraten scheint, macht sich die verfügbaredominante Hand unverzüglich auf, um den Störenfried zuvertreiben oder auch durch Kratzen, Pressen und dgl. die

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unangenehme Regung zu beseitigen. Sie braucht dabei kei-neswegs im perzeptiven Körperschema an einem relativenOrt aufgesucht und zum Ziel ihres Einsatzes in ein Ver-hältnis nach Lage und Abstand gesetzt zu werden; das wäregar nicht möglich, weil die gereizte Stelle eine frisch aufzuk-kende, im perzeptiven Körperschema noch gar nicht reprä-sentierte Leibesinsel ist. Vielmehr zieht diese die blitz-schnell zugreifende Hand gleichsam zielsicher auf sich, weilbeide Leibesinseln schon unabhängig von Lage- und Ab-standsbeziehungen durch absolute Orte bestimmt und die-se aufeinander abgestimmt sind. Die Abstimmung besorgtdas sogleich noch einzuführende motorische Körpersche-ma. Für den Ganzort des Leibes ergibt sich die entspre-chende Absolutheit aus der Art seiner Abgehobenheit vonder Umgebung. Das ganzheitliche leibliche Behagen, z.B. inder Badewanne, ist im Raum deutlich abgegrenzt, andersals das mit leiblichem Behagen gespürte Behagen als Ge-fühl, die Atmosphäre der Geborgenheit. Diese Abgrenzungliegt aber nicht an der relativ-örtlichen Abgrenzung durcheinen Rand, denn das prädimensionale Volumen des ge-spürten Leibes hat keine begrenzenden Flächen. Sie ist viel-mehr in absolut-örtlicher Abgehobenheit aus einer umge-benden Weite begründet, wie sie auch in der klimatischenWahrnehmung vorkommt, wenn man z.B. aus dumpferLuft ins Freie tritt und sich im tiefen Aufatmen befreitfühlt, weil man sich in einer aufnehmenden Weite leiblichspürbar entfalten kann, ohne in ihr zu zergehen, vielmehrin weiterhin spürbar örtlicher Abgehobenheit, aber ohneRücksicht auf Lagen und Abstände in diesem Erleben desWetters.

An dieser räumlichen Organisation des Leibes zeichnetsich schon etwas von seiner Dynamik ab, deren Haupt-sache die Dimension von Enge und Weite ist. Leiblich seinheißt, zwischen reiner Enge und reiner Weite irgendwo in

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der Mitte zu sein und weder von Enge noch von Weiteganz loszukommen, solange das bewußte Erleben dauert.Diese Mittellage beruht auf dem Ineinandergreifen zweierantagonistischer Tendenzen: der expandierenden Weitungund der sie hemmenden und die Leibesinseln zusammen-haltenden Engung. Miteinander bilden sie den vitalen An-trieb, gleichsam den Dampf, unter dem ein Mensch wie einKessel steht. In diesem Zusammenwirken bezeichne ich dieEngung als Spannung, die Weitung als Schwellung, wobeian dynamische Schwellung im Sinne des stark flektiertenPartizips »geschwellt«, nicht an bloß quantitative Schwel-lung im Sinne des Partizips »geschwollen« zu denken ist.Der vitale Antrieb bedarf der antagonistischen Konkurrenzvon Spannung und Schwellung. Wenn die Engung aus derWeitung aushakt, wie bei heftigem Schreck, ist der Antriebweg. Ebenso erschlafft er nach der anderen Seite, wenn dieSchwellung die Mauer hemmender Spannung durchbrichtund die Weitung widerstandslos wird, wie bei der Ejakula-tion im Geschlechtsakt. Weniger dramatisch, mehr ein Aus-leiern des Bandes beim Freiwerden der Weitung aus derEngung, ist der Verlust des Antriebs beim Einschlafen, imDösen und in Trancezuständen. Spannung und Schwellungkönnen gerade durch ihren Antagonismus einander anfa-chen; dabei ergeben sich Exzesse ungleicher Gewichtsver-teilung, nämlich durch Übergewicht der Schwellung in derWollust des Kratzens einer stark juckenden Hautstelle oderder geschlechtlichen Ekstase, wenn durch engende Hem-mung bis zum Schmerz die Schwellung hochgetrieben wird,und umgekehrt durch Übergewicht der Spannung beiAngst und Schmerz, wenn schwellende Impulse des Weg-kommens vom absoluten Ort von übermächtig hemmen-der Spannung abgefangen werden – wobei der Schmerzsich in sich selbst verfängt, weil er sowohl eigene leiblicheRegung als auch ein auf den eigenen Leib eindringender

