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©Bund Deutscher Feuerwerker und Wehrtechniker Mitteilung 2/2008 20 LOST – König der Kampfstoffe Die unendliche Umweltgeschichte – Teil 1 Vorwort Beruflich bedingt hatte ich mich um die Jahrtausendwende intensiv mit dem Hautkampfstoff Lost und seiner Geschichte beschäftigt. Da sich das Thema als recht spannend erwies, entschloss ich mich zu einer Veröffentlichung. Eine Vorstellung, wie lang das Ganze werden sollte, hatte ich nicht. Ich fing einfach mal an, zu schreiben. Nach und nach konnte ich aus ganz Deutschland Kampfstoff-Fachleute für Gastbeiträge gewinnen. Von 2000 bis zum Jahr 2002 erschienen dann in der LGA-Rundschau, dem Veröffentlichungsorgan meines Arbeitgebers, die ersten vier Teilbei- träge unter dem Titel „Lost – der König der Kampfstoffe“. Dann wurde die Rundschau „eingestampft“. An ihre Stelle trat die LGA Impulse, ein sicherlich moderneres „leanes“ Organ, in dem aber längere Fachartikel keinen Platz mehr fanden. Das war’s dann mit dem König der Kampfstoffe ... Auch Jahre danach erhielt ich immer wieder positive Resonanz auf den Artikel, nicht nur aus Fachkreisen. Er sei spannend zu lesen, aber trotzdem fachlich und informativ. Er wurde schließlich sogar bei e-bay versteigert. Soviel ich mitbekommen habe, hat aber niemand geboten. Aber immerhin! Im Jahr 2008 hat dann der BDFWT zu mir Kontakt aufgenommen, ob man den Lost-Artikel nicht in den Mitteilungen bringen könnte ... Ja natürlich, gerne! Hier sind also zunächst einmal die ersten vier Teile, die ohne redaktionelle Änderungen aus der Rundschau über- nommen sind. Und mal sehen, vielleicht lässt sich ja der eine oder andere der damaligen Gastautoren reaktivieren und wir setzen gemeinsam dieses spannende Thema fort. Alexander Schwendner im März 2008 Einleitung Seitdem die Problematik der Rüstungsaltlasten etwa ab Mitte der achtziger Jahre mehr und mehr in unser Umwelt- bewusstsein gerückt ist, sehen sich Politiker und Umwelt- behörden zunehmend auch mit einer Stoffgruppe konfrontiert, die lange Zeit in Vergessenheit geraten bzw. als unangenehme Erinnerung an unsere nationalsozialisti- sche Vergangenheit tabuisiert worden war – die chemi- schen Kampfstoffe. Leider wird diese „mehr als explosive Thematik“ seitens der Medien und auch seitens der Bevölkerung sehr emo- tionsgeladen diskutiert – überall dort wo das Schlagwort „Giftgas“ fällt, macht sich beinahe eine Art Panik breit. In vielen Fällen ist dies, worauf man als Fachmann immer wie- der hinweisen muss, unbegründet: Viele chemische Kampf- stoffe sind in der Umwelt nicht persistent und werden bei Zutritt von Wasser mehr oder minder rasch entgiftet. Doch ist unter den zahllosen Substanzen, die wir – als „Krone der Schöpfung“ – uns je ausgedacht haben, ein Stoff dabei, der – auch nach fünfzig Jahren im Boden ein- gegraben – noch heute bei Kontakt tödlich sein kann: Der Hautkampfstoff Lost. Die heimtückische Problematik des Lost musste ich mir stets von Neuem vor Augen führen, als ich für die Heeres- munitionsanstalt Feucht ein gefahrloses Erkundungskon- zept zu entwickeln hatte. Der Feuchter Standort ist einer von mehreren bayerischen Rüstungsaltstandorten mit Kampfstoffverdacht. Doch wie kam es überhaupt zur Entwicklung einer derart menschenverachtenden Waffe? Um die Zusammenhänge zu verstehen, müssen wir weit in unsere Vergangenheit reisen – ja wir lassen auch den Nationalsozialismus hinter uns – zunächst jedenfalls. Es geht also um deutsche Geschichte. Bei manchem Leser mag dieses Wort unange- nehme Erinnerungen an die Schulzeit wecken und ich muss gestehen, dass ich in der Geschichtsstunde auch des öfteren wegen Krankheit gefehlt habe. Doch keine Angst, ich habe versucht, die geschichtlichen Zusammen- hänge, ohne die man die militärchemischen Entwicklun- gen nicht nachvollziehen kann, möglichst spannend darzustellen. Nun, Kampfstoffe und Lost sind ein sehr komplexes Feld, das für einen allein schon fast nicht mehr zu überschauen bzw. darzustellen ist. Ich freue mich, dass es mir gelungen ist, einige der renommiertesten Spezialisten zum Thema Lost in Deutschland als Gastautoren zu dieser Thematik zu gewinnen. Herzlichen Dank an dieser Stelle für die Mit- arbeit. Doch steigen wir nun unverzüglich in unsere Zeit- maschine ein. Unseren Chronometer stellen wir auf das Jahr 1822 ein. Eine folgenreicheEntdeckung Es erstaunt, dass der Anfang unserer Lost-Geschichte sehr weit, nämlich bis in das Jahr 1822 zurückreicht, als ein gewisser César Mansuète Despretz (1792-1863) die Verbindung Dichlordiethylsulfid (erst später als Lost bezeichnet) aus Ethen und Chlorschwefel erstmals syn- thetisiert hat. Sicherlich geschah dies damals mehr zufäl- lig bzw. aus rein wissenschaftlichen Gründen, denn die aggressive und dadurch möglicherweise „nutzbringen- de“ Wirkung der Verbindung wurde erst viel später im Jahr 1860 von dem deutschen Chemiker Alfred Niemann (1834-1861) entdeckt. Eine komplette Prüfung der physikalisch-chemischen Eigenschaften nahm schließlich der Chemiker Viktor Meyer (1848-1897) im Jahr 1886 vor – der König der Kampfstoffe war geboren und „durchgecheckt“. Doch dieses „Durchchecken“ hatte vermutlich bereits Folgen. In Meyers Biographie heißt es: Oft zwangen Viktor Meyer in den letzten Jahren denn auch leichtere und schwerere Erkrankungen, seine Tätigkeit zu unterbrechen und Erho- lung zu suchen, die er aber nur unvollkommen fand. Um schlafen zu können, nahm er Schlafmittel ein, die wohl auch schädliche Nebenwirkungen hatten und dazu beitru- gen, sein Nervensystem noch mehr zu zerrütten. So erlitt er zuletzt des Öfteren Zusammenbrüche, und bei einem schied er um seinem unerträglich gewordenen Zustand ein Ende zu bereiten, in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1897 freiwillig aus dem Leben. Aus heutiger Sicht erscheint sein Tod in anderem Licht, denn die Spätfolgen von Lostvergiftungen wurden erst in der Zeit nach dem 2. WK bekannt. Heute weiß man, dass auch erst 10-15 Jahre nach einer Lostexposition sowohl neurotische Störungen, wie Depressionen und Persön- lichkeitsverluste als auch körperliche Spätschäden, wie Kräfteverfall, Anfälligkeit für Sekundärkrankheiten und jahrelanges Siechtum als Symptome auftreten – doch dazu wird Frau Dr. Linke noch ausführlicher berichten. Lost wurde also rein zufällig und zweckfrei von Wissen- schaftlern generiert. Damals im Kaiserlichen Deutschland dachte freilich noch niemand – weder Forschung noch Militär – über die Verwendbarkeit der Substanz als Waffe nach – zunächst jedenfalls nicht. Dies sollte immerhin noch 30 Jahre dauern. Heute muss man sich fragen, wie es im „zivilisierten Europa“ der damaligen Zeit überhaupt zu einem Mas- Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten.

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Mitteilung 2/200820

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 1

VorwortBeruflich bedingt hatte ich mich um die Jahrtausendwende intensiv mit dem Hautkampfstoff Lost und seinerGeschichte beschäftigt. Da sich das Thema als recht spannend erwies, entschloss ich mich zu einer Veröffentlichung.Eine Vorstellung, wie lang das Ganze werden sollte, hatte ich nicht. Ich fing einfach mal an, zu schreiben. Nach undnach konnte ich aus ganz Deutschland Kampfstoff-Fachleute für Gastbeiträge gewinnen. Von 2000 bis zum Jahr 2002erschienen dann in der LGA-Rundschau, dem Veröffentlichungsorgan meines Arbeitgebers, die ersten vier Teilbei-träge unter dem Titel „Lost – der König der Kampfstoffe“. Dann wurde die Rundschau „eingestampft“. An ihre Stelletrat die LGA Impulse, ein sicherlich moderneres „leanes“ Organ, in dem aber längere Fachartikel keinen Platz mehrfanden. Das war’s dann mit dem König der Kampfstoffe ...Auch Jahre danach erhielt ich immer wieder positive Resonanz auf den Artikel, nicht nur aus Fachkreisen. Er seispannend zu lesen, aber trotzdem fachlich und informativ. Er wurde schließlich sogar bei e-bay versteigert. Sovielich mitbekommen habe, hat aber niemand geboten. Aber immerhin! Im Jahr 2008 hat dann der BDFWT zu mir Kontakt aufgenommen, ob man den Lost-Artikel nicht in den Mitteilungen bringen könnte ... Ja natürlich, gerne! Hier sind also zunächst einmal die ersten vier Teile, die ohne redaktionelle Änderungen aus der Rundschau über-nommen sind. Und mal sehen, vielleicht lässt sich ja der eine oder andere der damaligen Gastautoren reaktivierenund wir setzen gemeinsam dieses spannende Thema fort. Alexander Schwendner im März 2008

EinleitungSeitdem die Problematik der Rüstungsaltlasten etwa abMitte der achtziger Jahre mehr und mehr in unser Umwelt-bewusstsein gerückt ist, sehen sich Politiker und Umwelt-behörden zunehmend auch mit einer Stoffgruppekonfrontiert, die lange Zeit in Vergessenheit geraten bzw.als unangenehme Erinnerung an unsere nationalsozialisti-sche Vergangenheit tabuisiert worden war – die chemi-schen Kampfstoffe.Leider wird diese „mehr als explosive Thematik“ seitensder Medien und auch seitens der Bevölkerung sehr emo-tionsgeladen diskutiert – überall dort wo das Schlagwort„Giftgas“ fällt, macht sich beinahe eine Art Panik breit. Invielen Fällen ist dies, worauf man als Fachmann immer wie-der hinweisen muss, unbegründet: Viele chemische Kampf-stoffe sind in der Umwelt nicht persistent und werden beiZutritt von Wasser mehr oder minder rasch entgiftet.Doch ist unter den zahllosen Substanzen, die wir – als„Krone der Schöpfung“ – uns je ausgedacht haben, einStoff dabei, der – auch nach fünfzig Jahren im Boden ein-gegraben – noch heute bei Kontakt tödlich sein kann:

Der Hautkampfstoff Lost.Die heimtückische Problematik des Lost musste ich mirstets von Neuem vor Augen führen, als ich für die Heeres-munitionsanstalt Feucht ein gefahrloses Erkundungskon-zept zu entwickeln hatte. Der Feuchter Standort ist einervon mehreren bayerischen Rüstungsaltstandorten mitKampfstoffverdacht.Doch wie kam es überhaupt zur Entwicklung einer derartmenschenverachtenden Waffe? Um die Zusammenhängezu verstehen, müssen wir weit in unsere Vergangenheitreisen – ja wir lassen auch den Nationalsozialismus hinteruns – zunächst jedenfalls. Es geht also um deutscheGeschichte. Bei manchem Leser mag dieses Wort unange-nehme Erinnerungen an die Schulzeit wecken und ichmuss gestehen, dass ich in der Geschichtsstunde auchdes öfteren wegen Krankheit gefehlt habe. Doch keineAngst, ich habe versucht, die geschichtlichen Zusammen-hänge, ohne die man die militärchemischen Entwicklun-gen nicht nachvollziehen kann, möglichst spannenddarzustellen.Nun, Kampfstoffe und Lost sind ein sehr komplexes Feld,das für einen allein schon fast nicht mehr zu überschauenbzw. darzustellen ist. Ich freue mich, dass es mir gelungenist, einige der renommiertesten Spezialisten zum ThemaLost in Deutschland als Gastautoren zu dieser Thematik zugewinnen. Herzlichen Dank an dieser Stelle für die Mit-arbeit. Doch steigen wir nun unverzüglich in unsere Zeit-

maschine ein. Unseren Chronometer stellen wir auf dasJahr 1822 ein.

Eine folgenreicheEntdeckungEs erstaunt, dass der Anfang unserer Lost-Geschichtesehr weit, nämlich bis in das Jahr 1822 zurückreicht, alsein gewisser César Mansuète Despretz (1792-1863) dieVerbindung Dichlordiethylsulfid (erst später als Lostbezeichnet) aus Ethen und Chlorschwefel erstmals syn-thetisiert hat. Sicherlich geschah dies damals mehr zufäl-lig bzw. aus rein wissenschaftlichen Gründen, denn dieaggressive und dadurch möglicherweise „nutzbringen-de“ Wirkung der Verbindung wurde erst viel später imJahr 1860 von dem deutschen Chemiker Alfred Niemann(1834-1861) entdeckt.Eine komplette Prüfung der physikalisch-chemischenEigenschaften nahm schließlich der Chemiker ViktorMeyer (1848-1897) im Jahr 1886 vor – der König derKampfstoffe war geboren und „durchgecheckt“. Dochdieses „Durchchecken“ hatte vermutlich bereits Folgen.In Meyers Biographie heißt es: Oft zwangen Viktor Meyerin den letzten Jahren denn auch leichtere und schwerereErkrankungen, seine Tätigkeit zu unterbrechen und Erho-lung zu suchen, die er aber nur unvollkommen fand. Umschlafen zu können, nahm er Schlafmittel ein, die wohlauch schädliche Nebenwirkungen hatten und dazu beitru-gen, sein Nervensystem noch mehr zu zerrütten. So erlitter zuletzt des Öfteren Zusammenbrüche, und bei einemschied er um seinem unerträglich gewordenen Zustandein Ende zu bereiten, in der Nacht vom 7. auf den 8.August 1897 freiwillig aus dem Leben.Aus heutiger Sicht erscheint sein Tod in anderem Licht,denn die Spätfolgen von Lostvergiftungen wurden erst inder Zeit nach dem 2. WK bekannt. Heute weiß man, dassauch erst 10-15 Jahre nach einer Lostexposition sowohlneurotische Störungen, wie Depressionen und Persön-lichkeitsverluste als auch körperliche Spätschäden, wieKräfteverfall, Anfälligkeit für Sekundärkrankheiten undjahrelanges Siechtum als Symptome auftreten – doch dazuwird Frau Dr. Linke noch ausführlicher berichten.Lost wurde also rein zufällig und zweckfrei von Wissen-schaftlern generiert. Damals im Kaiserlichen Deutschlanddachte freilich noch niemand – weder Forschung nochMilitär – über die Verwendbarkeit der Substanz als Waffenach – zunächst jedenfalls nicht. Dies sollte immerhinnoch 30 Jahre dauern.Heute muss man sich fragen, wie es im „zivilisierten Europa“ der damaligen Zeit überhaupt zu einem Mas-

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnbergmit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard

Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten.

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Mitteilung 2/2008 21

seneinsatz immer toxischerer chemischer Kampfstoffekommen konnte. Nun, es war eine schleichende che-misch-kriegerische Eskalation, die mit einer stufenweisenAbschaltung der Gewissen aller kriegsführenden Par-teien, insbesondere aber des Deutschen Generalstabeseinherging. Doch wollen wir nichts überstürzen, einesnach dem anderen. Nachdem wir die Entdeckung undTestung des Losts geklärt haben, werfen wir einen Blickauf die damaligen politischen Verhältnisse:

Schlieffenplan, Stellungskrieg undMunitionskriseSo brach im Jahr 1914 der Erste Weltkrieg aus. Wer nuneigentlich angefangen hat, soll uns an dieser Stelle nichtinteressieren. Trotz der erwähnten massiven waffentech-nischen und personellen Aufrüstung der DeutschenReichswehr und der Marine in den Vorkriegsjahren warDeutschland keinesfalls für einen langen Krieg gerüstet.

Der Erste Weltkrieg ein Krieg für denniemand gerüstet warSchon bei der Gründung im Jahr 1871 war das DeutscheKaiserreich seinen Nachbarn Frankreich und Österreich-Ungarn an Bevölkerungszahl (67 Millionen Einwohner),Fläche, wirtschaftlicher Kraft und militärischer Stärkeüberlegen. Durch die Reichsgründung noch zusätzlichverstärkt nahmen Industrie und Wirtschaft einen rasantenAufschwung: Die industrielle Produktion versechsfachtesich bis zum Ersten Weltkrieg, die Ausfuhren vervierfach-ten sich. Industrielle Zentren waren das Ruhrgebiet, dasSaarrevier, Oberschlesien und Sachsen. Berlin entwickel-te sich zum Zentrum von Handel und Gewerbe und zumwichtigsten Standort der Leichtindustrie.Durch dieses Wachstum gestärkt war die damalige Zeitdurch imperialistisches Streben nach Kolonien und einerdamit einhergehenden militärischen Aufrüstung gekenn-zeichnet. Die ausgleichende Außenpolitik Bismarcks wurde von Kaiser Wilhelm jedoch nicht fortgesetzt. Dieshatte zur Folge, dass die europäischen Mächte begannen,das neue, weltpolitisch auftrumpfende Deutsche Reich alsbedrohlichen Störenfried zu empfinden. So wurdeDeutschland immer wieder in außenpolitische Konflikteverwickelt, die von Kaiser Wilhelm II bewusst in Kaufgenommen wurden, und die schließlich darin endeten,dass sowohl England als auch Frankreich und Russlandsich abwendeten und Deutschland nur noch Österreich-Ungarn als Bündnispartner hatte.Doch leider kam Deutschland nicht zur Vernunft, imGegenteil: Dieses Gefühl, eingekreist zu sein, löste inDeutschland eine trotzige Stimmung des „Nun erst recht“aus. Dieser Zustand wird von Historikern heute treffendals „neurotischer Massennationalismus“ bezeichnet.

Der deutsche Chemiker Victor Meyer (Bildquelle Deutsches Museum München).

So setzte die damalige Oberste Heeresleitung (OHL)unter dem Oberbefehlshaber Helmuth von Moltke allesauf einen Blitzkrieg.Der sogenannte „Schlieffenplan“ sah vor, Frankreich ent-scheidend zu schlagen, bevor Russland den OstenDeutschlands erobern konnte. Diese Zielsetzung nahmdas Risiko eines frühen russischen Vorstoßes nach Westenund eines französischen Angriffs auf Elsass-Lothringen inKauf, so dass 5 Armeen in einem gigantischen, westlichgerichteten Vorstoß durch Belgien und Luxemburg wür-den vordringen können, gefolgt von einem südlichenSchwenk nach Frankreich. Die ganze Operation solltegenau 42 Tage dauern.Der Plan war bereits zwischen 1897 und 1905 vom damali-gen Chef des deutschen Generalstabs, Alfred von Schlief-fen, entwickelt worden und wurde nun von seinemNachfolger, General Helmuth von Moltke, im August 1914in die Tat umgesetzt. Am 1. August 1914 war die deutscheMobilisierung in vollem Gang. Zwischen dem 1. und 3.

Historie des Königs der Kampfstoffe1822Despretz erhält aus Äthylen und Schwefelchlorür einezähe, unangenehm riechende Flüssigkeit (unreinesDichlordiethylsulfid)1854Riche lässt Chlor auf Äthylsulfid einwirken und erhältunreines Dichlordiethylsulfid1860Guthrie untersucht ein über Schwefeldichlorid undÄthylen erhaltenes unreines, nicht destilliertes Produktund beschreibt dessen physiologische Wirkung. Ergibt an, dass der Stoff in Dampfform auf zarte Hautstel-len wirkt; das Produkt scheint sehr unrein gewesen zusein, da er Geschmacksproben vornehmen konnte.1860Niemann erhält unabhängig von Guthrie aus einemChlorschwefelgemisch und Äthylen ein unreinesDichlordiethylsulfid, dessen gefährliche physiologi-sche Eigenschaften er beschreibt1886Viktor Meyer stellt das reine Dichlordiethylsulfid dar,durch Umsatz von Thiodiglycol mit Phosphortrichlorid1916Im Sommer 1916 sollen nach englischen Berichten diephysiologischen Eigenschaften von Dichlordiethylsul-fid und seine Verwendbarkeit als Kampfstoff geprüftworden sein. Von einer Verwendung als Kampfstoffwurde auf Grund unbefriedigender ErgebnisseAbstand genommen. Auch auf französischer Seite wur-den in diesem Jahr die Kampfstoffeigenschaften vonDichlordiethylsulfid für unzureichend erklärt.1917Auf Grund der Ergebnisse von Flury, Haber, Lommel,Steinkopf u. a. wurde von deutscher Seite der militäri-sche Wert des Dichlordiethylsulfids erkannt. Für dieanfangs als „V-M-Stoff“ bezeichnete Substanz wurdenach langen Versuchen zur industriellen Herstellungder Deckname „Lost“ gewählt, wahrscheinlich gebil-det aus den Namen Lommel und Steinkopf; Die häufigverwendete Bezeichnung „Gelbkreuz“ rührt von derFarbmarkierung von mit Lost gefüllter Munition mittelseines gelben Kreuzes her. Im Juli 1917 findet der ersteDeutsche Einsatz statt.

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Mitteilung 2/200822

August besetzte die 4. Armee Luxemburg, am Tag daraufdrangen die ersten Vorausabteilungen in Belgien ein.Doch die Strategie ging nicht auf. Der deutsche Vor-marsch wurde bereits zu Kriegsbeginn jäh durch diehistorische Schlacht an der Marne (6.-9. September 1914)gestoppt. Es entstand eine Frontlinie von der Kanalküsteüber Reims und Verdun bis zur Schweizer Grenze, die auseinem System von Schützengräben und Artilleriestellun-gen bestand. Was folgte, war ein menschen- und materi-alzehrender Stellungskrieg bei dem es für keine derKriegsparteien mehr als ein paar Kilometer Landgewinngab. Ähnlich den heutigen Bundesligaverhältnissen musste Moltke nach der Niederlage zurücktreten.Neuer Chef des Generalstabes des Feldheeres wurde derpreußische Kriegsminister, Generalleutnant Erich von Falkenhayn (1865-1937), ein kluger Kopf, wie sich schnellzeigte. Nach einem Gespräch mit Walther Rathenau, demdamaligen Chef der AEG, begriff Falkenhayn sehrschnell, dass Deutschland vor großen Schwierigkeitenstand. Die Auflösung der internationalen Beziehungenund die damit verbundene Kappung der Versorgungs-stränge hatten zu einem gravierenden Rohstoffmangelgeführt. Insbesondere die Salpeterlieferungen aus Chilewaren abgeschnitten. Und ohne Salpeter, der für dieNitrierung benötigt wurde, konnte weder Pulver nochSprengstoff hergestellt werden. Eine Munitionskrise standunmittelbar bevor.So gründete Falkenhayn etwas bis dato neues, eineKriegsrohstoffbehörde. Sie hatte zwei Aufgaben: ErstensRationalisierung und Verteilung strategisch wichtigerRohstoffe und zweitens Herstellung synthetischer Alterna-tiven des Salpeters. Kurzerhand wurde Rathenau zumChef der neuen Behörde ernannt. Die synthetischen

Alternativen des Salpeters waren im Labormaßstabbereits erfolgreich von dem deutschen Chemiker FritzHaber, von dem wir noch hören werden, gelöst worden.Die großtechnische Umsetzung erfolgte dann inZusammenarbeit mit Carl Bosch in den BASF-Werken inLudwigshafen.Die künstliche Ammoniaksynthese wurde später weltweitunter dem Namen „Haber-Bosch-Verfahren“ berühmt.Weitere Anlagen entstanden in Oppau und Leuna. Durchdas neue Verfahren konnte nun zwar Nitriersäure in nahe-zu beliebigen Mengen hergestellt werden, doch stelltesich nun immer mehr ein Mangel an den Ausgangspro-dukten für die Sprengstoffherstellung (Toluol, Nitrophe-nol) ein. Dies ist nicht verwunderlich – einigeZahlenbeispiele sollen zeigen, welche enormen Muni-tionsmengen an den Fronten tagtäglich verbraucht wur-den:Bei einem Angriff auf Gorlice am 2. 5. 1915 verschoss diedeutsche Seite auf einer Angriffsfront von nur 15 km aus1.275 Geschützen 210.000 Granaten. Frankreich verfeuer-te bei der Schlacht an der Somme 2,5 Mio. Geschosse. Inmanchen Schlachten lag der Munitionsverbrauch bei10.000 t pro Tag. Trotz Ammoniaksynthese und Kriegs-rohstoffbehörde – einen Munitionsnachschub in dieserGrößenordnung konnte das Deutsche Reich nicht leisten.

Giftgas als AuswegFalkenhayn musste schnell einen Ausweg finden oderkapitulieren. Vielleicht war eine neue Kriegstaktik, neueWaffen die Lösung? So beauftragte er einen gewissenMajor Max Bauer (1865-1937) als Verbindungsmann desMilitärs mit der Rüstungsindustrie und der WissenschaftKontakt aufzunehmen. Wer konnte damals weiterhelfen?

Erich von Falkenhayn (1861-1922)Am 11. 9. 1861 wird Erich von Falkenhayn auf der BurgBelcha bei Graudenz als Sohn des Gutsbesitzers Fedorvon Falkenhayn und seiner Frau Franziska (geb. vonRosenberg) geboren. 1880 tritt er als Leutnant insOldenburgische Infanterie-Regiment 91 ein und wird1893 in den in den Großen Generalstab versetzt. Nachdrei Jahren als Instruktionsoffizier in China tritt er 1899wieder in die preußische Armee ein und wird demGeneralstab des ostasiatischen Expeditionskorps zuge-teilt 1913 wird Falkenhayn zum preußischen Kriegsmi-

nister ernannt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegsübernimmt er nach der verlorenen Schlacht an der Mar-ne am 14. 9. 1914 anstelle des gescheiterten Helmuthvon Moltke als Chef des deutschen Generalstabs die Leitung der militärischen Operationen des Feldheers.Am 20. Januar 1915 gibt Falkenhayn die Leitung despreußischen Kriegsministeriums ab. Gleichzeitig wird erzum General der Infanterie befördert. Er versucht durchden Einsatz von chemischen Kampfstoffen die Entschei-dung im Westen zu erzwingen, scheitert aber vor Ypern,der Durchbruch von Gorlice und die RückeroberungGaliziens gelingen dagegen. Über die weitere Vorge-hensweise im Osten besteht weder mit dem verbünde-ten österreichischen Generalstabschef noch mit Paulvon Hindenburg und Erich Ludendorff Einigkeit. Ergerät im Jahr 1916 ebenfalls mit dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in Konflikt und wird imAugust nach dem Scheitern in der Schlacht von Verdunund dem Eintritt Rumäniens in den Krieg von Wilhelm IIabgesetzt. Seine Nachfolger sind Hindenburg undLudendorff in der neu geschaffenen Position des Gene-ralquartiermeisters. Von 1916-1918 ist Falkenhayn nochArmeeoberbefehlshaber in Rumänien, Palästina und ander Ostfront, wird aber 1919 auf eigenen Wunsch verab-schiedet. Er lebt zurückgezogen auf Schloss Lindstedtbei Potsdam und widmet sich der Niederschrift seinerErinnerungen. So veröffentlicht er 1920 das Buch „Dieoberste Heeresleitung 1914-1916 in ihren wichtigstenEntscheidungen“ und 1921 „Der Feldzug der 9. Armeegegen die Rumänen und Russen 1916/17“. Am 8. 4. 1922stirbt Erich von Falkenhayn auf Schloss Lindstedt.

Falkenhayn’s Einstellung zum Einsatz chemischerKampfstoffeDa Falkenhayn sich aufgrund der schlechten Rohstoffla-ge gezwungen sah, die Stellungskämpfe so schnell wiemöglich zu beenden, war er dem Einsatz ChemischerKampfstoffe nicht abgeneigt. Unter seinem Oberkom-mando fand der erste Masseneinsatz von chemischenKampfstoffen statt. Den kurzzeitigen Geländevorteil ver-mochte er dann jedoch strategisch nicht auszunützen,was letztlich zu seiner Absetzung führte.

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Mitteilung 2/2008 23

Es sind keine Unbekannten, die die Idee eines chemi-schen Krieges geboren haben, denn ihre Namen zierenheute in vielen Städten Straßenschilder:– Walter Hermann Nernst (1864-1941, Nobelpreis für

Chemie 1920), damals Direktor des Institutes für Physi-kalische- und Elektrochemie der Berliner Universität

– Fritz Haber (1868-1934, Nobelpreis für Chemie 1918), seinerzeit Direktor des Institutes für Physikalische Chemie und Elektrochemie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem und Leiter der Chemie-abteilung im Preußischen Kriegsministerium und

– Carl Friedrich Duisberg (1883-1935), Direktor des Bayer-Konzerns und späterer Aufsichtsratsvorsitzen-der der I. G. Farben.

Eine bezeichnende Wahl. Warum? Nun, die deutschen For-schungszentren, wie z. B. die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft(die heutige Max-Plank-Gesellschaft) wie auch die natur-wissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten stelltenseinerzeit das Gehirn der deutschen Wirtschaft dar. Groß-industrielle und Bankiers stifteten für die Forschung gro-ße Summen, dafür saßen sie in den Verwaltungsräten derInstitutionen.Immer wenn brauchbare Ergebnisse anfielen, waren siegegenüber der Konkurrenz im Vorteil. Forschen lassen,später Geld verdienen, war ihr Motto. So wurde z. B. mitGeldern des Bankiers Leopold von Koppel, dem Chef derDeutschen Auer Gasglühlicht AG in Berlin und Oranien-burg im Jahr 1911 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Elektro-chemie gebaut. Es muss nicht eigens erwähnt werden,dass von Koppel den Institutschef selbst aussuchte – FritzHaber. Haber „dankte“ es ihm kurze Zeit später: Auererhielt den Großauftrag zur Gasmaskenproduktion (dieRechte lagen zur anderen Hälfte bei der Fa. Dräger).Glühlampen und Gasmasken – wie passt dies zusammen,wird sich der eine oder andere bestimmt fragen. Nun –eine Glühbirnenfassung und der Filterschraubverschlusseiner Maske seien sich sehr ähnlich – so argumentierteHaber damals. Die Fa. Auer sei also geradezu prädesti-niert für Gasmaskenproduktion. Im Gegenzug wurdewiederum Dr. Hans Pick, der in der Abteilung C imHaberschen Institut den Gasschutz leitete, in den Direkto-renstand von Auer versetzt. Wie man sieht, ging dasdamals alles recht einfach, einen schwarzen Aktenkofferbrauchte man nicht. Doch zurück zu unserem Beratergre-mium.Nernst, Duisberg und Haber kamen zu dem Schluss, dassbei der Farbenproduktion große Mengen an Brom, Chlor,Phosgen und anderen giftigen Chemikalien anfielen. Ins-besondere bei der Herstellung von Ätznatron entstehebesonders viel Chlor als Nebenprodukt. Die Substanzenkönnten leicht zu kriegerischen Zwecken umfunktioniertwerden. Vorteilhaft sei hierbei, dass die deutsche Che-mieindustrie und insbesondere die Farbenindustrie eineweltweite Vormachtstellung innehalte. Mit einem schnel-len chemischen Vergeltungsschlag durch den Feind seialso nicht zu rechnen. Doch hier sollte das Gremiumgewaltig irren.So erprobte die Reichswehr auf Vorschlag von Nernst undDuisberg zunächst Schrapnellgranaten, die den Reizstoffo-Dianisidinchlorsulfonat enthielten. Allerdings war derErfolg dieses Munitionstyps gering.Es folgten eine Reihe von Versuchen mit neuartigen Gas-Brisanz-Granaten bzw. -minen auf den SchießplätzenWahn und Kummersdorf sowie mehrere praktische Einsät-ze an der Ost- und Westfront. Erprobt wurden hierbeiMischungen aus Sprengstoff und diversen Reizstoffen, aufdie hier nicht näher eingegangen wird. Doch die ausge-wählten Substanzen erwiesen sich als nur bedingt geeig-net, im Gelände ausreichende Gefechtskonzentrationenzu erzielen. Ein strategischer Vorteil war hierdurch nichtzu erlangen. Es wird also deutlich, dass es das DeutscheReich war, das damals die ersten wenn auch anfänglichnoch zaghaften Schritte in Richtung Chemischer Krieggetan hat.

