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LETZTE AUSFAHRT SEPP MALL

Letzte Ausfahrt

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Letzte Ausfahrt

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LETZTE AUSFAHRT

Sepp maLL

05.indd 3 21.12.2009 11:09:43 Uhr

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Sepp Mall

Sepp Mall, geboren 1955 in Graun/Vinschgau, wohnhaft in Meran. Freier Schriftsteller, Leh-rer und Herausgeber. Diverse Literaturpreise und Stipendien, u. a. Meraner Lyrikpreis 1996 und österreichisches Projektsti-pendium 2008/09. Der Roman Wundränder war 2005 „Inns-bruck-liest-Buch“. Letzte Buch-veröffentlichungen: Inferno So-litario. Drei Hörstücke und ein Theatertext, 2002; Wundränder. Roman, 2004; Wo ist dein Haus. Gedichte, Haymon 2007

Cover

Workshop von Lupo & Burtscher in der Geschützten Werkstatt KIMM, Kardaun mit: Helga Vieider, Franz Josef Matha, Ohnewein Manfred, Mair Maria, Patreider Lukas, Claudia Pupp, Johann Egger, Schick ReginaBetreuung: Edith Vitroler

Das Zusammenleben von Men-schen mit oft sehr unterschied-lichen Schicksalen, Lebenslagen und Bedürfnissen erhält in un-serer Zeit immer größere Bedeu-tung.

Ad alta voce | Stille Post erzählt Ge-schichten aus dem Alltag dieser Menschen. Zehn Erzählungen, fünf deutsche und fünf italie-nische, die den Begriff des Sozi-alen in den Mittelpunkt stellen und ihm eine neue Bedeutung verleihen.

copertine_final.indd 4 21.12.2009 16:50:59 Uhr

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Eine Initiative der

in Zusammenarbeit mit

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Ad alta voce / Stille Post

Eine Initiative der Abteilung 24 – Familie und Sozialwesen Autonome Provinz Bozen – Südtirol

in Zusammenarbeit mit:Edizioni alpha beta VerlagKVW

Redaktion:Reinhard Gunsch, Monica Margoni,Reinhard Christanell, Aldo Mazza

© 2010 Edizioni alpha beta [email protected]

All rights reserved

Grafisches Konzept:Studio Lupo & Burtscher, Bozen

Umbruch: A&DDruck: Cierre Grafica (VR)

ISBN 978-88-7223-134-0

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LETZTE AUSFAHRT

ERZÄHLUNG VONSEPP MALL

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LETZTE AUSFAHRT

Dann wurde Vaters Krebs diagnostiziert und mein Bru-derherz ließ sich von einem Tag auf den anderen nichtmehr blicken. Lorenz war Vaters Nachfolger in der Parteigeworden, war Jahr für Jahr nach oben gestiegen undseit den letzten Wahlen war er einer der wichtigen Män-ner in der Stadtverwaltung. Er wohnte viel näher bei un-seren Eltern als ich, vielleicht eine Dreiviertelstunde mitdem Auto, aber wenn es galt, mit einem Arzt zu spre-chen oder Vater zu den Bestrahlungen ins Krankenhauszu bringen, war er nicht erreichbar. Angelina, seineFrau, erklärte Mutter am Telefon, dass Lorenz auf einerLandwirtschaftsmesse die Eröffnungsrede halte, in Ve-rona oder in München, und dass er frühestens in zweiTagen wiederkomme. Oder er war in einer dringendenSitzung des Parteiausschusses und unmöglich zu spre-chen.

So brachte ich Vater ins Bezirkskrankenhaus. Damitwir rechtzeitig dort waren, packte ich am Vorabendmeine Sachen, fuhr über den Pass und das letzte Stücküber die neue Autobahn und übernachtete im Eltern-haus. Um sechs Uhr früh klopfte Mama an mein ehe-maliges Kinderzimmer und Vater saß mit der blauenReisetasche auf seinen Knien bereits in der Küche undsah auf die Uhr.

„Er lässt sich nicht blicken“, sagte er während derFahrt, „vielleicht hat er Angst, dass ich ihn anstecke.“

„Er ist dein Sohn“, sagte ich.

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„Von mir hat er das nicht“, sagte Vater und schauteauf die neuen Häuser, die man am Rande der Kleinstadthochzog. Auf jeder unserer Fahrten kamen neue dazu,elegante Reihenhäuser oder kleine Luxusvillen in sanf-ten Pastelltönen, die sich an den Hang schmiegten bishinauf zum Waldrand. Vor einigen Jahren hatte man esaufgegeben, große Wohnblocks zu bauen, in denen dieWohnungen billig waren, weil man die Erfahrung ge-macht hatte, dass man dadurch zu wenig Kaufkraft indie Stadt zog. Alles nur Gesindel, meinte Vater, und ernahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass man seineÜberlegungen ernst genommen hatte. Obwohl er be-reits seit 15 Jahren nicht mehr für den Stadtrat kandi-dierte, war er überzeugt, dass es seine ganz persönlichenbaupolitischen Vorschläge waren, die jetzt in die Tat um-gesetzt wurden.

Als das Brachland begann und wir auf die Schnell-straße einbogen, wollte Vater plötzlich wissen, was dieÄrzte gesagt hätten.

