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1 LESEPROBE

Leseprobe Mohr A6 digital - arena-verlag.de · Ich komme mir vor wie in der Marlboro-Werbung. Nur die Pferde fehlen. Ich weiß ja nicht, was Aino so vorhat, aber jedenfalls ... strandet

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Leseprobe

Angela MohrZwei Tage, zwei Nächte und die Wahrheit über Seifenblasen312 SeitenKlappenbroschur€ 12,99 [D] € 13,40 [A] CHF 16,90978-3-401-60122-9Auch als E-Book erhältlich

© P

rivat

Angela Mohr, geboren in Stuttgart, hat sich die Welt wegen eines Sprachfehlers in ihrer Kindheit und Jugend von Anfang an schreibend erschlossen. Nach ihrem Theater- und Literaturstudium war sie in den verschie-densten Berufen tätig. Heute lebt sie im Rhein-Neckar-Kreis und arbeitet neben der Schriftstellerei am Aufbau einer Freien Schule mit.

Manchmal ist das Glück nur einen Kuss entferntNik rennt vor seinen Schulden davon. Aino vor ihrer Schuld. Nik ist fas-

ziniert von diesem Mädchen mit der zerbrechlichen Stimme – und fas-

sungslos. Denn Aino will ins Kloster und schweigen, für immer.

Gestrandet im Nirgendwo schließen die beiden einen Pakt: Aino ver-

pfeift Nik nicht, der in Dauerschwierigkeiten steckt. Und Nik zeigt Aino,

was sie auf dieser Welt verpasst. Für 48 Stunden steigen die beiden aus

ihrem Leben aus.

Aber wie beweist man jemandem, wie schön diese Welt ist – mit einem

Banküberfall, einem Besuch in einem Sex-Shop oder einer Nacht im

Wald? Sicher ist nur: Das Leben hat für die beiden einen ganz anderen

Plan.

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Nik

Ich komme mir vor wie in der Marlboro-Werbung. Nur die Pferde fehlen.

Ich weiß ja nicht, was Aino so vorhat, aber jedenfalls hat sie alles dabei, was man zum Überleben in der Wild-nis braucht. Wenigstens in der Wildnis, die rund um das verlassene Bahnhofsgebäude existiert.

Es war nicht leicht, ein Feuer anzukriegen, es ist al-les erbärmlich nass. Aber Aino hat das Holz richtig auf-geschichtet – wie einen Mini-Scheiterhaufen – und ich schwöre, sie weiß sogar, wie man so einen Fisch aus-nimmt, schuppt, entgrätet und all das.

Wir haben kein Salz und keine Gewürze und sie ist mit meinem Handy in der Hand durchs Gebüsch gekrochen, während ich aufgepasst habe, unsere ehemalige Angel über dem Feuer zu drehen, und dann hat sie zwei Hand-voll Unkraut mitgebracht, das sie mit dem Taschenmes-ser klein geschnitten und in den aufgeschnittenen Fisch-bauch gestopft hat.

Ich muss sagen, das Unkraut war extrem lecker. Was auch daran liegen mochte, dass ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen habe. Wenn nicht mein Handy noch zweimal geklingelt hätte, hätte ich glatt vergessen, dass ich mitten in der Zivilisation bin und nicht irgendwo in der Taiga.

Wir werden nichts fangen. Wir haben keinen Schwim-mer. Der Haken ist alles andere als stabil.

Nik springt schon wieder auf. Er hält mir den Stecken hin. »Halt mal, ich ziehe die Schnur ein!«

Seine Augen strahlen im Mondlicht.Ich halte den Holzstecken mit beiden Händen. Nik zieht

an der Schnur, bis das Ende aus dem Wasser kommt. Er schreit laut auf. Er schwenkt etwas Schweres, Zappelndes.

»Wir haben einen! Scheiße noch mal, Aino, wir haben einen Fisch gefangen!« Nik lacht. Er lässt den Fisch ins Boot krachen. Wie ein Insekt, das man von sich schleu-dert.

Eine Groppe. Es ist ein Wunder. Wir konnten nichts fangen, nicht

hier, nicht jetzt, in dem aufgeschwemmten Fluss, mit der Ausrüstung.

Warum haben wir den Fisch gefangen? Mein Kopf kribbelt. Nichts geschieht aus Zufall, nichts. »Was machen wir jetzt damit?« »Im Ernst: was machen wir jetzt damit?« Ich blicke auf den sich windenden Fisch. Früher bin ich mit Papa angeln gewesen. Ich war die

Einzige, die er mitgenommen hat. Ich konnte stundenlang schweigen. Ich krame nach dem Block.Essen

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Kochtopf reitet. Ohne Witz, in einem Kochtopf und … ach, egal.

Jedenfalls ruft Aino nicht »Freitag« und auch nicht sonst was und ich muss sagen: Das nervt.

»Also gut«, spreche ich weiter, »weißt du, Menschen re-den nämlich miteinander. Ja, das tun sie normalerweise. Vielleicht kannst du nicht sprechen, warum auch immer, ’ne Krankheit oder was weiß ich. Aber du kannst schrei-ben.« Ich tippe auf den Block, nur für den Fall, dass sie’s vergessen hat.

»Und – naja – wir sind nun mal zusammen hier ge-strandet und da ist es irgendwie normal, dass man halt miteinander redet und so – oder auch schreibt, egal.«

Lustig, kommentiert der Captain. Du erzählst an-deren was übers zwischenmenschliche Zusammen-leben. Hört, hört. Das kann ja noch vergnüglich wer- den.

Ich verstumme.Aino steht auf, kritzelt etwas auf den Block und kommt

um die Feuerstelle herum. Dann hält sie ihn mir vor die Nase.

Ich muss das Papier neigen, damit ich im Feuerschein ihr Gekritzel entziffern kann.

Wenn’s dir nicht passt, kannst du ja gehenIch sehe sie an. In ihrem Blick öffnet sich etwas, es ist,

als würde es plötzlich finster um sie herum. In diesem Moment kommt mir der Gedanke zum ersten Mal: Viel-leicht hat sie ja jemanden umgebracht. Ich weiß nichts von ihr und da ist dieser Blick … keine Ahnung – könnte doch sein, dass sie was verbrochen hat, oder nicht?

»Ja«, schimpfe ich lautstark, um den Gedanken wieder loszuwerden, »da hast du völlig recht. Ehrlich.« Ich zie-

Aino hat immer noch nicht gesprochen und auch das passt irgendwie dazu. Vielleicht kann sie nur Tierlaute, überlege ich schläfrig. Ich fühle mich wohl wie ein Klein-kind, bis mich der Gedanke überfällt, dass die Nacht noch lange dauert und ich mir mal überlegen sollte, wo ich schlafen soll.

Wir sitzen auf den Stufen, die zum Haus führen, und ich greife nach dem Block, der zwischen uns liegt. Viel steht nicht darauf. Nur drei Worte, um genau zu sein.

AinoEssenWildkräuterIch schreibe Wo wil lst du eigentl ich hin? Sie wirft einen Blick auf das Papier, dann sieht sie ganz

kurz in meine Richtung und dann wieder in die Glut, als sei da irgendwas Superinteressantes los. Ich klopfe mir auf den Bauch.

»Lecker, der Fisch«, sage ich und wieder ernte ich einen kurzen Blick. Irgendwann hebe ich beide Hände.

»Okay, okay, du musst es mir nicht sagen. Dachte nur. Wir beide sind ja schließlich so was Ähnliches wie …« Mir will nicht recht einfallen, was wir sind. »Robinson. Und Mittwoch. Oder wie der heißt.«

Leute, beruhigt euch. Ich weiß schon, dass der Freitag heißt, aber ich dachte halt, dass Aino was sagt. Ist doch klar. Weil, wenn man so was Dämliches sagt wie »Ro-binson und Mittwoch«, dann platzt doch jeder normale Mensch raus mit: Hey, der Typ heißt Freitag!. So wie der Wolf und die acht Geißlein oder die Hexe Mama Jaga, aber die kennt ihr wahrscheinlich nicht, weil das eine russische Märchenfigur ist, die Baba Jaga, die in einem

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Kochtopf reitet. Ohne Witz, in einem Kochtopf und … ach, egal.

Jedenfalls ruft Aino nicht »Freitag« und auch nicht sonst was und ich muss sagen: Das nervt.

»Also gut«, spreche ich weiter, »weißt du, Menschen re-den nämlich miteinander. Ja, das tun sie normalerweise. Vielleicht kannst du nicht sprechen, warum auch immer, ’ne Krankheit oder was weiß ich. Aber du kannst schrei-ben.« Ich tippe auf den Block, nur für den Fall, dass sie’s vergessen hat.

»Und – naja – wir sind nun mal zusammen hier ge-strandet und da ist es irgendwie normal, dass man halt miteinander redet und so – oder auch schreibt, egal.«

Lustig, kommentiert der Captain. Du erzählst an-deren was übers zwischenmenschliche Zusammen-leben. Hört, hört. Das kann ja noch vergnüglich wer- den.

Ich verstumme.Aino steht auf, kritzelt etwas auf den Block und kommt

um die Feuerstelle herum. Dann hält sie ihn mir vor die Nase.

Ich muss das Papier neigen, damit ich im Feuerschein ihr Gekritzel entziffern kann.

Wenn’s dir nicht passt, kannst du ja gehenIch sehe sie an. In ihrem Blick öffnet sich etwas, es ist,

als würde es plötzlich finster um sie herum. In diesem Moment kommt mir der Gedanke zum ersten Mal: Viel-leicht hat sie ja jemanden umgebracht. Ich weiß nichts von ihr und da ist dieser Blick … keine Ahnung – könnte doch sein, dass sie was verbrochen hat, oder nicht?

»Ja«, schimpfe ich lautstark, um den Gedanken wieder loszuwerden, »da hast du völlig recht. Ehrlich.« Ich zie-

Aino hat immer noch nicht gesprochen und auch das passt irgendwie dazu. Vielleicht kann sie nur Tierlaute, überlege ich schläfrig. Ich fühle mich wohl wie ein Klein-kind, bis mich der Gedanke überfällt, dass die Nacht noch lange dauert und ich mir mal überlegen sollte, wo ich schlafen soll.

Wir sitzen auf den Stufen, die zum Haus führen, und ich greife nach dem Block, der zwischen uns liegt. Viel steht nicht darauf. Nur drei Worte, um genau zu sein.

AinoEssenWildkräuterIch schreibe Wo wil lst du eigentl ich hin? Sie wirft einen Blick auf das Papier, dann sieht sie ganz

kurz in meine Richtung und dann wieder in die Glut, als sei da irgendwas Superinteressantes los. Ich klopfe mir auf den Bauch.

»Lecker, der Fisch«, sage ich und wieder ernte ich einen kurzen Blick. Irgendwann hebe ich beide Hände.

»Okay, okay, du musst es mir nicht sagen. Dachte nur. Wir beide sind ja schließlich so was Ähnliches wie …« Mir will nicht recht einfallen, was wir sind. »Robinson. Und Mittwoch. Oder wie der heißt.«

Leute, beruhigt euch. Ich weiß schon, dass der Freitag heißt, aber ich dachte halt, dass Aino was sagt. Ist doch klar. Weil, wenn man so was Dämliches sagt wie »Ro-binson und Mittwoch«, dann platzt doch jeder normale Mensch raus mit: Hey, der Typ heißt Freitag!. So wie der Wolf und die acht Geißlein oder die Hexe Mama Jaga, aber die kennt ihr wahrscheinlich nicht, weil das eine russische Märchenfigur ist, die Baba Jaga, die in einem

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Im Vergleich zu draußen ist es drinnen stockdunkel. Nach einer Weile, als sich meine Augen daran gewöhnt haben, sehe ich, dass Aino auf der Bank liegt. Sie hat sich in einen Schlafsack gehüllt, den sie aus den unergründ-lichen Tiefen ihres Rucksackes hervorgeholt haben muss. Ein paar Meter weiter liegt eine Isomatte auf dem Boden.

Verdammt, was ist das?, fragt der Captain.Was denkst du denn?Ein seltsames Gefühl steigt in mir auf, als ich diese

Isomatte mitten in dem ganzen Müll liegen sehe. Aino hat sie da hingelegt. Für mich. Damit ich nicht auf dem unbequemen Fußboden liegen muss.