Fritz Haber – Chemiker und PatriotAb Frühjahr 1915 trug Fritz Haber mehr und mehr diealleinige Verantwortung auf dem Gaskampfgebiet, ja erwurde zur zentralen Figur der chemischen Kriegsführung.Haber kam zu dem Schluss, dass der Stellungskrieg nurdurch den Einsatz weitaus giftigerer Stoffe und deren Ver-wendung in großen Mengen zu beenden sei.So entwarf er eine bis dahin völlig neue Kriegstaktik, dasAblassen von Chlor aus Gasflaschen, die entlang derFront eingegraben wurden – ein Verfahren, das nachherals „Habersches Blasverfahren“ bekannt wurde. Als erseine Idee der Militärführung vorstellte, stieß er zunächstauf wenig Euphorie. Viele konservative Militärs sahendiese neue Kriegstechnik als inhuman an. Hierzu gehörteneben Kaiser Wilhelm II auch der bayerische PrinzregentMaria Luitpold Ferdinand Rupprecht (1869-1955), derdamals Kommandeur der 6. Armee war.Darüber hinaus hatte das Deutsche Reich zusammen mit24 Staaten (nicht die USA) die Haager Landkriegsordnungvon 1899 bzw. 1907 ratifiziert. Hierin heißt es:„Die vertragsschließenden Mächte unterwerfen sichgegenseitig dem Verbote, solche Geschosse zu verwenden,deren einziger Zweck es ist, erstickende oder giftige Gasezu verbreiten.“Doch Haber konnte die Zweifel mit einem Trick zer-streuen: Das – wie auch er wusste – bereits in geringenKonzentrationen tödlich wirkende (Lungengift) Chlor könne man auch als Reizgas deklarieren, und beimAbblasen handle es sich ja schließlich nicht um den Ein-satz von Geschossen. Deutschland verstieße also nichtgegen den Vertrag. Kaiser und Kriegsminister ließen sichüberzeugen.Nachdem Haber’s Geländeversuche erfolgreich verlaufenwaren, betraute Kriegsminister von Falkenhayn HerzogAlbrecht von Württemberg, den damaligen Chef der 4.Armee, mit dem ersten Einsatz südlich des Ypernbogens.Für die königliche württembergische Armee war diesnatürlich völliges Neuland und für Haber allein warenfeldmäßige Planung und Einsatzbetreuung des Gasan-

Carl Friedrich Duisberg (1883-1935) war Vorstandsvorsitzender der Fa.Bayer. Er hielt vor und während des Ersten Weltkriegs die Fäden derKampfstoffproduktion in der Hand (Bildquelle Deutsches MuseumMünchen).

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Mitteilung 2/200824

griffs nicht zu schaffen. So gelang es ihm, eine Reihe vonNaturwissenschaftlern zum Gasregiment hinzuzuziehen,darunter so berühmte Wissenschaftler wie Otto Hahn(1879-1968), der im Krieg sogar zum Beauftragten desKommandeurs der Gastruppen aufstieg aber auch in derKampfstoffforschung tätig war, Gustav Hertz (1887-1975),und Hans Geiger (18821945), der uns vom Geiger-Müller-Zähler her gut bekannt ist und ebenfalls im Kaiser-Wilhelm-Institut beschäftigt war. Moralische Einwändegegen den Gaskrieg gab es damals nur von sehr wenigenWissenschaftlern.

Die ersten praktischen Kampfstoff-Versuchevon Mathias MuckelHaber und das Kaiser-Wilhelm-InstitutProf. Fritz Haber und das Kaiser-Wilhelm-Institut für phy-sikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem –zwei Namen, die untrennbar mit der Entwicklung, Erpro-bung und Einführung von Kampfstoffen in Verbindungstehen. Fritz Haber hatte, nachdem er die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts übernommen hatte, intensive

Fritz Haber wird am 9. 12. 1868 in Breslau als Kindeiner jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Ab 1886studiert er Chemie in Berlin, Heidelberg und Zürich.1893 konvertiert er zum protestantischen Glauben.Nach seiner Promotion forscht Haber auf dem Sektorder Brennstoff- und Elektrochemie an der TechnischenHochschule in Karlsruhe und schreibt zahlreiche Veröf-fentlichungen. 1901 heiratet er die Chemikerin ClaraImmerwahr. 1908 erfindet Haber die Ammoniaksynthe-se. Carl Bosch gelingt es ein Jahr später, sie großtech-nisch umzusetzen („Haber-Bosch-Verfahren“). 1911wird Haber Leiter des kurz zuvor gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie in Berlin.Nach Kriegsbeginn stellt er das Haber-Bosch-Verfah-ren der Obersten Heeresleitung vor und wird in derKriegsrohstoffabteilung mit dessen großtechnischerUmsetzung beauftragt. Das Verfahren trägt dazu bei,die sich abzeichnende deutsche Munitionskrise zu lin-dern. Ab Ende 1914 arbeitet er als Leiter der „Zentral-stelle für Fragen der Chemie“ („Büro Haber“) imKriegsministerium unter anderem an der Entwicklungvon Gaskampfstoffen. Ab 1915 wird er zur zentralendeutschen Figur für den Einsatz chemischer Waffenund leitet am 22. 4. 1915 den ersten deutschen Gasan-griff bei Ypern. Seine Frau begeht daraufhin Selbst-

mord. 1919 wird er mit dem Nobelpreis für Chemie fürdie Ammoniaksynthese ausgezeichnet. Weltweite Pro-teste ignoriert das Nobel-Kommitee. Nach dem ErstenWeltkrieg zieht sich Haber als militärischer Beraterweitgehend zurück. Er führt seinen Schüler Hugo Stot-zenberg als Nachfolger ein. Aufgrund Habers jüdi-scher Abstammung gerät er nach der Machtüber-nahme der Nationalsozialisten unter politischen Druckund muss schließlich die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts niederlegen. Er flieht im Januar 1934 bereitsschwer krank nach England und stirbt kurz darauf aufeiner Erholungsreise in Basel.Fritz-Haber – eine dualistische PersonDas Haber-Bosch-Verfahren stellt die billigste Metho-de der Ammoniakgewinnung dar. Es ermöglichtedadurch (auch) eine preisgünstige Herstellung vonDüngemitteln, wovon letztlich die ganze Menschheitprofitierte. Dies waren die Gründe für die Auszeich-nung mit dem Nobelpreis im Jahr 1919. Was damals(und heute immer noch) nicht beachtet wurde, war dieTatsache, dass die Methode unter völlig anderen stra-tegischen Zielen – nämlich zur Steigerung der Explo-sivstoffproduktion, großtechnisch umgesetzt wordenwar. Fritz Haber war zweifelsfrei ein Chemiker, demgroße Verdienste zuteilwurden. Doch die andere Hälf-te Habers war der „Erfinder“ und „Umsetzer“ dermodernen chemischen Kriegsführung. GlühenderPatriotismus ließen ihn hierbei sein Gewissen verges-sen. Seine Frau versuchte ihn vergebens, zur Mensch-lichkeit zu bekehren und brachte sich schließlich ausVerzweiflung um. Noch am Abend ihres Todes sollHaber zu Kampfstoffeinsätzen an die Ostfront gereistsein. Doch auch nach Kriegsende hat er seine Ansich-ten niemals geändert.Er führte in Vorträgen den Einsatz von Giftgas sogar adabsurdum: „Unzählige Menschenleben könnten hier-durch gerettet werden, wenn der Krieg auf diese Weiseschneller beendet werden könne.“ Ausländischer Kri-tik begegnete er: „So stellen sich die Vorwürfe derPresse, die sich für die Stimme des Gewissens ausge-ben, als der Ausdruck des Missvergnügens darüberunsere erfolgreiche Handhabung der Gaswaffe.“Haber war ein Unbelehrbarer.

Fritz Haber (1868-1934) (Bildquelle Deutsches Museum München).

B-Stoff-Mine aus der Anfangszeit der chemischen Kriegsführung, die mit einem weißen Ring gekennzeichnet wurde. Es handelt sich um einsogenanntes Kammerhülsengeschoss. Die Zerlegeladung war aus einerKombination aus TNT-Pulver, einem Pikrinsäure-Pressling und gegos-senem TNT zusammengesetzt. Die Kampfstoff-Füllung ist noch als rela-tiv harmlos zu bezeichnen. Sie bestand aus einem bromierten Keton,das reizend wirkte. (Quelle: KATTHÖFER [1998]: Die Deutsche Rohr-waffenmunition im 1. WK).

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Mitteilung 2/2008 25

Anstrengungen unternommen, die Möglichkeiten derKampfstoff-Kriegsführung zu forcieren.Hierzu holte er zahlreiche bedeutende Wissenschaftler ansein Institut. Namen wie Prof. H. Wieland, 1927 Nobel-Preis-Träger für Chemie, zeugen hiervon. Das Institutselbst wurde mit allen erdenklichen und notwendigenMitteln ausgestattet.Zwei große Arbeitsgebiete waren im Haberschen Institutvorhanden. Einerseits die Abteilungen, die Abwehrmaß-nahmen gegen feindliche Kampfstoffangriffe untersuch-ten, wie beispielsweise die Abt. A: Überwachung derFabrikation deutscher Gasmasken. Andererseits gab esaber auch verschiedene Abteilungen, die mit der Ent-wicklung und Erprobung neuer Kampfstoffe beschäftigtwaren: die Abt. D von Prof. Wieland mit der Darstellungneuer Kampfstoffe oder die Abt. E von Prof. Flury, die dieToxikologie der Substanzen an Hand von Tierversuchenprüften.Die wissenschaftlichen Studien und technischen Versuchefanden im Dienstgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts inBerlin-Dahlem statt. Hier existierten verschiedene Labo-re, in denen beispielsweise neue Kampfstoffe erzeugt,später chemisch-physikalisch untersucht und schließlichan Tieren erprobt werden konnten.Wie aber konnte die Wirkung auf den Menschenbestimmt werden? Auch hierfür hatte Haber umfangrei-che Vorkehrungen getroffen. Zunächst komplettierte eineeigene kleine, quasi miniaturisierte Füllstelle für Kampf-stoffe die reichhaltige Ausstattung des Institutes. Hierkonnten die neu entwickelten Kampfstoffe in üblicheGeschosse abgefüllt werden. Die Erprobung derGeschosse unter ballistischen Gesichtspunkten erfolgtebekanntermaßen auf dem Übungsplatz Kummersdorfsüdlich von Berlin. Und die Erprobung der direkten Wir-kungen der Granaten? Hierfür hatte sich Haber umfang-reiche Versuchsflächen auf dem westlich von Berlinliegenden Truppenübungsplatz Döberitzer Heide gesi-chert.

Die Döberitzer Heide – Habers „Spielwiese“Die vielleicht beste Schilderung derartiger Versuche gibtProf. Otto Hahn (aus D. HAHN: Otto Hahn – Eine Biogra-phie in Bildern und Dokumenten):„In Berlin und Döberitz hatte ich vor allem die Schutzwir-kung von Gasmasken zu prüfen. Ich war eines der freiwil-ligen Versuchskaninchen, das die Maske so langeaufzubehalten hatte, bis das Gas in die Atemwege durch-brach. Wir füllten dazu eine abgedichtete kleine Bretter-bude mit einer exzessiv hohen Konzentration an Phosgenund hielten uns in dieser Atmosphäre auf, bis die Schutz-wirkung der Gasmaske nachließ. Die Zeiten wurden vonaußen mit Stoppuhren bestimmt. Zwar brauchten wir eini-gen Mut dazu, wussten aber als Fachleute am besten,wann Gefahr drohte. Die Proben, wie lange frisch herge-stellte Gasmasken große Konzentrationen von Phosgenabhielten, haben eigentlich nur Franck und ich gemacht.Unmittelbar nach Verlassen des Gasraumes musste manein heißes Bad nehmen, um die Phosgenspuren von Hautund Haar zu entfernen.“Dass diese Versuche und insbesondere diese Selbstver-suche nicht besonders beliebt waren, belegen u. a. auchverschiedene Briefe des Dr.-Ing. Klein an seine Frau. Ineinem Brief schreibt er 1917:„Leider bekomme ich soeben Bescheid, dass ich heuteAbend wieder mal zu einer Sprengübung nach Döberitzmuss.“Diese „Sprengübungen“ mit Kampfstoffen können durcheine Akte veranschaulicht werden, die im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg verfügbar ist und die umfangreicheLaborprotokolle beinhaltet. Darunter finden sich sechsSeiten chronologischer Versuchslisten mit dem Titel„Sprengungen in Döberitz“. Aus diesen Tabellen gehthervor, dass bis zum 20. Juli 1918 insgesamt 322 Einzelver-suche mit jeweils 1 bis 4 Kampfstoffgranaten durchgeführtwurden, beispielsweise auch folgender Versuch:

Versuch 246 vom 26. 1. 1918 in Döberitz.Temperatur + 8,5° bis + 41°, schwacher Westwind, klarerHimmel.Eine 15-cm-Blaukreuz-Granate, Kampfstoffinhalt: Eine Flasche mit 1.550 g Clarkacetat.

Beobachter waren die Herren Prof. W., Prof. K., Dr. K.:„Ziemlich dünne graue Wolke. W. 1 min in dünner Wolke,schwacher Rachenreiz, Spur Brustreiz. K. 1 min in dünnerWolke, Spur Brustreiz. K. 1 min in dünner Wolke, schwa-cher Rachenreiz, Spur Brustreiz. Sämtliche Beobachterstellten Knoblauch- und Essigsäuregeruch fest und eineneigenartigen Geschmack.“Aus heutiger Sicht stellt sich dem Forscher die Frage nachden Gedanken und Gefühlen dieser Spitzenwissenschaft-ler, sich derartigen Gefahren bewusst auszusetzen. Um somehr als ähnliche Versuche nicht nur am eigenen Leib undfernab bewohnter Gebiete, sondern auch inmitten vonBerlin auf einer Insel in der Havel durchgeführt wurden.

Gastest: Erste Versuche mit Abblasen von Gas auf dem ÜbungsplatzDöberitz. Die von den Wissenschaftlern (rechts im Bild) freigesetztenGase werden genutzt, um von Kollegen die Schutzwirkung von Gas-masken im Selbstversuch zu testen.

Kaiser WilhelmAm 27. 1. 1859 wird Friedrich Wilhelm als erstes Kinddes Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen, später Kaiser Friedrich III., und seiner Frau Viktoria, PrincessRoyal of England in Berlin geboren. Er besucht von 1874-1877 das Gymnasium in Kassel-Wilhelmshöhe undnimmt danach ein Studium der Rechts- und Staatswis-senschaften in Bonn auf. Nach dem Tod seines Vaterswird er 1888 als Wilhelm II Deutscher Kaiser und Königvon Preußen. Seine Innen- und Außenpolitik sind durchmachtpolitische Ambitionen geprägt. 1890 zwingt erReichskanzler Fürst Otto von Bismarck (1815-1898) zumRücktritt. Der Ausbau der deutschen Stellung als Koloni-almacht einhergehend mit massiver Aufrüstung (mate-rielle und personelle Aufrüstung der Heere, Aufbaueiner Flotte unter Alfred von Tirpitz) führen zu Spannun-gen mit dem Ausland, insbesondere mit England undFrankreich. Aber auch in der Heimat erntet er heftigeKritik, die soweit führt, dass die deutsche Öffentlichkeiteine präzise verfassungsrechtliche Einschränkung sei-ner monarchischen Kompetenzen zu fordern beginnt.Hierzu kommt es aber nicht mehr: Nach der Ermordungdes habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinanddurch serbische Nationalisten bricht am 4. 8. 1914 derErste Weltkrieg aus. Nach dem Scheitern von Moltkeund Falkenhayn beruft er Paul von Hindenburg undErich Ludendorff im Jahr 1916 in die OHL. Hierdurch ver-liert er selbst aber zunehmend Einfluss auf die militäri-sche Kriegsführung. Nach der Novemberrevolution imJahr 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs verkündetReichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig dieAbdankung des Kaisers. Er flieht in die Niederlande, woer in Doorn 4. 6. 1941 stirbt.Der Kaiser und der chemische KriegKaiser Wilhelm war niemals ein Befürworter der chemi-schen Kriegsführung. Dem Einsatz von Chlor stand erzunächst sehr ablehnend gegenüber, doch ließen ihnHabers erste Erfolge seine „konservative Einstellung“zumindest kurzzeitig vergessen. Den Einsatz von Lostlehnte er strikt ab, doch hatte er zu diesem Zeitpunkt –nachdem er selbst seinen eigenen machtpolitischenMachenschaften zum Opfer gefallen war – auf dieKriegsführungstaktik keinen Einfluss mehr.

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Mitteilung 3/200820

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 2

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnbergmit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Baye-risches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard

Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten.

Kaiserreich und MilitärInsgesamt bestand das damalige Kaiserreich aus 25Bundesstaaten: vier Königreichen, sechs Groß- und fünfHerzogtümern, sieben Fürstentümern sowie drei FreienStädten, die zusammen den Bundesrat bildeten. Bei wei-tem größter und einflussreichster Einzelstaat war das Kö-nigreich Preußen. Es umfasste zwei Drittel der Fläche undrund drei Fünftel der Bewohner Deutschlands. Das König-reich Bayern war damals aber schon sehr „eigenwillig“:Es hatte sich bei der Reichsgründung (1871) verschie-dene Sonderrechte („Der bayerische Weg“) vorbehalten,darunter auch auf dem Gebiet des Heereswesens. Dasbayerische Heer bildete einen in sich geschlossenen Be-standteil mit selbstständiger Verwaltung innerhalb desdeutschen Heeres, unterstand aber letztlich der OHL bzw.dem deutschen Kaiser.

Deutschland beginnt den GaskriegAm 22. April 1915, nachdem sich der günstige Nord-Nord-Ostwind eingestellt hatte, eröffneten deutsche Truppenam Frontbogen bei Ypern den ersten Großeinsatz vonchemischen Waffen, bei dem 150 t Chlorgas abgeblasenwurden. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dassdie OHL für das im eigentlichen Sinn Abfallprodukt Chloreinen Preis bezahlen musste, der weit über dem Markt-preis lag. Hier kassierte die Industrie, insbesondere Duis-berg und die Farbenfabriken Leverkusen (heute Fa. Bayer)kräftig ab.Doch warum wurde gerade der Frontabschnitt von Ypernausgesucht? Nun, zum einen sollte eine Frontbegradigungerzielt werden, zum anderen waren hier verschiedensteKräfte eingesetzt: Briten, Kanadier, Franzosen, Zuaven, In-der, algerische Turkos. Aufgrund der Sprachunterschiededürfte es sicher nicht leicht gewesen sein, diese Divisionzu führen, vor allem nicht, wenn plötzlich Giftgas in derLuft war. Diesen „Vorteil“ versuchten die Deutschen aus-zunutzen. Und da die britische und französische Militär-führung Warnungen und verschiedene Hinweise auf denbeginnenden deutschen Gaseinsatz, ja sogar den Berichtdes deutschen Deserteurs August Jäger ignoriert hatten,traf sie das Gift völlig unvorbereitet und schutzlos.Die Ausführungen über die Todeskämpfe nach der Ein-atmung der gelblichen Rauchschwaden möchte ich denLesern der LGA-Rundschau doch lieber ersparen. Zahlen-angaben über die Todesopfer des ersten Angriffs (zwi-schen 350 und 5.000) sowie über Verletzte (zwischen7.000 und 15.000) schwanken je nach Quelle.Dies bedeutete aus militärtaktischer Sicht: Entlang derFront war eine 6 km lange „Bresche“ entstanden. AufGrund dieses Erfolges soll Kaiser Wilhelm II. General vonFalkenhayn mehrmals umarmt haben. Haber beförderte erkurz darauf zum Hauptmann. Doch Falkenhayn vermochtenicht, den kurzzeitigen Geländevorteil strategisch zu nut-zen. Hierfür waren mehrere Gründe ausschlaggebend:Zum einen war er wohl selbst überrascht über den Erfolgder Maßnahme und hatte für ein massives Nachrücken zu wenige Reservisten bereitgehalten. Andererseits wa-ren auch kaum noch Soldaten als Nachschub vorhanden.Und schließlich war der freie Geländestreifen auch zuschmal, um strategisch von größerem Nutzen zu sein.Kurzum – nach kurzer Zeit hatte sich die Front neu formiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dassdie OHL die Gasangriffe in der Heimat verheimlichte, jadie Pressesperre bis lange nach Ende des 1.WK aufrechtgehalten wurde.

Im Mai 1915 folgten weitere Gasangriffe, diesmal an derOstfront. Hier kamen Mischungen aus Chlor und Phosgenzum Einsatz. Die Folge – zwischen 300 und 6.000 Tote so-wie zwischen 3.000 und 9.000 Vergiftete. Doch auch hierwaren durch die neue Waffe keine Geländegewinne zu er-zielen. Haber forderte nun, noch größere Gasangriffedurchzuführen.

Chemische EskalationEntgegen den deutschen Erwartungen ließ der Gegenan-griff nicht lange auf sich warten. Der Feind hatte sehrschnell herausgefunden, was da auf ihn zukam und am 25.September folgte nun der erste britische Gasangriff. Diedeutsche Front – die erstaunlicherweise ebenfalls völligunvorbereitet war – wurde auf eine Länge von 12 km auf-gerissen. Der erste französische Angriff erfolgte im Februar 1916, erste russische Angriffe wurden ab Sep-tember des Jahres gestartet.Die Alliierten, die durch die Windverhältnisse an derWestfront meist begünstigt wurden, standen Haber in Kreativität nichts nach. So erfanden sie unter anderemGroß-Blasangriffe mit Chlor-Phosgenmischungen vonfahrenden Eisenbahnzügen aus – diese Taktik ging unterdem Namen „Richtstrahl“ in die Annalen ein. Der Gas-krieg eskalierte. Die deutsche Militärführung versuchtemit allen Mitteln, die eigenen Verluste geheim zu halten –Abtransporte und Beerdigungen wurden nur nachtsdurchgeführt.Der schlimmste Angriff erfolgte seitens deutsch-ungari-scher Truppen im Juni 1916: Hierbei kamen allein 5.000italienische Soldaten um. Als Vergleich: Etwa gleichvieleNürnberger verloren im gesamten 2. WK durch Luftangrif-fe ihr Leben.Es ist klar, dass auch die deutsche Front nach Schutz-masken zu verlangen begann, die dann – wie wir bereitsgehört haben – von den Firmen Auer und Dräger her-gestellt wurden. Doch einen entscheidenden Vorteil odereinen Geländegewinn konnte keine der kriegsführendenParteien durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe er-reichen. Dies ist auf zwei Ursachen zurückzuführen:– Zum einen entwickelten beide Parteien Schutzvor-

kehrungen bzw. Schutzmasken, die das Chlor zurück-hielten.

– Zum anderen konnten keine Überraschungsangriffemehr durchgeführt werden, denn man hatte erkannt,dass Ratten, die es in großen Mengen an allen Frontsei-ten gab, sehr empfindlich auf Chlor reagierten. Schonbei der Vorbereitung eines Gaseinsatzes war es un-vermeidlich, dass kleinste, für den Menschen nichtwahrnehmbare Mengen Chlor austraten. Die Ratten ergriffen sofort die Flucht und rannten in Heerscharenin Richtung Niemandsland auf die gegnerischen Stel-lungen zu. Und hier hatte man Zeit sich vorzubereiten.

Die Einteilung chemischer Kampfstoffe nachihrer WirkungWeißkreuz tränenerregende KampfstoffeGrünkreuz Kampfstoffe mit erhöhtem Dampf-

druck, die vornehmlich über die Atemwege wirken

Blaukreuz Kampfstoffe mit geringer Flüchtig-keit und großer Reizwirkung, vor-nehmlich auf die Atemwege wirkend

Gelbkreuz hautschädigend ImpfstoffeRotkreuz Nesselstoffe

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Mitteilung 3/2008 21

zeitig mit Gasflaschen und Brandminen, die von Werfernmit kurzer Reichweite (Steilfeuergeschütze) verschossenwurden, und dauernden Beschuss durch konventionelleSprengmunition angegriffen. Die Soldaten in den Schüt-zengräben durften praktisch keine Sekunde die Gas-maske vom Gesicht nehmen. Wie lange hält ein Menschso etwas aus? Nach meist wenigen Tagen konnten die de-moralisierten und völlig zermürbten deutschen Truppenim Sturm überrannt werden.Auf Grund der französischen Erfolge musste sich diedeutsche Führung nach noch wirksameren Substanzenumsehen. Neben den rein chemisch-physikalisch-toxiko-

Eine Fortentwicklung des Haber’schen Blasverfahrens war das Ver-schießen von Gasminen, das allerdings die Engländer erfanden. Hierist eine Batterie von 18-cm-Minenwerfern zu sehen, die gerade mitGasminen geladen werden. Gasminenwerfer kamen ab Oktober 1917von deutscher Seite zum Einsatz. Das etwa 1 m lange Rohr war zur Hälf-te eingegraben und auf einer Grundplatte befestigt. Die Treibladungbefand sich am Boden des Rohres, die Zündung erfolgte elektrisch.Die Füllung der Gasminen bestand aus Phosgen (teils in Mischungmit Diphosgen) oder Clark 1 in Mischung mit dem Sprengstoff Hexyl.

(Photo Kriegsarchiv München)

Deutscher Übungsblasangriff am 14. 1. 1916 in Phalempin (Frank-reich). Unter den Militärs im Hintergrund befand sich auch KönigLudwig III. von Bayern. Offensichtlich vertraute man damals aufgleich bleibende Windverhältnisse. (Photo Kriegsarchiv München)

logischen Eigenschaften aller neu in Frage kommendenStoffe mussten aber auch Eigenschaften wie die erreich-baren Gefechtskonzentrationen die Sesshaftigkeit, dieDetonationsbeständigkeit und ähnliches getestet werden.Die bisherigen Schieß- bzw. Testplätze waren hierfür nichtmehr ausreichend. Ein neues Gelände musste her.

Der Gasplatz BrelohAls weltweit erstes Areal zur Erprobung des feldmäßigen(Massen-)Einsatzes von chemischen Kampfstoffen wurdeim Januar 1916 der „Gasplatz Brehloh“ (in unmittelbarerNähe zum heutigen Truppenübungsplatz Munster) einge-richtet. Er war multifunktional ausgelegt – neben Labora-torien und Zielgebieten verfügte er ebenfalls überFüllanlagen zur Munitionierung, so z. B. für Phosgen undChlorpikrin. Hier begann man nun, die verschiedenstenpotentiellen Kampfstoffe systematisch auf ihre Gelände-tauglichkeit zu testen.Die Blasangriffe an den Fronten gingen unter dessenmunter weiter, wobei zunehmend toxischere Mischungenaus Chlor/Phosgen und Chlor/Chlorpikrin Verwendungfanden. Mittlerweile wurde der Erfolg der Gaskampftech-nik allerdings recht gemindert, da beide Seiten – wie bereits erwähnt – Gasmasken entwickelt hatten. Trotz Einführung der neuen Waffen war nach Moltke nun auchFalkenhayn gescheitert. Nachdem sein Konzept der Ab-nützungsschlacht bei Verdun im Sommer 1916 nicht auf-ging, wurde er vom Kaiser durch General Paul vonHindenburg und dessen Stabschef Erich Ludendorff ersetzt– das Bundesligasyndrom, wir kennen es ja bereits. Nurdrei Tage nach seiner Ernennung legt Hindenburg einneues Rüstungsprogramm vor (Hindenburg-Programm).Es sah eine weitere massive Ausweitung der Rüstungspro-duktion, darunter auch der Giftgasherstellung vor.Während die Kampfstofftests in Breloh fortgesetzt wur-den, forschte das Kaiser-Wilhelm-Institut unterdessen eifrig nach neuen Stoffen, insbesondere solchen, die inder Lage waren, die Filter der Gasmasken zu durch-brechen. So wurden ab 1916 im Haber’schen Institut über100 verschiedene Arsenverbindungen getestet. Mit demso genannten Diphenylarsinchlorid (Clark I) war 1917endlich die Lösung gefunden. Es hatte gegenüber Chloroder Phosgen einen entscheidenden Vorteil: In Aerosol-form gebracht, vermochte es die damaligen Schutzfilterdes Gegners zu durchdringen. Einmal eingeatmet führtees auf Grund seiner extrem starken Reizwirkung sofort zustarkem Husten, der bis zum Erbrechen gehen konnte.Hierdurch wurde der Gegner zum Herunterreißen derMaske verleitet.Wiederum war es die zweifelhafte Genialität Habers, diediesen Effekt zu nutzen vermochte. Er erfand den kombi-nierten Einsatz von Clark I, das zur Gruppe der so ge-nannten Blaukreuzkampfstoffe zählt, und Phosgen, das als

Da der Erfolg der umständlichen Chlorblasangriffe mehrund mehr abnahm, dachte man auf beiden Seiten übergiftigere Waffen nach. Die chemische Eskalation begann.Frankreich setzte als erste Macht Granaten ein, die mitdem Lungengift Phosgen gefüllt waren. Diese Substanz er-oberte dann schnell die traurige Spitzenposition derKampfstoffe im 1.WK. Die deutsche Antwort folgte wiede-rum auf Anregung von Carl Duisberg und Fritz Haber inForm des Diphosgen, das ähnlich dem Phosgen wirkt.Aber auch die Gaskampftaktiken der kriegsführendenParteien waren sehr unterschiedlich. Während die Deut-schen alles auf eine schnelle Erzeugung einer tödlichenGefechtskonzentration setzten, führten die Franzosen da-gegen langdauernde Kombinationsangriffe durch. Zu-nächst legten sie mit der Artillerie, die damalsReichweiten von über 10 km erzielen konnte, Phosgen-Gassperren an, die durch Nachbeschuss aufrechterhaltenwurden und somit den Rückzug der Feindtruppen ab-schnitten. Die vorderen Schützengräben wurden gleich-

Porten Down – Das englische BrelohEine ähnliche Entwicklung zu multifunktionalen Gas-Testplätzen hin, hat auch in England stattgefunden. Hierwurde ebenfalls im Jahr 1916 in Porten Down die ersteenglische Versuchs- und Produktionsanlage für che-mische Kampfstoffe errichtet. Die Engländer hatten im Grunde sogar noch eher als die Deutschen mit der systematischen toxikologischen Untersuchung vonKampfstoffen begonnen. Hierzu war auf dem Areal in Porten Down eigens eine Farm zur Tierzucht und -haltung errichtet worden. Katzen, Hunde, Affen, Zie-gen, Schafe, Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten undMäuse wurden in Gräben angebunden oder in Gas-kammern eingesperrt und Gaswolken ausgesetzt. Chemische Stoffe wurden in ihre Gesichter gespritzt, insie injiziert, ja für möglichst realistische Verhältnissebombardierte man sie hierbei gleichzeitig von allenSeiten mit Kugeln und Granaten. Als den Engländernim Krieg dann deutsches Lost in die Hände fiel, rasierteman den Bauch und Rücken der Tiere und rieb sie damit ein, oder man schnitt sie auf und bestrich ihreOrgane mit Lost und nähte sie wieder zu.