„Du warst doch selbst dabei“, sagte ich. Er richtete sich in seinem Sessel auf und holte Luft,

als wollte er losschimpfen, aber dann bemerkte ich, dasser plötzlich innehielt. Er ließ seinen Oberkörper nachvorn sacken, schnaufte und blickte starr vor sich hin.Vielleicht hatte er tatsächlich vergessen, dass er bei derBesprechung vor der Operation gemeinsam mit uns denÄrzten gegenübergesessen hatte, und ich konnte mirauch nicht vorstellen, dass man ihn über die Ergebnisseder Bestrahlung im Unklaren ließ. Schließlich hatte derPrimar der Abteilung, als er uns die befürchtete Di -agnose mitteilte, auf mich den Eindruck gemacht, dasser sowohl den Patienten als auch den Angehörigen

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nichts verschwieg. Er hatte das Wort Tumor in denMund genommen wie etwas Alltägliches, was es für ihnbestimmt auch war, nur für uns nicht, die wir hiersaßen: Mama, neben ihr Vater, dann Angelina, die Vaters Hand tätschelte, und ich ganz außen, auf diesenroten Plastikstühlen - und als Vater darauf nicht rea-gierte, hatte er seine Hand genommen, ihn angeschautund gesagt: „Wir haben bei Ihnen Krebs festgestellt,aber wir haben gute Chancen, ihn zu heilen.“

„Na, dann los“, hatte Vater gesagt, und wir hatten allegelacht. Auch Mama und Angelina, die an Stelle von Lo-renz mitgekommen war, hatten losgeprustet, und alsVater schließlich begriff, dass es seine Bemerkung war,über die wir lachten, wiederholte er seine Worte nocheinmal.

Und jetzt, als wir zum zweiten Bestrahlungsterminfuhren, schien Vater bereits alles vergessen zu haben.Vielleicht war es auch eine Folge der Medikamente oderder Strahlen, die sich durch seinen Schädel bohrten undzusammen mit den erkrankten wuchernden Zellenauch die Erinnerung auflösten.

„Mir sagt man nichts“, wiederholte er stur, und alsich darauf nichts mehr entgegnete, drehte er seinen ra-sierten Schädel zu mir und sagte, lauter als vorher: „Be-stimmt muss ich sterben.“

Das hatte er noch nie gesagt, zumindest mir gegen-über nicht, und für einen Augenblick stand dieser Satzmit stummer Wucht da, wie hingestellt vor meinenAugen. Was sollte ich ihm antworten auf diese Behaup-tung, die wie eine hilflose Frage klang.

„Hör zu, Vater“, sagte ich dann, „du hast alle Chan-cen der Welt.“

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Ich hatte diesen Satz schon einmal gehört, nur fielmir nicht ein, in welchem Zusammenhang,

„Wirklich“, sagte Vater, und seine Stimme ging nachoben, als freute er sich über die plötzliche Erkenntnis.Ich nahm meinen Blick vom Rückspiegel und sah ihnan, seine Miene hatte sich mit einem Male aufgehellt,er nickte vor sich hin und wiederholte murmelnd meineWorte.

„Alle Chancen der Welt“, sagte er, drehte seinen Kopfzu mir und freute sich wirklich.

Am Eingang der Radiologie ließ ich ihn mit der Kran-kenschwester, die ihn mit seinem Namen begrüßt hatte,allein und sah ihm hinterher. Sein Anzug schlotterte umseinen Körper, der wieder ein Stück weniger gewordenwar. So trottete er durch den Gang auf sein Zimmer,neben der jungen Schwester, die seine Tasche trug.

„Das ist Schwester Irina“, hatte er sie mir vorgestelltund ich hatte mich gewundert, dass er ihren Namen be-halten hatte. Schließlich war die letzte Bestrahlung vordrei Monaten gewesen.

Am Ende des langen Ganges blieben beide stehen,die Krankenschwester öffnete die Durchgangstür zumBereich, den Besucher nicht betreten durften, und ichwartete darauf, dass sich Vater noch einmal umdrehte.Ich hatte keine Ahnung, wie schnell es gehen würde.

Wenn ich Vater nach der Therapie im Krankenhaus ab-holte, stand er verloren im Gang, seine Reisetascheneben sich auf dem Boden. Manchmal war es auch einePapiertragetasche, und ich fragte ihn, ob er alles bei sichhabe, seine Brieftasche, seine Toilettentasche, aber erhörte gar nicht hin.

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Es brauchte einige Zeit, bis ich den Gedanken zulas-sen konnte, dass das nicht mehr mein Vater war, deralles besser wusste, weil er um so vieles älter war als ich.Es war fast umgekehrt. Ich war der Erfahrene, ich warder, der ihm zeigte, wo es zum Aufzug ging oder zurToilette, und er war das Kind. So sah er manchmal auchaus, wenn er am Ende des endlosen Krankenhausflurswartete. Wie ein vergessener Junge, mit seinen unsiche-ren Bewegungen und dem scheuen Blick. Er ging aufund ab in kleinen Trippelschritten, sah auf seine Uhr,setzte sich wieder hin und wartete. Er bewegte sich in-nerhalb dieser zwei Quadratmeter als hätte man ihmverboten, seinen Platz zu verlassen. Irgendwann würdevielleicht jemand kommen, ihm gut zureden und ihmsagen, wo es lang ging.

Einmal war ich viel zu spät, als ich ihn abholen sollte.Auf dem Pass war ein ungarischer Reisebus in die Tiefegestürzt, die Polizei hatte die Straße gesperrt und ichhatte einen weiten Umweg durch die Wälder fahrenmüssen. Als ich aus dem Aufzug in den Gang der Ra-diologie stürmte, saß Vater ganz hinten auf einer Bankvor dem abgedunkelten leeren Schwesternzimmer. Erwar allein.

Ich winkte ihm von weitem und eilte auf ihn zu. Eraber reagierte nicht. Als ich näher kam, bemerkte ich,dass er die Augen geschlossen hielt.