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Widersacher ist. Ungefähr im Gleichgewicht sind Spannungund Schwellung beim Einatmen und bei der Kraftanstren-gung durch Heben, Ziehen, Klettern und Ringen. LeiblicheRegungen – übrigens auch leibliche Dispositionen, die dasTemperament eines Menschen bestimmen – unterscheidensich charakteristisch in der Bindungsform von Spannungund Schwellung im vitalen Antrieb. Ihr Zusammenhangkann bloß simultan und intensiv sein wie beim Einatmenoder auch rhythmisch in der Weise kurzer Fluktuationendes Übergewichts, wobei dennoch in der Gesamtgestalt dieSpannung bzw. die Schwellung führen kann. Nicht rhyth-misch ist in diesem Sinn der Schmerz, der nur durch Pau-sen rhythmisiert werden kann, während sich der Rhythmusvon Spannung und Schwellung in Angst und Wollust, hin-längliche Stärke vorausgesetzt, stark durchsetzt und z.B. ander Atemkurve ablesen läßt. Die Bindung im vitalen An-trieb kann auch so locker sein, daß Anteile von Engungoder Weitung abgespalten werden; ich spreche dann vonprivativer Engung bzw. privativer Weitung. Schreck istsolch eine Abspaltung privativer Engung; ihm bleibt dasQuälende von Angst und Schmerz erspart, weil die forcier-te Engung nicht mehr mit schwellender Weitung, die vonihr übermächtig abgefangen würde, in Konflikt geratenkann. Erleichterung, wenn man eine Sorge plötzlich loswird, Entzücken, wenn einem das Herz aufgeht, »Schwe-ben in Seligkeit« bei inniger Freude sind Gestalten privati-ver Weitung, wobei kein spannender Widerstand mehr daist, an dem sich die Schwellung hocharbeitet, um sich, wiebei der Wollust, triumphierend darüber hinwegzusetzen.

Außer dem vitalen Antrieb gibt es in der leiblichen Dy-namik noch eine weitere Form der Vermittlung zwischenEnge und Weite, nämlich die leibliche Richtung, die, ohnewie die geometrische Richtung auf Linien oder gar geradeStrecken angewiesen zu sein, unumkehrbar aus der Enge in

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die Weite führt. Beispiele dafür sind der Blick und das Aus-atmen, so wie es am eigenen Leibe gespürt wird. Grundle-gend ist sie im motorischen Verhalten. Man hat sich nochnicht klargemacht, daß dabei ein Körperschema wesentlichanderer Art als das perzeptive führt, nämlich das motori-sche, das durch unumkehrbare leibliche Richtungen organi-siert wird. Zum motorischen Verhalten gehört eine Orien-tiertheit über das räumliche Verhältnis der einzusetzendenGlieder; es kommt z.B. darauf an, beide Hände als die rech-te bzw. die linke zu unterscheiden. Dazu bedarf es einerBezugsstelle, eines Nullpunkts, von dem aus etwas rechtsoder links ist. Säße er im abgewinkelten rechten Ellbogen(z.B. wenn die Hände das Steuer eines Autos halten), sowären beide Hände links, und die Rechts-Links-Unterschei-dung könnte zwischen ihnen nicht mehr greifen. Entspre-chendes gilt natürlich für Oben und Unten usw. Von derNullstelle des motorischen Körperschemas aus ist die Peri-pherie in der zu geordneten Bewegungen erforderlichenräumlichen Verteilung vom Gesunden mühelos zu findenund einzusetzen, aber wo ist sie selbst von der Peripherieaus zu finden? Das kann man nicht sagen, auf jeden Fallnicht mühelos und mit Evidenz; das Suchen bleibt in grüb-lerischen Ansätzen stecken. Diese verblüffende Adressen-losigkeit der Bezugsstelle im motorischen Körperschemageht darauf zurück, daß dieses Körperschema nicht wie dasperzeptive über umkehrbare Verbindungsbahnen durch La-geverhältnisse und Abstände bestimmt ist, sondern überunumkehrbare leibliche Richtungen durch Entfernungen,die nur in einem Sinn abgelesen werden können, so daß z.B.die Füße weiter weg als die Knie sind, nicht nach zwei Sei-ten wie ein Abstand, der von A nach B gleich dem von Bnach A ist. Alle glatte Motorik, sowohl die zielgerichtete alsauch die Gebärde, beruht auf der Organisation des Um-raums durch das motorische Körperschema. Wer sich beim