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Mitteilung 3/200822

Grünkreuz bezeichnet wurde, daher der Name „Bunt-schießen“„ für diese Angrifftaktik. Atemnot und Husten-reiz steigerten sich zum Erstickungsanfall. Der Tod tratbei nahezu vollem Bewusstsein ein. Details über die grau-samen Einsätze, die ab Mitte 1917 an der Westfront erfolg-ten, sparen wir uns. Erwähnenswert ist jedoch, dass diebritischen toten Soldaten nach Porten Down abtranspor-tiert wurden. Hier wurden sie von den Physiologen derSanitätsgruppen „auseinander genommen“. Zum Teilwurden Ölbilder von den geschädigten Organen zur Do-kumentation angefertigt. Einige Gastote wurden sogarkonserviert.Doch gehen wir lieber schnell zurück in unsere Heimat.Die Industrie – im Fall Blaukreuz die Firmen Höchst, Cas-sella und AGFA – verdienten natürlich nicht schlecht anden Blaukreuzkampfstoffen, die dann während des Krie-ges am Haber’schen Institut systematisch weiterentwickeltwurden. Doch hatten alle bisher kreierten Kampfstoffe ei-nen gravierenden Nachteil: Mit ihnen ließen sich keinedauerhaft hohen Gefechtskonzentrationen erreichen. DieLungengifte waren hierfür zu flüchtig bzw. nicht sesshaftgenug, und die Blaukreuz-Reizstoffe ließen sich meistnicht fein genug in der Atmosphäre verteilen. Und nochein weiteres Problem begann sich abzuzeichnen:Deutschland war zwar im Besitz des Arsenerzlagers „Rei-cher Trost“ in Schlesien, aber die dortigen Vorräte gingenrapide zur Neige. Etwas Neues musste her und zwar drin-gend. Doch am Haber’schen Institut gab es außer demChef selbst noch einige weitere „kreative“ Köpfe.

Lost betritt den KriegsschauplatzDie „schnelle und unbürokratische Zusammenarbeit“zwischen Militär, Wissenschaft und Industrie war, wie ichschon mehrmals angedeutet habe, bezeichnend für diedamalige Zeit. So formte der Abteilungsleiter Prof. Wil-helm Steinkopf am Haber’schen Institut gemeinsam mitdem Chemiker Dr. W Lommel der Fa. Bayer aus dem be-reits bekannten Dichlordiethylsulfid einen Kampfstoff der

durchdrang – gab es keinen Körperschutz dagegen. Undzweitens hatte Lost den Vorteil, dass die Herstellung nur ingeringerem Umfang von der Rohstoffzufuhr aus dem Aus-land abhängig war. Allerdings war die Herstellung derSubstanz technisch nicht ganz einfach.Tja, nun wurde also wieder eine neue Kriegswaffe vomMilitär vorbereitet. Nun mag sich vielleicht der ein oderandere Leser der Rundschau die Frage stellen, ob mandenn in der OHL bzw. im Haber’schen Institut nicht mit ei-nem Gegenschlag rechnete. Sicherlich, das tat mandurchaus. Lommel und Steinkopf und auch der damaligeChef des Haber’schen Instituts Hans Tappen waren sichdurchaus der Gefahr bewusst, dass der bzw. die Gegnersehr schnell in der Lage sein könnten, das Kochrezept fürLost „abzukupfern“ um die Substanz dann selbst gegendie Deutschen Truppen einzusetzen.In diesem Fall wäre Deutschland – das wussten alle Betei-ligten – auf Grund der prekären Rohstofflage nicht imStande gewesen, rasch einen Schutz (z. B. durch Gummi)zu entwickeln und diesen in ausreichender Menge herzu-stellen. Man muss sich nur einmal die Soldatenmengenvorstellen, die in diesem Fall geschützt werden hättenmüssen – allein vor Verdun lagen eine halbe Million inden Gräben. Lommel und Steinkopf erwiesen sich als ver-nünftig, sie hatten Lost zwar kreiert, lehnten aber einenEinsatz aus oben genannten Gründen strikt ab. Sogar dersonst so patriotische Haber warnte vor einer alliiertenGelbkreuz-Antwort. Nur wenn der Krieg hierdurch sofortbeendet werden konnte, bestand keine Gefahr.Doch Hindenburg und Ludendorff zeigten keinerlei Skru-pel – weder gegenüber dem Feind noch gegenüber deneigenen Truppen und befahlen im Juli 1917 den erstenLostangriff bei Ypern. Man muss noch einmal darauf hin-weisen, dass die beiden dies taten, obwohl sie wussten,dass das Deutsche Reich zum damaligen Zeitpunkt wederüber eine ausreichende Menge an Lostgranaten verfügte,um den Krieg sofort zu beenden, noch in der Lage dazuwar, Schutzmaßnahmen in ausreichender Menge herzu-stellen.Der Beschuss erfolgte am 12. Juli 1917 mit 7.7- und 10,5-cm-Granaten. Was um 22:00 Uhr in der Dämmerung ausden Granaten freigesetzt wurde, kannten die britischenTruppen bislang nicht, eine ölige Flüssigkeit, die nachSenf oder Knoblauch roch. Abgesehen von einer leichtenReizung der Augen und des Rachens spürten die Soldatennichts. Einige setzten nicht einmal die Masken auf, vielelegten sich wieder schlafen. Doch am Morgen erwachtensie mit unerträglichen Schmerzen in den Augen, ein Ge-fühl, als ob ihnen Sand eingerieben worden wäre. Dannmussten sie sich dauernd übergeben. Viele waren erblin-det, auf verschiedensten Körperteilen waren zunächstschmerzhafte Rötungen und Schwellungen zu beobachten,die in den nächsten Stunden zu großen gelben Blasen an-wuchsen. Am zweiten Tag nach dem Einsatz gab es die ersten Todesopfer. Das Sterben war ein langsamer Prozess.Durch das Einatmen des Losts hatte sich in vielen Fällendie Schleimhaut von der Luftröhre gelöst, so dass die Op-fer langsam und qualvoll erstickten. War Lost tiefer einge-drungen, so füllten sich Lunge und Herzgefäße mit einemBlut- und Wassergemisch. Als die britischen Ärzte die Lei-chen sezierten, konnten sie selbst – auch wenn der Tod derPerson bereits mehr als zehn Tage zurück lag – noch dieReizwirkung am eigenen Leib spüren. Die Deutschen hat-ten sich hier etwas wahrhaft Teuflisches ausgedacht, dasneben der Giftigkeit noch einen weiteren Vorteil hatte: AufGrund der Sesshaft konnte Lost, das im Winter 1917 freige-setzt worden war, noch im Frühjahr 1918, als der Bodenlangsam auftaute, die Soldaten vergiften.

Produktionsstandorte des 1. Welt-kriegesWie bereits mehrmals ausgeführt arbeiteten die Produ-zenten von chemischen Kampfstoffen alle sehr eng mitden Wissenschaftlern des Haber’schen Instituts zusam-

neuen Generation, das S-Lost. Haber gab dieser Substanzden Namen LoSt (Lommel Steinkopf).Lost hatte zwei erhebliche „Vorteile“ gegenüber den bis-herigen Kampfstoffen: Erstens hinterließ es als flüssigesAerosol schmerzhafte Wunden am ganzen Körper, die nuräußerst schwer heilten und – da es jede Kleidung sofort

Gelbkreuz-Granate. Lost wurde im 1. WK häufig mit Tetrachlorkoh-lenstoff oder Chlorbenzol vermischt. Zur Füllung, die in Berlin Ad-lershof stattgefunden hat, diente eine Füllschraube im oberen Teilder Granate, die auf der Abbildung jedoch nicht zu sehen ist. (Quelle:KATTHÖFER, 1998: Die Deutsche Rohrwaffenmunition im 1. WK).

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Mitteilung 3/2008 23

Bereits 1917 zeichnet sich das un-endliche Lost-Umweltproblem abWo könnte man eine so gefährliche Substanz wie Lost inMunition abfüllen? Dies war eine dringende Frage, dieHaber beschäftigte. Er nahm schließlich zu der BerlinerFirma Kahlbaum Kontakt auf. Sie hatte auf ihrem Betriebs-gelände in Berlin-Adlershof bereits Erfahrungen beimAbfüllen von Reizkampfstoffen sammeln können. Kurzer-hand wurde sie zur Feldmunitionsanstalt umfunktioniert.Die militärische Aufsicht übernahmen Leutnant Winter(ehem. BASF), Dr. Dahl (Farbenfabriken Elberfeldt) undLeutnant Siegener (Hoechst).Ab August 1917 wurden in Adlershof von 1.400 militäri-schen Arbeitern täglich 20.000 Granaten verfüllt. 1918stieg die Zahl der Beschäftigten auf 2.800 an, so dass al-lein 24.000 Stück 7,7-cm-Granaten täglich befüllt werdenkonnten. Doch trotz strengster Sicherheitsvorkehrungenmusste man seine Erfahrungen mit diesem Teufelszeugmachen. Der Betriebsarzt hatte pro Tag 8-10 losterkrankteZugänge zu verzeichnen. Durchschnittlich waren so 250-300 Arbeiter im Krankenstand. Dies lag daran, dass esnach der Befüllung immer wieder vorkam, dass die Ab-dichtung der Granaten mit Magnesiakitt nicht richtigfunktionierte und das Personal versehentlich mit ausge-tretenem Lost in Berührung kam.So wurden die Granaten zur Überprüfung der Dichtheitam Füllloch mit einem weißen Gemisch aus Schlemmkrei-

de und Sudanrot eingestrichen. Trat Lost aus der Öffnung,so löste es das Sudanrot unter Rotfärbung auf. UndichteGranaten trugen also immer eine „rote Halskrause“. Die-se Granaten mussten dann aussortiert werden. Doch wastun damit?Bereits damals zeichnete sich das unendliche Umweltpro-blem ab. Hugo Stolzenberg, der als eine Art Oberaufsehervon der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für Adlershof einge-setzt worden war, schreibt hierzu: „Gefährliche, undichteGranaten tragen also immer eine rote Halskrause undwerden ausgeschaltet und vernichtet. Wie wir das ma-chen sollen, wissen wir noch nicht genau, weil ein Vergra-ben, die später dort sie findenden Leute sehr gefährdenund ein Sprengen die Umgebung vergiften würde.“ Wiewir heute vermuten, war das Vergraben nach dem Kriegeine weit verbreitete Entsorgungsmethode. Und HabersÄußerung aus dem Jahr 1917 kann als weise Voraussichtbezeichnet werden, aber war er damals bestimmt nichtahnte, ist, dass das „später“ bis ins nächste Jahrtausendreichen sollte.Da die OHL den Einsatz immer größerer Mengen an Lost-munition anordnete, reichten die Füllanlagen in Berlin-Adlershof bald nicht mehr aus. Unter Leitung Habersbegann man daher, in der Breloher Feldmunitionsanstalteine neue Produktions- und Abfüllanlage zu errichten, dieab Januar 1918 anlief. Zum Teil wurde auch in Frontnähedirekt laboriert.Die zentrale integrierende Rolle bei der Kampfstoffpro-

Am 2. Oktober 1847 wird Paul von Beneckendorff und vonHindenburg als Sohn eines preußischen Offiziers undGutsbesitzers in Posen geboren. Nach der Gymnasialzeitschlägt er eine militärische Laufbahn ein und kämpft u. a.im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71). Als komman-dierender General nimmt er 1911 Abschied vom Militär,wird jedoch nach Ausbruch des 1.WK reaktiviert. Zu-nächst führt er als Oberbefehlshaber mit Erich Luden-dorff als Chef des Stabes die 8. Armee an, erhält jedochim November 1915 nach erfolgreichen Schlachten gegenRussland das Oberkommando über die Truppen der Ost-front. Nach der Absetzung von Falkenhayns im August1916 übernimmt Hindenburg mit Ludendorff als erstemGeneralquartiermeister die OHL. Vor allem Ludendorfffordert für die OHL auch die innen- und außenpolitischeFührung. Er wirkt mit am Sturz von Reichskanzler Theo-bald von Bethmann Hollweg und provoziert mit derWiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Kriegsden Kriegseintritt der USA. Gegenüber Ludendorff undHindenburg trat Kaiser Wilhelm II. immer weiter in denHintergrund. Im September 1918 nach dem Scheiternder Frühjahrsoffensive fordert die OHL sofortige Waffen-stillstandsverhandlungen und eine parlamentarische Re-gierung. Hindenburg rät Wilhelm II. zur Abreise nachHolland. Hindenburg stellt sich der provisorischen Regie-rung des Rats der Volksbeauftragten zur Verfügung, umdie revolutionären Unruhen zu bekämpfen und die Front-truppen in die Heimat zurückzuführen. 1919 zieht er sichdann in den Ruhestand zurück. Auf Drängen der Rechts-parteien im April 1925 kandidiert Hindenburg bei derReichspräsidentenwahl. Er siegt mit knapper Mehrheitund wird 1932 erneut in seinem Amt bestätigt. Im Mai1932 ernennt er Franz von Papen zum Reichskanzler, dernach einer staatspolitischen Krise im November von KurtSchleicher abgelöst wird. 1933 tritt Schleicher zurück,

nachdem ihm Hinden-burg das Vertrauen entzo-gen hat. Am 30. Januarberuft Hindenburg Hitlerzum Reichskanzler. Papen wird Vizekanzlerdes konservativ-national-sozialistischen Koali-tionskabinetts. Mit der Unterzeichnungder „Verordnung zumSchutz von Volk undStaat“ ebnet Hindenburgden Weg in die national-sozialistische Diktatur.Am 2. August 1934 stirbt Hindenburg in Neudeck(Regierungsbezirk Ma-rienwerder). Hitler über-nimmt das Amt, desStaatsoberhaupts.

Hindenburg und der Einsatz von LostMit Hindenburg und Ludendorff ging die Abschaltungder Gewissen bei der chemischen Kriegsführung nochein Stück weiter. Beide waren sich durchaus bewusst,dass es nicht lange dauern konnte, bis der Feind eben-falls Lost herstellen und auch gegen die deutschen Trup-pen einsetzen konnte. Und beide wussten ebenfalls,dass es auf Grund der deutschen Rohstofflage nichtmöglich sein würde, für die eigenen Soldaten geschwei-ge denn für die deutsche Bevölkerung Schutzmaß-nahmen in ausreichender Menge herzustellen, Und trotz-dem wurde der Einsatz befohlen. Die Wertung kann derLeser selbst vornehmen.

Paul von Hindenburg (1847-1934)

men. Der Haupthersteller von Lost war mit über 90% ander Gesamtmenge die Fa. Bayer in Leverkusen, dessenChef und Aufsichtsratsvorsitzender Carl Duisberg wie wirwissen, maßgeblich am Beginn des chemischen Kriegesbeteiligt war. Bayer stellte jedoch nicht nur Lost sondernauch Chlor, Chlorpikrin und Diphosgen her.Bayer begann im Mai 1917 mit der Lost-Produktion, dieKapazitäten konnten im März 1918 auf fast 1.000 t pro Monat gesteigert werden. Insgesamt wurden bis zumKriegsende im November 1918 etwa 5.000 t Lost herge-stellt. Das Produktionsverfahren basierte auf den For-schungen von Victor Meyer. Zu Unfällen soll es angeblichnicht gekommen sein, da die Beschäftigten Handschuhe

trugen und dazu angehalten waren, sich die Hände häufigmit Chlorkalk zu waschen. Doch ist das stark zu be-zweifeln, wie wir gleich hören werden. Das Vorprodukt für die Lostherstellung das Thiodiglycol(auch Oxol genannt) wurde übrigens von den BASF ange-liefert. Neben dem Leverkusener Hauptproduzenten wur-den kleinere Mengen an Lost auch von Griesheim Elektronin Frankfurt und von den Farbenwerken in Hoechst (heuteHöchst AG) hergestellt. Die Farbenwerke in Frankfurt-Höchst waren jedoch vor allem auf Diphosgen, Dick undClark I spezialisiert. Daneben wurden Kampfstoffe auchvon den Firmen Cassella (Frankfurt), Kalle (Biebrich) undvon AGFA in Berlin hergestellt.

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Mitteilung 3/200824

No Copyright – Die GegenschlägeNach dem ersten deutschen Angriff am 12. Juli 1917 mitder neuen Substanz sammelten die Briten sofort dieblindgegangene Munition von den Schlachtfeldern auf.Schnell hatten ihre Labors herausgefunden, mit welcherneuen Substanz sie da beschossen wurden. Natürlich wur-den die Ergebnisse an die Bündnispartner Frankreich, Ita-lien und die USA weitergeleitet. Alle begannen sofortfieberhaft mit der Entwicklung eines Produktionsverfah-rens (über die man heftigst stritt) und der Errichtung vonProduktionsstätten. Eine davon wurde in England in Avon-mouth aus dem Boden gestampft.Doch auch hier musste man seine Erfahrungen im Um-gang mit dieser gefährlichen Substanz machen: Unter den1.100 Beschäftigten des Werks traten über 1.400 Krank-heitsfälle auf, die direkt auf den Umgang mit Lost zurück -zuführen waren. Es gab 160 Unfälle mit 1.000 Ver-brennungen. Weitere Sieben starben noch während derkurzen Produktionszeit des Werks. Unzählige Beschwer-den traten auf: Blasen an Händen, auf der Kopfhaut, dem Unterleib, den Schultern, Armen, Beinen und Füßen,Rötungen an allen nur erdenklichen Körperstellen. Ent-zündungen der Augen, des Magens, des Rippenfells, derLunge. Aber auch Symptome, wie Entkräftung, geistigeTrägheit, Gedächtnis- und Sehschwäche, die sich in ähn-licher Weise bei Victor Meyer gezeigt hatten, traten auf.Doch dies war kein Hindernis, da die Briten besessen wa-ren von dem Gedanken der Lost-Rache. Die „Heimatfront“wurde da ohne weiteres in Kauf genommen. Trotz massi-ver Anstrengungen gelang es den Briten aber erst zweiMonate vor Kriegsende, im September 1918, funktions-tüchtige Gelbkreuzgranaten an die Front zu schicken.Noch bevor die alliierte Herstellung funktionierte, erhiel-ten die deutschen Truppen im November 1917 einen ers-ten Vorgeschmack auf das, was da noch kommen sollte:Deutsche Lostgranaten waren den Engländern als Beute-munition in die Hände gefallen, die sie nun munter gegendie Deutschen verschossen. Frankreich war allerdingsschneller als Großbritannien: Bereits ab Juni 1918 konnte

auf eigene Produkte zurückgegriffen werden, die erst-mals an der Marne-Front eingesetzt wurden.Bis zum Kriegsende wurden in Frankreich 2,5 Mio. Grana-ten mit Lost befüllt. Daneben waren rund eine halbe Millionamerikanische Kampfgasgranaten zu Kriegsende bereitsverschifft, sie kamen jedoch nicht mehr zum Einsatz.Inzwischen hatten die deutschen Truppen durch den an-geordneten Masseneinsatz von Lostgranaten beachtlicheGeländegewinne erzielen können. Der Einsatz-Anteil anGasmunition schwankte mittlerweile zwischen 25 und 50%an den Kampfhandlungen. Die deutschen Truppen rücktenimmer weiter vor. Doch hierbei beging die OHL wiederumeinen fatalen taktischen Fehler: Die kämpfenden Truppenwaren inzwischen so sehr ausgedünnt worden, dass zur Sicherung der Geländegewinne keine andere Möglich-keit bestand, als die Stellungen sehr weit auseinander zuziehen – zu weit, wie sich schnell herausstellte.Im Juli und August 1918 – nachdem die deutsche Früh-jahrsoffensive gescheitert war – war es den Alliiertenmöglich, einen Gegenangriff zu starten, der letztlich diedeutsche Niederlage einleitete. Von historischer Bedeu-tung ist hierbei, dass sich bei einem der letzten britischenLostangriffe der Obergefreite Adolf Hitler unter den Ver-wundeten befand.Zu jener Zeit begann Haber zu erkennen, dass der Kriegnicht mehr durch Gas zu gewinnen war. So war er be-strebt, „den Krieg sobald wie möglich unter einigerma-ßen tragbaren Bedingungen zu beenden“. Unter„tragbaren Bedingungen“ verstand er jedoch vor allem,dass er irgendwie eine Friedensausbeute aus den Kampf-stoffideen ziehen konnte.Am 11. November 1918 kam es zum Waffenstillstand, denauch die OHL zuvor bereits gefordert hatte. Duisberg hat-te sich in die Schweiz abgesetzt, Haber war nach Englandgeflüchtet.

Die BilanzWarum wurde der Krieg trotz Lost verloren?Tabelle 1 zeigt noch einmal die Entwicklung der chemi-schen Kriegsführung von deutscher Seite auf. Eines wird

Erich Ludendorff wird am 9. April 1865 In Kruszewnia(Provinz Posen) als Sohn des Rittergutsbesitzers WilhelmLudendorff geboren. Bereits als Zwölfjähriger schlägt erdie militärische Laufbahn ein. Vom Generalstabsoffizierwird er schließlich zum Brigadekommandeur in Straß-burg befördert und besetzt nach Ausbruch des Kriegesdie Zitadelle in Lüttich. Im September wird er unter Paul

von Hindenburg zumChef des Generalstabsder 8. Armee berufen.Beide kämpfen „erfolg-reich“ in Russland(Schlachten bei Tannen-berg und an den Masur-schen Seen). im August1916 übernimmt nachder Entlassung Erich vonFalkenheyns Hindenburgmit Ludendorff als ErstemGeneralquartiermeisterdie OHL. Seine Ziele sind eindeutig: „Abso-lute Kriegsführung“, wirt-schaftliche Mobilmachungund uneingeschränkter„U-Boot-Krieg“. Im Juli1917 ist Ludendorff maß-

geblich am Sturz des Reichskanzlers Theobald von Beth-mann Hollweg beteiligt.Nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive 1918 fordertdie OHL sofortige Waffenstillstandsverhandlungen undeine parlamentarische Regierung. Damit wird die militä-rische Niederlage eingestanden, die Ludendorff vor al-lem den Politikern der Mehrheitsparteien anzulasten(„Dolchstoßlegende“) sucht. Im Oktober wird Luden-dorff aus dem Dienst entlassen. Nach dem Kriegsendeerhebt er Vorwürfe gegen die politische Reichsleitungund die neu entstandene Weimarer Republik. Er knüpftVerbindungen zur „Nationalen Vereinigung“, der auchWolfgang Kapp angehört und arbeitet 1920-1924 mitAdolf Hitler zusammen. Er wird im Zusammenhang mitdem Hitler-Putsch angeklagt, jedoch freigesprochen.Von 1924-1928 ist er als Abgeordneter der Nationalso-zialistischen Freiheitspartei Mitglied des Reichstags. Erverliert die Reichspräsidentenwahl und gründet spätereine Art deutsch-germanischer Religionsgemeinschaft(„Deutschvolk“, „Tannenbergbund“ und „Bund fürDeutsche Gotterkenntnis“) und hält viele Vorträge. 1928bricht er mit der NSDAP, sein religiöser Bund wird da-raufhin 1932 verboten. Am 20. Dezember 1937 stirbt Erich Ludendorff in Tutzing.Ludendorff sah den Krieg als Naturgesetz an. Ohne Rück -sicht auf die Folgen für die eigene Truppe ordnete er zu-sammen mit Hindenburg den Einsatz von Lost an.Erich Ludendorff (1865-1937)

duktion hielt, wie bereits erwähnt, Carl Duisberg inne. Be-reits früh erkannte er, dass auch die Westalliierten sehraktiv auf dem Gebiet der chemischen Kampfstoffe wur-den. Er erkannte, dass hier eine ernste Gefahr entstand,jedoch nicht so sehr für die deutsche Bevölkerung, son-dern vielmehr für seine eigenen Geschäfte in der Zeitnach dem Krieg. So wurde zur Kontrolle des deutschenSpreng- und Kampfstoffmarktes unter seiner Führung mit-

ten im Krieg im Jahr 1916 die Interessengemeinschaft derdeutschen Teerfarbenindustrie (IG Farben) gegründet.Alle, die damals mit der Produktion von Spreng- undKampfstoffen befasst waren, traten der Gemeinschaft bei,so z. B. Bayer, BASF, Hoechst, Kalle, Cassella, AGFA, TerMeer und Messer Griesheim. Doch noch während Duis-berg versuchte, seine Schäfchen ins Trockene zu holen,holte der Feind bereits zum Gegenschlag aus.

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Mitteilung 3/2008 25

hieraus deutlich: Dem Deutschen Reich war es innerhalbvon relativ kurzen Zeiträumen auch unter Kriegsbedin-gungen immer wieder gelungen, eine Reihe von „Neu-entwicklungen“ auf dem Sektor der chemischenKriegsführung zu erzielen. Dies ist auf die damalige inten-sive Verflechtung von Militär, Wissenschaft und Industriezurückzuführen. Der Autor BORKIN, er befasste sich inten-siv mit der Geschichte der I. G. Farben, formulierte es so: „Die Farbenindustrie und das Kaiser-Wilhelm-Institutfungierten als chemische Kampftruppe.“

Die unrühmliche Vorreiterrolle DeutschlandsAuch die Produktionszahlen (Tabelle 2) zeigen, dass dasDeutsche Reich in der chemischen Aufrüstung eine un-rühmliche Vorreiterrolle gespielt hat. Der deutsche Anteilan Kampfstoffen übersteigt mehr als die Hälfte der welt-weit hergestellten Menge.

Tabelle 1: Deutsche Einsatzstationen chemischer Kampfstoffe.

Tabelle 2: Produktionsmengen chemischer Kampfstoffe (Zahlen nachL.F. HABER), (Die Produktionszahl für Clark I, die in der Tabellefehlt, betrug für Deutschland etwa 3.300 t).

Man muss sich nun jedoch fragen, wieso das DeutscheReich trotz dieser Kampftruppe den Krieg verloren hat.Die Antwort ist vielschichtig. Einerseits lag dies daran,dass es nie lange gedauert hat, bis der „Feind“ die Neue-rungen auf dem Chemiewaffensektor kopiert, vielleichtauch vervollkommnet und dann selbst eingesetzt hat. Je-der deutsche Wissenschaftler oder Militär musste also beieinem Einsatz einer neuen Waffe damit rechnen, dass sieüber kurz oder lang auch gegen die eigenen Truppenund gegen die eigene Heimat eingesetzt werden würde.In logischer Konsequenz war es also unwahrscheinlich,durch den Einsatz von chemischen Kampfstoffen einenstrategischen Vorteil zu erzielen. Diese Kausalität hat Ha-ber nie richtig begriffen. Beim Lost hätte sich diese Regeljedoch fast nicht bestätigt: Einerseits war das Produk-tionsverfahren – z. B. im Gegensatz zum Chlor – nicht soleicht in den Griff zu bekommen. Damit war natürlich einzeitlicher Vorteil der OHL verbunden, mit dem Hinden-burg und Ludendorff gepokert hatten. Andererseits warLost als Waffe etwas völlig Neues und den bisherigenKampfstoffen um Klassen überlegen. Es musste nur einegeschickte Art der Munitionierung erfunden und derFeldeinsatz optimiert werden. Falls die Vervollkommnungdes Lost als Waffe schneller gelungen wäre, hätte diesdem Deutschen Reich wahrscheinlich einen kriegsent-scheidenden Vorteil erbracht.Doch der König der Kampfstoffe konnte unter den hartenKriegsbedingungen erst zu einer brauchbaren Waffe ent-wickelt werden, als das deutsche Heer bereits zu stark de-zimiert war. Die Lost-Geländegewinne konnten nichtgehalten werden, eine Beeinflussung des Kriegsverlaufswar nicht mehr möglich. Ja man kann den Gedanken nochweiterspinnen: Hätte der Krieg noch länger gedauert,wäre ein massiver alliierter chemischer Gegenschlag gegen die deutschen Truppen und die völlig schutzloseZivilbevölkerung erfolgt.Insbesondere Frankreich und die USA, die erst 1917 nachLudendorffs törichter Verkündung der Wiederaufnahmedes „Totalen U-Bootkriegs“ in den Krieg eintraten, hättenihre Kampfstoffkapazitäten enorm ausbauen können, dasie im Gegensatz zum Deutschen Reich über nahezu un-begrenzte Rohstofflagerstätten verfügten. Hinzu kam nochetwas: Die USA hatten bereits das Lewisit kreiert – eineSubstanz, die angeblich dem Lost in nichts nachstehensollte.Gott sei Dank, muss man heute sagen, war das Schicksalauf unserer Seite – es wäre grausam geworden.

Kühle RechnereiDie Zahlenangaben über Gastote und -verletzte divergie-ren in der Literatur beträchtlich. Insgesamt kann manwohl davon ausgehen, dass im 1. WK zwischen 65 und 80Mio. Menschen unter Waffen standen. Die Verluste (Ausfäl-le) betrugen 35 Millionen, hiervon entfallen 10 Millionenauf Tote. Etwa 1-1,3 Millionen kamen durch Kampfstoffe zuSchaden (davon 30% Russen), knapp 100.000 starbendurch Kampfstoffe (davon 50% Russen). An den Brenn-punkten des Gasgeschehens waren bis zu einem Drittelder Verluste Gasvergiftete, hiervon verstarb ein Fünftel.Die Sterblichkeit betrug bei Lostgeschossen zwischenknapp 2 und 8%.Zahlen über Lostopfer finden sich nur in angelsächsischerLiteratur. Obwohl der König der Kampfstoffe erst gegenEnde des Krieges eingesetzt werden konnte, hatte erdoch den größten „Erfolg“: Die Zahl an Gelbkreuz vergif-teten englischen Soldaten beläuft sich auf 125.000 bis160.000. Dies entspricht 70-90% aller durch Kampfstoffevergifteten Briten. Die Zahl der „Sofort-Toten“ ist dage-gen mit ca. 2% gering. Die USA verzeichnete rund 70.000Gasvergiftete, davon entfielen etwa 40% auf Lost. DieHälfte aller Gastoten entfiel auf Losteinwirkung. Die Spät-folgen einer Lostexposition (und auch anderer Kampfstof-fe) wurden erst viel später bekannt. Hierüber gibt esdaher keine verlässlichen Zahlen.Andere Rechnungen ergaben, dass auf 100 Brisanzge-schosse ein Verlust entfiel, bei Gasgeschossen betrug dasVerhältnis 45:1, bei Lost 22,5:1.Statt sich über friedenschaffende Maßnahmen Gedankenzu machen fanden kühle Rechner bei der Auswertung desdeutschen Zahlenmaterials über den ersten Weltkriegheraus, dass – legt man alle durch Kampfstoff verursach-ten Ausfälle zu Grunde, etwa 96 kg Giftstoff pro Menscherforderlich gewesen sind. Hätte man von Anfang an Lostgehabt, so wären nur 30 kg erforderlich gewesen. Im Ver-gleich hierzu wurden etwa 2,5 Mio t Explosivstoffe ver-braucht (von allen Seiten). Hiermit wurden 10 Mio.Soldaten ausgeschaltet. Somit sind 250 kg für eine Aus-schaltung nötig. Die wirtschaftlichen Vorteile für chemi-sche Kampfstoffe lagen damit klar auf der Hand.Welche Perspektive für die Zukunft! Trotz Haager Kon-ferenz, deutscher Niederlage, eigener Verluste – dieKampfstoffe wurden seitens der Reichswehr noch langenicht zu den Akten gelegt.Zunächst jedoch wurde man von den Siegermächten ge-zwungen, die Restbestände zu vernichten. Nach dem Mot-to: „Die Geister die ich rief …“ wurde man Lost nicht soleicht los. Hierüber demnächst mehr von Jürgen Thieme.