Ich kriege einen Kloß in den Hals, den ich nicht ver-stehe und den ich nicht will und der mich ziemlich durch den Wind bringt.

Ich setze mich vorsichtig auf die weiche Unterlage, ho-le mein Handy aus der Tasche und lösche alle Nachrich-ten, ohne sie gelesen zu haben. Dann drehe ich dem Ding den Saft ab, lege mich auf den Rücken und strecke mich vorsichtig aus. Mit unter dem Nacken verkreuzten Armen betrachte ich das Wolkenspiel vor dem Fenster. Hier drin ist es beinahe kälter als draußen. Ich bin überzeugt, kein Auge zumachen zu können.

Vom Quietschen eines abfahrenden Zuges wache ich auf. Wie spät ist es? Nachdem der Zug weggerollt ist, wird es still.

Ich drehe mich um und im Morgenlicht sehe ich die zusammengekrümmte Gestalt, die auf der Bank liegt. Sie gibt keinen Ton von sich. Als ich mich bewege, durch-fährt mich ein fieser Schmerz von der Schulter abwärts. Stöhnend rapple ich mich auf, schleiche auf Zehenspitzen

he ein zerknittertes Päckchen Tabak aus der Hosentasche und fange an, mir eine zu drehen.

Aino biete ich keine an. Die ist doch sicher eh so ein Mädchen, das nie, niemals nicht rauchen würde, und be-stimmt gleich geziert mit der Hand das Rumwedeln an-fängt, weil sie der Rauch in den Brave-Mädchen-Äuglein brennt.

»Wer will schon freiwillig mit so einer Psychotante an einem abgefuckten Bahnhof rumhängen, ehrlich! Haben sie dir die Zunge rausgeschnitten, weil du jemanden um-gebracht hast, oder was?«

Aino, die begonnen hat, die Glut mit den Schuhen aus-zutreten, hält mitten in der Bewegung inne, dreht sich um und stapft in das Bahnhofsgebäude, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

»Ja, meinetwegen verrotte hier doch alleine«, rufe ich ihr hinterher. »Ich hau nämlich ab!«

Doch das Problem ist: Abhauen geht nicht. Ich mei-ne, klar, was interessiert mich die Durchgeknallte da drin. Mit ihrem bescheuerten Schweigen. Mit ihren riesigen Augen, wenn sie lacht. Mit ihrem Angelhaken. Mit ihrer Fahrkarte. Mit ihrem Geheimnis, das mich sowieso nicht interessiert. Soll sie doch hierbleiben und den Mond an-schweigen.

Aber genau da liegt das Problem: also nicht im Mond direkt. Eher darin, dass er nicht zu sehen ist. Und man sieht keinen Mond, weil der hinter einer Regenwolke ver-schwunden ist, aus der es jetzt zu regnen anfängt.

Und wenn ich sage regnen, dann meine ich nicht nie-seln oder tröpfeln oder plätschern.

Ich meine schütten. Und zwar aus Kübeln.Deshalb, und nur deshalb gehe ich rein.

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Im Vergleich zu draußen ist es drinnen stockdunkel. Nach einer Weile, als sich meine Augen daran gewöhnt haben, sehe ich, dass Aino auf der Bank liegt. Sie hat sich in einen Schlafsack gehüllt, den sie aus den unergründ-lichen Tiefen ihres Rucksackes hervorgeholt haben muss. Ein paar Meter weiter liegt eine Isomatte auf dem Boden.

Verdammt, was ist das?, fragt der Captain.Was denkst du denn?Ein seltsames Gefühl steigt in mir auf, als ich diese

Isomatte mitten in dem ganzen Müll liegen sehe. Aino hat sie da hingelegt. Für mich. Damit ich nicht auf dem unbequemen Fußboden liegen muss.

Ich kriege einen Kloß in den Hals, den ich nicht ver-stehe und den ich nicht will und der mich ziemlich durch den Wind bringt.

Ich setze mich vorsichtig auf die weiche Unterlage, ho-le mein Handy aus der Tasche und lösche alle Nachrich-ten, ohne sie gelesen zu haben. Dann drehe ich dem Ding den Saft ab, lege mich auf den Rücken und strecke mich vorsichtig aus. Mit unter dem Nacken verkreuzten Armen betrachte ich das Wolkenspiel vor dem Fenster. Hier drin ist es beinahe kälter als draußen. Ich bin überzeugt, kein Auge zumachen zu können.

Vom Quietschen eines abfahrenden Zuges wache ich auf. Wie spät ist es? Nachdem der Zug weggerollt ist, wird es still.

Ich drehe mich um und im Morgenlicht sehe ich die zusammengekrümmte Gestalt, die auf der Bank liegt. Sie gibt keinen Ton von sich. Als ich mich bewege, durch-fährt mich ein fieser Schmerz von der Schulter abwärts. Stöhnend rapple ich mich auf, schleiche auf Zehenspitzen

he ein zerknittertes Päckchen Tabak aus der Hosentasche und fange an, mir eine zu drehen.

Aino biete ich keine an. Die ist doch sicher eh so ein Mädchen, das nie, niemals nicht rauchen würde, und be-stimmt gleich geziert mit der Hand das Rumwedeln an-fängt, weil sie der Rauch in den Brave-Mädchen-Äuglein brennt.

»Wer will schon freiwillig mit so einer Psychotante an einem abgefuckten Bahnhof rumhängen, ehrlich! Haben sie dir die Zunge rausgeschnitten, weil du jemanden um-gebracht hast, oder was?«

Aino, die begonnen hat, die Glut mit den Schuhen aus-zutreten, hält mitten in der Bewegung inne, dreht sich um und stapft in das Bahnhofsgebäude, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

»Ja, meinetwegen verrotte hier doch alleine«, rufe ich ihr hinterher. »Ich hau nämlich ab!«

Doch das Problem ist: Abhauen geht nicht. Ich mei-ne, klar, was interessiert mich die Durchgeknallte da drin. Mit ihrem bescheuerten Schweigen. Mit ihren riesigen Augen, wenn sie lacht. Mit ihrem Angelhaken. Mit ihrer Fahrkarte. Mit ihrem Geheimnis, das mich sowieso nicht interessiert. Soll sie doch hierbleiben und den Mond an-schweigen.

Aber genau da liegt das Problem: also nicht im Mond direkt. Eher darin, dass er nicht zu sehen ist. Und man sieht keinen Mond, weil der hinter einer Regenwolke ver-schwunden ist, aus der es jetzt zu regnen anfängt.

Und wenn ich sage regnen, dann meine ich nicht nie-seln oder tröpfeln oder plätschern.

Ich meine schütten. Und zwar aus Kübeln.Deshalb, und nur deshalb gehe ich rein.

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Aber es ist bereits zu spät.Mit Chirurgenhänden löse ich den Verschluss, der auf

die Seite gerutscht ist, und lasse die Kette in meine Hand gleiten. Das Ding ist verflucht schwer. Kaum vorstellbar, dass Aino den fehlenden Anhänger nicht bemerken wird.

Sie bewegt sich. Kurz überlege ich, die Kette einfach auf den Boden fallen zu lassen. Dann könnte es so ausse-hen, als habe Aino sie im Schlaf verloren.

Der Captain zwinkert mir zu. Ich lasse die Kette in meine Hosentasche rutschen.

Dann habe ich es plötzlich eilig. Ich muss hier weg, so schnell wie möglich. Ich tappe über herumliegende Plas-tikflaschen und Glasscherben nach draußen.

Es scheint noch einmal geregnet zu haben. Ich regis-triere die schwere Luft kaum und eile zur Anschlagtafel, wo die nächsten Verbindungen stehen. Ich werde zurück-fahren, den Anhänger versetzen, meine Schulden bezah-len. Na ja. Einen Teil davon vielleicht. So viel wenigstens, dass Oleg eine Weile Ruhe gibt. Alles wird gut.

Dann sehe ich auf die Uhr, die am Bahnsteig hängt.Es ist gerade mal halb sechs. Der nächste Zug hält

erst in einer Stunde. Egal, Hauptsache, ich bin von hier weg. Weg von diesem heruntergekommenen Haus in dem Drecksnest, weg von dem Fluss, der so modrig herüber-dünstet, weg von – Aino.

Soll sie ohne mich weiterfahren, sie wollte ja sowieso in die andere Richtung, sage ich mir und ignoriere den schweren Gegenstand in meiner Hosentasche geflissent-lich.

Ich könnte auch abhauen, die Schienen entlang, ir-gendwann muss schließlich der nächste Bahnhof kom-men. Aber ich will nicht auf den Gleisen herumbalancie-

zum Fenster und versuche, nicht versehentlich auf knir-schenden Müll zu treten.

Draußen wird es bereits hell. Wie spät ist es? Ich will das Handy nicht anschalten. Als sich hinter mir etwas bewegt, drehe ich mich um: Aino hat ihre Position gewechselt und liegt jetzt mit dem Gesicht zu mir. Ihre Lider sind geschlos-sen und jetzt kann ich auch ihren leisen Atem hören, der durch die leicht geöffneten Lippen ein und ausgeht.

Der Captain pinnt einen Lageplan an die Wand. Langsam schleiche ich mich näher, jeden Moment

rechne ich damit, dass sie aufwacht. Doch Aino schläft weiter. Ein paar Strähnen haben sich

aus dem Zopfgummi gelöst und stehen zerzaust um ihr Gesicht.

Und dann passiert es. Ich sehe, dass Ainos Kette her-ausgerutscht ist. Wie ein Magnet zieht der Anhänger mei-nen Blick auf sich. Ich gehe näher, weil es noch zu dunkel ist, um Einzelheiten zu erkennen.

Der Captain hatte recht: Das Ding ist wertvoll. Es ist eine Figur, eine Frau, für einen Kettenanhänger unglaub-lich groß und schwer. Ich könnte mir vorstellen, dass es ziemlich unbequem ist, den Klunker die ganze Zeit um den Hals zu tragen.

Damit könnten sich einige Probleme erledigen lassen. Mit einem Schlag. Vielleicht bleibt sogar noch was übrig.

Meine Finger kribbeln und ich weiß genau, was ich tun werde, auch wenn ich noch versuche, mich selbst daran zu hindern.

Die Isomatte, versucht mein Gewissen in einen aus-sichtslosen Kampf mit dem Captain zu springen, denk an die Isomatte, sie hat sie extra für mich hingelegt!

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Aber es ist bereits zu spät.Mit Chirurgenhänden löse ich den Verschluss, der auf

die Seite gerutscht ist, und lasse die Kette in meine Hand gleiten. Das Ding ist verflucht schwer. Kaum vorstellbar, dass Aino den fehlenden Anhänger nicht bemerken wird.

Sie bewegt sich. Kurz überlege ich, die Kette einfach auf den Boden fallen zu lassen. Dann könnte es so ausse-hen, als habe Aino sie im Schlaf verloren.

Der Captain zwinkert mir zu. Ich lasse die Kette in meine Hosentasche rutschen.

Dann habe ich es plötzlich eilig. Ich muss hier weg, so schnell wie möglich. Ich tappe über herumliegende Plas-tikflaschen und Glasscherben nach draußen.

Es scheint noch einmal geregnet zu haben. Ich regis-triere die schwere Luft kaum und eile zur Anschlagtafel, wo die nächsten Verbindungen stehen. Ich werde zurück-fahren, den Anhänger versetzen, meine Schulden bezah-len. Na ja. Einen Teil davon vielleicht. So viel wenigstens, dass Oleg eine Weile Ruhe gibt. Alles wird gut.

Dann sehe ich auf die Uhr, die am Bahnsteig hängt.Es ist gerade mal halb sechs. Der nächste Zug hält

erst in einer Stunde. Egal, Hauptsache, ich bin von hier weg. Weg von diesem heruntergekommenen Haus in dem Drecksnest, weg von dem Fluss, der so modrig herüber-dünstet, weg von – Aino.

Soll sie ohne mich weiterfahren, sie wollte ja sowieso in die andere Richtung, sage ich mir und ignoriere den schweren Gegenstand in meiner Hosentasche geflissent-lich.

Ich könnte auch abhauen, die Schienen entlang, ir-gendwann muss schließlich der nächste Bahnhof kom-men. Aber ich will nicht auf den Gleisen herumbalancie-

zum Fenster und versuche, nicht versehentlich auf knir-schenden Müll zu treten.