„Was machst du“, fragte ich.„Ich stell mir das Nichts vor“, sagte er, ohne die

Augen zu öffnen.„Das Nichts“, wiederholte ich fragend.„Für später“, sagte er, öffnete langsam die Augen

und blickte mich an. „Ach du bist es.“

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Ich nahm seine Tasche und er folgte mir wider-standslos. Langsam, mit kleinen Trippelschritten ginger neben mir zum Aufzug. Ich hatte mir erwartet, dasser mir wegen meiner Verspätung Vorwürfe machte,aber nichts.

Schweigend folgte er mir, und als wir die Eingangs-halle des Krankenhauses verließen und ins reale Dunkelder Parkgarage tauchten, fragte ich ihn: „Was heißt das,für später?“

„Ach“, sagte er, „dafür bist du einfach zu grün. Dasverstehst du noch nicht.“

Dann standen wir vor meinem Wagen, ich hievte diePapiertasche (warum war sie so leicht?) in den Gepäck-raum, Vater setzte sich ungefragt auf den Rücksitz undschwieg, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit. Ich be-obachtete ihn im Rückspiegel wie er durch das Seiten-fenster nach draußen starrte, und als wir schon beinahezu Hause waren, sagte er unvermittelt: „Eigentlich ist esunvorstellbar.“

„Was?“„Das Nichts.“„Ja, du hast recht“, sagte ich und wartete darauf, dass

er mir zu verstehen gab, dass ich auch das noch nichtverstünde.

Vaters Tumor war von einer Tomographie zur nächstenum einiges gewachsen, aber die Ärzte waren gutenMutes, die Sache in den Griff zu kriegen. Entgegenmeinem Eindruck bei unserer ersten Besprechung rie-ten sie uns jetzt davon ab, Vater über das anhaltendeWachstum seines giftigen Knotens zu informieren. Esbrauche einfach nur Zeit, sagten sie, bis der Körper auf

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die Bestrahlungen reagiere. Dann könne man weiterse-hen und die nächsten Schritte überlegen, mit etwasGlück komme man vielleicht um eine große Operationherum.

Nach diesen Besprechungen gingen wir niederge-schlagen zu Vater zurück und erzählten ihm, dass wirmit dem Primar gesprochen hätten und dass alles soweit in Ordnung sei. Es würde nicht mehr lange dauern,bis er wieder vollkommen wiederhergestellt sei. Er hörteuns kaum zu, beklagte sich über das Mittagessen, dasimmer kalt werde, bis es an sein Bett komme, und fragtenicht nach. Er glaubte unsere Lügen und wir warenglücklich, dass wir so geschickte Lügner waren und eruns nicht durchschaute. Ich war überzeugt, dass wir auspsychoonkologischer Sicht, wie die Ärzte das nannten,genau das Richtige taten.

Die einzige, die bei diesem Spiel nicht mitmachenwollte, war meine Tochter Alma. Sie bockte vor den Ärz-ten und wandte sich demonstrativ vom Schreibtisch ab,vor dem wir saßen, und nachher auf dem Weg zu denKrankenzimmern zischte sie mir zu, dass sie Vater dieWahrheit sagen werde, die ganze Wahrheit, wenn wires nicht täten. Er habe schließlich ein Recht darauf zuwissen, wie es um ihn stehe. Ein Menschenrecht, sagteAlma zwischen zusammengepressten Zähnen.

Ich hatte keine Lust, mich mit ihr zu streiten undschickte sie ins Café des Krankenhauses, sie solle docheine Cola trinken und eine Tageszeitung für ihren Groß-vater besorgen. Sie hielt kurz inne, als wollte sie gleichwieder protestieren, aber dann machte sie wortlos kehrtund ging zu den Aufzügen. Als sie zurückkam, schiensie ihren Widerstand aufgegeben zu haben, sie hielt Va-

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ters Hand, bis wir uns verabschiedeten und mischte sichnicht in unser Gespräch. Ich wusste aber, dass ihr dieseSache keine Ruhe ließ und war darauf gefasst, dass sieeines Tages wieder damit anfangen würde.

Mama erfuhr nichts von unserer Besorgnis darüber,dass die Krankheit vielleicht nicht mehr aufzuhaltenwar. Angelina rief sie nach unseren Besuchen vonihrem Mobiltelefon aus an und berichtete ihr ausführ-lich, dass der Primar in Aussicht gestellt habe, um eineOperation herumzukommen. Dass bei diesem Eingriff,wenn er denn erfolgte, Vaters Schädel aufgesägt werdenmusste, und, wie man uns erklärt hatte, der Tumor nurteilweise entfernt werden konnte, da er äußerst ungüns-tig lag, davon berichtete sie Mama nichts. Diese gabsich schnell mit unseren optimistischen Erzählungenzufrieden, und vor allem die Tatsache, dass der Primareiner von Lorenz’ Parteifreunden war, stimmte sie zu-versichtlich.

Manchmal sprachen wir uns ab, Angelina und ich,wenn wir Vater während seines Bestrahlungszyklus’ be-suchten, und wir trafen uns vorher im Park des Kran-kenhauses.

Wir gingen zwischen den immergrünen Sträuchernauf und ab, stellten den Rollstühlen aus und machtenuns gegenseitig Mut. Angelina war überzeugt, dass eineTumorerkrankung in diesem Alter so langsam fort-schritt, dass Vater bestimmt an etwas anderem sterbenwürde. Sie betonte, dass sie das nicht in irgendeinerFrauenzeitschrift gelesen habe, sondern dass dies allge-meine wissenschaftliche Erkenntnisse wären. Auch ihrHausarzt, den sie danach gefragt hatte, hätte ihr das be-

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stätigt. Ich widersprach ihr nicht, auch wenn die Aus-sicht, dass Vater an etwas anderem als dem Krebs ster-ben könnte, kein rechter Trost war.