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Tanzen, beim Schwimmen, beim Klavierspielen oder Ma-schineschreiben noch nach Lagen und Abständen richtet,ist ein Stümper oder Lehrling, dessen Bewegungsabläufenoch nicht flüssig »sitzen«; der Könner schreibt oder spielt»blind« mit dem motorischen Körperschema. Es vollbringtVirtuosenleistungen durch Koagieren der Glieder ohnemerkliche Reaktionszeit, z.B. beim Abfangen eines drohen-den Sturzes durch Balancieren. Von gleicher Art ist dasprompte Koagieren der Hände und Füße des Autofahrersmit dem, was er in drohender Unfallgefahr sieht, wenn erdurch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Be-schleunigen dem Zusammenstoß ausweicht. Diese optisch-motorische Kooperation wird dadurch möglich, daß derBlick dem motorischen Körperschema als eine seiner Rich-tungen eingeordnet ist.

In der leiblichen Dynamik gibt es über die Dimensionvon Enge und Weite hinaus eine weitere, der ersten nahe-stehende Dimension, die ich durch das Gegensatzpaar vonprotopathischer und epikritischer Tendenz abstecke. DieBeiworte sind von dem Neurologen Henry Head zur Un-terscheidung von Schmerzarten eingeführt worden; ich be-ziehe sie auf alle leibliche Regungen und darüber hinaus aufBewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, dieebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gegenständen wahr-genommen werden. Protopathisch ist das Dumpfe, Diffu-se, verschwommen Ausstrahlende, epikritisch das Spitze,Scharfe. So ist z.B. das Jucken protopathisch, das Kitzelnepikritisch, der Höhepunkt des Orgasmus epikritisch, dasVerströmen im geschlechtlichen Rausch protopathisch. Einschwerer, schleppender Gang, ein dunkler Vokal hat proto-pathische, ein federndes Hüpfen und ein schrilles Geräuschepikritische Züge. Es liegt nahe, epikritische Tendenz aufEngung und protopathische auf Weitung zurückzuführen,aber damit kommt man nicht durch, denn es gibt auch pro-

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topathische Engung, z.B. als benommener Kopf im Katernach reichlichem Alkoholgenuß, und auch für epikritischeWeitung ließen sich Beispiele finden.

