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96 2.7 Meteorologie Was ist Meteorologie? Obwohl die Beschäftigung mit dem Wetter so alt ist wie die Menschheit, gibt es ein Fach ›Meteorologie‹ erst seit dem 20. Jh. Da es bis heute schwierig ist, die Komplexität des Wetters mathematisch zu mo- dellieren, und langfristige Prognosen unsicher sind, genießt die Disziplin einen prekären Status unter den Naturwissenschaften. Die Wissensge- schichte der Wetterkunde lässt sich grob in drei Phasen einteilen: Der geordnete Kosmos ist das Paradigma der frühen Wetterkunde von Aristoteles bis zur Physi- kotheologie des 18. Jh.s. Freilich verändert sich dessen Vorstellung im Laufe der Forschungsge- schichte im Detail stark. So differenziert sich etwa die Kenntnis der Atmosphäre, und es werden ast- ronomische von atmosphärischen Phänomenen genauer unterschieden. Die Schwierigkeit der frü- hen Wetterkunde besteht darin, die Einzelerschei- nungen in ihren Bezügen untereinander und im großen Ganzen zu verstehen. Typisch für diese Wissensordnung ist eine Kluft zwischen großen Entwürfen des Kosmos und punktuellem Weis- heitswissen in Form von Bauernregeln und der Deutung von Wetteranomalien als göttliches Warnzeichen oder Strafe (Janković 2000; Guldin 2006, 123–143). Mit seiner Säkularisierung im 18. Jh. tritt das Wetter in die Verantwortung des ›gouvernementa- len Vorsorgestaats‹. Damit etabliert sich langsam ein neues Paradigma, das auf die ›Normalisierung‹ des Wetters abzielt. Klimatheorien stellen einen frühen Ansatz dar, die Kulturen verschiedener Völ- ker als abhängige Variable von Wettereinflüssen her zu bestimmen. Sie stützen sich aber auf keine systematische Datengrundlage und bieten auch keine großen sozialtechnologischen Spielräume. Dagegen zielen die empirischen Bemühungen darauf, bereits das Wetter selbst voraussagen zu können. Immer systematischere Wetteraufzeich- nungen im 18. und 19. Jh. gründen sich auf vier Elemente: die Typisierung der Beobachtungsge- genstände (z. B. Luke Howards Systematik der Wol- ken), die Standardisierung von Messinstrumenten, die Vereinheitlichung von Maßen und der Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Messstationen (worauf die Entwicklung von Fernmeldemedien ei- nen zentralen Einfluss hat) (Anderson 2005; Go- linski 2007). Noch Anfang des 20. Jh.s wurden Wettervorhersagen aber nicht physikalisch errech- net, sondern aufgrund von ähnlichen Wetterlagen in der Vergangenheit erstellt. Lewis Fry Richardson publizierte 1922 das Buch Weather Prediction by Numerical Process, in dem er ein neues Modell der Wettervorhersage entwickelte, das in seinen Grundlagen noch heute Anwendung findet. Darin legte er ein Gitternetzraster über die Erdoberflä- che, unterteilte die dritte Dimension in verschie- dene Atmosphärenschichten und formte die Dif- ferentialgleichungen der Strömungsmechanik so um, dass sie sich näherungsweise lösen lassen. Die Gleichungen mussten für jede Schicht in jedem Würfel gelöst und die Ergebnisse aufsummiert werden. Das Modell war seinerzeit visionär, denn Messdaten aus höheren Luftschichten waren da- mals nur sporadisch verfügbar, auch gab es noch keine Computer, mit denen sich die Wetterent- wicklung schneller berechnen ließ, als sie eintrat (Nebeker 1995). Seit den 1950er Jahren gibt es Versuche, auf Ba- sis von meteorologischem Wissen aktiv in das Wet- tergeschehen einzugreifen. John von Neumann entwickelte damals erste Entwürfe zur künstlichen Erzeugung von Wolken. Heute ist es räumlich be- grenzt möglich, Wolken zu erzeugen und sie zum Abregnen zu veranlassen, daneben lässt sich durch Landschaftsbau das Mikroklima beeinflussen. China unterhält ein eigenes ›Wetteränderungs- amt‹, Russland, die USA, Venezuela und die Ver- einten Arabischen Emirate betreiben Forschung in diese Richtung. Mit den Erfolgen der Wettersteue- rung geraten Wetterrisiken in der öffentlichen Er- wartung immer weiter in die politische Verant- wortlichkeit (Fleming 2012). Aktuell lässt sich an den Diskussionen um den anthropogenen Klima- wandel ablesen, wie gleichermaßen Tun als auch Unterlassen als Handeln attribuiert wird. Die Literarizität der Meteorologie Die Wissenschaftsprosa der akademischen Meteo- rologie bewegt sich innerhalb der Formate von Physik und Chemie. Eine eigene Ausdrucksweise entwickelt die Meteorologie in ihrer popularisier- Literatur_und_Wissen.indb 96 27.03.13 10:41

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2.7 Meteorologie

Was ist Meteorologie?