„Ist dir aufgefallen“, sagte Angelina, „dass er wiedermehr Appetit hat?“ „Und schließlich gehen die Bestrah-lungen weiter“, sagte ich. „Wenn es wirklich aussichts-los wäre, setzt man doch niemanden mehr diesenBelastungen aus. Außerdem ist die Medizin heute janicht mehr auf dem Stand wie vor 20 Jahren.“

Meine Schwägerin nickte, lächelte mich einen Au-genblick lang an und gab mir in allem recht. Wir spa-zierten über die gepflegten Kieswege des Parks undlogen uns beide etwas vor, damit wir den Mut fanden,auf die Station zu gehen und Vater in seinem Kranken-bett zu sagen, dass es aufwärts gehe.

„Du bist eine grandiose Lügnerin“, sagte ich ihr, als wirdas Krankenhaus verließen. „Und man sieht es dir keinbisschen an, du wirst nicht einmal rot. Ich frage mich,woher du das hast.“

„Ich bin schließlich lang genug in eurer Familie“,sagte Angelina kokett.

„Machst du es mit Lorenzo genauso?“ fragte ich.„Wo denkst du hin“, sagte sie und lachte.Es war ein Spiel, aber Angelina wollte nicht darauf

eingehen. Ich hätte gerne gewusst, wie sie miteinanderumgingen, wenn man sie nicht beobachtete. Ich hättegerne gewusst, wie sie Lorenz aushielt. Er war mein Bru-der und ich hatte meine Erfahrungen mit ihm gemacht;ich wusste, dass es besser war, ihm nicht zu lange denRücken zuzukehren. Arbeitskollegen von mir hattenmanchmal anzügliche Bemerkungen gemacht, bis ich

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ihnen ins Gesicht gesagt hatte, dass Lorenz zwar gene-tisch mein Bruder war, ich aber weder mit seinen An-sichten noch mit seinem angeblichen Frauenverschleißetwas zu tun hatte.

Ich hatte dann nie mehr etwas gehört, aber Angelinabegann mir leid zu tun. Flüsterte man ihr dieselben Sa-chen zu wie mir?

Wir gingen über die Treppen auf den Vorplatz desKrankenhauskomplexes und Angelina lachte leise insich hinein.

„Lorenz und du“, sagte ich.Sie überlegte einen Augenblick. „Meinst du, es fällt mir leicht“, fragte sie dann, „zu-

zusehen, wie er vor allem davonläuft?“

Unseren Vater zu belügen war ein Kinderspiel. Manch-mal hatte ich den Eindruck, dass er uns gar nicht zu-hörte, sondern mit sich selbst und seiner Gedankenweltbeschäftigt war. Dazu kam, dass er von Mal zu Malschwächer wurde, die Krankheit wirkte sich zunehmendauch auf seinen Allgemeinzustand aus. Er unternahmkeinen zweiten Anlauf, die Wahrheit zu erfahren, fragtenie mehr danach, ob er sterben müsse oder was dieÄrzte gesagt hätten.

Eines Tages, als ich gerade über den Hausarbeitenmeiner Schüler saß, kam mir der Verdacht, dass er überseine Krankheit Bescheid wisse, aber es aufgegebenhabe, dieses Wissen mit uns zu teilen. Vielleicht weil ersich von uns nichts erwartete, weil er uns als Gesprächs-partner nicht ernst nehmen konnte, vielleicht weil eruns die Wahrheit nicht zumutete. Ich erzählte Alma vonmeinen Vorstellungen, und sie sagte mir, dass das voll-

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kommen logisch sei. Schließlich wisse jeder instinktiv,wie es um ihn stehe, selbst Tiere täten das.

„Und wie stellst du dir vor“, fragte ich, „was wir jetzttun sollten.“

„Keine Ahnung“, sagte Alma.

Am Tag, als mein Vater starb, waren wir auf dem Wegzu ihm. Ich hatte in der Nähe der Passhöhe angehalten,weil Alma, die mitgekommen war, schlecht gewordenwar. Sie war die engen Kurven, die ihren Magen voneiner Seite zu anderen schleuderten, nicht gewohnt.

Sie war ausgestiegen, taumelnd, und hatte einigeSchritte vom Straßenrand weg ins Grüne gemacht, alsmein Mobiltelefon klingelte. Lorenz hatte seinen Sekre-tär beauftragt, mich anzurufen.

Ich sah, wie Alma mitten in der Wiese hinkniete, dieArmen auf die Knie gestützt, und sich nach vornebeugte. „Ich soll Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater heuteMorgen verstorben ist“, sagte Lorenz’ Sekretär. „Ihr Bru-der erwartet Sie bei ihm zu Hause.“

Ich schnappte nach Luft. Bevor ich noch zu Atemkam, wünschte er mir sein herzliches Beileid und legteauf.

Ich hatte nicht einmal fragen können, was denn zumTeufel passiert war, so schnell war alles gegangen. Ichhatte das Gefühl, dass mein Wagen plötzlich losrollte,auf den Abhang zu und ich trat erschreckt auf dieBremse. Ich bemerkte nicht, wie Alma zurückkam, sieklopfte an das Seitenfenster und machte eine fragendeHandbewegung.