Das Gefühl

Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphä-ren. Diese These wird man für einige Fälle leicht zugebenkönnen, wenn man sich mit den Differenzierungen derRäumlichkeit genügend vertraut gemacht hat und nichtmehr für alles, was räumlich ist, einen bezifferbaren Di-mensionsgrad, Lagen, Abstände und eine meßbare Größeoder Figur erwartet. Die bereits skizzierte Eigenart derRäumlichkeit des Leibes wird darauf vorbereitet haben. An-dere Beispiele liefert die Räumlichkeit des Schalls oder auchdie seines Gegenteils, der Stille. Eine feierliche oder einezarte morgendliche Stille ist weit, eine drückende, lastende,bleierne Stille dagegen eng und protopathisch dumpf; bei-des sind leibverwandte synästhetische Charaktere. In sol-cher Weise, wie die ausgeprägte Stille, und natürlich nichtals physikalisch interpretierbare Gebilde sind auch Gefühleräumlich. Für kollektiv zugängliche Atmosphären unterMenschen – z.B. die Verlegenheit, in die jemand nichtsah-nend »hineinplatzt«, so daß ihm das Wort auf den Lippenerstirbt, die Albernheit oder Feierlichkeit eines Festes, dieGedrücktheit, Angespanntheit oder Aufgeregtheit, die sichbei entsprechenden Herausforderungen über Menschenlegt – und für optisch-klimatische Atmosphären (Abend-stimmung, Novemberstimmung, Gewitterstimmung) dürftedas einleuchten; es trifft aber auch auf private Atmosphä-ren zu, wenn sie nur einen ergreifen. Ein gutes Beispiel istdie Freude, die den Glücklichen hüpfen oder gar, wie mansagt, in Seligkeit schweben läßt, als ob die Schwere keine

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Rolle mehr spielte. Es liegt nahe, diese Leichtigkeit undSchnellkraft auf ein gesteigertes leibliches Kraftgefühl, mitdem der Frohe die Gravitationskraft zu überspielen meint,zurückzuführen, aber diese Erklärung genügt nicht. Dasleibliche Befinden, das durch Freude angeregt wird, kannvon vielerlei, sogar von gegensätzlicher Art sein. Zwar gibtes die kraftvolle, expansive, hochgespannte Art, sich zufreuen, aber auch die weiche Freude, in die man sich fallenläßt, und auch die kann dem Ergriffenen das mühelose An-gehen gegen die Schwere eingeben. Es ist also nicht diekraftvoll angefachte Leiblichkeit, sondern die Freude selbstals eine Atmosphäre, in die der Frohe leiblich spürbar hin-eingeraten ist, die für sein leibliches Befinden die drücken-de Schwere löscht. Wie durch einen Zauberschlag sind alleniederdrückenden Vektoren umgedreht, so daß der Menschvon einer Atmosphäre, die es ihm erlaubt, sich über dieSchwere hinwegzusetzen, gleichsam mitgezogen wird. Phy-sikalisch hat sich dadurch natürlich nichts geändert, aberder Mensch kann eben nicht nur als Körper unter den Ein-fluß des Schwerefeldes der Erde oder der Schwerelosigkeitkommen, sondern auch als Leib unter den Einfluß einerAtmosphäre des Gefühls, von Schwere oder Leichtigkeitanderer, nicht physikalisch meßbarer Art. So verhält es sichauch bei der zur Freude konträren Depression oder Ge-drücktheit in Kummer, Trauer oder Schwermut. Dabeihandelt es sich um keine gesteigerte körperliche Empfind-lichkeit für die Gravitation, überhaupt nicht um eine aufeinzelne Körper verteilte Schwere, sondern um eine ganz-heitliche, atmosphärische Schwere von der Art, wie manvon drückendem Wetter spricht, das Menschen trübe undmißmutig stimmt.

Entscheidend spricht für die atmosphärisch ergosseneRäumlichkeit der Gefühle die Beobachtung, daß diese The-se sich gerade unter denkbar ungünstigen Umständen be-