Bemerkung

ohne nennenswerte Wirkung

ohne nennenswerte Wirkung

der moderne Gas-krieg beginnt

Weiterentwicklung der Lungenkampf-stoffe

Maskenbrecher als Neuentwicklung

Hautkampfstoff als neue Dimension

Füllung

Dianisidinchlor-sulfonat

Xylylbromide

Chlor

Diphosgen

Clark I

Lost

Munitionstyp

Schrapnell-granaten

15-cm-Granaten

Blasangriffe

Granaten

Granaten,Schwelkerzen

Granaten

Zeitpunkt

Oktober 1914

Januar 1915

April 1915

Mai 1916

Juli 1917

Juli 1917

Summe(%)

99.500

(56,5)

38.400

(21,8)

31.100

(17,6)

7.200

(4,0)

176.200

(100)

Blau-säure

7.700

400

8.100

Lost

7.600

2.000

500

900

11.000

Chlor-pikrin

4.100

500

8.000

2.500

15.100

Per-stoff

11.600

11.600

Phos-gen

18.100

15.700

1.400

1.400

36.600

Chlor

58.100

12.500

20.800

2.400

93.800

Land

Deutschland

Frankreich

Großbritanien

USA

Gesamt

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Mitteilung 4/200822

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 3/1

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnbergmit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht,Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch,Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, LeitstelleAltlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen.

Der erste Weltkrieg ist vorüber. Die Munitionsbeständean den Fronten bzw. was davon übrig war müssen inner-halb kürzester Zeit ins Deutsche Reich zurückgeholt werden. Ihre Vernichtung erfolgt auf sogenannten „Zerlegestellen“. Doch wo war nach Kriegsende eigent-lich das Lost bzw. die Lost-Munition geblieben? Gab esdenn noch unverfüllte Bestände? Was geschah damit? Undwie war das mit der Munition? Hatte man alles verschos-sen oder kam so einiges von der Front zurück? Wohin hatman die gefährliche Fracht gebracht? Was geschah da-mit? Gab es noch Bestände im Reich? Sicherlich musstensie vernichtet werden, doch wie? Bisher hatte sich ja nie-mand mit der Massenvernichtung von chemischenKampfstoffen befasst. War mit den damaligen Methodenüberhaupt eine Vernichtung möglich?Fragen über Fragen, die Jürgen Thieme von der IABGBerlin beantworten wird. Thieme hat für das Umwelt-bundesamt Berlin eine Reihe von Grundlagenarbeitenzum Thema Rüstungsaltlasten erstellt. In einer Studie, dieim Jahr 1998 erschienen ist, schildert er detailliert die Mu-nitions-, Explosivstoff- und Waffenzerlegungen und ihreFolgen nach dem 1.WK („Umweltrelevante und Techni-sche Aspekte der Zerlegung von Munition und Waffennach dem 1. Weltkrieg“ veröffentlicht in „Texte des Um-weltbundesamtes 03/99“, Berlin).Lost bildet in jener Zeit nur einen kleinen, aber dafürumso interessanteren und spannenderen Teilaspekt, wiewir sehen werden. Vieles davon dringt – hier in der LGARundschau – zum ersten Mal an das Ohr bzw. Auge derÖffentlichkeit: das Schicksal des Königs der Kampfstoffenach dem Ersten Weltkrieg.

Das Schicksal der Kampfstoff-munition nach dem 1.WKVon Jürgen Thieme, IABG Niederlassung Berlin

Wieviel war übrig nach der Schlacht?Bevor wir uns mit dem Verbleib des Lostes beschäftigen,müssen wir der Frage nachgehen, welche Mengen an Lostund der mit diesem Kampfstoff gefüllten Gelbkreuzmuni-tion bei Kriegsende denn eigentlich noch vorhanden wa-ren. Die Angaben über die Menge des während des 1. Weltkrieges hergestellten Schwefellostes unterschei-den sich bei den verschiedenen Autoren. Am wahrschein-lichsten erscheint die bereits im Teil 2 erwähnte, vonHABER angegebene Gesamtmenge von ca. 7.660 t. Umuns der Beantwortung der gestellten Frage zu nähern, sollzunächst eine Bilanz zum Verbleib dieses Lostes bis zumKriegsende im November 1918 versucht werden. Hierbeimuss unterschieden werden, in welchem „Zustand“ derKampfstoff vorlag:

Bereits verfüllt in MunitionDer wesentliche Teil des produzierten Lostes war bereitswährend des Krieges in Granaten und Minen verfüllt wor-den. Zwecks Erniedrigung des Erstarrungspunktes (da-mit es sich auch bei niedrigen Temperaturen gut verteilenließ) wurde es dabei mit ca. 20% Tetrachlormethan,Chlorbenzol oder Nitrobenzol versetzt.Als Füllstellen sind bekannt:Die Feld-Munitions-Anstalt 3 Adlershof: In dieser nahe

Berlin gelegenen, heereseigenen Einrichtung wurdenLostgranaten von Anfang Mai 1917 bis Oktober 1918 her-gestellt. Kurz nach Betriebsaufnahme entstand am21. Mai 1917 ein Brand mit nachfolgender Explosion, derzu einem vierwöchigen Betriebsausfall führte. Aber imAugust 1917 wurden bereits täglich 20.000 Granaten derKaliber 7,7 cm und 10,5 cm gefüllt. Im Jahre 1918 wurdezwecks Erreichung von Maximalleistungen rund um dieUhr in 4 Schichten zu 5 Stunden gearbeitet, unterbrochendurch eine tägliche, vierstündige Pause für die Instand-haltung und Reinigung der Anlagen. Auf die große ge-sundheitliche Gefährdung der Beschäftigten wurdebereits im Teil 2 verwiesen.Die Feld-Munitions-Anstalt 4 Breloh: Die Betriebsaufnah-me des Lost-Füllwerkes auf dem „Gasplatz Breloh“ inNiedersachsen erfolgte Mitte Februar 1918. Insgesamtwaren 4 Füllkompanien tätig, die bis zu 90 Munitionszügemonatlich mit unterschiedlicher Kampfstoffmunition insFeld abfertigten.Beide Munitions-Anstalten sandten bis zum Kriegsende503 Munitionszüge mit der immensen Menge von6.595.000 Stück Munition ab. Aus Tabelle 1 geht hervor,daß die Adlershofer Anlage als „Haupt-Lost-Füllstelle“

DatumAnzahl der abgesandten

Munitionszüge SummeZüge (Stck)

Summe Lost (t)Feldmunitions-

anstalt 3Feldmunitions-

anstalt 4

1917 121 - 121 1.755

1918 232 150 382 5.539

gesamt 353 150 503 7.294

bezeichnet werden kann.Bezüglich weiterer Füllstellen konnte folgendes ermitteltwerden:Die deutsche Armee besaß feldmäßige Füllstationen hin-ter der Westfront in Mancieulles, die später nach Saulnesin der Nähe von Longwy verlagert wurde, und im Ostenbei Warschau. Keine der beiden Anlagen wurde offenbarals passend für Gelbkreuzgranaten angesehen. Unklarbleibt, ob dennoch Füllversuche unter Verwendung ge-ringer Mengen Lost stattfanden.Die Firma Bayer produzierte den Hauptanteil deutschenLostes und sollte parallel seine Füllung in Granaten in ih-rer großen Sprengstofffüllanlage in Dormagen durchfüh-ren. Das Unternehmen wehrte sich jedoch offenbarerfolgreich unter Bezugnahme auf die Gefährlichkeit, mitbeiden Materialien in derselben Anlage zu arbeiten.

Verfüllt in später vergrabene MunitionBei der Abnahme (Prüfung) der Granaten in den Füllsta-tionen wurde bereits eine größere Anzahl von Granatenwegen Undichtheiten beanstandet. Diese durften nicht andie Front verschickt werden. Was sollte damit geschehen?Wie bereits im vorangegangen Teil erwähnt, hatte derFüllstellenleiter Dr. Stoltzenberg erhebliche Bedenkengegenüber ihrer Vergrabung. Sich darüber hinwegset-

Tabelle 1: Anmerkung – Für jeden Zug wurden durchschnittlich 18 tLostgemisch, d. h. ca. 14,5 t Lost und 20 % Beimengungen benötigt.

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Mitteilung 4/2008 23

zend wurden jedoch allein in Adlershof bis zum Kriegsen-de ca. 12.000 Schuss beanstandete Artilleriemunition miteinem Gesamtgewicht von ca. 180 t, darunter u. a. ca. 8 tLost, in fünf „Gräbern“ nahe der Füllstelle „beseitigt“.

Unverfülltes LostLost wurde nach bisherigem Kenntnisstand bis zumKriegsende im November 1918 hergestellt. Der immenseEinsatz an Gasmunition im letzten Kriegsjahr führte je-doch dazu, dass infolge der Rohstofflage und eines Man-gels an Arbeitskräften der Bedarf in dem erforderlichenUmfang nicht mehr gedeckt werden konnte.Hinzu kam gegen Kriegsende, dass die Organisation desEisenbahntransportes empfindlich gestört war. Mitte No-vember 1918 waren deshalb größere Mengen in den Herstellerwerken bzw. auf Eisenbahnabstellgleisen vor-handen. Aus Sicherheitsgründen wurde entschieden,kurzfristig alle Restmengen (und auch die noch vorhande-nen Ausgangsprodukte) nach Breloh zu schaffen. Bestätigtwird diese Zusammenführung in einer Besprechung beimKriegsminister am 22. Januar 1919. Danach waren 432 tLostgemisch (entspricht etwa 350 t reinem Lost) und 216 tHalbfabrikate (d. h. das Ausgangsprodukt Thiodiglycol,auch als Oxol bezeichnet) vorhanden.Schlussfolgernd kann heute davon ausgegangen werden,dass 1919 sowohl bei den Herstellerwerken als auch inder Füllstelle Adlershof kein oder nur sehr geringe Men-gen unverfülltes Lost vorhanden waren.

GesamtbilanzAusgehend von den vorher dargestellten Erkenntnissenergibt sich für den Zeitraum von 1917 bis 1918 die in Ta-belle 2 dargestellte Bilanz.Geht man von den bereits erwähnten, insgesamt herge-stellten 7.660 t aus, liefert diese Bilanz eine akzeptableÜbereinstimmung. Bezüglich der eingangs gestellten Fra-

Verwendung/Verbleib Menge (t) Bemerkung

Verbrauch durch Füllunghinter der Front

0? vermutlich keine Füllung

Füllung in Adlershof undin Brehloh, Versand inMunitionszügen

7.294

Vergrabung in Adlershof 8

Lagermenge in Brehloh1918

350 bei Kriegsende verblie-bene Menge, vorrangigReste von Herstellerfir-men und aus nicht recht-zeitig in den Füllstelleneingetroffenen Kesselwa-gen

Lagermenge bei Herstel-lerfirmen 1918

0 Reste Ende 1918 nachBreloh transportiert

Summe: 7.652

Tabelle 2

ge kann deshalb davon ausgegangen werden, dass sichab 1919 das gesamte unverfüllte Lost in Breloh befand.Die Lagerung erfolgte vorrangig in Spezialkesselwagenmit einem Fassungsvermögen von jeweils ca. 15 Tonnen,die auf den dortigen Gleisanlagen abgestellt waren.Leider verbleibt für die Gesamtbeurteilung der Proble-matik folgende offene Frage: Welche Munitionsmengen,die von den Füllstellen versandt wurde, gelangten nichtzum Einsatz und verblieben bei Kriegsende in den Muni-tionslagern der deutschen Artilleriedepots und in front-nahen, feldmäßigen Depots oder befanden sich auf demTransport zur Front?

Trotz intensiver Recherchen konnten zuverlässige Über-sichten nicht aufgefunden werden. Es ist davon auszuge-hen, daß derartige Gesamtübersichten aus verschie -denen Gründen, auf die im Weiteren noch eingegangenwerden soll, nicht angefertigt wurden.

Was geschah mit dem unverfüllten Lost inBreloh?Befassen wir uns zuerst mit dem Verbleib und der Ver-nichtung des unverfüllten Lostes in Breloh. Was sollte mitden Vorräten chemischer Kampfstoffe geschehen?Gemäß dem im Juni 1919 unterzeichneten Versailler Ver-trag, Teil V „Bestimmungen für Landheer, Seemacht undLuftfahrt“, Artikel 171, war Deutschland „der Gebrauchvon erstickenden, giftigen oder sonstigen Gasen, ebensowie von allen entsprechenden Flüssigkeiten, Stoffen oderähnlicher Verfahren ... verboten“. Nach Artikel 169 warenWaffen, Munition und Kriegsgerät zu zerstören oder un-brauchbar zu machen. Zur Umsetzung dieser Festlegun-gen erwies es sich als problematisch, dass keingeeignetes Verfahren bekannt war, größere Mengen vonKampfstoffen zu vernichten. Hinzu kam, dass bis zum völ-kerrechtlichen Inkrafttreten des Friedensvertrages im Ja-nuar 1920 von Seiten der Alliierten kein wesentlicherDruck vorhanden war, diese Frage zu lösen. Erst im März1920 entstand im Zusammenhang mit der Forderung nachRückgabe der Kesselwagen an die früheren Eigentümerein Handlungsbedarf: Wer entleert die Wagen und säu-bert sie so, dass sie wieder für normalen Transportzweckeverwendbar werden? Was wird mit den Kampfstoffen (La-gerung oder Vernichtung)?Es sollte jedoch noch bis Ende 1920 dauern, bis verstärktAktivitäten zur Schaffung von Vernichtungsmöglichkeitenin Breloh entstanden.

24. Oktober 1919 - Die größte GiftgasexplosionDeutschlandsDas Lostproblem löste sich jedoch zunächst anders, zu-mindest teilweise, denn am 24. Oktober 1919 ereignetesich im Sammellager Breloh, das zu diesem Zeitpunkt mitlosen Kampfstoffen und Kampfstoffmunition angefüllt war,eine verheerende Großexplosion. Dabei wurden 42 Ge -bäude völlig zerstört, darunter auch die früheren Lost-füllstellen. Betroffen waren auch eine größere Munitions-menge und 40 Kesselwagen mit flüssigen Kampfstoffen.

Einen Eindruck über die Situation im Bereich der Explo-sionsstelle vermittelt das Bild.Leider liegen keine Angaben darüber vor, in welchenKesselwagen sich Lost befunden hatte und wie umfang-reich die Zerstörungen an den Wagen waren. Berücksich-tigt man die in späteren Unterlagen angegebenen

Gasplatz Breloh nach der Explosion 1919

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Mitteilung 4/200824

Restbestände, könnte es sich um ca. 50 Tonnen reines Lostgehandelt haben, dass von der Explosion betroffen undfreigesetzt worden war. Damit waren noch ca. 300 t Lostverblieben.

Vernichtung durch Dr. StoltzenbergAm 05. November 1920 fand in Breloh eine Besprechungunter Leitung des Reichsschatzministeriums über dieMöglichkeiten der Entleerung, Umformung und Vernich-tung der noch eingelagerten Kampfstoffe statt (vorrangigwaren betroffen: Perstoff, Lost, Dick, Klopper, Phosgen,Chlor und Clark I). Gleichzeitig wurden die örtlichen Ver-hältnisse für eine Nutzung der noch vorhandenen Anla-gen geprüft. Kurz danach unterbreitete Dr. Stoltzenbergkonkrete technische Vorschläge. Bereits im Laufe des No-vembers 1920 wurde mit dem Bau von speziellen Tankla-gern für eine Zwischenlagerung begonnen. Der Neubaueiner Kampfstoffverbrennungsanlage sollte im Bereichdes früheren Clarkwerkes unter Nutzung „aller brauchba-ren Gegenstände“ bis zum 01. März 1921 erfolgen. Letz-tendlich kam es aber erst im Mai 1921 zu einem Vertragzwischen der Reichstreuhandgesellschaft AG Berlin undDr. Stoltzenberg, nachdem er die in insgesamt 85 Kessel-wagen befindlichen Kampfstoffe zu vernichten hatte. An-gegeben wird, dass es sich dabei u. a. um 385 tLostgemisch handelt, das aus einem Gemisch von Lost(Dichlordiethylsulfid) mit Tetrachlorkohlenstoff bzw.Chlorbenzol bestand. Ein aufgefundener Erläuterungsbe-richt beschreibt das angewandte Verfahren folgenderma-ßen: „Zur Verbrennung werden die mit einer gewissenMenge leichtflüssigen Teeröl vermischten Kampfstoffeüber Verbrennungsdüsen in die Verbrennungskammergeblasen. Die Verbrennung wird eingeleitet durch reineTeerölfeuerung, mit deren der Ofen (Verbrennungskam-mer) zur Weißglut erhitzt wird. Die Abgase werden mittelsExhaustor durch einen 60 m hohen Schornstein getriebenund entweichen dann ins Freie.... Bei Umgang mit Kampfstoffen ist das Tragen einerKampfmaske sowie zum Schutz gegen Hautverletzungenvon Gummi-Anzügen und -Handschuhen erforderlich.“Eine „Vorläufige Genehmigung zum Betrieb der Vernich-tungsanlage“ wurde am 14. September 1921 erteilt. Es istdavon auszugehen, dass die Vernichtungsarbeiten nochim September 1921 begonnen wurden. Mitte Oktober1921 wird berichtet: „Die Vernichtung der Kampfgaseist... lebhaft im Gange.“ Nach einer Meldung vom 08. No-vember 1922 war das Lost „restlos“ vernichtet.

Wurde das gesamte Lost vernichtet Eine Reihe von Fakten sprechen dagegen, dass in Breloheine vollständige Vernichtung erfolgte.

- Chemische Kampfstoffe nahmen in den Plänen derReichswehrführung hinsichtlich einer „Wiederaufnahmedes Kampfes“ einen festen Platz ein. Frühzeitig ging manaufgrund der Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg davonaus, dass im „Zukunftskriege“ chemische Kampfstoffeeine wichtige Rolle spielen würden. Einen Einsatz durcheinschlägige Verträge wirksam unterbinden zu können,hielt man für nicht sehr wahrscheinlich. Die Chemiker-Zeitung stellte schon 1919 fest: „Ohne die Fortschritte derChemie ist das Heer undenkbar“. Insbesondere wurdedarauf abgezielt, alle Kenntnisse zu bewahren und weiter-zuentwickeln sowie die vollständige Vernichtung zu ver-hindern.- Mit Dr. Stoltzenberg war eine Person vorhanden, die sichnachdrücklich für eine Verzögerung der Vernichtung ein-setzte. Belegt ist eine Äußerung in einer Besprechung imJanuar 1923, nach der versucht werden sollte, die Vernich-tung von noch vorhandenen Kampfstoffen (hier betr.Phosgen und Blaukreuz) hinauszuschieben. Aber bereits

1922 entstand der Verdacht, dass er den Alliierten als ver-nichtet gemeldete Kampfstoffe illegal auf seinem Firmen-gelände in Hamburg eingelagert hat. Bewiesen wurde derVerdacht leider dadurch, daß es hier im Mai 1928 zu ei-nem Explosionsunglück mit der Freisetzung von Phosgenkam.- Die Explosion in Breloh war geeignet die InteralliierteMilitärkontrollkommission (IMKK) über den dabei ver-nichteten und den verbliebenen Bestand zu täuschen. Of-fenbar gelang das, denn im Abschlussbericht der IMKKvom 31. Januar 1927 wird angegeben, daß im Rahmen derDemilitarisierung im Deutschen Reich insgesamt nur6.038 Gallonen (d. h. ca. 27,5 m3 bzw. ca. 35 t) flüssigeKampfstoffe vernichtet wurden.

Schlussfolgernd muss davon ausgegangen werden, dasseine größere Menge Lost nicht vernichtet und in durchdie IMKK nicht aufgefundenen Lagern aufbewahrt wurde.Eine Erhärtung des Verdachtes ergibt sich daraus, dass inden Jahren 1922 und 1923 Lieferungen deutscher Kampf-stoffe nach Spanien erfolgten. Dort fanden sie Verwen-dung bei Kampfstoffeinsätzen gegen die aufständischenmarokkanischen Rif-Kabylen (hierüber wird im nächstenTeil noch berichtet werden).

Was geschah mit der Lostmunition?Wesentlich komplizierter und noch undurchsichtigerstellt sich der Verbleib der bei Kriegsende über dieKampfgebiete verteilten bzw. im Deutschen Reich ver-bliebenen Kampfstoffmunition dar. Um den steinigen Wegbis zu einer unter den damaligen Gesichtspunkten ver-tretbaren Vernichtung der Gelbkreuzmunition darzustel-len, wollen wir uns den chronologischen Ablauf etwasnäher ansehen.Ein vermutlich Anfang 1918 erarbeiteter und vom KaiserWilhelm sowie vom König von Bayern bestätigter Demo-bilmachungsplan sah vor, nach dem „ruhmvollen Sieg“eine geordnete Überführung des deutschen Heeres ausdem Kriegsstand in den Friedensstand zu gewährleisten.In seinem Teil X waren Festlegungen für den Umgang mitWaffen, Munition usw. enthalten. U. a. war im Punkt 390festgelegt: „Gasmunition ist an die Kommandantur desGas-Übungsplatzes Breloh abzugeben.“

Die deutsche Disziplin versagt – auf dem Rückzug herrscht das ChaosAber es kam alles anders: Mit dem Kriegsende und derUnterzeichnung des Waffenstillstandes am 11. November1918 mußte die gesamte verbliebene Munition kurzfristiggeräumt und an festgelegte Lagerplätze im DeutschenReich zurückgeführt werden. Der Zustand in diesen La-gern um die Jahreswende 1918/19 wurde in einem Briefdes Vorsitzenden der Zentralaufsichtsstelle für Spreng-stoff- und Munitionsfabriken (ZAUF) folgendermaßen ge-schildert: „Infolge des plötzlichen Rückmarsches derArmee und der Räumung der dem Feinde nahen Gebietedes Landes kam die Munition größtenteils ohne jede Ord-nung mit und ohne Zünder auf den Lagerplätzen an. Nichtselten wurde sie sogar auf Lagerplätze gebracht, für diesie eigentlich gar nicht bestimmt war, weil die Eisenbah-nen nach den in Aussicht genommenen Lagerplätzen ent-weder überlastet oder infolge von Ausständen außerBetrieb war. Jedenfalls entsprach ... die Unterbringungund Lagerung sowie die Verteilung und Anordnung in kei-ner Weise den Bestimmungen …“ (Erläuterung: Als ge-plante Lagerplätze sind insbesondere die ca. 70Artilleriedepots zu verstehen. Sie waren von den jeweilszuständigen Heeresführungen in Preußen, Bayern, Sach-sen und Württemberg während des Krieges für die Muni-tionslaborierung und -lagerung eingerichtet bzw.erweitert worden). Fortsetzung folgt.

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MITTEILUNGEN 5/200818

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 3/2

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg.Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Baye-risches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control

GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten.

Unter der in den Depots angelieferten Munition be-fand sich oft auch Kampfstoffmunition, wobei es sichvorrangig um Artilleriemunition (Granaten und Wer-ferminen) handelte. Da wegen der großen Menge derankommenden Munition an eine systematische Ein-gangskontrolle und Einlagerung nicht zu denken war,gelangte u. a. auch Gelbkreuzmunition zwischen ande-re, herkömmliche Munition. Verstärkt wurde diesesDurcheinander dadurch, dass ihre schnelle, zuverlässi-ge Identifizierung und Aussonderung z. T. wegen desFehlens der Kreuz-Kennzeichnung oder der geringenäußerlichen Unterschiede zwischen herkömmlicherund Kampfstoffmunition erschwert war. In einem ein-schlägigen Bericht heißt es: „Leider ist mit Rücksichtauf das völlige Versagen jeglicher Disziplin bei Eintre-tung der Demobilmachung dem vom Kriegsministe-rium erlassenen Befehl der Sammlung sämtlicherKampfstoffe in Breloh nicht Folge geleistet worden; infolgedessen sind die größten Mengen von Gasmuni-tion auf die verschiedensten Munitionslager Deutsch-lands zurücktransportiert bzw. an Ort und Stelle liegengelassen worden“. Zwangsläufig ergibt sich daraus,dass eine zuverlässige Übersicht über den Bestand anKampfstoffmunition zum Ende des 1. WK nicht vorlag.In einem späteren Bericht vom Oktober 1920 wird an-gegeben, „dass im Deutschen Reich schätzungsweise1.000 t Gasgeschosse und Flaschen verstreut sein dürf-ten. Im ganzen lagern solche Geschosse an etwa 35Stellen mit ca. 2 Mill. Schuss.“ Anzumerken ist hierzu,dass es sich dabei vorrangig um Blaukreuzgeschosse(meist mit CLARK I) handelte, aber auch in geringererStückzahl um mit Lost gefüllte Gelbkreuzgeschosse.

1919 – Ein Syndikat beginnt mit der Muni-tionszerlegungAm 28. 6. 1919 erfolgte die Unterzeichnung des Vertra-ges von Versailles. Wie bereits erwähnt, sollten zur Ein-haltung der Deutschland auferlegten Verpflichtungenvon der Reichsregierung kurzfristig Maßnahmen zurVerschrottung der Munition getroffen werden. Wegender fehlenden Transportkapazitäten und der gewalti-gen Menge der Munition, aber auch zur Vermeidungvon Gefährdungen bei zusätzlichen Verlade- undTransportarbeiten wurde entschieden, die herkömm-liche Munition i. d. R. „an Ort und Stelle“ zu zerlegenund zu vernichten. Für diese Arbeiten schloss dasdurch das Reichsschatzministerium beauftragteReichsverwertungsamt am 13. 9. 1919 mit einem dazugebildeten „Zerlegungssyndikat“ einen Rahmenver-trag ab. In diesem Syndikat waren über 60 Firmen vertreten, die meist aus ihrer früheren Tätigkeit Erfah-rungen im Umgang mit Munition besaßen. BezüglichKampfstoffmunition hieß es jedoch im § 3 des sog.„Syndikatsvertrags K. D. 122“: „Gelb- und Grünkreuz-geschosse sind ausgeschlossen, da sie vernichtet wer-den müssen.“ Aber was sollte mit diesen Geschossengeschehen? Drei in verschiedenen Unterlagen aufge-fundene Lösungsmöglichkeiten charakterisieren dasherrschende Durcheinander.Ein größerer Teil, jedoch keineswegs die gesamteKampfstoffmunition, gelangte in Umsetzung des vomKriegsministerium erlassenen Befehls im Laufe des

Jahres 1919 nach Breloh. Damit ist auch zu erklären,dass von der Explosion im Oktober 1919 die gewaltigeMenge von ca. 1 Mio. Kampfstoffgranaten und 230.000Kampfstoffminen mit einer Gesamtmasse von 20.000 tbetroffen war.Eine „einfachere“ Lösung wurde z. B. im Munitions-lager Ofenerdiek bei Hamburg gefunden: Im Januar1919 wurden Blaukreuz- und Gelbkreuzgranaten inehemaligen Sprenggruben in 1 m Tiefe vergraben.(Anmerkung: Ende 1921 wurden diese Granaten wie-der ausgegraben und vor Ort gesprengt). Für den Ver-bleib von nicht transportsicherer Gasmunition wurdeanläßlich einer Besprechung im Januar 1919 in Anwe-senheit von Geheimrat Haber festgelegt: „Undichteund unsichere Gasmunition soll schleunigst ausge-sondert und vernichtet werden, hinsichtlich der dabeizu beachtenden Gesichtspunkte halten die damit be-auftragten Persönlichkeiten dauernde Verbindung mitdem Kaiser-Wilhelm-Institut.“ Gemäß vorliegendenRecherchen musste auf die besagten Hinweise zur Ver-nichtung dieser gefährlichen Munition jedoch noch bis1921 gewartet werden.

1920 – Der Höhepunkt der Munitionszerle-gungenIm Januar 1920 erfolgte der Austausch der Friedensur-kunden und damit das völkerrechtliche Inkrafttreten.Gleichzeitig nahmen die Angehörigen der Interalliier-ten Militärkontrollkommission (IMKK) ihre Arbeit auf.Diese überwachten auf der Grundlage regelmäßigdurch die deutsche Seite abzugebender Berichte undim Rahmen oftmaliger Kontrollen alle Zerstörungen,Zerlegungen und Unbrauchbarmachungen. Von be-sonderer Bedeutung für die hier zu betrachtende Pro-blematik war, dass die IMKK die Einholung einerGenehmigung „zu jeder Ortsveränderung von zu zer-legender Munition und auch bei Versendung von be-reits zerlegter Munition“ verlangte. Die Zerlegungherkömmlicher Munition erreichte Ende des Jahres1920 ihren Höhepunkt. Die Zahl der Zerlegestellen hat-te nach dem Inkrafttreten des Syndikatsvertrages kon-tinuierlich zugenommen und belief sich im Dezemberauf 64 Einrichtungen. In Tabelle 3 sind die Anzahl derZerlegestellen von Mitte 1920 bis Mitte 1922 angege-

Datum Zerlegestellen für Artillerie-und Minenwerfer-Munition

07.20 44

01.10.20 52

01.12.20 64

01.01.21 58

01.04.21 44

01.07.21 39

01.10.21 33

01.01.22 34

01.07.22 14

Tabelle 3

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MITTEILUNGEN 5/2008 19

ben. Gleichzeitig können aber auch aus diesen Anga-ben Rückschlüsse auf den Umfang der Zerlegungenabgeleitet werden.