Obwohl die Beschäftigung mit dem Wetter so alt ist wie die Menschheit, gibt es ein Fach ›Meteorologie‹ erst seit dem 20. Jh. Da es bis heute schwierig ist, die Komplexität des Wetters mathematisch zu mo-dellieren, und langfristige Prognosen unsicher sind, genießt die Disziplin einen prekären Status unter den Naturwissenschaften. Die Wissensge-schichte der Wetterkunde lässt sich grob in drei Phasen einteilen:

Der geordnete Kosmos ist das Paradigma der frühen Wetterkunde von Aristoteles bis zur Physi-kotheologie des 18. Jh.s. Freilich verändert sich dessen Vorstellung im Laufe der Forschungsge-schichte im Detail stark. So differenziert sich etwa die Kenntnis der Atmosphäre, und es werden ast-ronomische von atmosphärischen Phänomenen genauer unterschieden. Die Schwierigkeit der frü-hen Wetterkunde besteht darin, die Einzelerschei-nungen in ihren Bezügen untereinander und im großen Ganzen zu verstehen. Typisch für diese Wissensordnung ist eine Kluft zwischen großen Entwürfen des Kosmos und punktuellem Weis-heitswissen in Form von Bauernregeln und der Deutung von Wetteranomalien als göttliches Warnzeichen oder Strafe (Janković 2000; Guldin 2006, 123–143).

Mit seiner Säkularisierung im 18. Jh. tritt das Wetter in die Verantwortung des ›gouvernementa-len Vorsorgestaats‹. Damit etabliert sich langsam ein neues Paradigma, das auf die ›Normalisierung‹ des Wetters abzielt. Klimatheorien stellen einen frühen Ansatz dar, die Kulturen verschiedener Völ-ker als abhängige Variable von Wettereinflüssen her zu bestimmen. Sie stützen sich aber auf keine systematische Datengrundlage und bieten auch keine großen sozialtechnologischen Spielräume. Dagegen zielen die empirischen Bemühungen darauf, bereits das Wetter selbst voraussagen zu können. Immer systematischere Wetteraufzeich-nungen im 18. und 19. Jh. gründen sich auf vier Elemente: die Typisierung der Beobachtungsge-genstände (z. B. Luke Howards Systematik der Wol-ken), die Standardisierung von Messinstrumenten, die Vereinheitlichung von Maßen und der Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Messstationen (worauf die Entwicklung von Fernmeldemedien ei-

nen zentralen Einfluss hat) (Anderson 2005; Go-linski 2007). Noch Anfang des 20. Jh.s wurden Wettervorhersagen aber nicht physikalisch errech-net, sondern aufgrund von ähnlichen Wetterlagen in der Vergangenheit erstellt. Lewis Fry Richardson publizierte 1922 das Buch Weather Prediction by Numerical Process, in dem er ein neues Modell der Wettervorhersage entwickelte, das in seinen Grundlagen noch heute Anwendung findet. Darin legte er ein Gitternetzraster über die Erdoberflä-che, unterteilte die dritte Dimension in verschie-dene Atmosphärenschichten und formte die Dif-ferentialgleichungen der Strömungsmechanik so um, dass sie sich näherungsweise lösen lassen. Die Gleichungen mussten für jede Schicht in jedem Würfel gelöst und die Ergebnisse aufsummiert werden. Das Modell war seinerzeit visionär, denn Messdaten aus höheren Luftschichten waren da-mals nur sporadisch verfügbar, auch gab es noch keine Computer, mit denen sich die Wetterent-wicklung schneller berechnen ließ, als sie eintrat (Nebeker 1995).