Niemand hatte sich erwartet, dass es so plötzlichgehen würde, ich hatte Vater drei Tage vorher zur The-

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rapie gebracht und mich mit ihm für die Rückreise ver-abredet. Er hatte so gesund gewirkt wie schon langenicht mehr und hatte mir angekündigt, dass er mir je-manden vorstellen werde, wenn ich ihn abholte. „Duwirst staunen“, hatte er gesagt, „sie ist eine richtigeKünstlerin.“

Im Restaurant auf der Passhöhe rief ich Lorenz an.Erst beim dritten Versuch kriegte ich ihn an den Appa-rat. In der Parteizentrale herrschte Aufruhr, weil derBürgermeister zurückgetreten war. Anscheinend wusstenoch niemand außerhalb von Lorenz’ Büro davon, dassihr Gründungsmitglied und der Vater ihres Wirtschafts-assessors gestorben war.

„Kommst du“, sagte Lorenz.„Aber wie ist das möglich“, antwortete ich, „er war

doch noch nicht so schlecht.“„Wen meinst du“, sagte Lorenz.„Na, Vater“, antwortete ich, „wen denn sonst.“„Ich kann jetzt nicht“, sagte Lorenz. „Melde dich,

wenn du da bist.“ Der Kellner brachte meinen Kaffee und Almas Oran-

gensaft. Ich erschrak bei dem Gedanken, hinter VatersSarg hergehen zu müssen und all die Hände von Lo-renz’ Parteifreunden schütteln zu müssen. „Er mussdoch seine Therapie zu Ende machen“, sagte ich vormich hin.

Alma zuckte mit ihren Schultern und legte ihreHand auf meine. Sie war immer noch blass im Gesicht.

Als wir die Auffahrt zu Lorenz’ Haus hinauffuhren, kammir sein silbergrauer Volvo entgegen. Ich hielt an, alswir auf gleicher Höhe waren, aber Lorenz verlangsamte

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nur sein Tempo und gestikulierte ohne das Wagenfens-ter zu öffnen. Ich verstand, dass er es eilig hatte und baldzurück sei und nickte ihm zu.

Angelina stand in der Tür und umarmte mich undAlma. In ihrem schwarzen Kostüm und den schwarzenStrümpfen sah sie aus wie eine trauernde Witwe. Ichfühlte mich in meinem Pullover vollkommen unpas-send gekleidet, aber ich hatte ja bloß Vater von seinerBestrahlung abholen wollen.

„Du kannst eines von Lorenz’ Sakkos anziehen“,sagte Angelina, aber das wollte ich auch nicht.

Ich fragte meine Schwägerin, wohin ihr Mann unter-wegs sei.

„Frag mich nicht“, sagte Angelina mit grimmigerMiene, „du weißt ja.“

Es blieb also uns, die notwendigen Formalitäten zuerledigen und einen Sarg für meinen toten Vater auszu-suchen. Der Angestellte des Bestattungsinstitutes kampünktlich um eins und wir setzten uns auf die Terrasse.Er legte uns einen Katalog vor mit verschiedenen Sarg-modellen, ich wollte gleich den ersten nehmen, den ichsah, aber Alma bestand darauf, dass wir den ganzen Ka-talog bis zum Ende durchblätterten und uns erst dannentschieden. Auf Anraten des Angestellten nahmen wirschließlich einen ökologischen Sarg, wie er ihn nannte,aus unbehandeltem Eichenholz samt eingeschnitztemPalmzweig und Beschlägen aus Gusseisen.

Während ich im Schlafzimmer war, um Lorenz’ Sak-kos zu probieren, wählten Alma und Angelina aus demAngebotskatalog die passenden Passagen für die Zei-tungsannonce und besprachen den Ablauf der Beiset-zung. Den Tag dafür hatte bereits Lorenz gemeinsam

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mit dem Parteivorsitzenden festgelegt, es sollte derSamstag sein.

Als alles erledigt war, saßen wir auf der Terrasse undAngelina rauchte eine Zigarette. Es war sinnlos gewesen,mir ein dunkles Sakko auszusuchen, schließlich saßenwir nur hier herum, und auch Angelina wirkte eigenartigdeplaziert im schwarzen Kostüm auf der eigenen Ter-rasse. Sie spielte mit der Packung Zigaretten, die vor ihrauf dem Tisch lag, und ich fragte mich, ob sie traurig war.

Eigentlich hätten wir jetzt Vater im Krankenhaus ab-geholt, er hätte mir jemanden vorgestellt, wie er mir an-gekündigt hatte, aber sein Tod hatte alles zunichtegemacht, unsere Tagesplanung und auch den Blick aufdie Zukunft. Ich blätterte in den Bestätigungsformula-ren des Bestattungsunternehmens, vielleicht stand dortetwas, wie es jetzt weiter ging.

„Wir müssen es endlich Oma sagen“, sagte Almaplötzlich.

„Wie? Sie weiß noch nichts davon?“ Ich war aufgesprungen und starrte Angelina an. Sie

zog an ihrer Zigarette und suchte nach Worten.„Nein“, sagte sie dann, „er kann das nicht. Das musst

du verstehen.“ „Er kann das nicht“, wiederholte ich langsam und

spöttisch Angelinas Worte. Sie schüttelte verneinend den Kopf und zupfte mit

beiden Händen am Saum ihres Rockes. Es sah aus, alswollte sie unbedingt ihre bloßen Knie verdecken. Als sieden Kopf wieder hob, bemerkte ich das Schimmern inihren Augen und das ließ mich innehalten.

Ich sah Alma an, hilfesuchend, aber sie zuckte nurmit den Achseln.