Aber was geschah mit der Kampfstoffmunition?Ziel einer Beratung Ende Oktober 1920 im Reichs-schatzministerium war, einen Entscheidungsvorschlag(!) zu erarbeiten, ob die noch im Reich an verschiede-nen Stellen gelagerte Kampfstoffmunition an Ort undStelle zu zerstören ist oder zentral in Breloh zu diesemZweck gesammelt wird. Nach Meinung von GeheimratHaber kam nur die zentrale Vernichtung in Frage. ImDezember wird in einem „Bericht über die Vernich-tung von Gas-Kampfstoffen“ festgestellt: „Die Samm-lung der Munition ist neuerdings eingeleitet worden,jedoch nicht zu Ende geführt.“ „Es fehlt bis heute fürjegliche Art der Vernichtung sowohl die Erfahrung inchemischer Hinsicht, wie auch über die erforderlichenSchutzmaßnahmen bei der Vernichtung keinerleiUnterlagen vorhanden sind.“

1921 – Abtransport ja, aber nur mit Geneh-migungWie bereits erwähnt, waren ab dem III. Quartal 1921auf dem Gasplatz Breloh die technische Einrichtungenund das Fachpersonal (Dr. Stoltzenberg) vorhanden,um die Vernichtung von unverfüllten chemischenKampfstoffen und anschließend auch von Munition ingrößerem Umfang durchzuführen. Im März 1921 wirdin einer Beratung im Reichsschatzministerium endlichdie Notwendigkeit, „alle mit Kampfstoffen gefülltenGeschosse mit Beschleunigung unbrauchbar zu ma-chen, allerseits anerkannt. Auch wurde die Hinschaf-fung nach Breloh im allgemeinen für die hierzuzweckmäßigste Maßnahme erachtet ... Herr GeheimratMende ... erklärte sich einverstanden mit dem Trans-port von Gasgeschossen mit Zündern auf der Eisen-bahn, wenn diese transportsicher sind.“ Danacherfolgten mit der Bahn konkrete Abstimmungen überden Abtransport von Kampfstoffmunition von den Zer-legestellen. Er erwies sich auf Grund der o. g. Restrik-tionen der IMKK (betr. Einholung der Genehmigung)jedoch als kompliziert und war nach vorliegenden Ak-ten offensichtlich nur mit großem Aufwand realisier-bar. Folgendes Beispiel soll das unterstreichen: Nacheiner Meldung des Zeugamtes Cassel vom 12. 4. 1921mußten die im Rahmen der Zerlegearbeiten derSprengstoffabriken Hoppecke in Cassel-Ihringshau-sen aufgefundenen über 2.000 Grünkreuzgranaten(davon einige Geschosse undicht) und eine kleineMenge Gelbkreuz-Munition zurückgestellt und imFreien eingelagert werden. Mehrfache Anträge zumAbtransport waren bis dahin ohne Erfolg geblieben.Insgesamt konnten zum Ablauf und zum Gesamtum-fang der Transporte nach Breloh bisher nur wenigeUnterlagen aufgefunden werden. Berücksichtigt maneine durch zuständige Stellen gegebene (berechtigte)Empfehlung, sollten die Kampfstoffe und die Munitionmöglichst im Winter transportiert werden, „weil diesebereits bei plus 12 Grad frierend, in diesem Zustandkeine Gefahr bilden.“ Daraus wäre abzuleiten, dass alsVorzugstransportzeitraum erst der Winter 1921/22 an-zusehen war. Doch welche Schlussfolgerung ergibtsich daraus? Gemäß Tabelle 3 waren zu diesem Zeit-punkt ja nur noch etwa die Hälfte der ehemaligen Zer-legestellen in Betrieb. Die anderen hatten ihre Arbeiteingestellt und mussten gemäß zentraler Weisung allegenutzten Anlagen und Flächen „aufgeräumt und sauber“ zurückgeben. Aber wo war die noch nicht abtransportierte Kampfstoffmunition verblieben ...?

Einen Sonderfall stellte die in vielen Zerlegestellen la-gernde undichte Munition dar. Zur Beseitigung diesernicht transportsicheren Munition wurde im Juni 1921festgelegt, dass Fachleute (angegeben wird ein Kom-mando des Dr. Stoltzenberg, an anderer Stelle Sachver-ständige der Deutschen Evaporator AG) alle Stellen,wo derartige Munition lagerte, aufsuchen sollten. DieVernichtung sollte „in geeigneter Weise an Ort undStelle“ erfolgen. Ob derartige Aktionen umfassend er-folgten, bleibt zweifelhaft. Bisher konnte keine Akteaufgefunden werden, die das bestätigte.

1922 – Die Funde von „Gasmunition“ reißennicht abIn den ca. 30 Zerlegestellen, die zu jenem Zeitpunktnoch arbeiteten, wurde weiterhin „Gasmunition“ ge-funden. So wurde Ende Dezember 1921 in einemSchreiben mitgeteilt, dass „auch noch bei anderenZerlegefirmen Gasgeschosse gefunden" worden sind,die genaue Anzahl stehe jedoch noch nicht fest. Im Ja-nuar 1922 informierte schließlich auch das Reichs-wehrministerium die IMKK darüber, „dass bei dergenauen Untersuchung vor der Zerlegung von Artille-riemunition auch künftig immer noch Gasgeschosseaufgefunden werden, die gesammelt und nach Beendi-gung der Zerlegearbeiten des betreffenden Lagersvon Fall zu Fall nach dem Gasplatz Breloh versandtwerden müssen.“ Einen Vorschlag zum Transport vonGasmunition nach Breloh ohne Genehmigung lehntejedoch die IMKK weiterhin strikt ab und bekräftigteihre Festlegung, Transporte nur nach Erteilung einerGenehmigung zuzulassen.Folgendes Beispiel soll für derartige, späte Funde unddurchgeführte Transporte angeführt werden: Vom Märzbis Mai 1922 wurde ein größere Menge Gelbkreuz-Granaten aus Zweedorf (Mecklenburg-Vorpommern)nach Breloh transportiert.

SchlussfolgerungenDoch welche Verdachtsmomente ergeben sich nun ausdem geschilderten langwierigen Anlauf der Vernich-tung der Kampfstoffmunition? Betrachten wir uns dazudie Situation in den Zerlegestellen Ende 1920/Anfang1921. Sie ist folgendermaßen zu charakterisieren:– In allen größeren Munitionszerlegestellen befand

sich in den riesigen Stapeln auch Kampfstoffmuni-tion. Eine zuverlässige Identifizierung und Ausson-derung war nicht immer möglich.

– Die Unternehmer des Zerlegesyndikats hatten diegesamte Munition gekauft und waren zwecks Errei-chung eines Gewinns an einer Übergabe allerMetallteile, insbesondere der Munitionskörper, andie Stahlwerke interessiert. Theoretisch konntennach der Entnahme des Kampfstoffes aus den „Gas-granaten“ auch deren Granatenhüllen (evtl. nach zu-sätzlichem Ausbrennen) abgeliefert werden.Gelbkreuzgranaten konnten prinzipiell nach demEntfernen des Verschlussstopfens entleert werden.Notwendig waren dazu lediglich geeignete Gefäße,in die die flüssigen Stoffe umzufüllen waren. Aber:Ging eine Versickerung im Erdboden an abgelege-ner Stelle nicht sogar schneller?

– Für die ggf. angefallenen Umfüllbehältnisse bzw.die Kampfstoffe hatte die Zerlegefirma im Grundekeine Verwendung, ja sie stellten sogar eine Gefähr-dung des Betriebes dar.

– Immer wieder tauchten in den Lagerstapeln auf denArtilleriedepots auch undichte Kampfstoffgranatenauf. Irgendetwas musste damit geschehen. Nur hatteman keine Möglichkeiten, das Gift zumindest einiger-maßen sachgerecht zu vernichten. Fortsetzung folgt

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LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 3/2

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg.Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Baye-risches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control

GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle Altlasten.

Unter der in den Depots angelieferten Munition be-fand sich oft auch Kampfstoffmunition, wobei es sichvorrangig um Artilleriemunition (Granaten und Wer-ferminen) handelte. Da wegen der großen Menge derankommenden Munition an eine systematische Ein-gangskontrolle und Einlagerung nicht zu denken war,gelangte u. a. auch Gelbkreuzmunition zwischen ande-re, herkömmliche Munition. Verstärkt wurde diesesDurcheinander dadurch, dass ihre schnelle, zuverlässi-ge Identifizierung und Aussonderung z. T. wegen desFehlens der Kreuz-Kennzeichnung oder der geringenäußerlichen Unterschiede zwischen herkömmlicherund Kampfstoffmunition erschwert war. In einem ein-schlägigen Bericht heißt es: „Leider ist mit Rücksichtauf das völlige Versagen jeglicher Disziplin bei Eintre-tung der Demobilmachung dem vom Kriegsministe-rium erlassenen Befehl der Sammlung sämtlicherKampfstoffe in Breloh nicht Folge geleistet worden; infolgedessen sind die größten Mengen von Gasmuni-tion auf die verschiedensten Munitionslager Deutsch-lands zurücktransportiert bzw. an Ort und Stelle liegengelassen worden“. Zwangsläufig ergibt sich daraus,dass eine zuverlässige Übersicht über den Bestand anKampfstoffmunition zum Ende des 1. WK nicht vorlag.In einem späteren Bericht vom Oktober 1920 wird an-gegeben, „dass im Deutschen Reich schätzungsweise1.000 t Gasgeschosse und Flaschen verstreut sein dürf-ten. Im ganzen lagern solche Geschosse an etwa 35Stellen mit ca. 2 Mill. Schuss.“ Anzumerken ist hierzu,dass es sich dabei vorrangig um Blaukreuzgeschosse(meist mit CLARK I) handelte, aber auch in geringererStückzahl um mit Lost gefüllte Gelbkreuzgeschosse.

1919 – Ein Syndikat beginnt mit der Muni-tionszerlegungAm 28. 6. 1919 erfolgte die Unterzeichnung des Vertra-ges von Versailles. Wie bereits erwähnt, sollten zur Ein-haltung der Deutschland auferlegten Verpflichtungenvon der Reichsregierung kurzfristig Maßnahmen zurVerschrottung der Munition getroffen werden. Wegender fehlenden Transportkapazitäten und der gewalti-gen Menge der Munition, aber auch zur Vermeidungvon Gefährdungen bei zusätzlichen Verlade- undTransportarbeiten wurde entschieden, die herkömm-liche Munition i. d. R. „an Ort und Stelle“ zu zerlegenund zu vernichten. Für diese Arbeiten schloss dasdurch das Reichsschatzministerium beauftragteReichsverwertungsamt am 13. 9. 1919 mit einem dazugebildeten „Zerlegungssyndikat“ einen Rahmenver-trag ab. In diesem Syndikat waren über 60 Firmen vertreten, die meist aus ihrer früheren Tätigkeit Erfah-rungen im Umgang mit Munition besaßen. BezüglichKampfstoffmunition hieß es jedoch im § 3 des sog.„Syndikatsvertrags K. D. 122“: „Gelb- und Grünkreuz-geschosse sind ausgeschlossen, da sie vernichtet wer-den müssen.“ Aber was sollte mit diesen Geschossengeschehen? Drei in verschiedenen Unterlagen aufge-fundene Lösungsmöglichkeiten charakterisieren dasherrschende Durcheinander.Ein größerer Teil, jedoch keineswegs die gesamteKampfstoffmunition, gelangte in Umsetzung des vomKriegsministerium erlassenen Befehls im Laufe des

Jahres 1919 nach Breloh. Damit ist auch zu erklären,dass von der Explosion im Oktober 1919 die gewaltigeMenge von ca. 1 Mio. Kampfstoffgranaten und 230.000Kampfstoffminen mit einer Gesamtmasse von 20.000 tbetroffen war.Eine „einfachere“ Lösung wurde z. B. im Munitions-lager Ofenerdiek bei Hamburg gefunden: Im Januar1919 wurden Blaukreuz- und Gelbkreuzgranaten inehemaligen Sprenggruben in 1 m Tiefe vergraben.(Anmerkung: Ende 1921 wurden diese Granaten wie-der ausgegraben und vor Ort gesprengt). Für den Ver-bleib von nicht transportsicherer Gasmunition wurdeanläßlich einer Besprechung im Januar 1919 in Anwe-senheit von Geheimrat Haber festgelegt: „Undichteund unsichere Gasmunition soll schleunigst ausge-sondert und vernichtet werden, hinsichtlich der dabeizu beachtenden Gesichtspunkte halten die damit be-auftragten Persönlichkeiten dauernde Verbindung mitdem Kaiser-Wilhelm-Institut.“ Gemäß vorliegendenRecherchen musste auf die besagten Hinweise zur Ver-nichtung dieser gefährlichen Munition jedoch noch bis1921 gewartet werden.

1920 – Der Höhepunkt der Munitionszerle-gungenIm Januar 1920 erfolgte der Austausch der Friedensur-kunden und damit das völkerrechtliche Inkrafttreten.Gleichzeitig nahmen die Angehörigen der Interalliier-ten Militärkontrollkommission (IMKK) ihre Arbeit auf.Diese überwachten auf der Grundlage regelmäßigdurch die deutsche Seite abzugebender Berichte undim Rahmen oftmaliger Kontrollen alle Zerstörungen,Zerlegungen und Unbrauchbarmachungen. Von be-sonderer Bedeutung für die hier zu betrachtende Pro-blematik war, dass die IMKK die Einholung einerGenehmigung „zu jeder Ortsveränderung von zu zer-legender Munition und auch bei Versendung von be-reits zerlegter Munition“ verlangte. Die Zerlegungherkömmlicher Munition erreichte Ende des Jahres1920 ihren Höhepunkt. Die Zahl der Zerlegestellen hat-te nach dem Inkrafttreten des Syndikatsvertrages kon-tinuierlich zugenommen und belief sich im Dezemberauf 64 Einrichtungen. In Tabelle 3 sind die Anzahl derZerlegestellen von Mitte 1920 bis Mitte 1922 angege-

Datum Zerlegestellen für Artillerie-und Minenwerfer-Munition

07.20 44

01.10.20 52

01.12.20 64

01.01.21 58

01.04.21 44

01.07.21 39

01.10.21 33

01.01.22 34

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Tabelle 3

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MITTEILUNGEN 5/2008 19

ben. Gleichzeitig können aber auch aus diesen Anga-ben Rückschlüsse auf den Umfang der Zerlegungenabgeleitet werden.

Aber was geschah mit der Kampfstoffmunition?Ziel einer Beratung Ende Oktober 1920 im Reichs-schatzministerium war, einen Entscheidungsvorschlag(!) zu erarbeiten, ob die noch im Reich an verschiede-nen Stellen gelagerte Kampfstoffmunition an Ort undStelle zu zerstören ist oder zentral in Breloh zu diesemZweck gesammelt wird. Nach Meinung von GeheimratHaber kam nur die zentrale Vernichtung in Frage. ImDezember wird in einem „Bericht über die Vernich-tung von Gas-Kampfstoffen“ festgestellt: „Die Samm-lung der Munition ist neuerdings eingeleitet worden,jedoch nicht zu Ende geführt.“ „Es fehlt bis heute fürjegliche Art der Vernichtung sowohl die Erfahrung inchemischer Hinsicht, wie auch über die erforderlichenSchutzmaßnahmen bei der Vernichtung keinerleiUnterlagen vorhanden sind.“

1921 – Abtransport ja, aber nur mit Geneh-migungWie bereits erwähnt, waren ab dem III. Quartal 1921auf dem Gasplatz Breloh die technische Einrichtungenund das Fachpersonal (Dr. Stoltzenberg) vorhanden,um die Vernichtung von unverfüllten chemischenKampfstoffen und anschließend auch von Munition ingrößerem Umfang durchzuführen. Im März 1921 wirdin einer Beratung im Reichsschatzministerium endlichdie Notwendigkeit, „alle mit Kampfstoffen gefülltenGeschosse mit Beschleunigung unbrauchbar zu ma-chen, allerseits anerkannt. Auch wurde die Hinschaf-fung nach Breloh im allgemeinen für die hierzuzweckmäßigste Maßnahme erachtet ... Herr GeheimratMende ... erklärte sich einverstanden mit dem Trans-port von Gasgeschossen mit Zündern auf der Eisen-bahn, wenn diese transportsicher sind.“ Danacherfolgten mit der Bahn konkrete Abstimmungen überden Abtransport von Kampfstoffmunition von den Zer-legestellen. Er erwies sich auf Grund der o. g. Restrik-tionen der IMKK (betr. Einholung der Genehmigung)jedoch als kompliziert und war nach vorliegenden Ak-ten offensichtlich nur mit großem Aufwand realisier-bar. Folgendes Beispiel soll das unterstreichen: Nacheiner Meldung des Zeugamtes Cassel vom 12. 4. 1921mußten die im Rahmen der Zerlegearbeiten derSprengstoffabriken Hoppecke in Cassel-Ihringshau-sen aufgefundenen über 2.000 Grünkreuzgranaten(davon einige Geschosse undicht) und eine kleineMenge Gelbkreuz-Munition zurückgestellt und imFreien eingelagert werden. Mehrfache Anträge zumAbtransport waren bis dahin ohne Erfolg geblieben.Insgesamt konnten zum Ablauf und zum Gesamtum-fang der Transporte nach Breloh bisher nur wenigeUnterlagen aufgefunden werden. Berücksichtigt maneine durch zuständige Stellen gegebene (berechtigte)Empfehlung, sollten die Kampfstoffe und die Munitionmöglichst im Winter transportiert werden, „weil diesebereits bei plus 12 Grad frierend, in diesem Zustandkeine Gefahr bilden.“ Daraus wäre abzuleiten, dass alsVorzugstransportzeitraum erst der Winter 1921/22 an-zusehen war. Doch welche Schlussfolgerung ergibtsich daraus? Gemäß Tabelle 3 waren zu diesem Zeit-punkt ja nur noch etwa die Hälfte der ehemaligen Zer-legestellen in Betrieb. Die anderen hatten ihre Arbeiteingestellt und mussten gemäß zentraler Weisung allegenutzten Anlagen und Flächen „aufgeräumt und sauber“ zurückgeben. Aber wo war die noch nicht abtransportierte Kampfstoffmunition verblieben ...?

Einen Sonderfall stellte die in vielen Zerlegestellen la-gernde undichte Munition dar. Zur Beseitigung diesernicht transportsicheren Munition wurde im Juni 1921festgelegt, dass Fachleute (angegeben wird ein Kom-mando des Dr. Stoltzenberg, an anderer Stelle Sachver-ständige der Deutschen Evaporator AG) alle Stellen,wo derartige Munition lagerte, aufsuchen sollten. DieVernichtung sollte „in geeigneter Weise an Ort undStelle“ erfolgen. Ob derartige Aktionen umfassend er-folgten, bleibt zweifelhaft. Bisher konnte keine Akteaufgefunden werden, die das bestätigte.

1922 – Die Funde von „Gasmunition“ reißennicht abIn den ca. 30 Zerlegestellen, die zu jenem Zeitpunktnoch arbeiteten, wurde weiterhin „Gasmunition“ ge-funden. So wurde Ende Dezember 1921 in einemSchreiben mitgeteilt, dass „auch noch bei anderenZerlegefirmen Gasgeschosse gefunden" worden sind,die genaue Anzahl stehe jedoch noch nicht fest. Im Ja-nuar 1922 informierte schließlich auch das Reichs-wehrministerium die IMKK darüber, „dass bei dergenauen Untersuchung vor der Zerlegung von Artille-riemunition auch künftig immer noch Gasgeschosseaufgefunden werden, die gesammelt und nach Beendi-gung der Zerlegearbeiten des betreffenden Lagersvon Fall zu Fall nach dem Gasplatz Breloh versandtwerden müssen.“ Einen Vorschlag zum Transport vonGasmunition nach Breloh ohne Genehmigung lehntejedoch die IMKK weiterhin strikt ab und bekräftigteihre Festlegung, Transporte nur nach Erteilung einerGenehmigung zuzulassen.Folgendes Beispiel soll für derartige, späte Funde unddurchgeführte Transporte angeführt werden: Vom Märzbis Mai 1922 wurde ein größere Menge Gelbkreuz-Granaten aus Zweedorf (Mecklenburg-Vorpommern)nach Breloh transportiert.

SchlussfolgerungenDoch welche Verdachtsmomente ergeben sich nun ausdem geschilderten langwierigen Anlauf der Vernich-tung der Kampfstoffmunition? Betrachten wir uns dazudie Situation in den Zerlegestellen Ende 1920/Anfang1921. Sie ist folgendermaßen zu charakterisieren:– In allen größeren Munitionszerlegestellen befand

sich in den riesigen Stapeln auch Kampfstoffmuni-tion. Eine zuverlässige Identifizierung und Ausson-derung war nicht immer möglich.

– Die Unternehmer des Zerlegesyndikats hatten diegesamte Munition gekauft und waren zwecks Errei-chung eines Gewinns an einer Übergabe allerMetallteile, insbesondere der Munitionskörper, andie Stahlwerke interessiert. Theoretisch konntennach der Entnahme des Kampfstoffes aus den „Gas-granaten“ auch deren Granatenhüllen (evtl. nach zu-sätzlichem Ausbrennen) abgeliefert werden.Gelbkreuzgranaten konnten prinzipiell nach demEntfernen des Verschlussstopfens entleert werden.Notwendig waren dazu lediglich geeignete Gefäße,in die die flüssigen Stoffe umzufüllen waren. Aber:Ging eine Versickerung im Erdboden an abgelege-ner Stelle nicht sogar schneller?

– Für die ggf. angefallenen Umfüllbehältnisse bzw.die Kampfstoffe hatte die Zerlegefirma im Grundekeine Verwendung, ja sie stellten sogar eine Gefähr-dung des Betriebes dar.

– Immer wieder tauchten in den Lagerstapeln auf denArtilleriedepots auch undichte Kampfstoffgranatenauf. Irgendetwas musste damit geschehen. Nur hatteman keine Möglichkeiten, das Gift zumindest einiger-maßen sachgerecht zu vernichten. Fortsetzung folgt

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MITTEILUNGEN 1/200922

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte - Teil 3/3

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnbergmit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht,Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch,Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, LeitstelleAltlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen

Und das Personal wollte kein unnötiges Risiko eingehen.Aus all den genannten Gründen ergibt sich somit für alleArtilleriemunitionszerlegestellen, besonders aber fürdiejenigen, die ihre Arbeit bis Anfang 1921 einstellten,der dringende Verdacht einer unsachgemäßen Vernich-tung bzw. Vergrabung der Kampfstoffmunition.

Sonderfall: Kampfstoffmunition in den be-setzten GebietenEine kurze Erwähnung soll einem Sonderfall gelten, näm-lich dem Schicksal der in den besetzten deutschen Ge-bieten verbliebenen Kampfstoffmunition. Neben derherkömmlichen Munition wurde vermutlich der wesentli-che Teil letzterer ab 1919 nach Hallschlag in der Eifel ge-bracht. Im Auftrag der Siegermächte sollte dieVernichtung durch die dort ansässige Firma „Espagit Ei-feler Sprengstoffwerke“ erfolgen. Die Arbeiten begannenMitte 1919. Im Rahmen der Delaborierungs- und Vernich-tungsarbeiten brannte man dabei auch „Gasgranaten“aus. Begleitet wurden diese Arbeiten jedoch von mehre-ren Zwischenfällen. Bei einer Explosion am 29.05.1920sollen auch ca. 12.000 Gasgranaten betroffen gewesensein, deren größter Teil in die Umgebung geschleudertwurde. Auf die gewaltigen Probleme an diesem Standort,die die zuständigen Behörden bis heute beschäftigen, solljedoch an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

Das Himmelfahrtskommando vonBrelohAuf dem früheren Gasplatz wurde neben dem unverfüll-ten Lost bis ca. 1925 umfangreiche Mengen an Gelbkreuz-munition vernichtet. Bezüglich ihrem Zustand mußunterscheiden werden:- Die bereits im Oktober 1919 in Breloh lagernde und

von der Explosion in Mitleidenschaft gezogene Muni-tion.

- Die später von den Zerlegestellen aus dem Reichsge-biet angelieferte, handhabungssichere Munition.

Letztere wurde nach ihrer Delaborierung über ihre Füll-öffnung (nach Entfernung der Füllschraube) entleert. DerKampfstoff wurde anschließend durch die Fa. Dr. Stoltzen-berg in der gleichen Verbrennungsanlage behandelt, dieursprünglich der Vernichtung der unverfüllten Kampfstof-fe diente. Wesentlich aufwendiger und gefährlicher wardie Vernichtung der von der Explosion betroffenen Muni-tion. Wie bereits erwähnt, wurden von der Explosion ca. 1Mio. Kampfstoffgranaten und 230.000 Kampfstoffminenbetroffen, die ja bis in eine Entfernung von 3 km um denExplosionsort überall herum lagen. Zum Teil war die Mu-nition zerstört, teils jedoch nur verformt.

Cash statt SicherheitDer ursprüngliche Plan sah vor, diese Munition durch Ver-senken ins Meer zu vernichten. Wegen der umfangrei-chen Transporte und der damit verbundenen hohenKosten kam man davon ab. Eine andere Methode war ge-fragt. Jedoch weder das „Merkblatt für Entladestellen vonArtilleriemunition“ noch die „Vorläufige Vorschrift für dasEntlaborieren von Gas- und Nebelgeschossen“ enthieltenzuverlässige Festlegungen. In einem Schreiben beklagtesich die zunächst mit den Aufräum- und Vernichtungsar-beiten beauftragte Evaporator AG darüber folgenderma-

ßen: „... Bei dieser Gelegenheit muß ausdrücklich daraufhingewiesen werden, daß weder Erfahrungen, außer deneigenen, noch Vorschriften von Seiten der maßgebendenBehörde zur Verfügung stehen.“ Mit einem Schreiben desGewerberates zu Harburg vom 14.02.1921 war deshalbder Firma die Bedingung gestellt worden, beim Entlabo-rieren (nicht Sprengen!) der Gasgeschosse mit der größt-möglichen Vorsicht zu verfahren. In einer ergänzendenGenehmigung des Regierungspräsidenten zu Lüneburgvom 24.03.1921, in der die Fortführung des Betriebes biszum 01.11.1921 genehmigt wurde, war jedoch die Festle-gung enthalten, „beim Sprengen und Ausbrennen derGeschosse insbesondere die Witterung und Windrich-tung sorgfältig zu beobachten“. Dieses war Anlass,zwecks Erreichung erheblicher Gewinne auf das Spren-gen der Munition in großem Umfang überzugehen. Letz-tendlich wurde folgendermaßen verfahren:1. Das betroffene Gelände wurde durchweg etwa spaten-

tief umgegraben, im Bereich von Sprengtrichtern o.ä. wurde bis zu einer Tiefe von 2-3 m nachgegraben. Die Munition bzw. Munitionsteile wurden zusammengetra-gen.

2. Die noch gefüllte Munition wurde danach in Erdlö-chern gesprengt.

3. Anschließend wurden die Granaten und Minenteile zum Zweck der Schrottverwertung durch Ausbrennen in Reisighaufen „entseucht“.

Die Bilder 2 und 3 vermitteln einen Eindruck über dieHerangehensweise und die damaligen Arbeitsbedingun-gen.

Mehrfach verwies die Evaporator AG darauf, daß diepraktizierte Methode der Geschoßvernichtung nach ei-ner Verbindungsaufnahme mit den wissenschaftlichenZentralstellen, wie dem Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem, der Artillerieprüfungskommission sowie demReichswehrministerium erfolgt. Doch das war ganz offen-sichtlich reine Gewissensberuhigung. Erwartungsgemäßmusste es bei dem gewählten Verfahren zur Beeinträchti-gung der Umgebung und Schädigung der beteiligten Per-sonen kommen:- Am 15.09.1920 kam es bei Sprengungen infolge einer

Windrichtungsänderung zur Beeinträchtigung von be-wohnten Gebieten.

- Am 30.04.1921 kam es südlich des früheren Explosions-herdes zu einem Waldbrand.

Bild 2: Vorbereiten der Gasgranaten zum „Entseuchen“

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MITTEILUNGEN 1/2009 23

- Im Oktober 1921 beschwert sich das Landesfinanzamt Hannover: „Die täglichen Sprengungen sind teilweise in letzter Zeit so umfangreich gewesen, daß die Umgegend in erhöhtem Maße gefährdet ist und Erkrankungen an Menschen und Vieh eingetreten sind.“

Wie lange dauerten die Aufräumungsarbeiten und wel-che Ergebnisse wurden erreicht? Die Arbeiten verzöger-ten sich aus verschiedenen Gründen mehrfach. MitteOktober 1920 waren noch ca. 4.000 ... 5.000 t Gasmunitionvorhanden. Diese sollte bis etwa Juni 1922 vernichtet wer-den. Bis zum Dezember 1923 konnten jedoch die Aufräu-mungsarbeiten erst auf ca. 80% des Platzes erledigtwerden. Ein endgültiger „Abschluß“ wurde erst 1925 er-reicht. In Anbetracht der beschriebenen Suchmethodedürfte verständlich sein, dass ein Teil der Munition nichtgeborgen wurde und den Eigentümer der Liegenschaftnoch heute beschäftigt.

neu verbinden will, dann bitten und flehen sie: nur nicht anden Verbänden zu rühren; nur nicht neu verbinden! Dennsie hätten so gräßliche Schmerzen. Es gibt Kranke, dieschon monatelang im Revier liegen. So außerordentlichschlecht heilen die Wunden.“

Gelbkreuz-Relikte aus der Vergan-genheitWie bereits erwähnt, waren für einige Standorte konkreteHinweise zu Vergrabungen vorhanden. Diesen ist man z.T.bereits in den 50er und 60er Jahren, meist jedoch erst injüngster Zeit nachgegangen. Auf einigen Verdachtsstand-orten, für die keine näheren Hinweise vorlagen, musstedagegen eine systematischen Absuche veranlaßt werden.... Mit Erfolg. Auf einer Reihe von Standorten tauchte Lost-munition auf, wie durch die Recherche prognostiziert. Oft-mals spielte aber auch der Zufall eine Rolle. Hier einigeBeispiele:

Berlin-AdlershofWährend der Füllarbeiten waren, wie bereits erwähnt, ca.12.000 Schuß undichte Artilleriemunition an mehrerenStellen vergraben worden. Was geschah nun in späterenJahren mit dieser, allen einschlägig zuständigen Behördenbekannten Vergrabung. Bei einer ersten Probennahme imFebruar 1919 aus Beobachtungsrohren, die nahe der„Gräber“ angelegt worden waren, wurde ein „eigentüm-lich stechender, mehr oder weniger an Meerrettich er-innernder Geruch“ festgestellt. Die früher in derFüllstelle beschäftigten Arbeiter bezeichneten ihn so-gleich als „Lost“geruch. Die Problematik beschäftigte nunverschiedene Einrichtungen, darunter das Kriegsministe-rium und das Kaiser-Wilhelm-Institut. Bei einer Besichti-gung von Vertretern dieser Einrichtungen am 01.10.1919wurden folgende Varianten diskutiert: Sprengen an Ortund Stelle - Sprengen an einem geeigneten Ort - Ausgra-ben und Abtransport zum Versenken im Meer - Liegenlas-sen und regelmäßige Grundwasserbeprobungen anbesonders anzulegenden Brunnen. Nach langem Hin undHer entschied das Kriegsministerium Anfang 1920, zu-nächst Brunnen in der Umgebung der Vergrabungsstellenanzulegen und Wasser- und Bodenproben zu entnehmen.Erste umfangreiche Wasseruntersuchungen erfolgten be-reits im Februar 1920. Folgende durchgeführte Prüfungen sind belegt: Einsetzenvon Fischen in entnommenes Wasser, Geben als Trink-wasser an Mäuse, Eintröpfeln von Wasserproben in dieBindehautsäcke von Meerschweinchen sowie Verreibenvon Proben auf Armen und Brust von Menschen(!). Gemäßden aufgefundenen Akten ergaben sich jedoch keinerleinegative Befunde. Im September 1920 wurde daraufhindurch die Inspektion für Waffen und Gerät der Reichs-wehr entschieden, dass alle Gelbkreuzgeschosse zu-nächst liegen bleiben sollen. Ein mehrfacher Versuch desReichsschatzministers zur Beseitigung der Geschosse wargescheitert, da keine sachverständige Firma für diese ge-fahrvolle Aufgabe gefunden wurde. In einer Konsultationim Jahre 1928 rät Prof. Haber weiterhin von einer Ausgra-bung der Granaten ab und empfiehlt regelmäßigeGrundwasseruntersuchungen. Diese „unendliche“ Ge-schichte reicht nach bisherigem Kenntnisstand minde-stens bis in das Jahr 1953. Die in der DDR für dieVernichtung von Kampfstoffmunition des 2. Weltkriegesgeschaffene Sonderabteilung P der Gärungschemie Des-sau nahm sich der Problematik an. Insgesamt wurden4.230 Stück noch bezünderter, mit einem Lost-Nitroben-zol-Gemisch befüllte und über 10.000 Stück stark verrot-tete und teils offene Artilleriegranaten verschiedenerKaliber geborgen. Anschließend wurden sie abtranspor-tiert und in einer Anlage bei Dessau vernichtet.