Seit den 1950er Jahren gibt es Versuche, auf Ba-sis von meteorologischem Wissen aktiv in das Wet-tergeschehen einzugreifen. John von Neumann entwickelte damals erste Entwürfe zur künstlichen Erzeugung von Wolken. Heute ist es räumlich be-grenzt möglich, Wolken zu erzeugen und sie zum Abregnen zu veranlassen, daneben lässt sich durch Landschaftsbau das Mikroklima beeinflussen. China unterhält ein eigenes ›Wetteränderungs-amt‹, Russland, die USA, Venezuela und die Ver-einten Arabischen Emirate betreiben Forschung in diese Richtung. Mit den Erfolgen der Wettersteue-rung geraten Wetterrisiken in der öffentlichen Er-wartung immer weiter in die politische Verant-wortlichkeit (Fleming 2012). Aktuell lässt sich an den Diskussionen um den anthropogenen Klima-wandel ablesen, wie gleichermaßen Tun als auch Unterlassen als Handeln attribuiert wird.

Die Literarizität der Meteorologie

Die Wissenschaftsprosa der akademischen Meteo-rologie bewegt sich innerhalb der Formate von Physik und Chemie. Eine eigene Ausdrucksweise entwickelt die Meteorologie in ihrer popularisier-

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972.7 Meteorologie

ten Gestalt als Wettervorhersage. Das Problem, dem sich die Poetiken der Wetterkunde stellen, heißt, Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die mete-orologischen Zukunftsaussichten herzustellen. Drei Momente dieser Poetiken erweisen sich dabei als besonders signifikant: Multiple Erzähler, Rheto-riken der Evidenz und Fragen der Autorschaft.

Multiple Erzähler: Moderne Wettervorhersage stellt ein kooperatives Unternehmen dar (Fine 2007, 136–150). Das gilt sowohl im kleinen Maß-stab für mehrere Schichten, die sich bei der Wetter-beobachtung ablösen, als auch im größerem als Zu-sammenarbeit zwischen den regionalen und natio-nalen Wetterzentren. Die gemeinsame Aufgabe besteht darin, eine konsistente Geschichte von den Wetterereignissen der Zukunft zu erzählen. Dabei tut sich ein Spannungsfeld auf, dessen einer Pol der Wunsch nach einer möglichst richtigen Voraussage des Wetters ist, dessen anderer Pol aber der Wunsch ist, die bisherige Erzählung nicht zu än-dern. Falsche Wettervorhersagen können zu erheb-lichen Schädigungen für Menschen und Güter füh-ren, aber auch Änderungen der Vorhersagen sind nicht umsonst. Jede Änderung ist mit sozialen Kos-ten verbunden, insofern sie die Kompetenz frühe-rer Erzähler infrage stellt. Verfolgt man die Verän-derungen der einen Wettergeschichte, findet man zwei narrative Strategien, das Spannungsfeld aus-zubalancieren: Die eine besteht darin, nur die kurz-fristige Prognose dem neusten Wissensstand anzu-passen, die andere spielt die Anpassungen herunter und gibt sie gar als ›Kompromiss‹ aus. Wenn die große Erzählung in regionale Varianten übertragen wird, lassen sich zusätzliche ›Anpassungen‹ errei-chen.

Rhetoriken der Evidenz: Wettergrößen stellen sonderbare Akteure dar. Sie scheinen nämlich zu ›handeln‹, gleichwohl fehlen ihnen dafür nach lebensweltlichem Ermessen die zwei zentralen Merkmale: Identitätskonstanz und Intentionalität. Deshalb strebt die Sprache der Wettervorhersagen danach, dieses verunsichernde Moment auszu-schließen. Auffällig ist, wie selten Verben gebraucht werden. In Fügungen wie »Am Montag sonnig, Dienstag zeitweise wolkig« dominieren Substantive und Adjektive. Die Veränderung in der Zeit wird in Listen aufgereiht. Die Sprache ist einfach, wirkt ge-radezu ›rhetorikfrei‹ und zielt auf einen Eindruck von Unmittelbarkeit und Evidenz (Fine 2007, 154). Eine breite Palette von Sichtbarkeitsworten und Metaphern bestimmt die Adjektive. Die Wirkungs-

absicht, die prognostizierte Zukunft als unzweifel-haft hinzustellen, wird meist unterstützt durch den intensiven Einsatz von Karten und anderen Visua-lisierungen (Monmonier 1999).