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Mama wunderte sich nicht, als Alma und ich bei ihr auf-tauchten. Wir hätten ja Vater im Krankenhaus abholensollen, vielleicht glaubte sie, dass wir vorher bei ihr vor-beischauten. Der Zeitpunkt stimmte aber ganz und garnicht, doch das fiel ihr nicht auf.

Im Wohnzimmer nahm ich ihre Hände in meine.„Mama“, sagte ich.„Ja?“„Vater ist tot.“„Wer?“„Vater“, sagte ich. „Lorenz’ Vater und meiner. Dein

Mann. Er ist letzte Nacht gestorben.“„Mach doch keine Scherze“, sagte Mutter. Sie zog

ihre Hände weg und wollte sich in die Küche davonma-chen.

„Bleib stehen, Mutter“, sagte ich.Das wirkte tatsächlich. Sie drehte sich um, blickte

mich erstaunt an und dann sah sie fragend zu Alma.Langsam schien sie zu begreifen. Und als Alma ihr dannwiederholte, was ich schon gesagt hatte, tappte sie mitkleinen Schritten zum Tisch, stützte sie ihre beidenHandflächen auf und verharrte.

„Das geht doch nicht“, sagte sie schließlich undschüttelte energisch ihren kleinen Kopf.

„Da hast du recht“, sagte ich.„Ich habe nicht einmal einen schwarzen Mantel“,

sagte Mama. Sie machte sich große Sorgen um die richtige Gar-

derobe für die Beerdigung und hörte nicht mehr aufdavon zu reden, bis ich drauf und dran war sie anzu-schreien. Ich konnte nicht glauben, dass sie kein Wortmehr über Vater verlor und noch weniger konnte ich

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glauben, dass das alles nur ihre beginnende Demenzwar. Alma musste meinen aufkeimenden Zorn be-merkt haben, sie nahm ihre Großmutter in den Armund zog sie von mir weg. Durch die offene Tür sah ich,wie sie vor dem Wäscheschrank standen, einzelne Stü-cke herauszogen und miteinander diskutierten. Zwi-schendurch warf Mama ein Teil auf den Boden undstieß es mit einem Fußtritt durchs Zimmer. Almanickte fortwährend mit dem Kopf, es sah aus, als gäbesie ihrer Großmutter in allem recht, nur um sie zuberu higen.

Ich fragte mich, ob wir Mama in dieser Situationwirklich allein lassen konnten, aber als sie mit Alma, dersie einen enormen Stapel an dunklen Röcken, Blusenund Strumpfhosen auf die Arme geladen hatte, zurück-kam, nahm sie mir diese Entscheidung ab.

„Ihr müsst jetzt gehen“, sagte sie und wedelte mitden Händen, „ich habe so viel vorzubereiten. Ich werdeGerlinde anrufen und sie bitten, dass sie mir hilft.“

Noch während wir durch den Garten gingen, flüstertemir Alma zu: „Es ist doch, als hätte sie darauf gewartet.Auf jeden Fall ist sie besser vorbereitet als wir alle.“

„Vielleicht hat sie mehr gewusst von Vaters Erkran-kung“, sagte ich. „Oder geahnt. Man hat ja mit allemrechnen müssen.“

Alma zuckte nur mit den Schultern.Dann fuhren wir nach Hause. Meine Tochter saß

schweigsam neben mir und auch ich hatte keine großeLust zu reden. Die Gedanken schwirrten wirr durchmeinen Kopf und ich wollte ihnen Zeit lassen, sich zusetzen. Vielleicht gelang es ihnen, wenn man sie nur in

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Ruhe ließ, dachte ich, sich selbst über eine bestimmteOrdnung und Hierarchie zu verständigen.

Es war dunkel geworden und auf der Autobahnherrschte kaum Verkehr. Um diese Tageszeit war manlängst zu Hause, vor dem Fernseher oder im selbstge-bauten Weinkeller. Auf der Passstraße waren wir alleineunterwegs, Alma und ich, in den Kehren schwirrten dieScheinwerfer für zwei Sekunden ins Leere, bevor sie diebefestige Böschung erfassten. Ich war mir nicht sicher,ob das immer so bleiben würde.

„Weißt du noch“, sagte Alma plötzlich in die Stille hi-nein, „wie sie Timmi überfahren haben, den schwarzenLabrador der Nachbarn. Weißt du noch, wie du mir bei-gebracht hast, dass er tot ist?“

„Dass du dich noch daran erinnerst“, sagte ich.Dann hatten wir die Kehren der Passstraße hinter

uns und ich drückte das Gaspedal durch bis zum An-schlag.

Nach der Beerdigung fuhr ich mit Alma in die Innen-stadt. Wir wollten Lorenz’ Parteifreunden samt ihrenverjüngten Ehefrauen ausstellen, die vor dem Friedhofin einem Kreis um Lorenz, unsere Mutter und An -gelina standen und berieten, wo sie noch hingehenkönnten.

Wir drückten uns hinter der lauten Versammlungvorbei und übersahen geflissentlich Angelinas und Lo-renz’ Winken. Genauso wie ich hatte Alma Angst, in die-ser Gesellschaft in schweren Gedanken zu versinken,und deshalb beschlossen wir, in der City-Mall, demneuen Einkaufszentrum der Stadt, durch die Läden undPassagen zu wandern.

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Alma konnte sich nicht entscheiden, und auch imdritten Schuhgeschäft rannten zwei Verkäuferinnen umsie herum und schleppten immer wieder neue Paare ausdem Lagerraum im Untergeschoss herbei. Alma warumgeben von einem Durcheinander aus weiß glänzen-den Kartons, Einschlagpapier und bunten Schuhen. Ichhatte mich auf eine Couch gesetzt, sah ihrem Treibenzu und war froh, dass es so lange dauerte. Zwischen-durch sah Alma zu mir her und lächelte mir zu; ich be-griff, dass ihr Zögern und ihre Unentschlossenheit nurgespielt waren und sie bewusst alles in die Länge zog.Und plötzlich schoss mir in den Kopf, dass ich von mei-nem Vater eigentlich gar nichts wusste.