Draußen wird es bereits hell. Wie spät ist es? Ich will das Handy nicht anschalten. Als sich hinter mir etwas bewegt, drehe ich mich um: Aino hat ihre Position gewechselt und liegt jetzt mit dem Gesicht zu mir. Ihre Lider sind geschlos-sen und jetzt kann ich auch ihren leisen Atem hören, der durch die leicht geöffneten Lippen ein und ausgeht.

Der Captain pinnt einen Lageplan an die Wand. Langsam schleiche ich mich näher, jeden Moment

rechne ich damit, dass sie aufwacht. Doch Aino schläft weiter. Ein paar Strähnen haben sich

aus dem Zopfgummi gelöst und stehen zerzaust um ihr Gesicht.

Und dann passiert es. Ich sehe, dass Ainos Kette her-ausgerutscht ist. Wie ein Magnet zieht der Anhänger mei-nen Blick auf sich. Ich gehe näher, weil es noch zu dunkel ist, um Einzelheiten zu erkennen.

Der Captain hatte recht: Das Ding ist wertvoll. Es ist eine Figur, eine Frau, für einen Kettenanhänger unglaub-lich groß und schwer. Ich könnte mir vorstellen, dass es ziemlich unbequem ist, den Klunker die ganze Zeit um den Hals zu tragen.

Damit könnten sich einige Probleme erledigen lassen. Mit einem Schlag. Vielleicht bleibt sogar noch was übrig.

Meine Finger kribbeln und ich weiß genau, was ich tun werde, auch wenn ich noch versuche, mich selbst daran zu hindern.

Die Isomatte, versucht mein Gewissen in einen aus-sichtslosen Kampf mit dem Captain zu springen, denk an die Isomatte, sie hat sie extra für mich hingelegt!

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Als sie mich sieht, reißt sie den Mund auf und dann kommt sie auf mich zu. Wie in Zeitlupe, mir ist klar, was sie will, und zum ersten Mal seit gestern denke ich, dass es gut ist, dass sie nicht redet.

Sie winkt mit einer Hand, und je näher sie kommt, des-to seltsamer fühle ich mich. Jetzt sieht sie wirklich aus, als sei das Haus über ihr zusammengestürzt und sie tage-lang unter den Trümmern begraben gewesen. Mein Gott, sie übertreibt maßlos.

»Was ist los?«, frage ich und wundere mich, wie grundle-gend der Captain die Führung übernommen hat, seit Aino ihren Anhänger so unvorsichtig hat herunterhängen las-sen. Ich höre mich gelangweilt an, unbeteiligt. Autopilot.

Aino reckt das Kinn ein wenig und klopft sich mit der linken Hand an den Hals, deutet an, was ich ohnehin weiß, aber ich stelle mich blöd. Wenn ich ganz ehrlich bin, nervt mich ihr »Ich-bin-stumm«-Getue nur noch. In meinen Augen gibt es keinen Grund, so zu tun, als könne sie nicht sprechen.

Als sie merkt, dass sie außer einem stumpfsinnigen Gesichtsausdruck von mir nichts bekommen wird, fasst sie an die Rocktasche, aber der Block ist nicht darin. Sie wedelt aufgeregt mit den Händen. Ich soll hier stehen bleiben, hab’s verstanden. Ich sehe ihr nach, wie sie zu-rückrennt ins Haus. Dann drehe ich mich um. Ein Laster kommt die Straße entlang. Ich halte die Hand mit erhobe-nem Daumen raus. Der Fahrtwind, als der Wagen brum-mend vorbeirauscht, weht mir Feuchtigkeit und Schmutz ins Gesicht. Ich fluche.

Da rennt Aino schon wieder auf mich zu. Wenn ich mich nicht verdächtig machen will, muss ich

schon ein wenig Anteil nehmen.

ren, wenn ein Güterzug durchfährt. Oder ein ICE oder was auch immer. Da gehe ich lieber an der Straße entlang und mache auf Anhalter.

Aber welche Richtung? Es scheint mir ungemein ver-lockend, mich auf die andere Seite zu stellen – auf die Seite, auf der es garantiert nicht nach Mannheim geht. Vielleicht lande ich ja in einem LKW mit Ziel Italien.

Oder im LKW eines psychopathischen Schwulen.Egal. Ich war bisher noch schneller als jeder, der mich

einholen wollte. Meine Beine sind vielleicht mein größter Trumpf.

Ich schlendere Richtung Straße und streiche mein Hemd glatt. Als ich an mir herunterschaue, merke ich, dass ich aussehe, als habe ich die Nacht im Gebüsch verbracht. Das weiße Hemd ist voller Schlammspritzer von meiner Begegnung mit dem Boden. Die Chinos sehen kaum bes-ser aus. Ich reibe an dem eingesauten Knie herum, aber das macht es nur noch schlimmer. Shit. So wird mich ga-rantiert keiner mitnehmen. Außerdem ist Freitagmorgen, keine Ferien weit und breit, wahrscheinlich schleppen sie mich ohne viel Federlesens zur nächsten Polizeidienst-stelle und die liefert mich direkt an der Schule ab.

Und Aino? Sie sieht nicht aus wie eine Schulschwän-zerin, finde ich.

Dann zwinge ich mich, an die Rückfahrt zu denken und nicht an Ainos ernstes, verschlossenes Gesicht. Daran, wie sich die Haare in ihrem Atem bewegt haben. Daran, wie sie sich auf den Fingernagel beißt beim Lachen. Oder daran, was mit ihr los ist.

Da kommt sie übrigens aus dem Haus. Ich fluche leise, aber irgendwie war es klar. Sie muss ja auch weiter, wo-hin auch immer.

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Als sie mich sieht, reißt sie den Mund auf und dann kommt sie auf mich zu. Wie in Zeitlupe, mir ist klar, was sie will, und zum ersten Mal seit gestern denke ich, dass es gut ist, dass sie nicht redet.

Sie winkt mit einer Hand, und je näher sie kommt, des-to seltsamer fühle ich mich. Jetzt sieht sie wirklich aus, als sei das Haus über ihr zusammengestürzt und sie tage-lang unter den Trümmern begraben gewesen. Mein Gott, sie übertreibt maßlos.

»Was ist los?«, frage ich und wundere mich, wie grundle-gend der Captain die Führung übernommen hat, seit Aino ihren Anhänger so unvorsichtig hat herunterhängen las-sen. Ich höre mich gelangweilt an, unbeteiligt. Autopilot.

Aino reckt das Kinn ein wenig und klopft sich mit der linken Hand an den Hals, deutet an, was ich ohnehin weiß, aber ich stelle mich blöd. Wenn ich ganz ehrlich bin, nervt mich ihr »Ich-bin-stumm«-Getue nur noch. In meinen Augen gibt es keinen Grund, so zu tun, als könne sie nicht sprechen.

Als sie merkt, dass sie außer einem stumpfsinnigen Gesichtsausdruck von mir nichts bekommen wird, fasst sie an die Rocktasche, aber der Block ist nicht darin. Sie wedelt aufgeregt mit den Händen. Ich soll hier stehen bleiben, hab’s verstanden. Ich sehe ihr nach, wie sie zu-rückrennt ins Haus. Dann drehe ich mich um. Ein Laster kommt die Straße entlang. Ich halte die Hand mit erhobe-nem Daumen raus. Der Fahrtwind, als der Wagen brum-mend vorbeirauscht, weht mir Feuchtigkeit und Schmutz ins Gesicht. Ich fluche.

Da rennt Aino schon wieder auf mich zu. Wenn ich mich nicht verdächtig machen will, muss ich

schon ein wenig Anteil nehmen.

ren, wenn ein Güterzug durchfährt. Oder ein ICE oder was auch immer. Da gehe ich lieber an der Straße entlang und mache auf Anhalter.

Aber welche Richtung? Es scheint mir ungemein ver-lockend, mich auf die andere Seite zu stellen – auf die Seite, auf der es garantiert nicht nach Mannheim geht. Vielleicht lande ich ja in einem LKW mit Ziel Italien.

Oder im LKW eines psychopathischen Schwulen.Egal. Ich war bisher noch schneller als jeder, der mich

einholen wollte. Meine Beine sind vielleicht mein größter Trumpf.

Ich schlendere Richtung Straße und streiche mein Hemd glatt. Als ich an mir herunterschaue, merke ich, dass ich aussehe, als habe ich die Nacht im Gebüsch verbracht. Das weiße Hemd ist voller Schlammspritzer von meiner Begegnung mit dem Boden. Die Chinos sehen kaum bes-ser aus. Ich reibe an dem eingesauten Knie herum, aber das macht es nur noch schlimmer. Shit. So wird mich ga-rantiert keiner mitnehmen. Außerdem ist Freitagmorgen, keine Ferien weit und breit, wahrscheinlich schleppen sie mich ohne viel Federlesens zur nächsten Polizeidienst-stelle und die liefert mich direkt an der Schule ab.

Und Aino? Sie sieht nicht aus wie eine Schulschwän-zerin, finde ich.

Dann zwinge ich mich, an die Rückfahrt zu denken und nicht an Ainos ernstes, verschlossenes Gesicht. Daran, wie sich die Haare in ihrem Atem bewegt haben. Daran, wie sie sich auf den Fingernagel beißt beim Lachen. Oder daran, was mit ihr los ist.

Da kommt sie übrigens aus dem Haus. Ich fluche leise, aber irgendwie war es klar. Sie muss ja auch weiter, wo-hin auch immer.

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fällig auf den Boden gleiten lassen könnte. Doch als ich in die Tasche fasse, berühre ich zuerst das Handy. Und das erinnert mich daran, dass ich den Anhänger dringend brauche.

Klassisches double-bind, sagt der Captain. Egal was du jetzt tust, es ist auf jeden Fall das Falsche. Also ich bin für Versetzen. Aino wird dir doch bloß erzäh-len, dass sie zu ihrer kranken Oma fährt. Für diese Enthüllung willst du nicht allen Ernstes deine Fahr-karte in ein besseres Leben opfern, oder?

Ich weiß noch nicht mal, wie wertvoll der Anhänger ist, gebe ich zurück.

Aber ich, erwidert der Captain. Es reicht, glaub mir. Der Captain hatte bisher fast immer recht. Auch wenn

die Sache mit dem besseren Leben wahrscheinlich ein Märchen ist, aber so was erzählt er eben von Zeit zu Zeit.

Aino kritzelt was auf den Block und hält ihn mir hin. Hast du meine Kette gesehen?Ich ziehe die Augenbrauen hoch, als wüsste ich nicht,

von welcher Kette sie überhaupt redet. Vorsicht, du hast sie in der Bahn darauf angespro-chen.

»Ist die weg?«, frage ich. Aino nickt heftig und ich sehe, dass sie kurz vorm Heulen ist.

»Puh, keine Ahnung, du, nee«, sage ich. Aino wendet ihren Blick nicht von mir, und als ich eben denke, sie hat mich durchschaut, wird mir klar, dass es kein misstraui-scher Blick ist, sondern ein völlig verzweifelter. Wie aus dem Trümmerkeller heraus verzweifelt.

»Ich helfe dir suchen«, sage ich, ohne darüber nachzu-denken.

Oh ja, witzelt der Captain, machen wir doch gerne. Ich gehe neben Aino her und kann spüren, dass sie

zittert. Meine Güte, ist doch nur eine blöde Kette, denke ich. Ich glaube nicht, dass Aino sie versetzen wollte, um ihr Leben als Straßenkind zu finanzieren. Andererseits, woher soll ich das wissen?

»Wo willst du eigentlich hin?«, frage ich noch mal. Sie winkt ab. Dann stehen wir vor dem Bahnhofsgebäude.

»Wenn ich den Anhänger finde«, sage ich, »verrätst du mir dann, wohin du gehst?«

Was soll das denn jetzt?Sie sieht mich geschlagene zehn Sekunden an. Mein

Gott, die hat vielleicht einen Blick! Tiefdunkle Augen, die bedrohlich am Boden unter meinen Füßen sägen. Dann nickt sie langsam.

Ich räuspere mich, dann gehe ich Aino voraus in das Gebäude, während ich überlege, wo ich die Kette unauf-

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fällig auf den Boden gleiten lassen könnte. Doch als ich in die Tasche fasse, berühre ich zuerst das Handy. Und das erinnert mich daran, dass ich den Anhänger dringend brauche.