Autorschaft: Um der Wettervorhersage Glaub-würdigkeit zuzuschreiben, finden sich zwei gegen-läufige Tendenzen (Fine 2007, 152–172 und 209–235). Einserseits geht die Entwicklung dahin, die computerverarbeiteten Daten in ihrer wissen-schaftlichen Genauigkeit auch in den Prognosen zu repräsentieren. Man kann nicht nur detaillierte Isobarenkarten errechnen, sondern selbst die Ver-balform der Vorhersage unmittelbar von Compu-tern generieren lassen. Der Meteorologe wird da-bei, der Idee nach, zum bloßen Medium der Selbst-aussprache des Wetters. Andererseits passt sich der Wetterbericht immer stärker Infotainment-Forma-ten an. Deren Abnehmer sind weniger an physika-lischen Größen interessiert als an Planung ihrer Außenaktivitäten in den nächsten Tagen. Das führt dazu, dass die Vorhersagen emotional getönter werden und sich stärker am Erleben orientieren (z. B. ›gefühlte Temperatur‹, Bio-Wetter). Meteoro-logen entwickeln komplementär dazu innerhalb der formalistischen Grenzen der Wetterberichts-sprache einen starken Begriff von Autorschaft, in-dem sie ihre Vorhersagen nicht nur durch ein Na-menskürzel markieren, sondern auch durch einen Individualstil mit Lieblingsworten und Metaphern, die die abstrakte Materie in die Lebenswelt über-setzen (z. B. Kachelmanns ›Blumenkohlwolken‹). Das Publikum kennt seinen ›Wetterfrosch‹ oder seine ›Wetterfee‹, das bringt das Vertrauen in ihre Vorhersagen (oder macht sie als Wetteransager un-tragbar, wie der Fall Kachelmann zeigt).

Literarische Meteorologie

Menschliche Gesellschaften müssen ihren Umwelt-bezug organisieren, indem sie sich die Natur in symbolischen Formen anverwandeln. Mit der Ent-zauberung der Natur seit Beginn der Neuzeit er-setzt dabei ein anthropozentrisches Wetterwissen zunehmend die theologische Gefahrenabwicklung. Die residuale Rede von ›St. Petrus‹ oder dem ›Wet-tergott‹ zeigt aber, dass die Natur selbst heute zwar kontrollierbarer, keineswegs aber gänzlich be-herrschbar geworden ist. Die wissenschaftliche Meteorologie stellt die abstrakteste Form in einem Ensemble von Symboltechniken der Naturbeherr-

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98 2. Disziplinen

schung dar. Wetterwissen findet sich bereits auf der Ebene von inkorporierten Praxen und Materiali-tätskultur (z. B. Technik, Kleidung, Gebäude) in der Lebenswelt, dann aber auch domänenspezi-fisch (Landwirtschaft, Ökonomie, Recht u. a.). Man kann von einer ›Literarischen Meteorologie‹ spre-chen, um die spezifische Funktion der Literatur in diesem Dispositiv zu kennzeichnen. Einerseits be-teiligt sich die Literatur als unbegriffliches Wis-sensformat daran, ein Natural Imaginary zu etab-lieren. Damit ist ein Ordnungsrahmen im Sinne eines Naturbildes gemeint, der zugleich einen Ent-wurf des großen Ganzen darstellt, aber auch im normativen Sinne Verhaltensorientierung bietet. Indem die Künste diesen Rahmen popularisieren und verteidigen, entlasten sie abstraktere Symbol-formatierungen, so dass diese sich auf spezifischere Probleme einstellen können. Wenn die Künste die Ränder der symbolischen Ordnung bewirtschaf-ten, ergibt sich daraus ihre andere Funktion, auch im Jenseits dieser Grenze die Möglichkeiten und Grenzen der symbolischen Anverwandlungstech-niken zu erkunden. In Experimentalanordnungen stellen die Künste das Wetterwissen auf die Probe, indem sie kontrolliert die Gefährdungen der Natur wieder zulassen. Am konkreten Kunstwerk lassen sich beide Funktionen der Kunst selten eindeutig trennen (Braungart/Büttner 2013).

Das Verständnis von Literatur als ›Grenzdienst‹ an der symbolischen Ordnung der Gesellschaft soll den Leitfaden für die Kategorisierung literarischer Wetterkunde bilden: Stimmungen und Passionen stellen einen elementaren Umweltzugang dar, inso-fern hier Außen und Innen, Erfahrung und Sinnge-bung noch nicht klar unterschieden sind. Ist diese Unterscheidung etabliert, erkundet die Literatur zum einen, ob die erlebte Ordnung bzw. Unord-nung der Phänomene am Wetter selbst liegt oder Produkt von Symboltechniken ist. Zum anderen erprobt die Literatur die Möglichkeiten und Gren-zen von Symboltechniken der Wetterbeherr-schung.