Das Schicksal der Breloher ArbeiterUnbedingt muss auch auf das Elend der an der Beseiti-gung der Munition beteiligten Arbeiter eingegangenwerden. Einer durch den betreuenden Arzt, Dr. Büscher,verfaßten Schilderung müssen keine weiteren Worte hin-zugefügt werden: „Frühling 1922. Ich komme an einemMärzmorgen zu den Arbeitern, die auf dem Gasplatz Brelohseit langer Zeit Gelbkreuzgranaten entlaborieren. Die Früh-lingssonne scheint, sie scheint so schön und doch so erbar-mungslos in die Gesichter. Ich erschrecke: Wie sehen diemeisten Arbeiter aus? ... Trotzdem der Arbeitstag erst be-ginnt, machen viele Arbeiter einen so müden, elenden, hin-fälligen Eindruck; besonders die älteren Arbeiter sehen soschlecht aus. Ihre Stimme ist heiser, fast tonlos, die Augensind gerötet und schimmern etwas gelblich durch; der Blickist müde und an den Händen sind überall kleine eiterndeSchwären, die zum Teil notdürftig verbunden sind. Ganz be-sonders macht mir der Arbeiter B. Sorge, ein sonst kräftiger,gesunder Mensch. Er ist auffallend abgemagert. Ich frage,was mit ihm ist. Er weis so recht keine Antwort zu geben; inletzter Zeit „hänge ihm das Zeug so am Leibe trotzdem ergutes Essen hätte, magere er immer mehr ab, und die klei-nen Spritzer und „Dinger auf der Haut, die früher noch ab-geheilt wären, wollten überhaupt nicht mehr heilen.“Ergänzend fährt der Arzt fort: „Werfen wir ... - ehe wir vomGasplatz zurückkehren - noch einen Blick in die Revierstu-be, in der mehrere akut verletzte Gelbkreuzkranke liegen.Es herrscht in dem Krankenzimmer eine gedrückte Stim-mung. Die Kranken tragen große Verbände. Die Augenliderder Kranken sind zum Teil vollkommen verquollen, auch dieGesichter sind verquollen und aufgedunsen. Die Stimme isttonlos, der Husten ist bellend und heiser. Die Kranken lie-gen zusammengekauert da, mißmutig und verzweifelt. Siemurmeln und stöhnen leise vor sich hin. ... Wenn man sie

Bild 3: Ausbrennen der Gasgranaten im Reisighaufen

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MITTEILUNGEN 1/200924

Monsingen/Nahe1918 übernahm der Besitzer der Monzinger Gelatinefa-brik Julius Herold, ein früherer Chemiker des Kaiser-Wil-helm-Institutes, einen Auftrag der deutschenHeeresverwaltung, übrig gebliebene Kampfstoffmunitionunschädlich zu machen. Nach mehreren Wochen wurdendie Arbeiten durch die IMKK gestoppt. Auf Anordnung er-folgte die Vergrabung von ca. 30.000 Stck. Kampfstoffmu-nition (vorrangig Phosgenmunition, Clarkflaschen) in 2 mtiefen Gruben. Später wurden diese Gruben noch zusätz-lich mit einer Betonglocke, bestehend aus einer Deckeund Seitenwänden, versehen. Erst im Zuge von 1962durchgeführten Bergungsarbeiten wurden diese Grana-ten und Minen mit 4.700 Zentner Kampfstoff, darunter ingeringer Zahl auch Lostgranaten, aufgefunden und zurVersenkung in den Atlantik abtransportiert.

GerwischIm Zuge von systematischen Sucharbeiten fand man 1993am Rand der früheren Munitionszerlegestelle der Berlin-Burger-Eisenwerke, einem Mitglied des Zerlegesyndi-kats, ca. 100 Behältnisse mit Lost auf. Sie wurden unterEinhaltung der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmendurch die Bundeswehr geborgen, nach Munster transpor-tiert und in der dortigen Verbrennungsanlage vernichtet.

NiederneuendorfBei Munitionräumungsarbeiten auf dem Gelände der frü-heren Munitionsanstalt und späteren Munitionszerlege-stelle Nieder-Neuendorf bei Berlin wurden 1995 mehrereGelbkreuzgranaten aufgefunden.

Dallgow-DöberitzAuf einem früher durch das kaiserliche Heer für Kampf-

stoffversuche genutzten Übungsplatz, der später auchdurch die WGT genutzt wurde, fand man 1996 im Zuge ei-ner systematischen Munitionssuche mehrere Hundert ver-grabene Gelbkreuzgranaten. Sie lagen in Stapeln in ca.1 m Tiefe. Ihre Herkunft ist nicht sicher nachweisbar, mög-lich erscheint eine Vergrabung durch die dort nach dem1. Weltkrieg betriebene Munitionszerlegestelle, aberauch eine Verbringung von Granaten aus Adlershof istnicht auszuschließen.

Mit diesen Beispielen soll der Teilbeitrag zur unendlichenGeschichte des Lostes für den Zeithorizont bis ca. 1924beendet werden. Hinzuweisen ist darauf, daß bereits zudiesem Zeitpunkt Pläne für den Aufbau neuer Produk-tionsanlagen fertig waren. Unter einem geeigneten Tarn-mantel begannen auch bald erste Baumaßnahmen, z. B. inGräfenhainichen in Sachsen-Anhalt. Doch darüber mehrim nächsten Beitrag.

Schlußbemerkung von Alexander Schwendner zu Teil 3Vielleicht stellt sich an dieser Stelle nun der ein oder an-dere Leser die Frage:Kann es sein, dass in meinem Garten Lostgranaten ausdem 1.WK schlummern? Stoße ich beim Spargel-Stechengar auch auf ein Clarkfläschchen?Hierzu ist zu sagen, dass die Wahrscheinlichkeit bei Gün-ter Jauch Millionär zu werden, wesentlich höher ist. SolltenSie als Investor jedoch Interesse an einem ehemaligemArtilleriedepot oder einem Truppenübungsgelände ausdem 1.WK haben, so ist zur Vorsicht zu raten, in Anleh-nung an eine gängige Werbefloskel:Wegen der möglichen Nebenwirkungen lesen Sie dievorliegende Rundschau oder fragen Sie Ihre LGA oder ei-nen Autor!

Lange Zeit ging man in der Bundesrepublik davon aus,dass die Zerlegestellen des 1.WKs nach so vielen Jahrenwohl keine Umweltrelevanz mehr aufweisen würden undan Kampfstoffe dachte schon gleich gar niemand. So istes nicht verwunderlich, dass dieser Verdachtsstandort-typ bisher so gut wie gar nicht untersucht ist. Erst im Jahr2000 – und nachdem das ganze Ausmaß der Munitions-zerlegung von Herrn Thieme geklärt worden war – star-tete das Umweltbundesamt ein Folgeprojekt, bei demnun zwei Zerlegestellen exemplarisch erkundet werden.Welches Schadstoffpotential hier prinzipiell auftretenkann, soll das Fallbeispiel Kelsterbach zeigen, ein klei-nes Dorf direkt südlich des heutigen Rhein-Main-Flugha-fens. Zwar hat Lost hier nur eine untergeordnete Rollegespielt, doch entstanden dafür durch Arsen- undSprengstoffverunreinigungen hohe Sanierungskosten.

Eine böse ÜberraschungEs war mal wieder mehr der Zufall, der den Stein oderbesser gesagt die Granate ins Rollen brachte. Der heuti-ge Frankfurter Flughafen war im Zweiten Weltkrieg einso genannter Einsatzhafen 1.Ordnung der DeutschenLuftwaffe. Daher war er mehrmals Ziel alliierter Luftan-griffe. Nach der Konversion zur zivilen Nutzung nachdem Krieg und durch stetig steigendes Verkehrsaufkom-men plant man in den 80er Jahren, den Flughafen in grö-ßerem Umfang nach Süden zu erweitern. Vorsorglichsucht eine Räumfirma das Umfeld mit geomagnetischenSonden nach Blindgängern ab als sie hierbei im August1984 eher zufällig zwei Fläschchen im Erdreich auffin-det. Es stellt sich heraus, dass sie mit dem Reizstoff ClarkI gefüllt sind. Solche Fläschchen wurden im Ersten Welt-krieg zusammen mit Sprengstoff in Granaten laboriert

und sollten den Gegner zum Herunterreissen der Maskeverleiten. Doch wie kamen sie nach Kelsterbach? Ergän-zende Bodenuntersuchungen, bei denen Arsen imGrammbereich nachgewiesen wird, bestätigen denBlaukreuz-Verdacht. Bei einer weiteren Begehung findetman eine 10,5 cm Granate...gefüllt mit Lost. Hier konnteetwas nicht stimmen. Daraufhin werden die Probeson-dierungen eingestellt.Unverzüglich beginnt man zu recherchieren. Eine Dorf-chronik aus dem Jahr 1920 wird aufgefunden, die besagt,dass nahe Kelsterbach einmal ein Munitionsdepot derReichswehr gelegen hat. Längst war es in Vergessenheitgeraten. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollendort noch große Mengen an konventioneller aber auchan chemischer Munition (Grün-, Blau- und Gelbkreuz)gelagert haben. Wir wissen von Herrn Thieme nun, waseigentlich offiziell damit zu geschehen hatte – Abtrans-port nach Breloh. Doch der in Kelsterbach tätigen Zerle-gefirma Berlin-Burger Eisenwerke Munitionszerlegungwar dies wohl zu aufwendig, denn sie hat kurzerhand dieKampfstoffmunition zusammen mit nicht handhabungs-unsicherer konventioneller Munition durch Sprengenvernichtet. Es lag also die Vermutung nahe, dass hiernoch mehr schlummerte, vielleicht sogar funktionsfähi-ge Kampfstoffmunition. Eine Räumung scheint unum-gänglich.

Das KonzeptSo wird unter der Federführung des zuständigen Darm-städter Regierungspräsidiums und unter Mitwirkungder Bundeswehr zunächst ein allen nur denkbaren Ge-fahren Rechnung tragendes Sicherheitskonzept entwor-fen. Ein abgesperrter Sicherheitsbereich von 750 m

Frankfurt Kelsterbach-Eine Überraschung aus dem Ersten WeltkriegVon Alexander Schwendner und Wolfgang Thamm,

unter Mitwirkung von Hubert Gromotka, HIMTECH Wiesbaden

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Radius um die Arbeitsstelle wird definiert. Er errechnetsich aus der theoretisch größtmöglichen Gefahr – derDetonation einer 21 cm-Lostgranate – bei neutraler Wet-terlage und einer Windgeschwindigkeit von 2 m/s. Geräumt wird Video-überwacht, im Vollschutz (Gummi-anzug) mit Pressluftatmer und – um den Flughafenbe-trieb nicht zu gefährden nur nachts. AusSicherheitsgründen wird über dem Schadensbereicheine Arbeitshalle in Leichtbauweise errichtet. Bei einemUnfall soll hierdurch die Ausdehnung der Kampfstoff-wolke erschwert bzw. verhindert werden. Sie ist mit ei-ner Absauganlage mit Staubfilter versehen. So genannteKampfstoffwächter melden jeden noch so geringenAustritt von Phosgen. Sollten die Wächter Alarm schla-gen, so schaltet sich eine Sprinkleranlage ein undschlägt die Kampfstoffwolke nieder. Und sollte doch et-was ins Freie gelangen, so kann sich der Fliehende anden beleuchteten Wetterfahnen orientieren, die überallaufgestellt sind, quasi nach dem Motto – nichts wie weg,aber gegen den Wind. Und sollte es einer nicht ganzschaffen, so sorgen ein Arzt und ein kompletter Sanitäts-bereich vor Ort für Hilfe. Das Räumpersonal wird regel-mäßig gesundheitlich überwacht. Krankengeschichteund beruflicher Werdegang sind bereits aufgenommenund durch ärztliche Untersuchungen ergänzt und über-wacht. Im November 1986 beginnen die Arbeiten.

Die KampfmittelräumungDie Räumarbeiten dauern fast zwei Jahre. Rund 900 Gra-naten vom Kaliber 7 bis 24 cm, 371 Handgranaten, fast8.000 Granatenzünder, 60.000 Zündladungen und großeMengen an Munition für Handfeuer- und Maschinenwaf-fen werden geborgen. Viele der (äußerlich oft bauglei-chen) Granaten sind stark korrodiert und von derdamals üblichen Farbkennzeichnung für Kampfstoffmu-nition ist längst nichts mehr übrig, so dass oft nicht klarist, um welchen Munitionstyp es sich nun handelt. In die-sen Fällen hilft eine Röntgenanlage, mit der die Munitiondurchleuchtet wird. So werden 155 Granaten als eindeu-tig Kampfstoff-gefüllt identifiziert. Neben der Munitionmüssen auch 11 Tonnen arsenhaltiger Boden ausge-

tauscht und ferner 50 Tonnen mit Sprengstoffen und son-stigen chemischen Stoffen behafteter Munitionsschrottaussortiert werden. Sozusagen als kleine Zugabe findetsich im Boden noch eine andere Überraschung - unterall den Kampfmitteln aus dem ersten Weltkrieg liegtnoch eine amerikanische 100 lb Sprengbombe aus demZweiten Weltkrieg, die von einem Bombardement desFlughafens stammt. Als die Räumarbeiten beendet sind,

MITTEILUNGEN 1/2009 25

scheint der Fall Kelsterbach „saniert“ – zunächst jeden-falls.

Die AltlastIn weiser Voraussicht wurden in Kelsterbach räumbe-gleitend Grundwassermessstellen niedergebracht. Zu-nächst ist der Befund der ersten Beprobungen nochnegativ, doch die weiteren chemischen Untersuchungenzeigen, dass das Grundwasser bereits einiges abbekom-men hat. Festgestellt wird bis zu 840 µg/l Arsen. In denJahren nach der Räumung wird daraufhin ein Überwa-chungsprogramm durchgeführt. Die Lage verschlechtertsich. Die Arsengehalte steigen bis auf 3.600 µg/l an, nunwerden auch bis zu 600 µg/l Nitroaromaten (Sprengstof-fe im weiteren Sinn) festgestellt. Es wird deutlich, dassdurch die Entmunitionierungen und die damit verbun-denen Erdbewegungen ganz offensichtlich eine enormeMobilisierung der Schadstoffe verursacht wurde. Han-deln ist angesagt.

Die BodensanierungSo werden 1995 umfangreiche rasterförmige Boden-untersuchungen durchgeführt. Durch die damaligenSprengungen wurde die Munition zwar „nur“ auf etwa16.000 m2 verstreut, doch zeigen die Bodenuntersu-chungen, dass sich dabei aber die Schadstoffe feindi-spers auf über 40.000 m2 verteilt haben. Lost undPhosgen sind im Boden zwar nicht mehr nachzuweisen,jedoch Metaboliten von Clark I und II sowie ebenfallsSprengstoffe in erheblichen Mengen. Hierbei handelt essich vorrangig um Dinitronaphthalin, einen klassischenErsatzsprengstoff des Ersten Weltkriegs. Auch dasGrundwasser wird nochmals überprüft. Neben Nitroaro-maten und Arsen tauchen nun auch Abbauprodukte vonLost auf, die darauf hindeuten, dass hier auch Gelb-kreuzmunition vernichtet worden ist. Im Januar 1996 lau-fen daraufhin unter Leitung der HIM GmbH dieAushubmaßnahmen an. Bis zum Jahresende werden fast240.000 t kontaminierter Boden ausgehoben. Die Verun-reinigungen erstrecken sich lokal bis in Tiefen von 5 m.Das Material wird zu gut einem Drittel in der Metallurgie

verwendet, ein Teil muss unterTage deponiert werden, derRest wird zu Rekultivierungs-zwecken im Tagebau bzw. aufDeponien eingesetzt. Die Sa-nierungskosten beliefen sichauf 50 Mio DM.Der Fall Kelsterbach lehrt uns,dass bei Zerlegestellen gene-rell das Unerwartete erwartetwerden sollte. Zwar wird Losthier wahrscheinlich nur vonrandlicher Bedeutung sein,doch können auch die Arsen-kampfstoffe große Problemeverursachen, denn sie lassensich halt nicht so einfach weg-sprengen. Diese Erfahrungenmusste man auch nach demZweiten Weltkrieg machen, alsman sich der so genanntenWintermischungen zu entledi-gen hatte – eine Kombinationaus Lost und arsenorganischenVerbindungen, die in so ge-

nannte Sprühbüchsen 37 verfüllt wurde. Doch auch 30Jahre später hatte man hierfür noch kein rechtes Rezept,wie wir noch sehen werden.

Bild: Sanierung Kelsterbach. In Spitzenzeiten waren proTag 5000 Tonnen kontaminiertes Erdreich analytisch, lo-gistisch und verwertungstechnisch zu behandeln.

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LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 4/1

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg.Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle

Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen.

Die Weimarer Republik – geheime Vorberei-tung für den chemischen BefreiungskriegLeider lernt die Menschheit und auch die „zivilisierte“westliche Welt meist nur wenig aus ihren Fehlern. Da sindwir Deutschen keine Ausnahme. Der 1. WK ist ein sehrgutes Beispiel hierfür: Die – wie Historiker es heute for-mulieren – plumpe Kraftmeierei Kaiser Wilhelms hatte diemilitärische Konfrontation provoziert, es war das DeutscheReich gewesen, das den Gaskrieg begonnen hat, und diezweifelhafte Genialität des „chemischen Kampfgespanns“aus Militär, Industrie und Wissenschaft war schließlichmaßgeblich für die Eskalation der chemischen Kriegsfüh-rung verantwortlich gewesen. Am Ende standen zehnMillionen Tote. Obwohl nur etwa jeder Zehnte durch Giftstarb, hätte die insgesamt hergestellte Menge rein rech-nerisch gereicht, die Menschheit auszurotten. Nun ist derErste Weltkrieg vorüber, die Weimarer Republik wird aus-gerufen, und Deutschland ist (zumindest offiziell) dabei,das Kriegspotenzial zu vernichten. Ein guter Zeitpunkt füreinen Neuanfang ... so müsste man meinen. Und wenn ichmich an den Geschichtsunterricht erinnere, so habe icheigentlich von dieser Republik – der ersten ChanceDeutschlands für die Demokratie – nur Gutes gehört.„Böse Deutsche“ gab es ja nur in der Zeit des Nationalso-zialismus (und das Böse dieser Zeit wird heutzutage jaeinfachheitshalber nur noch auf die Judenverfolgung unddie KZs komprimiert). Doch war die Republik wirklich sotoll und friedlich, wie es uns die Geschichtslehrer beige-bracht haben? Nein, bei weitem nicht.Das „aggressive Großmachtstreben“ war in der Schlachtnicht besiegt, es war noch immer da, latent, von den Mili-tärs gepflegt und von der Politik finanziert, und es wuchsund gedieh. Und bis zur „Machtergreifung“ durch dieNationalsozialisten (die ja keine „Ergreifung“ sonderneine demokratische Wahl war), gab es – was die kriegs-chemische Rüstung betrifft – keinen merklichen Sprung.Vielmehr kümmerte sich die Weimarer Republik intensivum die „Erhaltung der deutschen Wehrfähigkeit auf demGaskampfgebiet“, während sie nach außen Versöhnungs-bereitschaft vortäuschte. Sie war maßgeblich an derGrundsteinlegung beteiligt, die Hitler später die prinzi-pielle Wahl zwischen Kampfstoff und Sprengstoff offenhielt. Doch greifen wir nichts vorweg. Wollen wir uns nunim geschichtlichen Kontext ansehen, welche Rolle dem„König der Kampfstoffe“ in dieser Zeit zuteil wurde.

Keiner lernte dazuWährend das Volk die Sinnlosigkeit des Kriegs eingese-hen hatte und durch Meuterei maßgeblich an der deut-schen Kapitulation beteiligt war, wurde die Niederlage inden führenden Kreisen Deutschlands und insbesonderevon den Militärs nicht akzeptiert.Noch ehe die Friedensverhandlungen begannen, dachteman sogar schon über eine Wiederaufnahme der Kämpfenach. Doch zuerst einmal musste die innere OrdnungDeutschlands wieder hergestellt werden, dann konnteman über weitere Schritte nachdenken ...Auf Grund der Kriegsentwicklung war allen Staaten klargeworden, dass der Einsatz von chemischen Kampfstoffenim Kriegsfall über Sieg oder Niederlage entscheidenkann. So rechneten alle damit, dass der nächste Krieg ein

chemischer sein würde, der wahrscheinlich sogar von derLuft aus geführt werden würde. Nach Kriegsende gab esallerdings nur vier Staaten, die als wirkliche Gasmachtbezeichnet werden konnten: Das waren die USA, Großbri-tannien, Frankreich (das mit Schwierigkeiten in der Lost-herstellung zu kämpfen hatte) und natürlich Deutschland,das die Rolle des Spitzenreiters in der Kampfstofftechno-logie inne hielt. Und alle wussten, dass insbesondere dasLost, das Deutschland beinahe zum Sieg verholfen hatte,auf Grund seines ambivalenten Charakters sowohl alsaktiver als auch passiver Kampfstoff mannigfaltige Ein-satzmöglichkeiten bot.Sollte es irgendwann wieder zu kriegerischen Ausein-andersetzungen kommen, so lag die Entscheidung überSieg oder Niederlage eindeutig an der Beherrschung desKönigs der Kampfstoffe als Waffe.Allerdings war auch bei den Gasmächten der Kenntnis-stand über diese Substanz noch viel zu gering. Was fehltewaren fundierte Daten über Toxikologie, Geländesesshaf-tigkeit, Abbauverhalten unter Atmosphärenbedingungen,Detonationsbeständigkeit, waffentechnische Einsatzmög-lichkeiten (insbesondere von der Luft aus), um nur einigezu nennen, und natürlich ein billiges Herstellungsverfah-ren. Und so führten alle Siegermächte nach dem Kriegs-ende praktisch ohne Unterbrechung ihre Kampfstoff-forschungen fort bzw. intensivierten sie. Ein Beispiel:Bereits Ende 1917 war der Multifunktionsgasplatz „Edge-wood Arsenal“ errichtet worden. Er wurde nun zum zentralen US-Kampfstoff-Forschungszentrum ausgebaut.Aber auch andere Nationen wollten nicht ins Hintertreffengeraten: In Italien entstand unter Mussolini der „ServizioChimico Militare“. Berühmte Köpfe wie der Kampfstoff-Toxikologe Alessandro Lustig (1857-1937), der an der Uni-versität Florenz forschte, und der Militärchemiker MarioSartori, der später in die USA emigrierte und 1939 dasStandardwerk „Die Chemie der Kampfstoffe“ schrieb,gingen aus dieser Einheit hervor. Nicht ohne „Erfolg“: Italien setzte Lost im Krieg gegen Abessinien (1935/36)ein. Auch Japan begann 1928 im Tandanoumi Arsenal mitder Lostproduktion und investierte große Summen in dieForschung – ebenfalls nicht umsonst, denn 1938 setztensie ihre Kampfstoffe gegen China ein. Und natürlich führ-ten auch die Großbriten ihre Aktivitäten in Porten Downfort, von dem wir ja schon gehört haben. Hier wurden imJahr 1923 allein über 80.000 Pfund für Tierversuche aus-gegeben. 618 Tiere starben.Alle forschten, und einer sollte zuschauen – Deutschland.Es war ja gemäß Versailler Vertrag, der 1919 ratifiziertwurde, unter anderem die Herstellung bzw. Erforschungchemischer Kampfstoffe (übrigens auch die Entwicklungvon Schutzmaßnahmen) verboten. Das war für die Militärs nicht akzeptabel. Keinesfallskonnten sie bei einer für die Vaterlandsverteidigung soeminent wichtigen Sache wie chemische Waffen insHintertreffen geraten. Und die Gaswaffe war gerade füruns Deutsche ideal, da wir ja neben dem technischen Vor-sprung eine „Überlegenheit in Moral und Disziplin“ besa-ßen. So lauteten jedenfalls die Äußerungen all derer, diesich für eine Wiederaufnahme der Kampfstoffproduktionund -forschungen einsetzten. Es stellte sich also die Frage: Wie für einen (chemischen) „Befreiungskrieg“ forschen, ohne dass „der Feind“ (wer auch immer dasdamals gewesen sein mag) etwas merkt?

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Ein geschickter Schachzug

Zunächst stellte sich jedoch eine noch viel wichtigere Fra-ge: Wie verhinderte man einen – wie man heute so schönsagt – Technologietransfer? Deutsches Kampfstoffwissendurfte keinesfalls in Feindeshände fallen. Wie war nocheinmal die Ausgangslage nach Kriegsende? Erinnern wiruns an Jürgen Thiemes Ausführungen im Teil 3 der LGARundschau: Im Juni 1919 wurde der Versailler Vertragunterzeichnet, die völkerrechtliche Umsetzung erfolgtejedoch erst im Januar 1920 und erst ab diesem Zeitpunktkonnten die alliierten Kontrolleure aktiv werden. Man hat-te also nicht sehr viel Zeit nach dem Krieg.Zunächst einmal musste natürlich die Füllstelle in Berlin-Adlershof weg, und zwar schnell. So verwundert es nicht,dass sie bereits 1919 abgebrochen war – noch ehe die

Interalliierte Militärkommission zu einer Besichtigungkommen konnte. Die kontaminierten Schuttreste wurdeneiligst mit Lagen aus Chlorkalk vergraben. Aber da war jaauch noch der Gasplatz Breloh mit seiner Füllstelle, dieunter der Leitung Dr. Hugo Stoltzenbergs (1883-1974),einem Schützling Habers von dem wir noch hören wer-den, gebaut worden war. Dorthin sollte ja auch alleKampfstoff-Munition zur Vernichtung gelangen. Und dieswar eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappezu schlagen. So ereignete sich im Oktober die Großexplo-sion, von der wir ja schon gehört haben. Angeblich warsie von einem Brand in einer Werkstatt ausgegangen,doch sind sich verschiedene Historiker heute sicher: Siewurde von Militärs inszeniert, die bis heute unerkanntgeblieben sind. Was war das Ergebnis? Eine halbzerstörteFüllstelle, ein völliges Durcheinander in den Kampfstoff-

Vielleicht fragt sich der eine oder andere Leser, ob esEdgewood noch heute gibt? Kehren wir für also einenMoment in die Gegenwart zurück – Auch die USA habendas Genfer-Chemiewaffenprotokoll von 1993 unterzeich-net (bis 1996 taten dies 160 Länder). Es verbietet die Ent-wicklung, Herstellung, Beschaffung, Lagerung und denEinsatz von Chemiewaffen und schreibt die Vernichtungaller Chemiewaffenbestände und der Anlagen zu derenProduktion vor. Und so wird sich in Edgewood nach fast100 Jahren der tragische Kreis um den König der Kampf-stoffe auch wieder schließen: Bis zum Jahr 2003 soll hierdie „Aberdeen Chemical Agent Disposal Facility entste-hen – eine Anlage zur Vernichtung der dort noch in gro-ßen Mengen lagernden Lostbestände. Vielleicht sind denAmerikanern die unangenehmen Erfahrungen der Deut-schen bei den Vernichtungsversuchen nach den beidenKriegen bekannt geworden. So versuchen sie etwas Neu-es – Neutralisation mit anschließendem biologischenAbbau. Wir werden sehen, ob diese Methode erfolgrei-cher ist. Aber hierüber wird Herr Krippendorf in einerspäteren Ausgabe sicherlich noch berichten.

Prinzip her wie das deutsche Breloh oder das englischePorten Down aufgebaut war. Er stellt einen Teil des heutigen so genannten Aberdeen Proving Grounds dar.Einerseits befanden sich dort Produktions- und Abfüll-anlagen für Phosgen, Lost und Chlorpikrin. Andererseitswurde hier Grundlagenforschung betrieben.Ein Schwerpunkt war die Suche nach neuen Stoffen. Sotestete man nach Kriegsende etwa 4.000 Substanzensystematisch auf Ihre Verwendungsmöglichkeit alsKampfstoff. Etwa 60 erwiesen sich toxikologisch alsbrauchbar. Diese wurden dann feldmäßig getestet.Der zweite Schwerpunkt war die Lostforschung. Und dadie USA schon immer ein weltoffenes und global den-kendes Volk waren, erprobten sie zunächst einmal dieWirkung an verschiedenen Menschenrassen – schließ-lich wollte man ja wissen, gegen weichen Feind es ver-wendbar sei. Versuchspotential war in demEinwanderungsland ja reichlich vorhanden. Bei denTests stellten sie übrigens fest, dass es so richtig schöneBlasen nur bei hellhäutigen Rassen gibt – Lost alsogegen Schwarze nur bedingt verwendungsfähig ist.Das war übrigens nicht das einzige Mal, dass die USAMenschenversuche durchführten ..., doch hierüber dem-nächst mehr.Weitere Lost-Forschungsschwerpunkte in Edgewoodwaren die Entwicklung von Schutzmaßnahmen undnatürlich die Prüfung von neuen taktischen Einsatzfor-men wie Bomben, Flugzeug-Absprühgeräten oder Ab-blasepanzern. Natürlich kostete das einiges, Edgewoodhatte im Rechnungsjahr 1924/25 ein Budget von fast 24 Mio Dollar, für damalige Verhältnisse unvorstellbarviel Geld.Wie wichtig die Amerikaner Kampfstoffe in einem künf-tigen Krieg einschätzten, zeigte sich nicht nur an denInvestitionssummen sondern auch daran, dass sie nebenden „Marines“ und der „Navy“ das „Chemical Corps“

mit einem eigenem Generalstab gründeten. Das chemi-sche Treiben erreichte im Zweiten Weltkrieg seinenHöhepunkt. Das so genannte CASY (Chemical Agent Sto-rage Yard) – ein Speziallager für Lost wurde errichtet.Zusammen mit dem angrenzenden Truppenübungsplatzarbeiteten damals Über 30.000 Menschen auf demStandort. Nach Kriegsende verlegte Edgewood seinenSchwerpunkt dann auf die Entwicklung von chemischenAbwehrmaßnahmen. Eine chemisch-biologische Ab-wehreinheit sowie medizinische Forschungseinrichtun-gen für chemische Verteidigung entstanden.