Klassisches double-bind, sagt der Captain. Egal was du jetzt tust, es ist auf jeden Fall das Falsche. Also ich bin für Versetzen. Aino wird dir doch bloß erzäh-len, dass sie zu ihrer kranken Oma fährt. Für diese Enthüllung willst du nicht allen Ernstes deine Fahr-karte in ein besseres Leben opfern, oder?

Ich weiß noch nicht mal, wie wertvoll der Anhänger ist, gebe ich zurück.

Aber ich, erwidert der Captain. Es reicht, glaub mir. Der Captain hatte bisher fast immer recht. Auch wenn

die Sache mit dem besseren Leben wahrscheinlich ein Märchen ist, aber so was erzählt er eben von Zeit zu Zeit.

Aino kritzelt was auf den Block und hält ihn mir hin. Hast du meine Kette gesehen?Ich ziehe die Augenbrauen hoch, als wüsste ich nicht,

von welcher Kette sie überhaupt redet. Vorsicht, du hast sie in der Bahn darauf angespro-chen.

»Ist die weg?«, frage ich. Aino nickt heftig und ich sehe, dass sie kurz vorm Heulen ist.

»Puh, keine Ahnung, du, nee«, sage ich. Aino wendet ihren Blick nicht von mir, und als ich eben denke, sie hat mich durchschaut, wird mir klar, dass es kein misstraui-scher Blick ist, sondern ein völlig verzweifelter. Wie aus dem Trümmerkeller heraus verzweifelt.

»Ich helfe dir suchen«, sage ich, ohne darüber nachzu-denken.

Oh ja, witzelt der Captain, machen wir doch gerne. Ich gehe neben Aino her und kann spüren, dass sie

zittert. Meine Güte, ist doch nur eine blöde Kette, denke ich. Ich glaube nicht, dass Aino sie versetzen wollte, um ihr Leben als Straßenkind zu finanzieren. Andererseits, woher soll ich das wissen?

»Wo willst du eigentlich hin?«, frage ich noch mal. Sie winkt ab. Dann stehen wir vor dem Bahnhofsgebäude.

»Wenn ich den Anhänger finde«, sage ich, »verrätst du mir dann, wohin du gehst?«

Was soll das denn jetzt?Sie sieht mich geschlagene zehn Sekunden an. Mein

Gott, die hat vielleicht einen Blick! Tiefdunkle Augen, die bedrohlich am Boden unter meinen Füßen sägen. Dann nickt sie langsam.

Ich räuspere mich, dann gehe ich Aino voraus in das Gebäude, während ich überlege, wo ich die Kette unauf-

14 58 59

Nik geht ins Haus und ich folge ihm. Mein Atem geht schwer. Ich bekomme kaum noch Luft.

Im Tageslicht sieht man den ganzen Dreck. Ich fange in der rechten Ecke an. Den Stock trage ich immer noch in der Hand. Ich drehe jede Flasche um, jeden Papierschnip-sel.

Nik macht es mir nach. Vielleicht hält er mich für durchgeknallt. Egal.

Ich muss sie wieder finden. Meine Brust krampft sich schmerzhaft zusammen. Ich darf nicht darüber nachden-ken, was es bedeutet: wenn sie verschwunden ist. Wenn sie mich verlassen hat.

Aber ich finde sie nicht. Plötzlich streift mich etwas Warmes. Ich sehe auf. Niks

Augen sind blau.»Vielleicht unten beim Fluss«, sagt er. Etwas ist mit mir. Etwas, das ich selbst kaum mitbe-

komme. Seine Stimme klingt wie aus weiter Ferne. Ich verstehe nicht, was er sagt.

Ich sehe, dass seine Lippen sich bewegen. Seine Augen-brauen noch oben gehen. Er mich ansieht.

In meinen Ohren rauscht es. Mein Kopf ist leer. Ich spüre, dass ich gleich umfalle.

Die Inuit-Sprache Sirenik ist seit 1997 ausgestorben.Sie starb mit der letzten Frau, die sie gesprochen hat.Bei großer Kälte verlangsamt sich das Sprechen.Der wortlose Gesang der Inuit heißt katajjait.Die Geschichte des Altaikriegers trägt mich von ganz

allein davon.

Der Altaikrieger nimmt den Bogen, er steckt seine Pfeile in den Lederköcher, bindet ihn fest.

AinoAtmen

Es ist nicht wahr. Es ist nicht wahr, rede ich mir ein. Die Heiligenfigur ist alles, was mir von ihr geblieben

ist. Ich versuche, meinen Atem zu beruhigen. Sie muss hier irgendwo sein. Vielleicht will sie mir sagen, dass ich mich beeilen soll.

Dass ich meinen Weg nicht verlieren darf. Irgend so was. Sie kann mich nicht verlassen haben.

Ich spüre, dass meine Handflächen feucht werden. Mein Herz ist kaum noch zu beruhigen. Der Schweiß in meinen Handflächen wird nicht trocken.

Ganz langsam, sage ich mir. Geh zurück. Geh ins Haus. Du hattest sie gestern noch. Und wenn sie im Zug runtergefallen ist? Beim Ausstei-

gen? Als ich den Rucksack aufgesetzt habe? Vielleicht hat sich der Verschluss gelöst.

Nik geht neben mir zum Haus. Wir suchen den Boden ab. Ich weiß nicht, wie ernst es

ihm ist, mir zu helfen. Er weicht nicht von meiner Seite. Als wir bei den Treppen sind, nehme ich einen Ast und

stochere in der Asche herum. Es ist nichts zu finden. Ich zerpflücke die Asche, bis sie als großer schwarzer Fleck auf dem Boden verteilt ist. Nichts.

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Nik geht ins Haus und ich folge ihm. Mein Atem geht schwer. Ich bekomme kaum noch Luft.

Im Tageslicht sieht man den ganzen Dreck. Ich fange in der rechten Ecke an. Den Stock trage ich immer noch in der Hand. Ich drehe jede Flasche um, jeden Papierschnip-sel.

Nik macht es mir nach. Vielleicht hält er mich für durchgeknallt. Egal.

Ich muss sie wieder finden. Meine Brust krampft sich schmerzhaft zusammen. Ich darf nicht darüber nachden-ken, was es bedeutet: wenn sie verschwunden ist. Wenn sie mich verlassen hat.

Aber ich finde sie nicht. Plötzlich streift mich etwas Warmes. Ich sehe auf. Niks

Augen sind blau.»Vielleicht unten beim Fluss«, sagt er. Etwas ist mit mir. Etwas, das ich selbst kaum mitbe-

komme. Seine Stimme klingt wie aus weiter Ferne. Ich verstehe nicht, was er sagt.

Ich sehe, dass seine Lippen sich bewegen. Seine Augen-brauen noch oben gehen. Er mich ansieht.

In meinen Ohren rauscht es. Mein Kopf ist leer. Ich spüre, dass ich gleich umfalle.

Die Inuit-Sprache Sirenik ist seit 1997 ausgestorben.Sie starb mit der letzten Frau, die sie gesprochen hat.Bei großer Kälte verlangsamt sich das Sprechen.Der wortlose Gesang der Inuit heißt katajjait.Die Geschichte des Altaikriegers trägt mich von ganz

allein davon.

Der Altaikrieger nimmt den Bogen, er steckt seine Pfeile in den Lederköcher, bindet ihn fest.

AinoAtmen

Es ist nicht wahr. Es ist nicht wahr, rede ich mir ein. Die Heiligenfigur ist alles, was mir von ihr geblieben

ist. Ich versuche, meinen Atem zu beruhigen. Sie muss hier irgendwo sein. Vielleicht will sie mir sagen, dass ich mich beeilen soll.

Dass ich meinen Weg nicht verlieren darf. Irgend so was. Sie kann mich nicht verlassen haben.

Ich spüre, dass meine Handflächen feucht werden. Mein Herz ist kaum noch zu beruhigen. Der Schweiß in meinen Handflächen wird nicht trocken.

Ganz langsam, sage ich mir. Geh zurück. Geh ins Haus. Du hattest sie gestern noch. Und wenn sie im Zug runtergefallen ist? Beim Ausstei-

gen? Als ich den Rucksack aufgesetzt habe? Vielleicht hat sich der Verschluss gelöst.

Nik geht neben mir zum Haus. Wir suchen den Boden ab. Ich weiß nicht, wie ernst es

ihm ist, mir zu helfen. Er weicht nicht von meiner Seite. Als wir bei den Treppen sind, nehme ich einen Ast und

stochere in der Asche herum. Es ist nichts zu finden. Ich zerpflücke die Asche, bis sie als großer schwarzer Fleck auf dem Boden verteilt ist. Nichts.

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Es ist ein finnischer Name. Finnisch ist mit den sibiri-schen Stammessprachen verwandt.

»Hey!«Biskuitkuchen, in den man sich hineinlegen will.Es passiert einfach. Mein Körper gehorcht mir nicht.Ich spüre, dass Nik an meinem Arm zieht. Mein Kopf

baumelt auf meinem Körper.Ich falle auf die Bank. Rutsche an den Holzlatten nach

unten. Nik sagt etwas. Er schreit. Aber zu mir dringt nur ein

Flüstern. Die Welt wird geräuschlos.Etwas klatscht in mein Gesicht. Ich schüttele seine Hände ab.Sein Gesicht verschwimmt vor mir. Ich weiß, was ich tun muss, damit es aufhört.Aufhören zu atmen.Langsam ebbt das Keuchen ab. Ich zwinge mich, wieder

nach oben zu rutschen. Gerade sitzen. Haltung bewahren. Ich habe mich gehen lassen. Ich ermahne mich selbst.

Ich muss den Weg alleine gehen.Ich brauche keinen Anhänger.Auch nicht, wenn er von Mama ist.Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Ich habe die

Botschaft verstanden.Ich stehe auf und halte die Luft an. Der Schwindel legt

sich beinahe. Ich hieve den Rucksack auf den Rücken.Nik kommt mir nach. Ich kann seine Schritte hinter mir

hören. Die Sonne scheint mir hell ins Gesicht. Die Fahrt dauert noch fünf Stunden.

Der nächste Zug kommt in zwanzig Minuten.

Er weiß nicht, warum ausgerechnet er es ist, der vom Dämon ausgewählt wurde, aber so sind die. Dämonen, die hinter den Bergen lauern: unberechenbar, tückisch, hinter-hältig. Sie kennen andere Gesetze als die Menschen.,

Der junge Altaikrieger zieht den Gürtel an, die Rüstung, flüstert seinem schweren Herzen Mut zu, den es nicht hat. Er muss aufstehen, aufrecht gehen, obwohl er von der Angst fast niedergestreckt zu werden droht.

Als er auf sein Pferd steigt, schluchzt eines der Kinder auf. Er dreht sich nicht um. Er darf nicht sehen, wie sie sich vor der Jurte zusammendrängen, unbehütet, denn die Eltern sind schon lange fort, verweht im Steppenwind.

Der Dämon ruft nach ihm, und wenn der Krieger Schwä-che zeigt, wird der Dämon von den Bergen herunterwehen und ihn mitten ins Herz treffen, dort, wo keine Rüstung ist.

Das Herz des jungen Kriegers flattert wie in einem Step-penwind. Doch wer sich fürchtet, der riecht nach Furcht. Die Furcht in den Herzen der Menschen ist ein Duft, den der Dämon wittert, denn auch er selbst ist nur ein Hauch und ein Gedanke. Er schmeckt die Furcht in den Herzen der Menschen wie eine Süßigkeit. Und wenn er sie schmeckt, dann stiebt er in sie ein – legt sich in sie wie ein feiner Staub, in ihre Hälse, ihre Brust – und lacht.

Lacht, lacht!

Ich bekomme keine Luft.Mein Körper bewegt sich von selbst. Schüttelt sich. Zit-

tert. Ich muss mich beherrschen, darf mich nicht so gehen lassen. Niemand darf das sehen.

»Aino! Was ist mir dir?«Niks Biskuitkuchenstimme.Aino heißt »die Einzige«.

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Es ist ein finnischer Name. Finnisch ist mit den sibiri-schen Stammessprachen verwandt.

