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1 Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen op. 126 Komplexität in der Einfachheit Bachelorarbeit Komposition und Musiktheorie, Schwerpunkt Musiktheorie V033100 vorgelegt von Lovorka Ivanković 0673116 Universität für Musik und darstellende Ku nst Graz Institut 1: Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz

Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen op. 126 · den Stücke verbindet eine Tonartenfolge im Großterzzyklus: G – g – Es – h – G – Es, wie dies auch in den Klaviervariationen

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Ludwig van Beethoven: Sechs Bagatellen op. 126

Komplexität in der Einfachheit

Bachelorarbeit

Komposition und Musiktheorie, Schwerpunkt Musiktheorie V033100

vorgelegt von Lovorka Ivanković

0673116

Universität für Musik und darstellende Kunst Graz

Institut 1: Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren

Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 3

2. Bagatelle 4

2.1. Geschichte der Bagatelle 4

2.2. Die Bagatelle bei Beethoven 5

3. Beethovens Sechs Bagatellen op. 126 7

3.1. Entstehung und musikgeschichtlicher Kontext 7 3.2. Gesamtanlage des Zyklus 8

3.3. Analyse 9

3.3.1. 1. Bagatelle, G-Dur 9

3.3.2. 2. Bagatelle, g-Moll 14 3.3.3. 3. Bagatelle, Es-Dur 21

3.3.4. 4. Bagatelle, h-Moll 26

3.3.5. 5. Bagatelle, G-Dur 34

3.3.6. 6. Bagatelle, Es-Dur 37

4. Schlusswort 43

Literaturverzeichnis 45

3

1. EINLEITUNG

Ausgangspunkt meiner Bachelorarbeit waren die für ein so „einfaches“ Genre wie die

Bagatelle uncharakteristischen Merkmale in Ludwig van Beethovens Sechs Bagatel-

len op. 126 (1823/24), die dieser Sammlung einen wichtigen Platz neben den anderen

großen Werken in Beethovens Spätwerk geben. Gewissermaßen könnten wir diese

Bagatellen als Skizzen für die letzten Streichquartette verstehen. Denn sie beinhalten

das Material, das in diesen Quartetten auf viel breiterem Raum weiterentwickelt wird.

Das spiegelt sich etwa in den extremen Lagen (1. Bagatelle), dem starken Kontrast

zwischen heftigen Figuren und weichen, melodischen Elementen (2. Bagatelle), im

raschen Tempowechsel (6. Bagatelle: Presto – Andante amabile e con moto) und

anderen Besonderheiten, die bei dieser schlichten Gattung noch stärker zum Ausdruck

kommen als in groß angelegten Werken. Scharf kontrastierende Gegenüberstellungen

treten nicht nur zwischen den einzelnen Stücken, sondern auch innerhalb dieser auf.

Obwohl schon einige Musikwissenschafter (Jürgen Uhde, Erwin Ratz, Theo

Hirsbrunner u.a.) sich mit diesem Zyklus auseinandergesetzt haben, erschien es mir

wichtig, diese Aspekte von Komplexität und Modernität gesondert darzulegen. In der

vorliegenden Arbeit werde ich daher versuchen, die oben erwähnten „uncharakteristi-

schen“ Merkmale und die Besonderheiten dieses Zyklus aufzuzeigen.

4

2. BAGATELLE

2.1. Geschichte der Bagatelle

Der Begriff Bagatelle wurde erst im 17. Jahrhundert im Bereich der Musik verwendet.

Er bezeichnete ganz einfache Vokalstücke mit nicht zu ernstem Charakter. Instrumen-

tale Bagatellen galten als kurze, anspruchslose Kompositionen.