Fasslagerbereich des CASY. Jeder der 1.800 Container enthält 1 tLost (die Aufschrift HD ist die militärische Bezeichnung) – das istallerdings nur ein kleiner Teil der in den USA zu vernichtendenLost-Menge. (Bildquelle: Homepage des Arsenals)

Das Edgewood ArsenalEtwa sechs Monate nachdem die Amerikaner in denErsten Weltkrieg eingetreten waren, errichteten sie imNovember 1917 den ersten Multifunktions-Gasplatz, dasso genannte Edgewood Arsenal in Maryland, das vom

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bilanzen, bei denen kein Mensch mehr durchblickte, wie-viel noch von was übrig war bzw. was explodiert war, undein schön kontaminiertes Areal, das für längere Zeit alsunbetretbar galt bzw. so dargestellt werden konnte. Insge-samt eine prima Ausgangslage für weitere geheime Akti-vitäten ... Und so verwundert es wenig, dass es gerade Dr.Hugo Stoltzenberg war, der die Koordination der „Aufräu-mungsarbeiten“ übernehmen sollte. Ein Mann, der inoffi-ziell von der Reichswehr den Auftrag hatte, dieWehrfähigkeit des Deutschen Volkes auf dem Gaskampf-gebiet zu erhalten. Stoltzenberg war auf seine Weise ein

guter Mann. So erfand er nicht nur, wie Kampfstoff-Muni-tion vernichtet werden konnte, sondern zeigte auch eineganze Reihe weiterer vielfältiger Aktivitäten: Er richtete u. a. ein Geheimlabor ein, in dem er verdickte Loste, sogenannte Salbenloste ersonn. Aus diesen wurde dannZählost entwickelt, die wohl teuflischste Variante desKönigs der Kampfstoffe. Daneben konstruierte Stoltzen-berg im Auftrag Spaniens und mit Unterstützung derReichswehr Zünder für Lostbomben und er schaffte illegalKampfstoffe beiseite, die er an die Reichswehr und ansAusland verkaufte.

Obwohl Dr. Hugo Stoltzenberg die zentrale Figur derdeutschen Kampfstoffaktivitäten nach dem 1.WK war, ister keine „Berühmtheit“ im engeren Sinn. Eine Biografieüber ihn gibt es nicht, keiner hat sich offensichtlich bis-her näher mit seinem doch recht bewegten und langenLeben befasst. Aus den mir vorliegenden Büchern lässtsich sein Lebenslauf etwa wie folgt rekonstruieren:Dr. Hugo Stoltzenberg war Chemiker und kämpfte zuBeginn des 1.WKs zunächst als Leutnant an der Ostfront.Nach mehreren schweren Verwundungen kommt er andas Berliner KWI, wo er als militär-technischer Aufseherfür die (Lost)Füllstelle Berlin-Adlershof zuständig ist.Sein großes Engagement fällt auch dem Chef des KWI,Fritz Haber, auf. So setzt ihn Haber kurze Zeit später alstechnischen Bauleiter für die neu zu errichtende Lost-füllstelle auf dem Gasplatz (Feldmunitionsanstalt) Brelohein. Nach Kriegsende arbeitet er zunächst in der Krebs-forschung in Berlin, doch wird er ab Mai 1921 wiederumauf Vorschlag seines Mentors Haber mit den Aufräu-mungsarbeiten in Breloh betraut. Er gründet die Firma„Kampfstoffverwertung“ mit Sitz in Berlin.

Dr. Hugo Stoltzenberg– wohl eine der „schil-lerndsten Figuren“ desKampfstoffgeschehens im20. Jahrhundert. (Bild ausKUNZ & MÜLLER (1990) –Giftgas auf Abd EI Krim)

Ab 1922 wird er zum zen-tralen Berater der Reichs-wehr für Kampfstofffragenund knüpft in deren Auf-trag geheime Kontaktezum Ausland. So bringt er

im Juni 1922 zunächst den Vertrag zwischen Reichswehrund Spanien über Oxollieferungen und den Bau derKampfgasfabrik in Maranosa unter Dach und Fach. Mitder Provision beginnt er am 11. Januar 1923 mit dem Bauseiner Hamburger Fabrik an der Müggenburger Schleu-se zur Herstellung von Kampfstoffen. Er wird zum Liefe-ranten für die Reichswehr. 1923 errichtet er im Auftragder Reichswehr mit Hilfe von Siemens und Linde eineLost-Produktionsstätte in Trock/Rußland. Nebenher ver-kauft er sein Kampfstoff-Know-how an Brasilien, Grie-chenland und Jugoslawien, was ihm immer wieder Ärgermit der Reichswehr einbringt. Während seiner Reisenführt seine Frau Margarete Stoltzenberg, geb. Bergius(1892-1950), ebenfalls Chemikerin und Schwester desChemie-Nobel-Preisträgers Friedrich Bergius, seineGeschäfte weiter. 1924 – zu dieser Zeit beliefert er imRahmen einer „deutschlandweiten allgemeinen Vorbe-reitung auf den Gaskrieg“ Schulen im Reich mit der sog.„Geruchstasche“ – erhält er von der Reichswehr denGroßauftrag für den Bau des Lost-Werks in Gräfenhaini-chen/Halle. 1926 lässt ihn die Reichswehr jedoch fallen

– kurz darauf muss er (für das Russlandprojekt) Ver-gleich anmelden und er verliert sein Hamburger Werk.Ihm bleibt jedoch eine Zweigniederlassung in Bitterfeld,wo er mit 200 Mitarbeitern Anlagen zur Kampfstoffpro-duktion herstellt. Am 20. 5. 1928 ereignet sich auf seinemBetriebsgelände in Hamburg ein Betriebsunfall, bei demes zur Freisetzung von Phosgen kommt. Zehn Menschensterben; über 300 werden vergiftet. Durch seine Bezie-hungen zur Reichswehr wird er nicht zur Rechenschaftgezogen. 1929 erwirbt er ein neues Gelände in Ham-burg-Eidelstedt als Produktionsstätte. Anfang der 30erJahre beginnt er eine Reihe von Veröffentlichungen.1930 erscheinen seine „Darstellungsvorschriften fürUltragifte“, ein recht makaberes, nennen wir es „Koch-buch“, zur Herstellung von Kampfgasen, das dem „jun-gen Militär und Gasoffizier“ ein gefahrloses Arbeitenmit den „etwas unheimlichen Stoffen“ ermöglichen soll-te. Vermutlich im gleichen Zeitraum erscheinen die„Hefte der chemischen Fabrik Stoltzenberg“, die sich invier Bänden mit dem Gaskampf und dem bakteriologi-schen Krieg befassen. Im Eigenverlag veröffentlicht sei-ne Frau die Broschüre „Was jeder von Gaskampf undden chemischen Kampfstoffen wissen sollte“. Ab 1933berät er die Nationalsozialisten in chemischen Fragen.1938 arbeitet er für das Reichsamt für Wirtschaftsaus-bau, wo er „Gedanken eines Kampfstoffchemikers zurStrategie und Taktik der Gaswaffe“ verfasst. 1941 wirder Mitglied der NSDAP und errichtet in Berlin eineZweigniederlassung. Nach 1945 erhält er von Schleswig-Holstein und dem Staat Hamburg den Auftrag, alleNebelsäuretanks, die zur Tarnung von Industrieanlagengedient hatten, einzusammeln und zu entsorgen. NachKriegsende stellt er in seinem Hamburger Werk allerleiher: Tränengas, Reizpatronen, Nebelkerzen, Übungs-brandsätze, Blausäure, Schädlingsbekämpfungsmittel,Begasungspulver, Wühlmaus- und Gaspatronen, Betäu-bungs- und Scheintodwaffen, darüber hinaus Gas-masken, Kampfstoffspürpulver, Nebelkörper, Bunker-ausstattungen, Filtereinsätze, Schulungsunterlagen fürReizstoffe, Desinfektionsmittel, um einige zu nennen. Zuseinen Auftraggebern zählt auch die Bundeswehr, dievon 1957 bis 1963 Aufträge im Wert von 2,3 MillionenMark erteilt, darunter auch für Produktion und Delabo-rierung von Nebelkerzen. 1966 stellt er 15 kg Stickstoff-Lost für die Erprobungsstelle der Bundeswehr inMunster (das ehemalige Breloh) her. Zu seinen weiterenKunden zählen neben dem Bundesgrenzschutz auch dieInnenministerien einer Reihe von Bundesländern (nichtBayern), die er mit Tränengas beliefert. 1969, fünf Jahrevor seinem Tod, verkauft er die Firma an Martin Leusch-ner, der das Recht erhält, den Betrieb unverändert fort-zuführen. Dementsprechend ändert sich auch an denkatastrophalen Sicherheitsbedingungen im Werk unterdem neuen Betreiber nichts. Seit dem Krieg hatte es auf dem Betriebsgelände etwa 50 Brände gegeben, bei21 kam die Feuerwehr. Mehrmals erkrankten Mitarbei-ter mit (Kampfgas)-Symptomen. Stoltzenberg und sein

Hugo Stoltzenberg (1883-1974) – Experte für Hochgiftiges und Undurchsichtiges

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1919-1923 – Auswertung der Forschungen

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Wissenschaftler,die für den Gaskrieg gearbeitet hatten. Was passierte mitihnen in der Nachkriegszeit? Da war natürlich zunächstHaber. Er stand nach Kriegsende auf der Liste der Kriegs-verbrecher, wurde jedoch auf Grund seiner ausgezeich-neten Verbindungen nicht verurteilt oder ausgeliefert. Sohielt er bereits im November 1920 wieder Vorträge vorOffizieren des Reichswehrministeriums und setzte sichhierbei nach wie vor vehement für den Gaskrieg ein.Doch sein Institut für Physikalische Chemie am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) in Berlin-Dahlem, das während desKriegs als Kampfstoffforschungszentrum gedient hatte,konnte nicht in der bisherigen Form weiter bestehen.Haber war gezwungen, personelle und damit auch thema-tische Umstrukturierungen vorzunehmen.So wechselten viele der ehemaligen Abteilungsleiter zuUniversitäten über. Prof. Wilhelm Steinkopf, ehemaligerLeiter der Abteilung G (Überwachung der Fabrikationvon Geschossen und Zündern für die Gasmunition) und„Erfinder“ des Losts, ging nach Dresden, Prof. FerdinandFlury (1877-1947), der für Tierversuche bzw. „Gewerbe-hygienische Fragen“ zuständig gewesen war (AbteilungE) wechselte nach Würzburg, Prof. Heinrich Wieland (1877-1957), ehemals zuständig für die Darstellung neuerKampfstoffe (Abteilung D) ging nach München. Die ehe-malige Gasschutzabteilung unter Dr. Ludwig Hans Pick

Nachfolger genossen eine Art besonderen Schutz durchBund und Land. Im September 1979 ereignet sich dannjedoch ein Unfall, der sich zum Skandal ausweitet: DreiJungen waren in das kaum gesicherte Stoltzenberg-Gelände eingedrungen und hatten Munitionskörper mit-genommen. Beim Untersuchen in einem Keller kommt esdann zu einer Detonation bei dem ein Junge den Tod findet und zwei weitere schwer verletzt werden. Bei dendaraufhin eiligst veranlassten Räumungen des Areals, beider übrigens die umliegenden Wohnungen evakuiertund das Volkspark-Stadion gesperrt wurden, findet derSuchtrupp aus Munster 48 Tonnen Gift- und Sprengstoffe,einen mit 60 t Clark I aufgefüllten Feuerlöschteich, diver-se in und ausländische Munition, 35 Liter Tabun sowie ineinem abgeriegelten Klohäuschen acht Tabungranaten.Im juristischen Nachspiel versuchten die HamburgerBehörden die Schuld auf den Bund abzuwälzen, Leusch-ner, der Stoltzenberg im Untersuchungsausschuss als seinen „Lehrmeister“ bezeichnete, wird für „dauerhaftnicht vernehmungsfähig“ erklärt und der Vater des Jungen wird wegen „Verletzung der Aufsichtspflicht undHerbeiführung einer Explosion“ angeklagt. Bereits 1970hatten die Hamburger Behörden Ordnungsstrafen gegenAnwohner verhängt, die mit der Aufschrift „Lost = Tod“gegen die Fabrik protestierten ... wegen „Verunreini-gung von Grün- und Erholungsanlagen“.Soviel zum Leben Dr. Hugo Stoltzenbergs, für den dieBezeichnung „Kampfstoffmanager“ wohl am treffendstenwäre. Während für seinen Mentor Haber stets Patrio-tismus die Antriebsfeder war, war es für Stoltzenberg das„Geschäftemachen“. Keinem der beiden kamen jemalsirgendwelche Zweifel am Sinn ihrer angewandten, tod-bringenden Chemie. In seiner bereits 1938 erschienenen„Denkschrift“ schreibt er: „Zweck und Ziel jeden Kamp-fes ist die Erzwingung der Überlegenheit. Solche Überle-genheit kann durch physisch und psychisch wirkendeMittel erreicht werden. Sie ist immer wirksamer und dau-ernder, je weniger rohe Kraft und je mehr geistigseeli-sche Zwangsmittel Verwendung finden. Von allenKriegsmitteln hat das „Gas“ die Gegner am meistenerregt. Es hat auch die stärkste psychische Wirkung.

Allein dieses stempelt es strategisch zu einer Haupt-waffe.“Heute sind seine zentrale Rolle bei der Planung des che-mischen Befreiungskriegs, seine Beraterfunktion für dreiGenerationen von deutschen Armeen und seine Erfin-dungen auf dem Kampfstoffsektor (er besaß 150 Paten-te) weitgehend in Vergessenheit geraten. Was ihm bliebist der Ruf des erfolglosen Betreibers einer „Giftküche“in Hamburg. Übrigens beschäftigt diese Giftküche nochheute die Hamburger Behörden: Denn bei der Räumung1980 wurden nur die Gebäude von chemischen Stoffengeräumt und abgebrochen. Anschließend wurde derBoden ausgehoben, von Chemikalienbehältern undAmpullen befreit und wieder eingebaut. Nachdem 1991bis 1994 eine Bodenluftsanierung erfolglos betriebenwurde, begann man ab 1996 mit der Sanierungsvorpla-nung, denn es lagen umfangreiche Bodenkontaminatio-nen durch halogenierte Kohlenwasserstoffe, Hexa-chlorhexan, Polycyclische Aromatische Kohlenwasser-stoffe, Schwermetalle und Arsen sowie Verunreinigun-gen des Grundwassers vor. Die Sanierungsmaßnahmensind seit einiger Zeit angelaufen.

(geb. 1884) wurde 1921 nach Hannover verlegt und setztedort unerkannt ihre Arbeiten fort.Mit der neuen Crew standen nun auch zivile Forschungs-vorhaben, wie die Gewinnung von Gold aus Meerwasser,auf Habers Forschungsplan. Trotz dieser neuen Schwer-punkte beschäftigte sich eine kleine Gruppe von Wissen-schaftlern des KWI jedoch weiterhin mit Kampf- bzw.Giftstoffen, finanziert durch die Reichswehr. So wurde u. a.daran gearbeitet, das Blausäure-Vergasungsverfahren zurationalisieren. Nach außen hin wurden diese Versucheals Forschungen zur Schädlingsbekämpfung deklariert,doch hatten Flury und Heubner (Wolfgang, 1877-1957)bereits zu Kriegszeiten über die Verwendungsmöglich-keit von Blausäure als Kampfgas geforscht. In langen Rei-hen hatten die beiden Pharmakologen das so genannte„Habersche Tödlichkeitsprodukt“ der Blausäure be-stimmt. Ihre Versuchsopfer waren Hunde, Katzen undAffen gewesen. Nun widmete man sich am Institut der Verbesserung des Produktionsverfahrens, das als Zyklon-Verfahren bezeichnet wurde (Zyklon B entsprach derzweiten Entwicklungsstufe). Ob die Forschungen damalsmehr zivile oder mehr militärische Gründe hatten, istunklar. Doch die letztliche Verwendung der Substanz istbekannt. Es ist beinahe als Ironie des Schicksals zubezeichnen, dass Zyklon B – im Labor des Juden undKampfstoffchemikers Fritz Haber entwickelt – später zurMassenvernichtung seiner eigenen Glaubensbrüder ein-gesetzt wurde.

Stoltzenbergs zweite Niederlassung – Hamburg-Eidlstedt vor der Räu-mung 1980 (aus ANGERER (1980): Chemische Waffen in Deutschland).

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Insgesamt ist in dieser Zeit festzustellen, das es in denNachkriegsjahren bei den Wissenschaftlern, die in derKampfstoffforschung gearbeitet hatten, zu keinerleiGesinnungswandel gekommen ist. Vielmehr werteten siedie während des Krieges gewonnenen Ergebnisse ausund veröffentlichten sie. Als Sprachrohr diente vorrangigdie „Zeitschrift für das gesamte Schieß- und Sprengstoff-wesen“, in der zu Beginn der 20er Jahre eine ganze Reihevon Artikeln über Kampfstoffe und Gaskrieg erschien.Woher die Gelder für das Auswerten und Zusammenstel-len der Untersuchungsergebnisse kamen, ist unklar.Sehen wir uns einige der Veröffentlichungen an:Wilhelm Steinkopf (1878-1949) übernahm, wie wir gehörthaben, 1919 in Dresden den Lehrstuhl für organischeChemie. Bereits 1920 veröffentlichte er den Artikel „Überdas Thiodiglycolchlorid und einige Abkömmlinge“. Hie-rin ging es um nichts anderes als um ein verbessertesHerstellungsverfahren für Lost. Friedrich P. Kerschbaum(1887-1946), ehemaliger Leiter der Abteilung B (Ausar-beitung deutscher Gaskampfmittel), schreibt einen Text-beitrag über „Gaskampf und Gasabwehrmittel“ in demebenfalls 1920 erschienenen Buch „Die Technik im Welt-kriege“. 1921 erscheint der als äußerst bizarr zu bezeich-nende Band XIII der „Zeitschrift für die gesamteexperimentelle Medizin“. Es ist die erste deutschsprachi-ge umfassende Zusammenstellung toxikologischer Datenüber Kampfstoffe.Bei den Textbeiträgen handelt es sich teils um For-schungsergebnisse, die noch während der Krieges amKWI gemacht worden waren (Tier- und Menschenversu-che), teils handelt es sich um Untersuchungen an Kriegs-opfern. Die Beiträge zum Thema Lost stammen vonFerdinand Flury (1877-1947), Prof. Dr. Heinrich Wieland(1877-1957) sowie von Dr. Otto Heitzmann. Im Eingangs-kapitel des Bandes schreibt Flury über die durch Gas imKrieg Geschädigten: „Es stand also für das Studium einüberaus reiches und seltenes Material zur Verfügung, des-sen Wert auch neben den schweren Opfern, mit denendieser erkauft ist, noch stark ins Gewicht fällt.“ Doch sein„Material“ bestand nicht nur aus Kriegsgeschädigten.Flury und Wieland hatten auch eine ganze Reihe von Tier-und Menschenversuchen mit Lost durchgeführt, wie ihremTextbeitrag in dem Band zu entnehmen ist, und auf die ineinem nächsten Teil noch zu sprechen sein wird. Dr. OttoHeitzmann war Assistent am Pathologischen Institut derUniversität Berlin. Er wertete systematisch Sektionsbe-richte von Lostopfern verschiedener Ärzte aus und führtemikroskopische Untersuchungen an histologischenSchnitten durch. Ergänzend stellten ihm die Ärzte, die imKrieg die Opfer obduziert hatten, auch Anamnese undOrganproben zur Verfügung. Bei all diesen Auswertungenund Arbeiten stellt sich nun eine Frage: Wer finanziertesie? Über welche Kanäle kommt ein Assistent eines Patho-logischen Instituts an Organproben von Lostopfern? Obhier Militärs dahinter steckten ist unklar.

1923 bis 1925 – Schaffung einer ausbau-fähigen Produktion

Und wie sah es in den ersten Jahren nach dem Krieg mitder Reichswehr aus, die 1920 neu gegründet wurde (dasReichsheer des 1. WKs war aufgelöst worden)? Einesstand gleich von Beginn an fest: Nach einer Vorberei-tungszeit von etwa drei bis fünf Jahren war ein Befreiungs-krieg geplant. Und da man auf dem Sektor derkonventionellen Rüstung zu sehr beschränkt und kontrol-liert war, plante die neue „Landesverteidigung“, denNachteil durch chemische Kriegsmittel auszugleichen.Grundkonzept war hierbei „die Kampfstoffproduktion inKleinanlagen so zu entwickeln, dass eine rasche und rei-

bungslose Einrichtung von Großanlagen im Bedarfsfallesichergestellt ist“.Doch dies konnte zunächst nur im Geheimen vor sichgehen. So blieb die ehemalige Gastruppe bestehen. Siewurde unauffällig in der Inspektion 4 der Abteilung Artil-lerie untergebracht. Auch der Generalstab wurde – ent-gegen internationaler Abmachungen – nicht aufgelöstsondern als so genanntes „Truppenamt“ getarnt. Erstegrößere Aktivitäten der Reichswehr sind aus dem Jahr1923 überliefert, als im Januar eine Besprechung zwi-schen Stoltzenberg und der Reichswehr über die „Erhal-tung der Wehrfähigkeit auf dem Gaskampfgebiet“stattfindet. Stoltzenberg, der im Krieg die Lost-FüllanlageBerlin-Adlershof geleitet hatte und dann mit dem Bau desLost-Füllwerks in Breloh beauftragt war, wurde in derNachkriegszeit – neben seiner Aufgabe in Breloh – zumzentralen Ansprechpartner der Reichswehr für Fragender chemischen Aufrüstung. Als Besprechungsergebniswird noch im gleichen Jahr die „Kommission für chemi-sche Fragen“ gebildet, die sich ab da regelmäßig trifft.Sie setzt sich aus Vertretern des illegalen Generalstabsund Leitern wissenschaftlicher Forschungsinstitute bzw.Hochschulen zusammen und wurde vom Chef des Heeres-waffenamts geleitet. Noch im gleichen Jahr bespricht mandie Vorbereitung der Kampfstoffproduktion und die Ent-wicklung einer Gasbombe.

Die Deutsch-Russische Kampfstoffallianz

Da die Möglichkeiten auf deutschem Boden begrenztwaren, knüpfte man gleichzeitig Kontakte zur sowjeti-schen Regierung. Ihnen war die chemische Kriegsfüh-rung noch gut in Erinnerung, denn im 1.WK hatten sie diemeisten Gastoten zu verzeichnen. Sie selbst verfügtendamals jedoch kaum über Kampfstoff-Know-how. Daherwurden in der Nachkriegszeit vier Gaskampfinspektio-nen und die „Gesellschaft der Freunde der chemischenLandesverteidigung“ (Dobrochim) eingerichtet. In derNähe von Moskau wurde ein Gasübungsplatz gebaut.Mehrere Gasfabriken existierten bereits. Die praktischenVersuche wurden an Strafgefangenen vorgenommen –also alles in allem ein „idealer“ Partner für Deutschland.Mit deutscher Technologie und russischem Naturschätze-Potenzial sollte eine Großanlage für Lost erbaut werden,die außerhalb des Zugriffs der Alliierten lag.Parallel hierzu sollte ein Versuchsplatz errichtet werden,auf dem umfangreiche Geländetests, insbesondere mitLost von Flugzeugen aus, möglich waren. Die bisherigengeheimen Plätze in Unterlüß und auf der Kurischen Neh-rung waren hierfür nicht mehr ausreichend. Es entbehrtnicht einer gewissen Komik – jedenfalls standen sich imMärz 1923 Haber, der „Erfinder“ des Gaskriegs, und derrussische Vertreter seiner damaligen Opfer Nikolajewitschlpatieff (1867-1952), der wiederum Organisator der russi-schen Kampfstoffproduktion im 1. WK war, auf einerBesprechung in Berlin gegenüber, bei der die künftigeZusammenarbeit auf dem Gaskampfsektor beschlossenwurde. Und dies kaum vier Jahre nach dem Ende derKämpfe.Die Besprechung war erfolgreich. Kurze Zeit später reisteStoltzenberg, der zum Generalbevollmächtigten derReichswehr für das Geschäft bestimmt wurde, nach Russ-land, um die Details festzulegen. Als Standort des Lost-(und Phosgen)werks, das „Trotzk“ genannt wurde, dienteTschapajewsk an der unteren Wolga. Zur Abwicklunggründete man die deutsch-russische Aktiengesellschaft„Bersol“. Diese schloss wiederum mit der Fa. Gefu(Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmun-gen) einen Vertrag über die Lieferung von 1.230 tLost/Jahr. Fortsetzung folgt

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MITTEILUNGEN 3/200922

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 4/2

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnbergmit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht,Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch,Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, LeitstelleAltlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen

Hinter dieser Firma steckte eine Tarngesellschaft derReichswehr. Geschäftsführer waren die Militärs Gene-raloberst Hans von Seeckt (1866-1931) und Major FritzTschunke sowie der Kaufmann Theodor Eckardt.Doch war nicht vor 1925 mit dem Baubeginn zu rech-nen, und dies passte natürlich nicht zum Zeitplan des„chemischen Befreiungskriegs“. So beschloss dieKommission im Januar 1924 die Wiederaufnahme derKampfstoffproduktion im eigenen Land. Zunächst führ-te man eine Bestandsaufnahme durch: Die Rheinzonewar entmilitarisiert, die IG Farbenwerke in Ludwigsha-fen, Höchst und Leverkusen fielen damit als Produk-tionsstätten aus. Die Kampfstoffanlagen warenentweder demontiert oder zur zivilen Nutzung umge-baut worden.Potenzielle Produktionsstandorte blieben die AGFA-Werke in Wolfen für Blaukreuz (4 t/Tag) und einegeringe Menge Lost (12 t/Tag), die Chemische FabrikHeyden in Radebeul-Dresden für Grünkreuz (2,5t/Tag) sowie Stoltzenberg’s Klitsche in Hamburg für dieProduktion von Grünkreuz (3 t/Tag) und Gelbkreuz(20-25 t/Monat). Den Bau seines Werks hatte er mit Hil-fe der Provisionen aus dem Spaniengeschäft finanziert.Bei allen Standorten handelte es sich um Kleinbetriebemit nur geringen Kapazitäten. Die Reichswehr wusste,damit war keine chemische Befreiungsschlacht zugewinnen. So erhielt Stoltzenberg den Auftrag, in Grä-fenhainichen bei Berlin eine Großanlage für Chlor mitverschleierter Lostproduktion und angeschlossenerFüllstelle (diese waren überhaupt nicht vorhanden) zuerrichten. Die Kapazität sollte 7.000 t Lost/ Jahr betra-gen. Hierfür standen 2,5 Mio RM zur Verfügung. Paral-lel hierzu wurde die Produktion bei AGFA aufgestockt.Stoltzenberg stand bei all seinen Aktivitäten stets inKontakt mit Haber und besprach sich aber auch mitFlury, Kerschbaum, der nach wie vor am KWI war, undKarl Quasebart (1882-1949) von der Auer Gesellschaft,von der wir noch hören werden.

1925-1926 – Ein Know-How-Vorsprungmuss herDie Produktionsvorbereitungen waren ins Rollengebracht worden, nun konnte man sich anderen Din-gen widmen. So wurde auf der Besprechung imDezember 1924 ein Fragenkatalog über Kampfstoffebzw. einen möglichen chemischen Krieg erarbeitet, indem die „Produktentwicklung“ wie man heute sagenwürde, detailliert festgelegt wurde: zunächst sollte einneuer Kampfstoff entwickelt werden (dies gelang erst10 Jahre später), ein Stoff zur Entzündung der Aktiv-Kohle des Gegners war zu erfinden (dies gelangnicht), die bestehenden Kampfstoffe sollten verbessertwerden (was Stoltzenberg mit Zäh-Lost erreichte), undschließlich brauchte man bessere und billigere Her-stellungsverfahren (dies wurde bei Gelbkreuz mit demDirekt-Lost-Verfahren erreicht). Während Stoltzenbergzur Säule der industriellen Erprobung wurde, über-nahm Flury die Koordination sämtlicher toxikologi-scher Forschungen. Im Vertrag, den er 1924 mit derReichswehr schloss, heißt es, er übernehme „Arbei-ten, welche die Erforschung der Wirksamkeit zurSchädlingsbekämpfung geeigneter chemischer Stoffe

auf den tierischen undmenschlichen Orga-nismus betreffen“.Universitäten und Tech-nische Hochschulen inganz Deutschland warenan den Versuchspro-grammen, die über10.000 Substanzen betra-fen, beteiligt. So forschteSteinkopf in Dresden,Arthur Hantzsch (1857-1935) in Leipzig und Jan-der in Göttingen. InErgänzung zu denGrundlagenforschungenerrichtete die Reichs-wehr auf der ZitadelleBerlin-Spandau einKampfstofflaboratorium,

das spätere „Heeresgasschutzlaboratorium“ der Wehr-macht. Sieht man sich heute die Websites der betref-fenden Universitäten an, so ist unter dem Link Historynichts über diese Aktivitäten zu finden. Auf der Dres-dener Homepage heißt es zum Beispiel sehr verklau-suliert: „Das Extraordinariat für „Sondergebiete derorganischen Chemie“ ging 1919 auf den vormaligenAbteilungsvorsteher am Kaiser-Wilhelm-Institut für Phy-sikalische und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, WilhelmSteinkopf über. W. Steinkopf hat seine Lebensaufgabe inder gründlichen Erforschung des schwefelhaltigen Ana-logons des Benzols, des Thiophens, gesehen; er hat siegegen Ende seines Lebens durch eine Monographieüber dieses sehr umfangreich gewordene Gebietgekrönt“.

Organisationsstruktur der Kampfstoff-bzw. Lostforschungen in der WeimarerRepublikZentrale Koordination

Professor Ferdinand Flury, Universität Würzburg(Schutzsalben, Behandlung)

HeereswaffenamtGeneral Max LudwigGeneralleutnant von Vollard-Bockelberg

IndustrieAuerwerke Oranienburg(Oxol-Lost-Versuchsanlage, Materialprüfung)

Priv. KampfstofflaborDoktor-Ingenieur Stantien(Mischungen Lost/Adamsit)

WehrwirtschaftMajor Georg ThomasOberregierungsrat Docktor Zahn

Truppenamt (Artillerie)Hauptmann H. OchsnerMajore Auer, Bergmann, Zenetti

Reichsgesundheitsamt(Testung von Schutzmaßnahmen, Kombination von Lost und Arsenorg.)

Ferdinand Flury, ehemaliger Abtei-lungsleiter am KWI, dann Ordina-rius für Toxikologie an derUniversität Würzburg, war der Koor-dinator des Forschungsverbands.

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MITTEILUNGEN 3/2009 23

SanitätswesenDoktor Rundolf Hanslian, Doktor Otto Muntsch (Toxikol. Tests, Entgiftung)

ForschungSteinkopf, Universität Dresden (Arsenverbindungen, Mischungen mit Lost) Hantzsch, Universität Leipzig (Lostvarianten) Hase, Biologische Reichsanstalt Berlin (Tierversuche) Trenel, Geologische Landesanstalt Berlin (Halogen-Nitroverbindungen) Jander, Universität Göttingen (Fluorhaltige Stoffe) TH Berlin: Schaarschmidt (Verbesserung des Direkt-Lostverfahrens) Hoffmann (Halogenhaltige Substanzen, Quecksil-berlost, Cycl. Lost) Richter (Tierversuche mit Lostdampf) Wirth (Geländetests in Kummersdorf) Krause (Schwermetallverbindungen) Obermiller (Entgiftung, Syntese, Winterlost)

1926 wird Deutschland offiziell der passive Luftschutz

erlaubt. Anstoß hierfür hatte der Leiter des Instituts fürGasanalyse der TH Berlin Prof. Fritz Wirth gegeben.Rasch entwickelte sich daraufhin in Deutschland eineIndustrie für Masken, Filter, Schutzanzüge und -salben.Natürlich brauchte man zu Übungszwecken Kampf-stoffmuster. Und hier zeigte sich wieder das Talent deszu dieser Zeit offiziell bankrotten Kontaktmanns Stolt-zenberg. Er lieferte an Schulen die so genannte„Geruchstasche“. Sie enthielt neben einer Broschürezwölf präparierte Gummistreifen, die mit winzigenKampfstoffmengen getränkt waren, sowie ebenfallskampfstoffgetränkte Streichhölzer, die den Kampfstoffbeim Verschwelen freisetzten.