»Hey!«Biskuitkuchen, in den man sich hineinlegen will.Es passiert einfach. Mein Körper gehorcht mir nicht.Ich spüre, dass Nik an meinem Arm zieht. Mein Kopf

baumelt auf meinem Körper.Ich falle auf die Bank. Rutsche an den Holzlatten nach

unten. Nik sagt etwas. Er schreit. Aber zu mir dringt nur ein

Flüstern. Die Welt wird geräuschlos.Etwas klatscht in mein Gesicht. Ich schüttele seine Hände ab.Sein Gesicht verschwimmt vor mir. Ich weiß, was ich tun muss, damit es aufhört.Aufhören zu atmen.Langsam ebbt das Keuchen ab. Ich zwinge mich, wieder

nach oben zu rutschen. Gerade sitzen. Haltung bewahren. Ich habe mich gehen lassen. Ich ermahne mich selbst.

Ich muss den Weg alleine gehen.Ich brauche keinen Anhänger.Auch nicht, wenn er von Mama ist.Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Ich habe die

Botschaft verstanden.Ich stehe auf und halte die Luft an. Der Schwindel legt

sich beinahe. Ich hieve den Rucksack auf den Rücken.Nik kommt mir nach. Ich kann seine Schritte hinter mir

hören. Die Sonne scheint mir hell ins Gesicht. Die Fahrt dauert noch fünf Stunden.

Der nächste Zug kommt in zwanzig Minuten.

Er weiß nicht, warum ausgerechnet er es ist, der vom Dämon ausgewählt wurde, aber so sind die. Dämonen, die hinter den Bergen lauern: unberechenbar, tückisch, hinter-hältig. Sie kennen andere Gesetze als die Menschen.,

Der junge Altaikrieger zieht den Gürtel an, die Rüstung, flüstert seinem schweren Herzen Mut zu, den es nicht hat. Er muss aufstehen, aufrecht gehen, obwohl er von der Angst fast niedergestreckt zu werden droht.

Als er auf sein Pferd steigt, schluchzt eines der Kinder auf. Er dreht sich nicht um. Er darf nicht sehen, wie sie sich vor der Jurte zusammendrängen, unbehütet, denn die Eltern sind schon lange fort, verweht im Steppenwind.

Der Dämon ruft nach ihm, und wenn der Krieger Schwä-che zeigt, wird der Dämon von den Bergen herunterwehen und ihn mitten ins Herz treffen, dort, wo keine Rüstung ist.

Das Herz des jungen Kriegers flattert wie in einem Step-penwind. Doch wer sich fürchtet, der riecht nach Furcht. Die Furcht in den Herzen der Menschen ist ein Duft, den der Dämon wittert, denn auch er selbst ist nur ein Hauch und ein Gedanke. Er schmeckt die Furcht in den Herzen der Menschen wie eine Süßigkeit. Und wenn er sie schmeckt, dann stiebt er in sie ein – legt sich in sie wie ein feiner Staub, in ihre Hälse, ihre Brust – und lacht.

Lacht, lacht!

Ich bekomme keine Luft.Mein Körper bewegt sich von selbst. Schüttelt sich. Zit-

tert. Ich muss mich beherrschen, darf mich nicht so gehen lassen. Niemand darf das sehen.

»Aino! Was ist mir dir?«Niks Biskuitkuchenstimme.Aino heißt »die Einzige«.

18 62 63

Mir fällt Ainos Gesicht ein, wie sie mich angesehen hat, und mir wird klar, dass ich keine Ahnung habe, was in ihr vorgeht. Vielleicht ist sie ja psychotisch oder so und rammt mir irgendwas in die Brust, wenn sie kapiert, dass ich das blöde Ding an mich genommen habe.

Ist wohl besser, wenn sie bald im Zug sitzt.»Also dann«, sage ich und gehe ein paar Schritte auf sie

zu, »ich mache per Anhalter.«Aino schreibt Bahnhöfe und Uhrzeiten auf ihren Block.

»Okay?«, setze ich nach, weil sie überhaupt nicht reagiert.Dann sieht sie mich plötzlich an. In ihrem Blick glimmt

etwas, das ich noch nie bei jemandem gesehen habe. Mal im Ernst: Vielleicht sieht man ja genau so aus, wenn man jemanden umgebracht hat.

Aino nickt. Dann streckt sie ihre Hand aus und ich greife nach ihr. Sie ist kalt.

Ich ertappe mich dabei, wie ich ihr Gesicht nach dem Lachen von gestern Abend absuche. Ich würde gerne noch etwas sagen und halte ihre Hand länger als nötig fest. »Mach’s gut«, sage ich, »wo immer du auch hin willst.« Sie nickt wieder. Ganz kurz sieht es so aus, als wolle sie etwas sagen. Doch dann dreht sie sich um und geht zum anderen Ende des Bahnsteigs.

Ich wende mich ab und schlendere zur Straße. Auf dem Weg kicke ich Steinchen vor mir her. Ich kicke sie mit un-nötig viel Kraft. Ich bin nicht sauer. Auf was auch?

Ich schalte das Handy an.Ich schaue mir nicht alle SMS von Oleg an, nur die

letzte. »Was hast du Sergej erzählt, du kleiner Pisser?«Ich gucke die Straße entlang. Man spürt jetzt schon,

dass es ein ungewöhnlich warmer Herbsttag werden wird, beinahe schwül. Am Himmel hängen Wolken, schwer

Nik

Holy Shit! Was war das? Ich starre Aino an, überzeugt davon, dass sie gleich

etwas zu mir sagen, sich erklären wird. Aber dann kapie-re ich, dass sie das nicht vorhat. Sie wird einfach weiter schweigen.

Wenn ich nicht so fassungslos wäre, würde ich aufla-chen. Hatte sie einen epileptischen Anfall? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Den kann man ja nicht ein-fach abstellen. Aufstehen und weitermachen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich sie mit offenem Mund anstarre, während sie auf dem Fahrkartenautomaten her-umtippt. Dann klappe ich den Mund mit einiger Anstren-gung wieder zu.

Ich meine – dass der Anhänger wichtig ist für sie, das hat ja jetzt ein Blinder mitgekriegt. Aber ein bisschen übertrieben ist das schon, oder? Das war ja nicht nur, als sei es ihr einzig wertvoller Besitz, sondern irgendwas anderes. Vielleicht hat ihre Oma ihr den Anhänger ge-schenkt, die letzte Woche gestorben ist und zu deren Be-erdigung sie jetzt fährt.

Ich fühle mich mit einem Mal ziemlich mies. Und wenn ich ihn einfach zurückgebe?

Das wirst du nicht tun.

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Mir fällt Ainos Gesicht ein, wie sie mich angesehen hat, und mir wird klar, dass ich keine Ahnung habe, was in ihr vorgeht. Vielleicht ist sie ja psychotisch oder so und rammt mir irgendwas in die Brust, wenn sie kapiert, dass ich das blöde Ding an mich genommen habe.

Ist wohl besser, wenn sie bald im Zug sitzt.»Also dann«, sage ich und gehe ein paar Schritte auf sie

zu, »ich mache per Anhalter.«Aino schreibt Bahnhöfe und Uhrzeiten auf ihren Block.

»Okay?«, setze ich nach, weil sie überhaupt nicht reagiert.Dann sieht sie mich plötzlich an. In ihrem Blick glimmt

etwas, das ich noch nie bei jemandem gesehen habe. Mal im Ernst: Vielleicht sieht man ja genau so aus, wenn man jemanden umgebracht hat.

Aino nickt. Dann streckt sie ihre Hand aus und ich greife nach ihr. Sie ist kalt.

Ich ertappe mich dabei, wie ich ihr Gesicht nach dem Lachen von gestern Abend absuche. Ich würde gerne noch etwas sagen und halte ihre Hand länger als nötig fest. »Mach’s gut«, sage ich, »wo immer du auch hin willst.« Sie nickt wieder. Ganz kurz sieht es so aus, als wolle sie etwas sagen. Doch dann dreht sie sich um und geht zum anderen Ende des Bahnsteigs.

Ich wende mich ab und schlendere zur Straße. Auf dem Weg kicke ich Steinchen vor mir her. Ich kicke sie mit un-nötig viel Kraft. Ich bin nicht sauer. Auf was auch?

Ich schalte das Handy an.Ich schaue mir nicht alle SMS von Oleg an, nur die

letzte. »Was hast du Sergej erzählt, du kleiner Pisser?«Ich gucke die Straße entlang. Man spürt jetzt schon,

dass es ein ungewöhnlich warmer Herbsttag werden wird, beinahe schwül. Am Himmel hängen Wolken, schwer

Nik

Holy Shit! Was war das? Ich starre Aino an, überzeugt davon, dass sie gleich

etwas zu mir sagen, sich erklären wird. Aber dann kapie-re ich, dass sie das nicht vorhat. Sie wird einfach weiter schweigen.

Wenn ich nicht so fassungslos wäre, würde ich aufla-chen. Hatte sie einen epileptischen Anfall? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Den kann man ja nicht ein-fach abstellen. Aufstehen und weitermachen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich sie mit offenem Mund anstarre, während sie auf dem Fahrkartenautomaten her-umtippt. Dann klappe ich den Mund mit einiger Anstren-gung wieder zu.

Ich meine – dass der Anhänger wichtig ist für sie, das hat ja jetzt ein Blinder mitgekriegt. Aber ein bisschen übertrieben ist das schon, oder? Das war ja nicht nur, als sei es ihr einzig wertvoller Besitz, sondern irgendwas anderes. Vielleicht hat ihre Oma ihr den Anhänger ge-schenkt, die letzte Woche gestorben ist und zu deren Be-erdigung sie jetzt fährt.

Ich fühle mich mit einem Mal ziemlich mies. Und wenn ich ihn einfach zurückgebe?

Das wirst du nicht tun.

20 64 65

Ist doch so: Sie hätte ja wenigstens Tschüss sagen kön-nen. Oder aufschreiben, Herrgott noch mal! Sie ist nicht mein Typ, absolut nicht, mit blauem Poloshirt und knie-langem Rock in undefinierbarer Farbe. Kein Mensch zieht so was an. Trotzdem.

Habe ich mit Sergejs Freundin gebumst oder er?Und wem wird Sergej glauben?

Das ungefähr zwanzigste Auto hält endlich. Ich mus-tere ein paar Sekunden den kleinen Lieferwagen mit der leicht eingedellten Beifahrertür. Dann schlendere ich rü-ber. Der Fahrer macht mir die Tür auf. »Wohin?«, fragt er. Er hat ein schmales Gesicht, das nach vielen Zigaretten und wenig Schlaf aussieht.

Ich mache eine vage Geste nach vorn. »Einfach gera-deaus.«

Irgendwann muss er doch mal kapieren, dass ich nicht derjenige bin, der alles kaputt macht.

Wo lebst du eigentlich? Im Prinzessinnentraumland? Ich bekomme Kopfschmerzen. Der Fahrer des Lieferwagens nickt und winkt mich mit

sparsamer Geste herein.In diesem Moment höre ich das leise Summen, das die

Einfahrt eines Zuges ankündigt. Wie auch immer das funktioniert, vermutlich irgendwas mit Schallwellen, die schneller sind als der schwere Koloss von Zug.

Ich setze mich auf den Beifahrersitz und strecke die Hand aus, um die Tür zu schließen.

Da sehe ich Aino am Bahnsteig stehen. Sie hat wie-der einen Zopf gebunden und sogar von hier aus ist mir klar, dass sie ihre Haare ziemlich rabiat ins Zopfgummi gezwängt hat. Dass in ihrer Rocktasche der kleine Block ist mit dem Stift, mit dem sie etwas aufschreiben muss,

trie fend, aber es sind nur vereinzelte und zwischen ihnen brennt sich die Sonne hindurch.

Okay, gebe ich an den Captain durch, dann eben an-ders. Wir fahren zurück. Und dann stelle ich mal was klar. Oleg wird sich umschauen.

Oleg wird gar nichts, widerspricht der Captain. Der Einzige, der sich mal wieder umschauen wird, bist du.

Ein Laster fährt rauschend an mir vorbei und ich brülle dem Fahrer hinterher. Hätte ja wohl anhalten können, das Arschloch. In was für einem Land leben wir eigentlich!

Ich stelle mich an den Straßenrand und warte missmu-tig auf das nächste Auto.

Ich werde nicht zu Aino hinübersehen. Der Captain hilft mir, den Blick gerade zu halten, in die andere Rich-tung, nur auf die Straße gerichtet.