Es war ein Gedanke, der von einem Augenblick aufden anderen von meinem Hirn Besitz ergriffen hatteund alles beherrschte. Almas Gehversuche mit einemneuen Schuhpaar nahm ich nur mehr schemenhaft imHintergrund wahr, ebenso wie die Verkäuferin, die miranbot, aus dem nahen Café ein Getränk zu holen. Ja,das war es. Ich wusste gar nichts. Ich wusste nichts vonseiner Kindheit, nichts von seinen jugendlichen Ausge-lassenheiten, nichts von seinen Liebschaften, glückli-chen oder unglücklichen. Ich wusste nichts von seinerBeziehung zu seinen Eltern, nichts davon, wie er undMutter sich nähergekommen waren, ich kannte nichteinmal ein paar Geschichten aus seinem Leben. Gut, esgab ein paar Anekdoten aus seiner Kindheit, die ergerne erzählt hatte, wenn sie fremde Leute eingeladenhatten, aber je öfter sie erzählt wurden, desto unwirkli-cher wurden sie.

Nein, außerhalb von dem, was ich selbst mit ihm er-lebt hatte, wusste ich gar nichts. Ich saß hier mit meiner

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Tochter, mit dem Gefühl, genau zu wissen, wie es ihr indiesem traurigen Moment ging, aber von meinem Vaterwusste ich gar nichts. Und gleichzeitig mit diesem plötz-lichen Bewusstwerden meiner Unkenntnis wurde mirmit einem Mal klar, dass ich ihn auch nach nichts mehrfragen konnte.

Gut, vielleicht würde mir Mama etwas erzählen kön-nen, was sie von ihm gehört hatte, aber sie konnte schonnicht mehr unterscheiden, was wirklich passiert warund was ihr flattriges Gehirn dazuerfand. Außerdemwar es bestenfalls eine Erzählung aus zweiter Hand, ge-filtert durch Mamas Moral und ihre Weltsicht. Nein, mitVaters Tod war nicht nur eine Person gestorben, auchall seine Vergangenheit, seine Erinnerungen und Erfah-rungen waren damit weg. Weggebrochen, abgestorben,ausgelöscht.

Wie aus dem Nebel tauchte Alma vor mir auf, hüpfteauf und ab und fragte, was ich von diesem Paar halte.Sie trug rote, hochhackige Pumps, für die sie mit ihrenfünfzehn Jahren bestimmt noch zu jung war.

Nein, ich schüttelte den Kopf und mit einem Blickauf die Verkäuferinnen breitete ich bedauernd meineArme aus.

„Tut mir leid“, sagte Alma laut, und dann gingen wir.Wir verließen die Mall, wir verließen die Stadt und aufder Rückfahrt erzählte ich ihr, was mir durch den Kopfgeschossen war. Es gab Dinge, die man nie mehr zu-rechtbiegen konnte.

Zwei Monate nach Vaters Beerdigung war ich im Kran-kenhaus, wo er gestorben war. Aus Unachtsamkeit warich nach einem Besuch bei meiner Mutter dem Schild

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„Ausfahrt / Exit“ gefolgt, oder vielleicht war ich auch nurfalsch abgebogen und plötzlich stand ich an der Ampel,wo es zur Parkhaus des Spitals geht. Ich fuhr gerade ausweiter und stellte mein Auto ins Parterre der Tiefgarage,wie ich es immer gemacht hatte, wenn ich Vater zurTherapie brachte.

Ich kannte den Weg bis zur Radiologie, und als ichaus dem Aufzug stieg, kam mir der Gedanke, was dennwäre, wenn er wirklich noch hier wäre, wenn er hintenim Gang auf mich warten würde, seine luftige Reiseta-sche neben sich. Für eine Sekunde leuchtete ein eigen-artiges Gefühl der Freude in mir auf, das gleich wiederverlosch.

Am Eingang der Station fragte ich nach SchwesterIrina, die einzige, an deren Namen ich mich noch erin-nerte. Sie hatte Vater meist in Empfang genommen under hatte von ihrer Herzlichkeit, die sie seiner Meinungnach nur ihm allein gewährte, geschwärmt.

Wir setzten uns in die Cafeteria im ersten Stock, in eineFensternische, von wo aus man den Helikopterlande-platz des Krankenhauses einsehen konnte. Gerade wareiner der blauen Rettungshubschrauber gelandet, dieRotoren ließen die Kittel und Haare der Sanitäter hoch-flattern, welche darauf warteten, dass sie sich dem Ge-fährt nähern konnten.

„Er war so ein freundlicher Mann, Ihr Vater“, sagteSchwester Irina.

„Ach“, sagte ich.„Und so gefasst“, sagte die Schwester, „wie er wirkte.

Wie jemand, der sich mit seinem Schicksal ausgesöhnthat.“

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„Bestimmt nicht“, sagte ich, „er hat nur nicht ge-wusst, auf was er sich mit dieser Krankheit einlässt.“

Auf dem Landeplatz übernahmen die Sanitäter dieTrage, die aus dem Helikopter geschoben wurde. EinAutounfall vielleicht, oder ein Bergunfall. Die Über-nahme sah aus wie perfekt eingeübt, es ging blitzschnellund im Nu war die Truppe im Eingang verschwundenund die Rotoren drehten sich schon wieder für dasnächste Ab heben.