Die IG-Farben stoppt die VorbereitungenWährend die Forschungen auf Hochtouren liefen, star-tete im Dezember 1925 mit deutschem Personal dieVersuchsproduktion in Trotzk. In diesem Zusammen-hang ist erwähnenswert, dass das Deutsche Reich imJuni gleichen Jahres das Genfer Protokoll über das„Verbot von erstickenden, giftigen oder ähnlichenGasen“ unterzeichnet hatte und dass Deutschland1926 dem Völkerbund beigetreten war. Die klar struk-turierten Kriegsvorbereitungen wurden nun jedoch

Die Kampfstoff-Aktivitäten der Weimarer Republik,die kaum vier Jahre nach den Schrecken des Gas-kriegs einsetzten, müssen aus heutiger Sicht als (wei-terer) dunkler Punkt in der deutschen Geschichtebezeichnet werden: Die zentrale Figur in der Außen-politik jener Zeit war Gustav Stresemann, der auchheute noch großes Ansehen genießt. Sehen wir unsseine Stellung im rüstungschemischen Kontext näheran:Schon den I.WK hatte Stresemann als „Kampf Deutsch-lands um machtpolitische Gleichberechtigung“betrachtet. Im ersten Teil des Artikels haben wir jaschon erfahren, das zu dieser Zeit eine Art „neuroti-scher Massennationalismus“ herrschte. Bei derBedeutung des Wortes „machtpolitische Gleichbe-rechtigung“ ist also Vorsicht geboten. Auch als dieKriegslage bereits aussichtslos war, kam für ihn ein„Verständigungsfrieden“ nicht in Frage. Die Friedens-note des Reichstags vom Juli 1917 lehnte er ab. Hierzumuss man wissen, dass er zu dieser Zeit zusammen mitGeneral Ludendorff den Sturz des Reichskanzlers Holl-

weg (1856-1921) vorbe-reitet hatte und dasReichsheer den erstenEinsatz der neuen Waffe –des Losts – vorbereitete.Ein Frieden wäre für bei-de zu jener Zeit alsoäußerst ungünstiggekommen.Nach dem Krieg wurdeStresemann Vorsitzenderdes AußenpolitischenAusschusses. Im August1923 wurde er zunächstReichskanzler, dannReichsaußenminister.Letztere Position hielt erbis zu seinem Tod im Jahr

1929 inne. Offiziell trat Stresemann für eine Politik desVerhandelns mit den Siegermächten des I. WK’s ein.So hatte im Juni 1925 auch Deutschland das GenferGasprotokoll unterzeichnet. Unser Volk verpflichtetesich hierin, auf die Vorbereitung und die Durchfüh-

rung eines chemischen Krieges zu verzichten. Im Okt-ober des gleichen Jahres unterzeichnete Deutschlandden Locarno-Vertrag, in dem Deutschland, Frankreichund Belgien auf eine gewaltsame Veränderung ihrergemeinsamen Grenzen verzichteten. 1926 tratDeutschland schließlich dem Völkerbund bei. Ent-sprechende Erklärungen des damaligen Außenminis-ters Stresemann unterstützten den offiziellen Kurs. Einbesonders vertrauensvolles Verhältnis hatte er zu sei-nem französischen Kollegen Briand aufgebaut,gemeinsam erhielten sie 1926 den Friedensnobel-preis. Doch sein Kurs beruhte nicht auf ideellen Erwä-gungen. Er wollte Deutschland vielmehr wieder inden Rang einer Großmacht heben und gleichzeitigeine britisch-französisch-russische Verständigungverhindern. Diese Großmachtstellung war nur durchdie Überwindung der Folgen des Versailler Vertragsmöglich. Um das zu erreichen, verfolgte er zwei aufden ersten Blick völlig konträre Strategien – Verstän-digungspolitik einerseits und legale und illegale Auf-rüstung andererseits. Auf den Punkt gebracht:Während er und sein Freund den Friedensnobelpreisüberreicht bekommen, läuft in Oranienburg die Lost-produktion an und Militärs üben in Tomka den chemi-schen Befreiungskrieg.Natürlich spielte in den Vorbereitungen auch dieReichswehr eine entscheidende Rolle. Nach Ende desI.WK’s war das Reichsheer zwar aufgelöst worden, die monarchistische Strukturierung wurde aber in die neugegründete Reichswehr mit hinübergenommen. EineIntegration in die junge demokratische Gesellschaft hatte nicht stattgefunden. Die Reichswehr stellte alsokein zuverlässiges Organ der politischen Führungdar, sondern bildete auch auf Grund ihrer Zusammen-arbeit mit paramilitärischen Verbänden der Rechteneine innenpolitische Gefahrenquelle. Dennoch stelltein der Weimarer Republik kein Parlamentarier jemalsdie Frage nach der Existenzberechtigung der Reichs-wehr in dieser Form. Im Gegenteil, der von derReichsregierung verabschiedete Rüstungsetat stiegstetig, während man gleichzeitig auf eine Demokrati-sierung des Militärs hoffte – vergebens. Der chemische Rüstungswahnsinn setzte also langevor der Machtergreifung durch Hitler ein.

Stresemann, Friedensnobelpreis und geheime Aufrüstung für den Gaskrieg

Gustav Stresemann - Deutschlandzur Großmacht um jeden Preis

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MITTEILUNGEN 3/200924

von einer Macht gestört, die bisher nicht in Erschei-nung getreten war: dem IG Farben-Konzern. Aus huma-nitären Gründen? Nein.Einerseits sah der Konzern seine marktbeherrschendeStellung in der Chlorproduktion (Chlor-/LostwerkGräfenhainichen) gefährdet, anderseits fürchtete erum seine Geschäfte mit dem Ausland. Wenn Gräfen-hainichen und Trotzk aufgedeckt würden, käme dasAuslandsgeschäft, das damals 50 % des Gesamtumsat-zes ausmachte, durch erneute Reglementierungen derAlliierten zum Erliegen. Daher intervenierte die IGmehrfach bei Reichskanzlei und Auswärtigem Amt.Doch mittlerweile waren die Geheimaktivitäten derReichswehr auch durch den unermüdlichen Kampf derFriedensbewegung in der Weimarer Republik an dieÖffentlichkeit gedrungen (sogar die ausländischePresse berichtete darüber). Sie übte Kritik an derStruktur der Reichswehr und deren mangelndendemokratischen Zuverlässigkeit, den immensen natio-

nalen Rüstungsausgaben, der illegalen Aufrüstungsowie am militaristischen Denken, das die deutscheSchuld am Ausbruch des I.WK leugnete.Nur knapp eine Woche, nachdem die AußenministerDeutschlands und Frankreichs, Stresemann und Briand,den Friedensnobelpreis für ihre Bemühungen um dieVerständigung zwischen beiden Ländern erhalten hat-ten, erhebt der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemannim Reichstag heftige Vorwürfe gegen die Militärpolitikder Reichsregierung. Er kritisiert die Reichswehrwegen der finanziellen Unterstützung durch die Groß-industrie, wegen ihrer Verbindungen zu rechtsgerich-teten Kampfverbänden sowie ihrer anhaltendenZusammenarbeit mit der Roten Armee. Der kurz daraufgestellte Misstrauensantrag der SPD wird im Reichstagmit 249 gegen 171 Stimmen angenommen. Das Kabi-nett Marx tritt zurück.Das fast fertige deutsche Chlor-/Lostwerk in Gräfen-hainichen wurde daraufhin Ende 1926 demontiert, die

Der Gaskrieg gegen die Kabylen – Deutsches Lost gegen „unterentwickelte Eingeborene“In der Zeit der geheimen chemischen Rüstung kamStoltzenberg eine außenpolitische Entwicklung sehrzu Gute: Anfang des Jahrhunderts hatten sich die Fran-zosen und die Spanier in einem kolonialen Kuhhandeldas Sultanat Marokko unter den Nagel gerissen, dasreich an Bodenschätzen war. Durch militärische undwirtschaftliche Kontrolle sollte ein Protektorat aufge-baut werden. Frankreich erhielt das große südlicheKuchenstück, Spanien nur einen schmalen lang gezo-genen Küstenstreifen im Norden, der von einer Viel-zahl von Stämmen besiedelt war. Von fünf an der KüsteMarokkos gelegenen Stützpunkten aus versuchte mannun, das Land zu erobern. Doch „widerborstige“Stämme, die sich nicht „beschützen“ lassen wollten,widersetzten sich und fügten der Spanischen Armeemal für mal große Verluste zu. Ein größerer Vorstoßins Landesinnere im Jahr 1921 endete in einem Desas -ter: Abd El Krim, der Anführer des größten Berber-stammes Beni Urriagel, war es gelungen, einigeStämme zum Kampf gegen die Spanier zu vereinen.Zehntausende von spanischen Soldaten starben in derSchlacht von Anual trotz militärischer Überlegenheit.Eine peinliche Niederlage gegen die „unterentwi -ckelten Eingeborenen“. Mit konventionellen Waffenwaren die perfekten Guerilla-Krieger um Abd El Krimoffenbar nicht zu „befrieden“. Giftgas musste her.Spanien war jedoch noch recht unerfahren auf diesemGebiet. Es gab zwar schon eine Füllanlage in Melilla,einem der Stützpunkte an der marokkanischen Küste.Sie war mit Hilfe Frankreichs erbaut worden. Dochhatten sie den Spaniern bisher nur Tränengase undNasen-Rachenreizstoffe zur Verfügung gestellt. Bezüg-lich Lost wollten oder konnten sie nicht so recht.So nahm Spanien über verstrickte geheime KanäleKontakt zu Stoltzenberg auf. Ihr Wunsch: Lost, sofortund soviel wie möglich, und wenn man schon dabeiwar auch gleich eine eigene Produktionsstätte.1922 traf zunächst eine spanische Delegation auf demehemaligen Gasplatz Breloh ein, um sich über dasdeutsche Know-How zu informieren. Neben den teil-zerstörten Abfüllanlagen und den Einrichtungen zurVernichtung und Umarbeitung führte er die staunen-den Besucher auch durch seine Geheimlabors. Hierarbeitete er bereits an einer schnelleren und billige-ren Methode zur Lostherstellung sowie an der Herstel-lung verdickter Loste, einer neuen wahrlichteuflischen Variante, die später unter dem Namen Zäh-lost bekannt wurde. Das war natürlich für die Spaniervon besonderem Interesse, zeichnete sich Zählost

doch durch deutlich erhöhte Sesshaftigkeit aus. Hier-mit könnten prinzipiell über viele Monate wirksameGeländesperren errichtet werden. Stoltzenberg über-zeugte.Im Juni 1922 wurde bereits der Vertrag für den Bau derAnlage unterzeichnet. Als Standort wurde Maranosabestimmt, da hier für die feldmäßige Erprobung nachBreloher Vorbild genügend Platz war und auch einBombenabwurfgelände zu Verfügung stand. Die Bau-leitung übernahm German Zimmermann, ein Studien-kollege von Stoltzenberg. In Madrid wurde eineeigene Firma gegründet, die den einfallsreichenNamen STOGAS bekam. Die Anlage wurde mit deut-schem Personal 1925 fertig gestellt.Neben dem Know-How lieferte Stoltzenberg auch ver-schiedene Kampfstoffe als Soforthilfe gegen die Auf-ständischen. Welche Arten und welche Mengen, ließsich bis heute nicht genau rekonstruieren. Von 1920bis 1923 soll er insgesamt 500-600 Tonnen Phosgenund Clark I illegal von den Breloher Beständen abge-zwackt haben, wobei jedoch ein Teil für die Reichs-wehr bestimmt war. Der Rest gelangte nach Spanienund wurde dort auch eingesetzt. Mit den erzieltenGewinnen errichtete er Anfang 1923 ein Kampfstoff-werk an der Müggenburger Schleuse in Hamburg.Doch im Juni 1923 musste er schon wieder nach Spa-nien. Dort hatte sich die Lage zugespitzt.

Der Anführerder Ryf-Kabylen– Abd El Krim.Sein Volk hattegegen deutscheKampfstofftech-nologie keineChance (ausKUNZ, MÜLLER(1990): Giftgasauf Abd EI Krim)

Am 1. 2. 23 hatte Abd El Krim seine islamische Repu-blik ausgerufen. Spanien musste handeln. Bei einerAudienz beim König fand Stoltzenberg schließlichauch eine Lösung für das Rif-Problem. Da die Anlage

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MITTEILUNGEN 3/2009 25

nicht ganz fertig gestellte Trotzker Anlage, die in derZeit noch dazu mit einem Hochwasserschaden zukämpfen hatte, wurde den Russen überlassen. Stoltzen-berg wurde kurzerhand von der Reichswehr fallenge-lassen. Seine Firma „Bersol“ musste Vergleichanmelden. Stoltzenberg verlor seinen HamburgerBetrieb. Gerechterweise muss betont werden, dasseinen Teil zu diesem Kampfstoffstopp sicher auch derneue Annäherungskurs des damaligen Außenminis -ters Gustav Stresemann (1878-1929) beigetragen hat.Er wollte die Annäherungspolitik auch innenpolitischumsetzen und hatte daher auf die Demontage der Pro-duktionseinrichtungen gedrängt.

Die geheime Neuorientierung (1927-1931)Trotz oder gerade wegen dieser Rückschläge ließ sichdie Reichswehr von ihrer Idee des chemischen Befrei-

in La Maranosa immer noch im Bau war, würde er inseiner neuen Hamburger Firma das (ungefährliche)Vorprodukt Thiodiglycol (Oxol) herstellen. In der Füll-anlage von Melilla würde es dann zu Lost umgesetztund auch gleich abgefüllt (die Kapazität betrug etwa20 Monatstonnen). Ob Stoltzenberg als Startkapitalnoch zusätzlich Lost aus Breloher Beständen beschaff-te, ist nicht geklärt. Übrigens hatte man in Melilla diegleichen Probleme, die auch in Adlershof aufgetretenwaren: Alle zehn Tage musste die komplette, 200Arbeiter umfassende Mannschaft wegen Vergiftungs-erscheinungen ausgetauscht werden. Stoltzenberg warein Meister des „Systemgeschäfts“, wie man heute soschön sagt, verkaufte er den Spaniern doch den che-mischen Angriffsplan gegen Abd El Krim gleich mit.Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Stoltzen-berg im Spaniengeschäft (wie auch im Russlandge-schäft) nur der Unterhändler war. Hinter seinenAktivitäten stand die Reichswehr bzw. der Chef desTruppenamts Otto Hasse (1871-1942). Die Abwicklungerfolgte letztlich über die Inspektion 4 (Artilleriewe-sen) des Waffenamts.Für die Reichswehr bzw. für Deutschland war das Gas-geschäft natürlich eine riskante Sache. Wenn es auf-flog, zog dies ernste politische und wirtschaftlicheKonsequenzen nach sich. So wurde Stoltzenberg kurz-erhand zusätzlich die Spanische Staatsbürgerschaftverpasst, so etwa nach dem Motto: Was kann denn dieReichswehr für die Aktivitäten des spanischen Unter-tans?Nun fragt sich der Leser vielleicht, warum die Reichs-wehr Spanien so großzügig unterstützte, eine Nation,die im 1.WK neutral war und zu der bis 1920 keinediplomatischen Kontakte bestanden hatten? Die Ant-wort ist einfach: Man konnte im Ausland das tun, wasin Deutschland sofort aufgefallen wäre: großtechnischein neues Produktionsverfahren testen, Lostbombenund Zünder entwickeln und erproben – wahrschein-lich darunter auch die Neuentwicklung Zählost – undnatürlich im großen Maßstab am lebenden Objektüben. Wer dieses Objekt war, spielte keine Rolle. Undso schickte der Chef der Heeresleitung Generaloberstvon Seeckt (1866-1936) und der Leiter des Truppen-amts Otto Hasse zwei Offiziere auf „Urlaub“ nach Spa-nien bzw. Marokko (offiziell hatten sie ihren Dienstbeendet). Die beiden (die ein ziemlicher Fehlgriffwaren) bekamen in ihrem Urlaub einiges an Anima-tion geboten: Stoltzenberg hatte sich etwas wahrlichteuflisches ausgedacht - einen kombinierten Einsatzvon Brandbomben, Tränengas-/Lostbomben und Lost-brisanz-Bomben (mit Sprengladung). Mittels Brand-und Reizstoff-Kampfstoffbomben wurden die „Auf-

ständischen“ aus ihren Unterschlüpfen in Räumegetrieben, die zuvor mit Lostbrisanzbomben bombar-diert worden waren. Parallel hierzu kontaminierte mangezielt Trinkwasser- und Nahrungsreserven (Oasen,Märkte), Straßen, Dörfer und Felder durch Lost undzerstörte so die Lebensgrundlage der Kabylen. Dastapfere Völkchen war völlig ahnungs- und schutzlos.

„StoltzenbergsVorgeschmack,das Reizgas„BN-Stoff“. Dera b g e b i l d e t e(deutsche) Sol-dat wurde beimFüllen durchaus tre tendesBrommethyle-thylketon (BN-Stoff) verätztund erblindete(aus SZILY(1918): Atlasder Kriegsau-genheilkunde).

Als man begriff, dass es sich um eine verbotene Waffehandelte, starteten sie einen Hilferuf beim Internatio-nalen Roten Kreuz. Die spanische Regierung bestrittden Einsatz von Lost natürlich, verweigerte abergleichzeitig neutralen Beobachtern die Einreise. ImFebruar 1925 erfolgte mit französischer Unterstützungein weiterer Großeinsatz, bei dem 500.000 „Zivilisier-te“ zwölftausend „Eingeborene“ einkesselten.Im Mai 1926 ergab sich Abd El Krim – sehr zum Ärgerder Spanier – den Franzosen und wurde ins Exil nachReunion gebracht (er konnte erst nach 21 Jahren flie-hen und starb im Exil in Ägypten). Einige Stämme hat-ten den Kampf noch nicht aufgegeben. Die SpanischeMilitärregierung ordnete „Strafmaßnahmen“ an, umden Wiederaufbau der Rebellion im Keim zu ersti -cken. Bis Juli 1927 wurden die Rebellen mit einer wei-teren Oxol-Lieferung aus der Hansestadt ausgelöscht.Übrigens hatten auch Spanien und Frankreich am 17.6.1925 zusammen mit 30 anderen Staaten das Gen-fer Protokoll unterzeichnet .....

ungskriegs nicht abbringen. Und trotz des Einschrei-tens Stresemanns war die Folgezeit in der WeimarerRepublik geprägt von einer schleichenden Eskalationder Untergrabung des Kampfstoffverbots, die sichnoch vor dem Machtwechsel 1933 mehr und mehr zurunverhohlenen chemischen Kriegstreiberei steigerte.Während die Forschungen an den Universitäten undHochschulen weitergingen, liefen zunächst die bereitsseit 1924 vorbereiteten Geländeversuche mit Lost aufdem Gasversuchsplatz „Tomka“ an, der nicht weit ent-fernt von der Trotzker Produktionsstätte lag und inKooperation mit den Russen angelegten worden war.Mit Hilfe von Junkers-Flugzeugen und Krupp-Absprüh-fahrzeugen übte man das Anlegen von Geländekonta-minationen. Ein eigenes Lazarett stand für die„Gaskranken“ zur Verfügung. Fortsetzung folgt

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MITTEILUNGEN 4/200924

LOST – König der KampfstoffeDie unendliche Umweltgeschichte – Teil 4/3

Von Alexander Schwendner, Institut für Umweltgeologie und Altlasten der LGA, Nürnberg.Mit Textbeiträgen von: Dr. Rainer Haas, Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Marburg; Elisabeth Albrecht, Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Augsburg; Dr. Regine Linke, Neumarkt; Alfred Krippendorf + Dieter Miersch, Hazard Control GmbH, Trauen; Jürgen Thieme, IABG, Berlin; Mathias Muckel, Oberfinanzdirektion Hannover, Leitstelle

Altlasten; Jens Reuther, IUQ Dr. Krengel GmbH; Wolfgang Thamm, COM Druck, Schashagen.

Jedem der delegierten deutschen Spezialisten standenrussische Akademiker und Offiziere zur Verfügung. DieErgebnisse wurden offen ausgetauscht. Sämtliche Testswaren zuvor von deutschen Instituten und Universitäten,die an der Kampfstoffforschung beteiligt waren, gründlichvorbereitet worden. Tierversuche an Pferden und Hundenergänzten die Geländeversuche.Doch auch in der Heimat begann man, für den chemi-schen Krieg zu üben. Im September 1927 fanden (noch)simulierte Kampfstoffübungen in Braunschweig statt. 1929wurde eine eigene Nebeltruppe unter Hermann Ochsner(1892-1951) gebildet. Man spielte befehlstechnisch denRückzug vor den Franzosen unter Verwendung von Lostdurch.Prof. Wirth führte nun offiziell auf dem Truppenübungs-platz Kummersdorf praktische Kampfstofftests durch. DenHöhepunkt der Gaskriegsvorbereitungen bildete im Sep-tember 1930 ein Großmanöver in Thüringen. Dies war daserste Mal, dass nach Ende des 1. WK’s mit (simulierter)chemischer Kampfstoffmunition umfassend Angriff undVerteidigung geübt wurde. Man trainierte z. B. „Bunt-kreuzschießen“, Absprühen von Lost von Flugzeugen aus,Anlegen von Lost-Geländesperren und andere Neuerfin-dungen. Doch mit dem Üben allein gab sich die Reichs-wehr nicht zufrieden.Nachdem die Kontakte zu Stoltzenberg eingestellt wordenwaren, brauchte man natürlich einen neuen Partner für

Die Hamburger Giftgaskatastrophe von 1928Nachdem die Zusammenarbeit Stoltzenbergs mit derReichswehr 1926 zu einem jähen Ende gekommen war,gab es noch ein Problem zu lösen: Im so genanntenSennelager, einer Zerlegestelle bei Paderborn, befan-den sich noch 8.000 Phosgenflaschen, die Stoltzenbergan die USA verkaufen wollte. Da die Kampfstoffe (mitZustimmung der Reichswehr) dort illegal gelagert wor-den waren und der Zustand der Behältnisse sehrbedenklich war, forderten sie vor dem Abtransporteine Umfüllung des Phosgens in Tanks. Sie wussten,dass Stoltzenberg pleite war. Im Schadensfall wären dieErsatzansprüche an die Reichswehr herangetragenworden und dies hätte peinliche Fragen nach sichgezogen. Nach der Umfüllung wurden die Tanks aufStoltzenbergs Betriebsgelände zwischengelagert.Am 21. Mai 1928 explodierten zwei dieser Tanks undeine Giftgas-Wolke bewegte sich auf Hamburg zu.Mehrere hundert Personen erkrankten noch am glei-chen Tag, zehn Menschen starben. Nur dem drehendenWind war es zu verdanken, das die Wolke nicht Ham-burg erreichte.Stoltzenberg wurde nicht angeklagt, denn die Reichs-wehr legte ihre schützende Hand über ihn bzw. übersich, den sie bezog ja illegal Lieferungen von ihm. Undaußerdem war die Katastrophe eine gute Gelegenheit,einmal den Kriegs-Notfall zu üben. Stoltzenberg äußer-te sich zu den Toten in etwa sinngemäß: Es sei sehrbedauerlich und er hätte Mitleid mit den Opfern,jedoch seien dies die unvermeidlichen Spesen jederreinen Wissensforschung, die ja enormen Nutzen mitsich brächten.

„Was haben wir 1914-1918 erlebt! Und wer mit ganzerSeele das alles durchgemacht hat, an der Front oderdaheim, wer hätte geglaubt, dass die Menschen soschnell und gründlich vergessen würden.“„Diese Herrschaften können ihre innen- und außenpoli-tische Machteinbuße nicht verschmerzen, betrachten sienur als vorübergehend, und rüsten unentwegt, um dieerste Gelegenheit zu ergreifen, wo sie nicht nur das Ver-lorene wiederholen können, sondern noch mehr dazu.“„Sie werden solange im Geheimen rüsten, bis sie offenhervortreten und sagen können, gebt uns jetzt freiwilligden politischen Korridor und Oberschlesien zurück oderwir nehmen uns das mit Gewalt und obendrein nochÖsterreich, Tschechoslowakien, Südtirol, die Schweiz,Elsaß-Lothringen, Belgien, Holland, Nordschleswig undüber kurz oder lang ganz Europa, schließlich die ganzeWelt.“Josef Weisbart (1929)

1931 – Das Gaskriegsbekenntnis1931 beginnt die Reichswehr nun auch – trotz nach wievor bestehender Geheimhaltungspflicht – öffentlich(Gas)Stellung zu beziehen: „Ein allgemein verbindlichesVerbot des Gaskrieges gibt es gar nicht; denn das GenferProtokoll ist weder militärisch, noch juristisch, noch wis-senschaftlich, noch gastechnisch eindeutig.“ Jetzt war esraus. Auf dieser „Welle“ zogen nun die ewig gestrigenGasfanatiker nach: Dr. R. Hanslian gründete die Zeitschrift„Gaskrieg und Luftschutz“. Das neue Präsentationsforumsetzte sich aus Vertretern der Wissenschaft (Flury, Zernik,Wirth, Nernst) und Industrie (Heinrich Dräger von denDräger-Werken, Johann von Düring, Karl Quasebart [Auer-Werke], Gotthart Sachsenberg [Direktor der Junkers Flug-zeugwerke]) sowie aus Kriegsveteranen zusammen. Auchdie bereits erwähnte „Zeitschrift für das gesamte Schieß-und Sprengstoffwesen“ wartet nun mit einem Sonderteil„Gasschutz“ auf.In dieser Zeit erscheint ebenfalls eine Vielzahl von Über-sichtsarbeiten und Publikationen zur Kampfstoffchemie.Als Autoren treten Chemiker, Pharmakologen, Medizinerund Militärs auf. So hat der Verein Deutscher Chemikereine eigene Abteilung für Luftschutz bei der z. B. Fluryund Hanslian Führungsfunktionen wahrnahmen. Sie alletrugen dazu bei, Kampfstoffe und chemischen Krieg injener Zeit „salonfähig“ zu machen.Aber auch die Bevölkerung wird durch strategischgeplante Werbemaßnahmen psychologisch auf den kom-

die Herstellung. Die Reichswehr wandte sich nun an dieAuer Werke in Oranienburg. Sie sollten im Geheimauftragdes Heereswaffenamtes die Lost-Herstellungsmethodenperfektionieren und hierzu Versuchsanlagen und Gas-schutzlabors errichten. Bereits 1928 lief die geplanteAnlage mit einer Kapazität von 0,5 t Oxollost/Tag, die1929 durch eine Clark-I-Versuchsanlage ergänzt wurde.Ein „Fabrikenplan“ sah im Jahr 1928 für den Etat 3,2 Mio.DM für die Produktion von Gasschutzmitteln (Auer undDräger), 5,2 Mio. DM für die Produktion von Lost, 0,55 Mio.DM für die Herstellung von Blaukreuz und knapp 1 Mio.DM für die Errichtung von Kampfstoffabfüllanlagen vor.

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menden Gaskrieg vorbereitet. Natürlich war den Militärsklar, dass ein Gasschutz gegenüber Lost – sollte es einmalgegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden – völligillusorisch war. Doch indirekt förderten sie durch die Pro-paganda die Kriegsbereitschaft des Volkes.In Tomka gibt es unterdessen jedoch Probleme. Russlandwollte nun Großversuche durchführen, konnte hierfüraber (in Trotzk) nicht genug Lost herstellen. Sie fordertendie Deutschen auf, nun selbst über den IG-Farbenkonzernmit der Lost-Produktion zu beginnen. Die IG sollte darü-ber hinaus technische Hilfestellungen für ihre eigene Pro-duktion liefern und einen noch stärkeren Kampfstoff fürbeide Armeen entwickeln. Die Russen mutmaßten sogar,dass das Deutsche Reich wahrscheinlich diesen Kampf-

es nicht lange dauern, bis sich eine alte und neue Machtin den Vordergrund des Kampfstoff- bzw. Lostgeschehensschiebt, doch mehr soll hier noch nicht verraten werden.Stimmen gegen den drohenden Gaskrieg wurden damalsnur vereinzelt laut. Eine von ihnen war Josef Weisbart. Mitseiner 1929 erschienenen, teils zynischen Broschüre „DieForderung der Stunde – den Giftkrieg verhindern“ ver-suchte er auf plakative Art, Bewegung in den deutschen„Schlammsumpf von Gleichgültigkeit“ zu bringen. Vieleseiner Hoffnungen sind leider bis heute nicht wahrgeworden und so ist das Büchlein auch 70 Jahre nach

Gewöhnung an den Gaskrieg – Gasschutzübung an einer deutschenSchule (aus ANGERER [1985]: Chemische Waffen in Deutschland)

stoff bereits besäße (was nicht stimmte). Jedenfalls mach-te sich immer mehr Misstrauen breit. Dies lag auch daran,dass die deutschen Truppen den russischen Militärsimmer öfters den Zutritt zu den Versuchen verweigerten –schließlich zählte Russland immer noch zu den möglichenGegnern einer künftigen militärischen Auseinanderset-zung. So stellte 1932 die Reichswehr Überlegungen an,die Großversuche allmählich nach Deutschland zu verla-gern. Doch daran war auch im Zeichen des bevorstehen-den politischen Wechsels und der mittlerweile offenenMilitarisierung nicht zu denken. Noch brauchten die Deut-schen den Versuchsplatz und man einigte sich auf eineFortführung. Erst im Sommer 1933 beendete der neueReichswehrminister von Blomberg – vermutlich auf Forde-rung des Reichskanzlers Adolf Hitler – die deutschrussi-sche Zusammenarbeit. Die Bestände wurden vernichtetund alle Gerätschaften „heim ins Reich“ geholt. Nun wird

Erscheinen noch aktuell und lesenswert. Einer, der häufigerstaunlich exakte Voraussagen über die Zukunft machenkonnte, war der Visionär H. G. Wells. Er meinte damals, essei „erstaunlich wie die Menschen alte Vorbereitungenruhig hinnehmen, die getroffen werden, um sie zu gegebe-ner Zeit zu schlachten“. Bereits 1911 sah er die Entwick-lung und den Einsatz der Atombombe auf Uranbasisvoraus. 1933 hatte er die Vision vom apokalyptischenWeltkrieg, der das Ende der Menschheit bedeuten wür-de. Nun, tatsächlich sind es zwar „nur“ etwa 60 MillionenTote geworden, doch bei einem Einsatz des Königs derKampfstoffe wären wir seiner Vision – zumindest in Euro-pa – mit Sicherheit ein großes Stück näher gekommen.Welche Zufälle Europa das Leben gerettet haben erfahrenwir demnächst im Rahmen der LGA Rundschau. Ende

Deutschland probt den Gaskrieg – Übung auf den Gelände der Techni-schen Hochschule Berlin 1932 (aus GROEHLER 1978: Der lautlose Tod).