Jetzt erkenne ich auch, was sich auf der anderen Seite des Flusses befindet: ein halbes Dutzend Fachwerk- und Klinkerhäuser, die sich zwischen Wald und Fluss quet-schen, als seien sie irgendwann im letzten Jahrhundert vergessen worden. Wenigstens haben die Bewohner was zu Trinken. An einem der größeren Gebäude prangt näm-lich so riesig, dass ich es von hier aus sehen kann: PALM-BRÄU.

Ein Steg ragt ins Wasser, mit vertäuten Booten.Ist doch klasse. Wenn die Leute hier mal mit jeman-

dem reden wollen, der nicht aus ihrem verlassenen Nest kommt, müssen sie bloß in ein Boot steigen und eine Viertelstunde übers Wasser fahren. Super.

Mit Aino habe ich einen Abend und eine ganze Nacht hier verbracht und kein einziges Wort gewechselt. Was ist die Steigerung von super? Superer?

Noch ein Auto fährt vorbei.

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Ist doch so: Sie hätte ja wenigstens Tschüss sagen kön-nen. Oder aufschreiben, Herrgott noch mal! Sie ist nicht mein Typ, absolut nicht, mit blauem Poloshirt und knie-langem Rock in undefinierbarer Farbe. Kein Mensch zieht so was an. Trotzdem.

Habe ich mit Sergejs Freundin gebumst oder er?Und wem wird Sergej glauben?

Das ungefähr zwanzigste Auto hält endlich. Ich mus-tere ein paar Sekunden den kleinen Lieferwagen mit der leicht eingedellten Beifahrertür. Dann schlendere ich rü-ber. Der Fahrer macht mir die Tür auf. »Wohin?«, fragt er. Er hat ein schmales Gesicht, das nach vielen Zigaretten und wenig Schlaf aussieht.

Ich mache eine vage Geste nach vorn. »Einfach gera-deaus.«

Irgendwann muss er doch mal kapieren, dass ich nicht derjenige bin, der alles kaputt macht.

Wo lebst du eigentlich? Im Prinzessinnentraumland? Ich bekomme Kopfschmerzen. Der Fahrer des Lieferwagens nickt und winkt mich mit

sparsamer Geste herein.In diesem Moment höre ich das leise Summen, das die

Einfahrt eines Zuges ankündigt. Wie auch immer das funktioniert, vermutlich irgendwas mit Schallwellen, die schneller sind als der schwere Koloss von Zug.

Ich setze mich auf den Beifahrersitz und strecke die Hand aus, um die Tür zu schließen.

Da sehe ich Aino am Bahnsteig stehen. Sie hat wie-der einen Zopf gebunden und sogar von hier aus ist mir klar, dass sie ihre Haare ziemlich rabiat ins Zopfgummi gezwängt hat. Dass in ihrer Rocktasche der kleine Block ist mit dem Stift, mit dem sie etwas aufschreiben muss,

trie fend, aber es sind nur vereinzelte und zwischen ihnen brennt sich die Sonne hindurch.

Okay, gebe ich an den Captain durch, dann eben an-ders. Wir fahren zurück. Und dann stelle ich mal was klar. Oleg wird sich umschauen.

Oleg wird gar nichts, widerspricht der Captain. Der Einzige, der sich mal wieder umschauen wird, bist du.

Ein Laster fährt rauschend an mir vorbei und ich brülle dem Fahrer hinterher. Hätte ja wohl anhalten können, das Arschloch. In was für einem Land leben wir eigentlich!

Ich stelle mich an den Straßenrand und warte missmu-tig auf das nächste Auto.

Ich werde nicht zu Aino hinübersehen. Der Captain hilft mir, den Blick gerade zu halten, in die andere Rich-tung, nur auf die Straße gerichtet.

Jetzt erkenne ich auch, was sich auf der anderen Seite des Flusses befindet: ein halbes Dutzend Fachwerk- und Klinkerhäuser, die sich zwischen Wald und Fluss quet-schen, als seien sie irgendwann im letzten Jahrhundert vergessen worden. Wenigstens haben die Bewohner was zu Trinken. An einem der größeren Gebäude prangt näm-lich so riesig, dass ich es von hier aus sehen kann: PALM-BRÄU.

Ein Steg ragt ins Wasser, mit vertäuten Booten.Ist doch klasse. Wenn die Leute hier mal mit jeman-

dem reden wollen, der nicht aus ihrem verlassenen Nest kommt, müssen sie bloß in ein Boot steigen und eine Viertelstunde übers Wasser fahren. Super.

Mit Aino habe ich einen Abend und eine ganze Nacht hier verbracht und kein einziges Wort gewechselt. Was ist die Steigerung von super? Superer?

Noch ein Auto fährt vorbei.

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Blöde Frage, aber das macht nichts, denn sie wird ja ohnehin nicht antworten.

Eine Weile fahren wir schweigend nebeneinanderher.Ich sehe aus dem Fenster. Nebel steigt über dem Neckar

auf und dampft die Bäume ein. Ich fühle mich wie am Amazonas.

»Weiß auch nicht«, fange ich irgendwann an, »bei dem Nebel hat man immer das Gefühl, dass noch irgendwas kommt. Dass irgendwas da drin ist, findest du nicht? Al-so, nicht so wie bei Wolken, wo jeder so Figuren sieht: Gesichter und Seeungeheuer und so Kram. Nein, mehr so wie ein Vorhang. Und wenn er sich hebt, muss irgendwas Unglaubliches dahinter sein. So: Vorhang auf und – Ta-daaa!« Ich lache. »Ist aber nicht. Da ist nur Wasser und Gestrüpp und Gras und Bäume und sonst nichts. Absolut gar nichts. Aber so ist das, weißt du? Das macht unser Gehirn. Ich meine – wenn du dich vor ’ne komplett weiße Wand stellst. Dann spielt das Hirn verrückt. Weil, das sucht dann wie wild und sucht und sucht nach irgendeinem Sinn in dem Weiß. Und irgendwann siehst du dann wirklich was auf der weißen Wand. ’ne Mondlandschaft oder ein Gesicht oder wenigstens ein Monster mit drei Köpfen oder so was. Aber das ist nur das Gehirn, weil das irgendwas erfindet, weil es das nicht aushält, wenn irgendwas nur weiß ist oder voller Punkte oder sonst wie einfach sinnlos.«

Wahrscheinlich sucht mein Gehirn auch nur nach ei-nem Muster in Ainos Schweigen, weil es glaubt, das müs-se irgendwas sagen.

Ich komme mir noch nicht mal blöd vor, solches Zeug zu reden. Mir ist klar, dass sie nichts erwidern wird, mich nicht unterbrechen, nichts fragen, nichts kommentieren. Ich weiß, dass ich nur Schwachsinn erzähle, den kein

wenn sie Fragen nach der Fahrkarte hat. Dass in ihrem Rucksack die Isomatte steckt, die sie mir gestern Nacht hingelegt hat. Auf der ich geschlafen habe, obwohl ich dachte, dass ich kein Auge zubekomme.

Und in diesem Moment, als ich eben dabei bin, die Tür zuzuschlagen, hebt sie ein Bein. Es muss etwas in ihren Schuh gerutscht sein, ein Steinchen vielleicht oder Glassplitter aus unserem fragwürdigen Unterschlupf. Sie bückt sich, öffnet den Schuh, zieht den Fuß heraus und beugt den Kopf, um die Fußsohle zu betrachten. Sie ist schwarz von Staub. Warum auch immer, aber das gibt den Ausschlag. Diese staubige Fußsohle, die überhaupt nicht zu ihr passt. Die ein kleiner, verlorener Wink ist wie von einem Kind, das heimlich Eis gegessen hat und einen nun mit schokoladeverschmiertem Mund angrinst.

Ich stoße die Tür wieder auf, der Mann, der den Blinker bereits gesetzt hat, sieht mich an. »Hab’s mir anders über-legt«, sage ich und steige aus.

»Sorry!«, rufe ich über die Schulter nach hinten, dann sprinte ich zum Bahnsteig, wo die S-Bahn gerade einge-fahren ist.

Ich steige viel weiter vorn ein als Aino. So kann ich mir überlegen, was ich sage, während ich durch die Reihen nach hinten gehe.

Doch egal, an wie vielen Sitzen ich vorbeikomme, mir fällt nichts ein und so grinse ich nur dämlich, als ich vor ihr stehe. Sie sieht auf und ich bilde mir ein, dass in ihren Augen kurz etwas aufgeleuchtet hat.

Wunschdenken.»Hi«, sage ich, als sei es das Normalste der Welt und

lasse mich neben ihr auf den Sitz plumpsen. »Ist hier noch frei?«

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Blöde Frage, aber das macht nichts, denn sie wird ja ohnehin nicht antworten.

Eine Weile fahren wir schweigend nebeneinanderher.Ich sehe aus dem Fenster. Nebel steigt über dem Neckar

auf und dampft die Bäume ein. Ich fühle mich wie am Amazonas.

»Weiß auch nicht«, fange ich irgendwann an, »bei dem Nebel hat man immer das Gefühl, dass noch irgendwas kommt. Dass irgendwas da drin ist, findest du nicht? Al-so, nicht so wie bei Wolken, wo jeder so Figuren sieht: Gesichter und Seeungeheuer und so Kram. Nein, mehr so wie ein Vorhang. Und wenn er sich hebt, muss irgendwas Unglaubliches dahinter sein. So: Vorhang auf und – Ta-daaa!« Ich lache. »Ist aber nicht. Da ist nur Wasser und Gestrüpp und Gras und Bäume und sonst nichts. Absolut gar nichts. Aber so ist das, weißt du? Das macht unser Gehirn. Ich meine – wenn du dich vor ’ne komplett weiße Wand stellst. Dann spielt das Hirn verrückt. Weil, das sucht dann wie wild und sucht und sucht nach irgendeinem Sinn in dem Weiß. Und irgendwann siehst du dann wirklich was auf der weißen Wand. ’ne Mondlandschaft oder ein Gesicht oder wenigstens ein Monster mit drei Köpfen oder so was. Aber das ist nur das Gehirn, weil das irgendwas erfindet, weil es das nicht aushält, wenn irgendwas nur weiß ist oder voller Punkte oder sonst wie einfach sinnlos.«

Wahrscheinlich sucht mein Gehirn auch nur nach ei-nem Muster in Ainos Schweigen, weil es glaubt, das müs-se irgendwas sagen.

Ich komme mir noch nicht mal blöd vor, solches Zeug zu reden. Mir ist klar, dass sie nichts erwidern wird, mich nicht unterbrechen, nichts fragen, nichts kommentieren. Ich weiß, dass ich nur Schwachsinn erzähle, den kein

wenn sie Fragen nach der Fahrkarte hat. Dass in ihrem Rucksack die Isomatte steckt, die sie mir gestern Nacht hingelegt hat. Auf der ich geschlafen habe, obwohl ich dachte, dass ich kein Auge zubekomme.

Und in diesem Moment, als ich eben dabei bin, die Tür zuzuschlagen, hebt sie ein Bein. Es muss etwas in ihren Schuh gerutscht sein, ein Steinchen vielleicht oder Glassplitter aus unserem fragwürdigen Unterschlupf. Sie bückt sich, öffnet den Schuh, zieht den Fuß heraus und beugt den Kopf, um die Fußsohle zu betrachten. Sie ist schwarz von Staub. Warum auch immer, aber das gibt den Ausschlag. Diese staubige Fußsohle, die überhaupt nicht zu ihr passt. Die ein kleiner, verlorener Wink ist wie von einem Kind, das heimlich Eis gegessen hat und einen nun mit schokoladeverschmiertem Mund angrinst.

Ich stoße die Tür wieder auf, der Mann, der den Blinker bereits gesetzt hat, sieht mich an. »Hab’s mir anders über-legt«, sage ich und steige aus.

»Sorry!«, rufe ich über die Schulter nach hinten, dann sprinte ich zum Bahnsteig, wo die S-Bahn gerade einge-fahren ist.

Ich steige viel weiter vorn ein als Aino. So kann ich mir überlegen, was ich sage, während ich durch die Reihen nach hinten gehe.

Doch egal, an wie vielen Sitzen ich vorbeikomme, mir fällt nichts ein und so grinse ich nur dämlich, als ich vor ihr stehe. Sie sieht auf und ich bilde mir ein, dass in ihren Augen kurz etwas aufgeleuchtet hat.