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währt, nämlich dann, wenn jemand in einer Weise gestimmtist, die zu der Gestimmtheit seiner Umgebung in schroffemGegensatz steht. Wenn es sich bei dieser Umgebung umMenschen handelt, spreche ich vom sozialen Gefühlskontrast.Um ihn deutlich zu machen, vergleiche ich ein Paar gegen-sätzlicher Gefühle mit einem Paar nahe verwandter, zu denGefühlen respective passender leiblicher Regungen. DieGefühle seien Freude und Trauer, die entsprechenden leib-lichen Regungen Frische und Mattigkeit. Wenn ein Froherin einen Kreis tief trauriger Menschen tritt, wird er bei eini-ger Feinfühligkeit spüren, daß er mit seiner Fröhlichkeithier nicht so recht am Platz ist, und sich demgemäß etwaszurückhalten. Wenn dagegen ein Frischer unter lauter Mat-te kommt, von denen er etwas erwartet, wird er den Kon-trast längst nicht so gebieterisch spüren und sich viel leich-ter darüber hinwegsetzen. Er wird dazu neigen, die mattenPartner durch Zuruf oder handgreiflich aufzurütteln, undsich wahrscheinlich ärgern, wenn er keinen Erfolg hat. Wo-her dieser Unterschied im Kontrastgrad? Eine Erklärungkönnte sein, daß es sich um Rücksicht auf die Mitmen-schen und deren Würde handle. Aber die läge den Mattengegenüber doch ebenso nah und könnte sogar das umge-kehrte Verhalten gegenüber den Traurigen nahelegen, näm-lich den Versuch, sie aus ihrer Trauer zu reißen, um ihnendie aufrechte Haltung des Stolzes und der Würde zurückzu-geben. Also ist es die Würde der Atmosphäre selbst, dieAutorität der Trauer, die den Fröhlichen zurückhält. Ge-fühle sind anspruchsvolle Atmosphären, die dank ihrer ort-losen Ergossenheit in der jeweils aktuellen Umgebungeinen totalen Anspruch stellen und zum Konflikt führen,wenn konträre Atmosphären zusammenprallen; im bespro-chenen Fall zieht sich dann die Fröhlichkeit vor der ernste-ren und gewichtigeren tiefen Trauer ein Stück weit zurück.Leibliche Regungen wie Frische und Mattigkeit haben dage-

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gen wegen ihrer örtlichen Umschriebenheit in einer ge-meinsamen Umgebung zwanglos nebeneinander Platz, sodaß der frische Impuls keinen Anlaß hat, bei der Annähe-rung an das matte Befinden stutzig zu werden und sich zu-rückzuziehen. Gern verwende ich, um den Unterschied zubeleuchten, auch den Vergleich zwischen dem leiblichenBehagen in der Badewanne und dem – eventuell mit leibli-chem Behagen gefühlten – Gefühl des Behagens, geborgenzu sein in der Liebe eines Menschen oder eines harmo-nischen Familienkreises. Das Behagen in der Badewannereicht nicht über deren Rand hinaus; das Behagen als Ge-fühl der Geborgenheit ist dagegen eine Atmosphäre, dieden Menschen umhüllt und trägt, wohin er auch geht, undihm sein Leben leichter macht, wie heiteres Wetter.

Während die Gefühle räumlich ergossene Atmosphärensind, ist das Fühlen der Gefühle, soweit es sich um Ergrif-fenheit von ihnen und nicht um bloßes Wahrnehmen derAtmosphäre handelt – wie wenn ein ernsthafter Beobachterin ein albernes Fest gerät –, stets ein leibliches Betroffen-sein von ihnen. Dieses kann in teilheitlichen oder in ganz-heitlichen leiblichen Regungen bestehen, besonders aber inder Suggestion oder Vorzeichnung ausgeführter oder un-ausgeführter Bewegungen, wobei diese Suggestion vom Er-griffenen am eigenen Leibe gespürt wird. Daraus erklärtsich die eigentümliche Gebärdensicherheit des Ergriffenen.Der Freudige weiß zu hüpfen, der Kummervolle schlaffund gebrochen dazusitzen und zu stöhnen, der Beschämteden Blick zu senken, der Verzweifelte gellend aufzulachenusw.; niemand, der so ergriffen ist, muß verlegen fragen,wie man so etwas macht und den angemessenen Ausdruckdes Gefühls findet. Dagegen muß der Mitleidige, der bloßan fremdem Leid Anteil nimmt, ohne davon unmittelbarergriffen zu sein, sehr oft verlegen fragen, wie er sein Mit-leid dem Unglücklichen in passender Weise ausdrücken

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soll, und sucht dann nach Worten oder Gesten, weil ihmkein Gefühl als leiblich ergreifende Macht unmittelbar eineHaltung oder Bewegung eingibt. Wenn aber das Mitleideinmal so spontan und stürmisch ist wie eigenes Leid, dannbricht es sich ganz von selbst Bahn zu einer unproblemati-schen Äußerung.

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