„Ich war da, ich hatte Dienst in jener Nacht“, sagteSchwester Irina, während wir beide dem Helikopternachsahen, der sich im Fenster nach oben schraubte.Man hörte das knatternde Klopfen, mit dem die Roto-ren die Luft zerschnitten bis ins Gebäude herein, undIrina wiederholte das, wonach ich sie gefragt hatte,noch einmal.

Sie hätten so viel zu tun gehabt an diesem Abend. DieStationsübergabe hätte sich hinausgezögert, und Vaterhätte darauf gedrängt, dass sie noch einmal in sein Kran-kenzimmer komme, weil er ihr unbedingt etwas erzäh-len wollte. Sie habe ihm versprochen, dass sie späternoch vorbeikomme, wenn sie alle Patienten versorgthätte.

„Aber dann habe ich es vergessen“, sagte SchwesterIrina mit ihrem osteuropäischen Akzent und sah michan. Ihre Augen glitzerten im Licht, das durch das Fens-ter in die Cafeteria fiel.

„Er war also mutterseelenallein“, sagte ich.Irina nickte. Plötzlich war es still im Café. Ich merkte,

dass niemand mehr da war außer uns. Die Besucherwaren nach Hause gegangen, die Patienten in ihre Zim-

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mer zurückgekehrt und die Bedienung hatte die Hinter-grundmusik abgedreht. Ich wusste nicht, ob es in derMuttersprache der Schwester auch so eine emotionaleÜberdrehung für die Einsamkeit gab wie in meiner.

„Wie so viele hier“, sagte Schwester Irina. Sie rührtein ihrer Tasse, die Heftigkeit, mit der sie mit dem Löffelgegen den Tassenrand schlug, ließ mich aufschauen.Niemand hatte Vaters letzten Kampf bemerkt, niemandhatte ihm beistehen können, sie hatten ihn am frühenMorgen gefunden, als er schon tot war.

Schwester Irina zuckte mit ihren Schultern. Washatte ich denn erwartet, eine Absolution? Wir schautenaus dem Fenster, jetzt hoffte ich darauf, dass dernächste Rettungshelikopter landete. Aber es war nichtszu hören. Ich fragte mich, ob auch Irina in diesem Au-genblick darüber nachdachte, wie sie wohl sterbenwürde.

„Und dann“, sagte ich.„Wir haben ihn angekleidet und nach unten ge-

bracht.“„Nach unten?“„In den Aufbahrungsraum im Keller.“

Als wir die Cafeteria verließen, dämmerte es. Wir gingendurch den endlosen Krankenhausflur gemeinsam aufden Ausgang zu, Schwester Irina und ich. Wir schwie-gen, als wäre alles gesagt. Und dann war er da, plötzlich,mein lebendiger toter Vater, er ging zwischen uns mitseinen Trippelschritten, so, als hätte ich ihn gerade ab-geholt, um ihn nach Hause zu bringen.

Fehlte nur, dass er mir zuflüsterte, er habe sich rest-los in Schwester Irina verliebt.

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„Du bist doch viel zu alt für sie“, murmelte ich halb-laut und erschrak. Aber Irina hatte mein Selbstgesprächnicht gehört. Sie gab mir die Hand, winkte mir nochdurch die Glastür nach und dann tauchte ich ins Dunkelder Tiefgarage. Im Nu waren wir auf dem Zubringer zurAutobahn.

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LETZTEAUSFAHRT

SEPPMALL

SCHWARZUND WEISS

ANNE MARIEPIRCHER

RIECHTNACH ORANGEN

HELENEFLÖSS-UNGER

EINENSOMMER LANG

BIRGITUNTERHOLZNER

PERSEN

KURTLANTHALER

VIKTOR

FABIOMARCOTTO

A LITTLEPOEM

MANUELMAINI

ILDIVANO

SANDROOTTONI

GIORNISTRANI

PAOLOVALENTE

FINESTRADELL’ANIMA

BRUNA MARIADAL LAGO VENERI

01. 2010

03. 2010

06. 2010

10. 2010

01. 2011

ERSCHEINUNGSTERMINE

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Sepp Mall

Sepp Mall, geboren 1955 in Graun/Vinschgau, wohnhaft in Meran. Freier Schriftsteller, Leh-rer und Herausgeber. Diverse Literaturpreise und Stipendien, u. a. Meraner Lyrikpreis 1996 und österreichisches Projektsti-pendium 2008/09. Der Roman Wundränder war 2005 „Inns-bruck-liest-Buch“. Letzte Buch-veröffentlichungen: Inferno So-litario. Drei Hörstücke und ein Theatertext, 2002; Wundränder. Roman, 2004; Wo ist dein Haus. Gedichte, Haymon 2007

Cover

Workshop von Lupo & Burtscher in der Geschützten Werkstatt KIMM, Kardaun mit: Helga Vieider, Franz Josef Matha, Ohnewein Manfred, Mair Maria, Patreider Lukas, Claudia Pupp, Johann Egger, Schick ReginaBetreuung: Edith Vitroler

Das Zusammenleben von Men-schen mit oft sehr unterschied-lichen Schicksalen, Lebenslagen und Bedürfnissen erhält in un-serer Zeit immer größere Bedeu-tung.

Ad alta voce | Stille Post erzählt Ge-schichten aus dem Alltag dieser Menschen. Zehn Erzählungen, fünf deutsche und fünf italie-nische, die den Begriff des Sozi-alen in den Mittelpunkt stellen und ihm eine neue Bedeutung verleihen.

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LETZTE AUSFAHRT

Sepp maLL

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