Wunschdenken.»Hi«, sage ich, als sei es das Normalste der Welt und

lasse mich neben ihr auf den Sitz plumpsen. »Ist hier noch frei?«

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Dann halte ich ihr den Block hin, ohne ihn loszulassen.Ainos Gesicht verdüstert sich. Sie guckt aus dem Fens-

ter und ihr ganzer Körper gibt zu verstehen, dass die Un-terhaltung hiermit beendet ist.

Ach, so ist das. Kann ich jetzt wieder gehen, oder was? Audienz beendet?

Dann können wir jetzt ja endlich weg hier. Wird auch Zeit. Wenn sie nicht reden will, umso besser.

Warte mal, sage ich. Der Captain schnaubt. Was ist denn noch?

Na ja … Mein Gott, schau dich an! Die Braut interessiert dich doch nur, weil sie so ganz offensichtlich nichts von dir will. Das ist Psychologie für Anfänger.

Und wenn schon.Ich tippe Aino auf die Schulter und halte ihr den Block

noch mal hin.Sie guckt drauf, aber als sie merkt, dass ich nichts an-

deres mehr dazugeschrieben habe, sieht sie wieder weg.WARUM?Plötzlich zieht Aino ihre Stirn kraus. Muss sie niesen

oder kotzen oder lacht sie gleich los? Ich hoffe Letzteres, klar, und jetzt weiß ich auch, was ich dem Captain sagen kann: Ich will nur noch einmal sehen, wie sie lacht.

Du willst die Nuss knacken.Das meine ich nicht, Mann! Oder ja, okay, vielleicht

schon irgendwie. Aber nicht einfach so, wie du denkst: Mädchen klarmachen, und das Lachen ist nur das Mittel zum Zweck, weil’s eigentlich um was anderes geht: Held sein oder ficken oder beides. Nein, ich will wirklich se-hen, wie sie lacht. Das ist bei ihr so was Ähnliches wie ein Naturschauspiel, nicht einfach so ein Lachen wie bei anderen Leuten, verstehst du? Wie bei anderen Mädchen.

Mensch braucht – sie hört mir ja nur beim Denken zu und da ist bei mir nicht allzu viel abzuholen, das wird sie schon bemerkt haben. Und dass sie mir trotzdem einfach so zuhört, ist unglaublich abgefahren.

Na ja, und sicher ist es auch so, dass ich hoffe, dass sie lacht. Oder – wenigstens lächelt. Bloß, weil ich wissen will, ob ich Recht hatte mit den Fältchen.

Aino zieht den Block aus ihrer Tasche und ich ver-stumme. Wahrscheinlich schreibt sie jetzt, dass ich mich endlich verpissen soll und sie in Ruhe lassen. Und aus ihrer Sicht ist das vermutlich das einzig Vernünftige, das sie zu mir sagen kann.

Ich will gerade aufstehen, um mich von ihr wegzuset-zen, da zieht sie mich am Ärmel. Sie zupft nicht, sie zieht. Sie hält mich eine Sekunde länger an meinem Jackenauf-schlag fest, als notwendig wäre, und da kapiere ich, dass sie nicht einfach »Verpiss dich« geschrieben hat.

Ich lehne mich wieder zurück und sie legt mir den Block in den Schoß. Dann sieht sie aus dem Fenster.

Ich nehme den Block.Ich gehe ins Kloster. In ein Schweigekloster.Ich starre die Buchstaben an. Will sie mich verarschen?»Wie jetzt? Du wirst Nonne? So richtig mit allem? Für

immer?«Sie schaut aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht

mich, sondern den Block an, dann wirft sie noch mal ei-nen Blick auf die Amazonas-Suppe da draußen, guckt in meine Richtung.

Dann nickt sie.Ich nehme den Stift und kritzele ein riesiges WARUM?auf das Papier.

Bitte eine Zeile

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Dann halte ich ihr den Block hin, ohne ihn loszulassen.Ainos Gesicht verdüstert sich. Sie guckt aus dem Fens-

ter und ihr ganzer Körper gibt zu verstehen, dass die Un-terhaltung hiermit beendet ist.

Ach, so ist das. Kann ich jetzt wieder gehen, oder was? Audienz beendet?

Dann können wir jetzt ja endlich weg hier. Wird auch Zeit. Wenn sie nicht reden will, umso besser.

Warte mal, sage ich. Der Captain schnaubt. Was ist denn noch?

Na ja … Mein Gott, schau dich an! Die Braut interessiert dich doch nur, weil sie so ganz offensichtlich nichts von dir will. Das ist Psychologie für Anfänger.

Und wenn schon.Ich tippe Aino auf die Schulter und halte ihr den Block

noch mal hin.Sie guckt drauf, aber als sie merkt, dass ich nichts an-

deres mehr dazugeschrieben habe, sieht sie wieder weg.WARUM?Plötzlich zieht Aino ihre Stirn kraus. Muss sie niesen

oder kotzen oder lacht sie gleich los? Ich hoffe Letzteres, klar, und jetzt weiß ich auch, was ich dem Captain sagen kann: Ich will nur noch einmal sehen, wie sie lacht.

Du willst die Nuss knacken.Das meine ich nicht, Mann! Oder ja, okay, vielleicht

schon irgendwie. Aber nicht einfach so, wie du denkst: Mädchen klarmachen, und das Lachen ist nur das Mittel zum Zweck, weil’s eigentlich um was anderes geht: Held sein oder ficken oder beides. Nein, ich will wirklich se-hen, wie sie lacht. Das ist bei ihr so was Ähnliches wie ein Naturschauspiel, nicht einfach so ein Lachen wie bei anderen Leuten, verstehst du? Wie bei anderen Mädchen.

Mensch braucht – sie hört mir ja nur beim Denken zu und da ist bei mir nicht allzu viel abzuholen, das wird sie schon bemerkt haben. Und dass sie mir trotzdem einfach so zuhört, ist unglaublich abgefahren.

Na ja, und sicher ist es auch so, dass ich hoffe, dass sie lacht. Oder – wenigstens lächelt. Bloß, weil ich wissen will, ob ich Recht hatte mit den Fältchen.

Aino zieht den Block aus ihrer Tasche und ich ver-stumme. Wahrscheinlich schreibt sie jetzt, dass ich mich endlich verpissen soll und sie in Ruhe lassen. Und aus ihrer Sicht ist das vermutlich das einzig Vernünftige, das sie zu mir sagen kann.

Ich will gerade aufstehen, um mich von ihr wegzuset-zen, da zieht sie mich am Ärmel. Sie zupft nicht, sie zieht. Sie hält mich eine Sekunde länger an meinem Jackenauf-schlag fest, als notwendig wäre, und da kapiere ich, dass sie nicht einfach »Verpiss dich« geschrieben hat.

Ich lehne mich wieder zurück und sie legt mir den Block in den Schoß. Dann sieht sie aus dem Fenster.

Ich nehme den Block.Ich gehe ins Kloster. In ein Schweigekloster.Ich starre die Buchstaben an. Will sie mich verarschen?»Wie jetzt? Du wirst Nonne? So richtig mit allem? Für

immer?«Sie schaut aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht

mich, sondern den Block an, dann wirft sie noch mal ei-nen Blick auf die Amazonas-Suppe da draußen, guckt in meine Richtung.

Dann nickt sie.Ich nehme den Stift und kritzele ein riesiges WARUM?auf das Papier.

Bitte eine

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»Na ja, da wäre zum Beispiel …«Sex. Lass den Sex weg.»Achterbahn fahren«, sage ich schnell, weil das tat-

sächlich das Erste ist, das mir einfällt, abgesehen von Sex. »Das macht man doch bestimmt nicht als Nonne, oder? Mit dem langen Kleid und so? Oder – was weiß ich – Par-ty machen, feiern, fröhlich sein. Verrückte Sachen ma-chen. ’ne Nacht unter einer Brücke schlafen, verreisen, irgendwohin, einfach so – per Anhalter, ohne Ziel.«

Ich verstumme. Ganz ehrlich: abgesehen von der Sache mit dem Sex weiß ich nicht, ob Nonnen so was nicht ma-chen können. Arbeiten die nicht auch? In Krankenhäu-sern oder so? Und warum soll ’ne Nonne nicht Achter-bahn fahren? Also klar, sieht komisch aus, aber – hat die Bibel das verboten oder so? Kann ich mir nicht vorstellen, da gab’s ja noch keine Achterbahnen und deshalb kann davon ja auch nichts drinstehen.

Mein Hirn dreht sich im Kreis. Ich wische meine Hand an der Hose ab, die feucht geworden ist, warum auch im-mer. Schweiß hat sich in den Rillen gebildet, die irgend-welche Linien bilden sollen – Lebenslinien und Herzensli-nien oder wie das alles heißt. Und als ich meine verräte-rischen Linien, die wahrscheinlich schon alles über mein Leben erzählen, ohne dass ich es weiß, an meiner Hose abwische, fühle ich ihn.

Den Anhänger. »Wenn du mir sagst, warum, sage ich dir, wo dein An-

hänger ist.«Rrring! Rrring! Die Alarmanlage leuchtet, der Captain

drückt hektisch am Steuerpult herum. Bist du bescheuert, Mann? Nichts dazugelernt in all den Jahren?

Schon klar. Nuss knacken.Ich wische ihn weg. Soll er es doch nennen, wie er will,

meinetwegen auch »Nuss knacken«. Ich weiß es besser.»Ich geh hier nicht weg, bevor du mir nicht gesagt hast,

warum«, sage ich Aino. »Ich meine – niemand geht in ein Kloster, also niemand, der so alt ist wie du. Das ist …«

Ich weiß nicht, was das ist, also halte ich erst mal den Mund, mustere Aino genauer und versuche, ihr Alter zu schätzen. Gar nicht so leicht, aber ich bin mir jedenfalls sicher, dass sie älter ist als ich. Achtzehn vielleicht oder neunzehn.

»… da hat man nicht mal Sex.«Na klar. Sex. Das ist das Erste, was mir einfällt. Sehr

originell. Jemand erzählt was von Kloster und mir fällt nichts ein als: Aber da hast du ja gar keinen Sex! Dabei gibt es tausend andere Dinge, die einem dazu einfallen könnten, zum Beispiel …

Was weiß ich. Was macht man eigentlich den ganzen Tag in so einem Kloster? Beten und in langen Gewän-dern in eisigen Gemäuern wandeln? Ich hab echt keinen Schimmer.

»Sorry«, sage ich, »ich hab noch nie jemanden getrof-fen, der Nonne werden will. Das ist echt – ich meine, du verpasst doch so viele Sachen! Alles, was Spaß macht, was das Leben lustig macht und so.« Sie sieht mich an. Verständnislos? Ich kann sie einfach nicht lesen.

»Mein Gott, was man halt so macht, wenn man jung ist. Das entgeht dir doch dann alles. Das kannst du doch erst noch alles ausprobieren und dann immer noch ins Kloster gehen, oder nicht?«

Aino greift nach dem Block.Was verpasse ich denn?

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»Na ja, da wäre zum Beispiel …«Sex. Lass den Sex weg.»Achterbahn fahren«, sage ich schnell, weil das tat-

sächlich das Erste ist, das mir einfällt, abgesehen von Sex. »Das macht man doch bestimmt nicht als Nonne, oder? Mit dem langen Kleid und so? Oder – was weiß ich – Par-ty machen, feiern, fröhlich sein. Verrückte Sachen ma-chen. ’ne Nacht unter einer Brücke schlafen, verreisen, irgendwohin, einfach so – per Anhalter, ohne Ziel.«

Ich verstumme. Ganz ehrlich: abgesehen von der Sache mit dem Sex weiß ich nicht, ob Nonnen so was nicht ma-chen können. Arbeiten die nicht auch? In Krankenhäu-sern oder so? Und warum soll ’ne Nonne nicht Achter-bahn fahren? Also klar, sieht komisch aus, aber – hat die Bibel das verboten oder so? Kann ich mir nicht vorstellen, da gab’s ja noch keine Achterbahnen und deshalb kann davon ja auch nichts drinstehen.