Passionen und Stimmungen: Die lateinische Wortherkunft von ›Passionen‹ zeigt ihre Zwischen-lage. Einerseits werden die Leidenschaften wie von außen kommend ›erlitten‹, andererseits ist der menschliche Körper der Ort, an dem sie als Reak-tion ›statthaben‹. Mit dem Wetter scheint es offen-bar ganz ähnlich zu sein. So kommt denn auch kein barockes Märtyrerdrama ohne die ›Winde der Lei-denschaften‹ aus. Wetter und Emotionen metapho-

risieren sich wechselseitig. Eine konzeptionelle Veränderung geschieht mit der Auflösung des on-tologischen Kontinuums von Mensch und Natur, deren Nachfolge ein subjektzentriertes Weltbild antritt. In Empfindsamkeit und Romantik scheint das Wetter oft der Gemütslage des Helden zu ge-horchen. Die Literatur des 19. Jh.s balanciert die Innen-Außen-Dichotomie langsam aus. Für ein auktoriales Erzählen erweist sich das Wetter als so einfaches wie effektives Kunstmittel, um Figuren zu charakterisieren und Szenen als ›heiter‹ oder ›spannungsvoll aufgeladen‹ zu kennzeichnen (De-lius 1971; Kuhlmann 1995). Auch aus dem 20. Jh. ließen sich Beispiele für eine fortwährende Wetter-dramaturgie beibringen.

Die Meteorologie versucht die Macht des Wet-ters zu domestizieren. Von daher steht der Meteo-rologe metaphorisch für die Selbstbeherrschung der Leidenschaften. In diesem Sinne stellt Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) explizit den Bezug zwischen Leidenschaften und wissenschaftlicher Wetterkunde her. Gleich zu Beginn des Romans bittet Heinrich Drendorf den Herrn von Risach da-rum, auf seinem Gut übernachten zu dürfen, weil er ein nahendes Gewitter fürchtet. Der Gutsherr gewährt ihm gerne seinen Wunsch, prognostiziert aber richtig, dass das Gewitter sich an anderer Stelle abregnen werde. Im Laufe des Romans zeigt sich, dass die Wetterkunde Teil eines umfassenden Ordnungssystems aller Lebensbereiche Risachs ist, das sich als kompensative Gegenmaßnahme zu den als junger Mann durch seine Liebesleidenschaften erlittenen Verletzungen darstellt. Die Metapher er-scheint ähnlich in Jakob Christoph Heers Heimat-roman Der Wetterwart (1905), wo sich die Hauptfi-gur, die der Liebe entsagt hat, auf eine Messstation auf einen Berg zurückzieht. Möglicherweise ver-liert dieser metaphorische Konnex seine Plausibili-tät mit einer Vorstellung einer eigenen Rationalität von Emotionen im 20. Jh.

Sinnhafte Naturordnung/Sinnhafte Symbolord-nung: Die kosmische Ordnung zu erkennen, erweist sich bereits in der frühen Neuzeit als Problem. Ge-lingt in John Miltons Paradise Lost (1667) die physi-kotheologische Einordnung von Wetterphänome-nen, so legt William Shakespeare in Hamlet (1603) nahe, dass Wolkendeutungen mehr über den Inter-preten als über die Himmelsordnung aussagen. Die Literatur ab etwa 1800 bewegt sich in einem weiten Feld zwischen dem Zweifel an der Lesbarkeit der Welt und ihrer ästhetischen Restitution. Überwiegt