Mein Hirn dreht sich im Kreis. Ich wische meine Hand an der Hose ab, die feucht geworden ist, warum auch im-mer. Schweiß hat sich in den Rillen gebildet, die irgend-welche Linien bilden sollen – Lebenslinien und Herzensli-nien oder wie das alles heißt. Und als ich meine verräte-rischen Linien, die wahrscheinlich schon alles über mein Leben erzählen, ohne dass ich es weiß, an meiner Hose abwische, fühle ich ihn.

Den Anhänger. »Wenn du mir sagst, warum, sage ich dir, wo dein An-

hänger ist.«Rrring! Rrring! Die Alarmanlage leuchtet, der Captain

drückt hektisch am Steuerpult herum. Bist du bescheuert, Mann? Nichts dazugelernt in all den Jahren?

Schon klar. Nuss knacken.Ich wische ihn weg. Soll er es doch nennen, wie er will,

meinetwegen auch »Nuss knacken«. Ich weiß es besser.»Ich geh hier nicht weg, bevor du mir nicht gesagt hast,

warum«, sage ich Aino. »Ich meine – niemand geht in ein Kloster, also niemand, der so alt ist wie du. Das ist …«

Ich weiß nicht, was das ist, also halte ich erst mal den Mund, mustere Aino genauer und versuche, ihr Alter zu schätzen. Gar nicht so leicht, aber ich bin mir jedenfalls sicher, dass sie älter ist als ich. Achtzehn vielleicht oder neunzehn.

»… da hat man nicht mal Sex.«Na klar. Sex. Das ist das Erste, was mir einfällt. Sehr

originell. Jemand erzählt was von Kloster und mir fällt nichts ein als: Aber da hast du ja gar keinen Sex! Dabei gibt es tausend andere Dinge, die einem dazu einfallen könnten, zum Beispiel …

Was weiß ich. Was macht man eigentlich den ganzen Tag in so einem Kloster? Beten und in langen Gewän-dern in eisigen Gemäuern wandeln? Ich hab echt keinen Schimmer.

»Sorry«, sage ich, »ich hab noch nie jemanden getrof-fen, der Nonne werden will. Das ist echt – ich meine, du verpasst doch so viele Sachen! Alles, was Spaß macht, was das Leben lustig macht und so.« Sie sieht mich an. Verständnislos? Ich kann sie einfach nicht lesen.

»Mein Gott, was man halt so macht, wenn man jung ist. Das entgeht dir doch dann alles. Das kannst du doch erst noch alles ausprobieren und dann immer noch ins Kloster gehen, oder nicht?«

Aino greift nach dem Block.Was verpasse ich denn?

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Hartnäckiges Leugnen ist übrigens eine erstaunlich effek-tive Taktik. Aber so komme ich hier nicht weiter.

Wenn du mich verpfeifst, siehst du den Anhänger nie wieder.

Wie eine Wahnsinnsdrohung klingt das ja nicht gera-de – es geht um eine Kette! –, aber irgendwas muss der für sie ja bedeuten, sonst wäre sie schließlich nicht so von der Rolle gekippt vorhin. Außerdem weiß ja jeder, dass man beim Pokern bluffen muss.

Und das tun wir gerade. Pokern.Ich gebe ihr den Block zurück. Your turn, baby.Wenn ich den Anhänger nie wiedersehe, bete ich dir

die Pest an den Hals.Ich lache. »Pest gibt’s doch gar nicht mehr.«Dann eben SyphilisIch bin nicht abergläubisch, Leute. Also nicht wirklich,

so ganz tief und so. Aber wenn eine Nonne behauptet, sie könnte dir eine Geschlechtskrankheit ranbeten, dann hat das irgendwie so eine bestimmte Kraft ….

Was soll’s. Zeit, noch höher zu pokern. Ich greife nach dem Block.Wenn du das tust, bist Du schuld an meinem Tod.Sie könnte es als Witz verstehen. Ich meine – es ist ein

Witz. Wir leben doch nicht im Mittelalter, wo man sich mit solchen Sachen drohen kann. Aber zwischen uns sind die Regeln vom ersten Moment an anders gelaufen. Aino schluckt. Aino denkt. Mir tut es schon fast leid.

Dann schreibt sie los. Und es ist mehr als ein Satz.Also gut. Wenn du mir beweist, dass ich IRGENDWAS

auf dieser Welt verpasse. Irgendwas, das mir fehlen wird. Dann zeige ich dich nicht an. Und das mit dem Beten lasse ich auch …

»Könnte sein, dass ich es weiß«, setze ich hinterher, um zu retten, was eh nicht mehr zu retten ist. »Ich glaube, ich hab ihn da irgendwo liegen sehen. Keine Ahnung, war-um ich es dir nicht gesagt habe. Vielleicht weil du nicht redest oder so.«

Jetzt halt die Klappe, aber ganz schnell. Besser wird’s nicht mehr.

Aino neben mir versteift sich. Dann dreht sie ruckartig den Kopf zu mir um. In ihren Augen blitzt wieder dieses Ding auf. Das so gar nicht zu ihrem Nonnen-Dasein passt und ihrem Schweigen und ihren braven Klamotten. Also, nicht weil es lüstern ist oder so. Es ist was anderes. Und ich weiß nicht, ob es mir gefällt. Ob es mir in diesem Ge-sicht gefällt, meine ich. In diesen Augen.

Sie reißt mir den Block aus der Hand und dann schreibt sie los. Mir wird mulmig. Und dann gibt Aino mir den Block.

Du willst Wenn-dann-Spiele?Ich glaube, ich schaue sie reichlich dämlich an. »Ähm …«Sie nimmt den Block wieder zu sich und schreibt wei-

ter.Wenn du mir den Anhänger wiedergibst, zeige ich

dich nicht an.»Wieso denn anzeigen? Ich biete dir hier meine Hilfe

an und du …«Aino hebt die Augenbrauen, tippt auf den Block und

dann drückt sie ihn mir in die Hand. Mitsamt Stift.»Also, ICH kann ja reden«, maule ich sie an.Aino verengt die Augen. Dann grabscht sie sich den

Stift, schreibt: Wenn …, wofür sie sich halb über mich beugen muss, und drückt mir den Stift wieder in die Hand.

Also gut. Dann hat sie mich halt durchschaut. Na und.

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Hartnäckiges Leugnen ist übrigens eine erstaunlich effek-tive Taktik. Aber so komme ich hier nicht weiter.

Wenn du mich verpfeifst, siehst du den Anhänger nie wieder.

Wie eine Wahnsinnsdrohung klingt das ja nicht gera-de – es geht um eine Kette! –, aber irgendwas muss der für sie ja bedeuten, sonst wäre sie schließlich nicht so von der Rolle gekippt vorhin. Außerdem weiß ja jeder, dass man beim Pokern bluffen muss.

Und das tun wir gerade. Pokern.Ich gebe ihr den Block zurück. Your turn, baby.Wenn ich den Anhänger nie wiedersehe, bete ich dir

die Pest an den Hals.Ich lache. »Pest gibt’s doch gar nicht mehr.«Dann eben SyphilisIch bin nicht abergläubisch, Leute. Also nicht wirklich,

so ganz tief und so. Aber wenn eine Nonne behauptet, sie könnte dir eine Geschlechtskrankheit ranbeten, dann hat das irgendwie so eine bestimmte Kraft ….

Was soll’s. Zeit, noch höher zu pokern. Ich greife nach dem Block.Wenn du das tust, bist Du schuld an meinem Tod.Sie könnte es als Witz verstehen. Ich meine – es ist ein

Witz. Wir leben doch nicht im Mittelalter, wo man sich mit solchen Sachen drohen kann. Aber zwischen uns sind die Regeln vom ersten Moment an anders gelaufen. Aino schluckt. Aino denkt. Mir tut es schon fast leid.

Dann schreibt sie los. Und es ist mehr als ein Satz.Also gut. Wenn du mir beweist, dass ich IRGENDWAS

auf dieser Welt verpasse. Irgendwas, das mir fehlen wird. Dann zeige ich dich nicht an. Und das mit dem Beten lasse ich auch …

»Könnte sein, dass ich es weiß«, setze ich hinterher, um zu retten, was eh nicht mehr zu retten ist. »Ich glaube, ich hab ihn da irgendwo liegen sehen. Keine Ahnung, war-um ich es dir nicht gesagt habe. Vielleicht weil du nicht redest oder so.«

Jetzt halt die Klappe, aber ganz schnell. Besser wird’s nicht mehr.

Aino neben mir versteift sich. Dann dreht sie ruckartig den Kopf zu mir um. In ihren Augen blitzt wieder dieses Ding auf. Das so gar nicht zu ihrem Nonnen-Dasein passt und ihrem Schweigen und ihren braven Klamotten. Also, nicht weil es lüstern ist oder so. Es ist was anderes. Und ich weiß nicht, ob es mir gefällt. Ob es mir in diesem Ge-sicht gefällt, meine ich. In diesen Augen.

Sie reißt mir den Block aus der Hand und dann schreibt sie los. Mir wird mulmig. Und dann gibt Aino mir den Block.

Du willst Wenn-dann-Spiele?Ich glaube, ich schaue sie reichlich dämlich an. »Ähm …«Sie nimmt den Block wieder zu sich und schreibt wei-

ter.Wenn du mir den Anhänger wiedergibst, zeige ich

dich nicht an.»Wieso denn anzeigen? Ich biete dir hier meine Hilfe

an und du …«Aino hebt die Augenbrauen, tippt auf den Block und

dann drückt sie ihn mir in die Hand. Mitsamt Stift.»Also, ICH kann ja reden«, maule ich sie an.Aino verengt die Augen. Dann grabscht sie sich den

Stift, schreibt: Wenn …, wofür sie sich halb über mich beugen muss, und drückt mir den Stift wieder in die Hand.

Also gut. Dann hat sie mich halt durchschaut. Na und.

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AinoAussteigen

Plötzlich wird mir schlecht.Warum habe ich das getan? Warum habe ich auf das permanente Pochen hinter

meiner Stirn gehört? Das mit jedem von Niks Worten schlimmer wurde? Mit jedem Satz, den ich aufgeschrie-ben habe?

Warum habe ich diesem Jungen, den ich doch nur los-werden will, so schnell wie möglich loswerden, diesen wahnwitzigen Vorschlag gemacht?

Warum hat er das gesagt? Achterbahn fahren. Feiern. Fröhlich sein. Alles, was das Leben lustig macht.

Ich will nicht Achterbahn fahren.Ich will nicht feiern.Ich will schreien.Ich werde nicht schreien.Ich ramme den Block in meine Rocktasche und starre

aus dem Fenster, weg von Niks Augen. Ist das Aufschreiben nicht sowieso von Anfang an eine

Lüge gewesen? So wie irgendwann jemand beschlossen hat, dass Fisch

kein Fleisch sei und deshalb zur Fastenzeit gegessen wer-den darf? Wer schweigen will, soll auch nicht schreiben.

Diese Versuche, eine Regel zu umgehen. Kleine Lücken,

Während ich lese, beobachtet sie mich.»Und wenn ich es dir beweise? Lässt du es dann auch

sein mit dem Kloster?«Ainos Augen huschen in meinem Gesicht hin und her.

Auf ihrer Stirn bildet sich eine Furche. Sie senkt den Blick von meinem Gesicht auf meinen Oberkörper und schüttelt den Kopf.

Ich greife nach dem Stift.Wenn ich es dir beweise, dann sagst du mir, wa-

rum du ins Kloster gehst.Sie zögert. Dann atmet sie tief durch und nickt lang-

sam.»Du musst es aufschreiben. Sonst gilt es nicht.«Ja»Und woran erkenne ich es? Dass ich es dir beweisen

konnte, meine ich?«Du wirst es merken.»Bisschen dünn.« Ich lache. Und wenn ich es mir nicht

eingebildet habe, hat Ainos rechter Mundwinkel ebenfalls im Anflug eines Lächelns gezuckt. Immerhin. Mehr ist wohl nicht rauszuholen.

Wie viel Zeit habe ich?48 Stunden»Zwei Tage, zwei Nächte. Zählt die Nacht gestern auch

dazu?«Aino schüttelt den Kopf, dann hält sie mir ihr Handge-

lenk mit einer Armbanduhr hin. Sie tippt auf das Ziffern-blatt. Es ist zwanzig nach acht.

»48 Stunden«, sage ich.Und dann rattere ich in meinem Kopf die Dinge durch,

die zum Leben gehören.