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992.7 Meteorologie

bei Heinrich von Kleist eher der Zweifel, so äußert sich Novalis über die Chiffrenschrift des Himmels, und Achim von Arnim projektiert eine ›Meteorolo-gie‹ als universalistisch-enzyklopädische Natur-kunde. Ihm ging es darum, die Ergebnisse der ein-zelnen Naturwissenschaften wieder ästhetisch zu einem einheitlichen Naturbild zusammenzuführen. Als wenig spezialisierte Naturwissenschaft, die Er-kenntnisse aus Chemie, Physik, Geologie u. a. ver-bindet, sollte das Fach über die Wetterkunde hinaus erweitert werden. Zwischen diesen Polen liegen Lichtenbergs Position, der überlegt, wieweit sich Nicht-Wissen fiktional ausgleichen lässt, Johann Wolfgang Goethes »Wolkengestalt nach Howard« (1820) (vgl. Sommerhalder 1993), der hinter den ephemeren Erscheinungen eine morphologische Ordnung vermutet, und Stifter, der in »Das Haide-dorf« (1840/44) und »Abdias« (1842) das Wetter-geschehen zwischen naturwissenschaftlicher und schicksalhafter Deutung diskutiert. Sentimentalisch spielen Texte wie Theodor Storms »Die Regen-trude« (1863), Kurd Lasswitz ’ Aspira (1905) und George R. Stewarts The Storm (1941) mit animisti-schen Vorstellungen, wenn sie Wettergrößen zu Protagonisten machen.

Karl Philipp Moritz ’ Aufsatz »Sprache in psy-chologischer Rücksicht« (1783) steht in einer Reihe mit Überlegungen Wilhelm v. Humboldts und Walter Benjamins, die die ephemeren Himmels-phänomene als Paradefall einer Sprachtheorie neh-men. Da sich die Wetterscheinungen in stetigem Wandel befinden, ergibt sich ein Referenzproblem für Begriffe (Guldin 2006, 18–27). Dieses Problem wird aber poetologisch auch positiv aufgelöst, denn die dichterische Sprache will ja nicht signifikativ sein, sondern ein vages, unerschöpfliches Gebilde, das wie das Wetter die Einbildungskraft stets her-ausfordert. Solche Überlegungen finden sich be-reits in Shakespeares The Tempest (1611), aber auch bei Samuel Taylor Coleridge und Charles Baudelaire (Reed 1983) und schreiben sich in der Moderne fort. Übersetzt man temps mit ›Wetter‹, dann kann man Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1908–22) als Genese einer Poetik aus dem Geist der Wetterkunde lesen. Am Ende von Uwe Timms Morenga (1978) entwickelt der Pro-tagonist in Wetterbeobachtungen eine Sprache, die ihrem Referenten keine epistemische Gewalt antut, in Peter Webers Der Wettermacher (1993) wird das ›Wetter machen‹ zur Metapher dichterischen Schreibens, Wolf Haas zeigt in Das Wetter vor 15

Jahren (2006) die Vielfalt der Idiome, mit denen sich die Sprache das Wetter anverwandelt.

Daneben finden sich Romane zweiter Ordnung, die ihren Stoff aus meteorologischen Symbolisie-rungspraxen gewinnen, indem sie der Biographie von Meteorologen folgen. Als Beispiele dafür seien nur die entsprechenden Passagen über Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Die Vermes-sung der Welt (2005), Stéphane Audeguys um ei-nige fiktive Figuren erweiterte Geschichte der Wet-terforschung in La Théorie des Nuages (2005) oder Jo Lendles Roman Alles Land (2011) über den Po-larforscher Alfred Wegener genannt.

Naturbeherrschung/Kontingenz der Natur: Vom barocken Herrscherdrama über Kleists und Fried-rich Hölderlins nationalpatriotische Dichtungen bis zum Wetterbericht in Alfred Döblins Groß-stadtroman Berlin Alexanderplatz (1929) verbreitet die Literatur dasselbe Natural Imaginary, lotet aber auch immer wieder die Grenzen der gouvernemen-talen Macht aus. Entsprechend findet sich der Nar-rationstyp der ›(nicht-)normalen Fahrt‹ hier fast immer, wenn es um Fliegerei und Schifffahrt geht. Dieses Spannungsgefüge von Macht und Ohn-macht erfährt seit Ende des 19. Jh.s eine Zuspitzung in beide Richtungen. Einerseits wurde die Wetter-vorhersage zum Phantasma der direkten Steuerung des Wetters gesteigert, noch bevor dies technisch möglich war. Was früher Märchen- und Sagenmo-tiv war, wurde jetzt zur technischen Vision moder-ner Helden. In Karl Mays Erzählung Deadly Dust (1880) retten sich die Protagonisten vor dem Ver-dursten im Llano Estakado, indem sie Regen ma-chen, in den Science-Fiction-Romanen Himmels-kraft (1937) von Hans Dominik, Heavy Weather (1994) von Bruce Sterling, schließlich in Waffen-wetter (2007) von Dietmar Dath kämpfen die Hel-den gegen finstere Mächte, die das Wetter als Waffe missbrauchen. In Giles Fodens Turbulence (2009) geht es darum, den Tag mit den idealen Wetterbe-dingungen für die Invasion in der Normandie zu berechnen. Im Gegensatz dazu wenden die Stücke von Erich Mühsam Alle Wetter (1930) und von N. Richard Nash The Rainmaker (1954) die Gewalt über das Wetter eher macht- und gesellschaftskri-tisch.

Gegenüber diesen Machtphantasien findet sich auch ein radikaler Zweifel an der menschlichen Weltbeherrschung in der Literatur. Die Geschichte erscheint als blindes und chaotisches Naturgesche-hen. Der berühmte Anfang von Robert Musils

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Mann ohne Eigenschaften (1921–32), der mit me-teo rologischer Sprache spielt, eröffnet eine solche Kontingenzpoetik des Romans. Friedrich Dürren-matt spielt mit ähnlichen Gedanken in seiner Er-zählung Die Panne (1956) und formuliert in dem Roman Justiz (1959–60/1980/1985) den Unter-schied zwischen dem Historiker und dem Meteo-rologen. Während der Historiker fälschlicherweise glaubt, den Weltgeist im Griff zu haben, ist der Me-teorologe Wissenschaftler, wagt nur Kurzfristprog-nosen und hält die Welt für undurchschaubar. In diesem Sinne plädiert er für eine meteorologische Geschichtsbetrachtung. Sowohl in Tanja Dückers ’ Himmelskörper (2003) als auch in Hans Joachim Schädlichs Anders (2003) untersuchen Meteorolo-gen die deutsche Nazi-Vergangenheit. Beide Ro-mane erproben dabei eine Betrachtungsweise, die die Grausamkeiten wie etwas, das sich zufällig er-eignet hat, ansehen. Sie verweigern sich einem sinnhaften Geschichtslauf. Mit Normalisierungs-mechanismen relativieren sie die Singularität der Verbrechen. Beide Romane stellen die Frage nach einer historisch angemessenen Ästhetik zur Dar-stellung des Dritten Reichs. Postmoderner nehmen David Mitchells Cloud Atlas (2004) und Silvio Hu-onders Valentinsnacht (2006) die meteorologische Geschichtsbetrachtung auf, indem sie ein ironi-sches Spiel damit treiben, ob nicht scheinbarer Zu-fall doch auf einer nur noch nicht verstandenen hö-heren Ordnung und Teleologie beruht.

Literatur

Anderson, Katharine: Predicting the Weather. Victorians and the Science of Meteorology. Chicago/London 2005.

Braungart, Georg/Büttner, Urs (Hg.): Wind und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik. München 2013.

Delius, Friedrich Christian.: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Ro-man des bürgerlichen Realismus. München 1971.

Fine, Gary Allen: Authors of the Storm. Meteorologists and the Culture of Prediction. Chicago/London 2007.

Fleming, James Roger: Fixing the Weather. The Checkered History of Weather and Climate Control. New York/Chicester 2012.

Golinski, Jan: British Weather and the Climate of Enligh-tenment. Chicago/London 2007.

Guldin, Rainer: Die Sprache des Himmels. Eine Geschichte der Wolken. Berlin 2006.

Janković, Vladimir: Reading the Skies. A Cultural History of English Weather 1650–1820. Chicago/London 2000.

Klettke, Cornelia/Maag, Georg (Hg.): Reflexe eines Um-welt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der Romania. Eigentliches und uneigentliches Schreiben zu einem sich verdichtenden globalen Problem. Berlin 2010.

Kuhlmann, Thomas: Vermenschlichte Natur. Zur Bedeu-tung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy. Tübingen 1995.

Monmonier, Mark: Air Apparent. How Meteorologists Learned to Map, Predict and Dramatize Weather. Chi-cago/London 1999.

Nebeker, Frederik: Calculating the Weather. Meteorology in the 20th Century. San Diego u. a. 1995.

Reed, Arden: Romantic Weather. The Climates of Cole-ridge and Baudelaire. Hanover, NH 1983.

Sommerhalder, Mark: »Pulsschlag der Erde!« Die Meteo-rologie in Goethes Naturwissenschaft und Dichtung. Bern u. a. 1993.

Urs Büttner

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