Der erste Instrumentalsatz mit der Bezeichnung Bagatelle erschien 1692 in den Pièces

en trio (pour les flutes, violon et dessus de viole) von Marin Marais (Abb. 1). Dabei

handelt es sich um einen Triosatz, „in dem alle St. am thematischen Geschehen

beteiligt sind. Beide Formteile beginnen mit dem gleichen, aufsteigenden Thema. Im

zweiten Tl. wird dann das Thema in einem langen mittleren Abschnitt der Themen-

kopf in Umkehrung verarbeitet.“1 Es gibt keine Tempoangabe, bekannt ist nur das

Metrum (3/4-Takt).2

Abb. 1 Marin Marais, Pièces en trio, 1er dessus

Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Bagatelle noch immer als eine schlichte Kom-

position verstanden. „Für Form und Charakter von Bagatellen gab es viele Möglich-

keiten: Tanz- und Liedsätze, Märsche, Sizilianos, kleine Rondos, Capricen, Scherzi

u.a., die in Ausdruck und Wesen niedlich, ansprechend, hübsch, freundlich, anmutig

1 Schneider, Bagetelle, Sp. 1109. 2 Ebda.

5

[…] sein konnten bzw. sollten.“3 Beethoven gab diesem Genre mit seiner ersten

Bagatellensammlung op. 33 (1802) eine ganz neue Bedeutung: „Letztlich bedeutete

namentlich das op. 33 eine völlige Neudefinition des Gattungsbereichs, indem das

Kleinformat auf eine Ranghöhe gehoben wurde, die bis dahin innerhalb der Klavier-

musik ausschließlich die Sonate besetzt hatte.“4 Die Komponisten nach Beethoven

entwickelten die Form weiter. So haben einige von ihnen – wie z.B. Camille Saint-

Saëns, Antonin Dvořak, Jean Sibelius – technisch und musikalisch anspruchsvolle

Bagatellen komponiert. Die Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 von Anton

Webern (1911-1913) stellen den Höhepunkt der Gattung dar. Sie zählen zu den

bedeutendsten Werken der Neuen Musik.

2.2. Die Bagatelle bei Beethoven

Das Komponieren von Bagatellen erstreckt sich – wenngleich auch nicht kontinuier-

lich – über Beethovens gesamte Schaffenszeit. Nach den Einzelstücken – WoO 52 in

c-Moll (1797) und WoO 56 in C-Dur (etwa 1804) und zwei Sammlungen – Sieben

Bagatellen op. 33 (1802) und Elf Bagatellen op. 119 (1820-1822) entstanden die

Sechs Bagatellen op. 126 (1823/1824), die als Beethovens letztes wichtiges Klavier-

werk gelten.

Schon bei seiner ersten Bagatelle – WoO 52 – zeigte Beethoven, dass er dieses Genre

nicht bloß als etwas Triviales auffassen wollte. Denn dieses Stück war ursprünglich

als Intermezzo der c-Moll Klaviersonate op. 10, Nr. 1 geplant. Ein Einfügen in die

Sonate hätte jedoch ihre knappe Gesamtkonzeption in Frage gestellt, „die allein durch

die Tatsache der Viersätzigkeit an Schlagkraft verloren haben könnte.”5

Die bereits erwähnten Bagatellen op. 33 reichen in sehr frühe Jahre zurück. Beetho-

ven wählte für diese Sammlung einige kurze Klavierstücke aus, die noch in der erste

Epoche seines Schaffens (den Bonner Jahren) entstanden sind. Obwohl der Autograph

die eigenhändige Datierung 1782 trägt, beweisen die Skizzen von einigen der sieben

Bagatellen (lediglich für die Nr. 2 und Nr. 4 sind keine Skizzen nachweisbar), dass es

3 Raab, Bagatellen, S. 78. 4 Edler, Jenseits der Klaviersonate, S. 255. 5 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 56.

6

sich um einen Schreibfehler handelt. „Entwürfe zu den übrigen Stücken von Opus 33

indes finden sich erst in Skizzenbüchern, die Beethoven nicht vor 1800 benutzte.“6 In

dieser Zeit bemühte sich Beethoven um eine Neuorientierung in seinem Schaffen. Im

Jahr 1803 sagte er zu seinem Schüler Carl Czerny: „Ich bin nur wenig zufrieden mit

meinen bisherigen Arbeiten. Von heute an will ich einen neuen Weg einschlagen.”7

Obwohl in op. 33 „keineswegs aufsehenerregende musikalische Erfindungen”8 auf-

scheinen, können wir nicht sagen, dass es sich um unbedeutende Stücke handelt. Denn

„die rauhe, von durchdringender Willenskraft geprägte Betonung ist es, die diesen

Stücken sogleich des Beethovensche Siegel aufprägt. Gegenüber kleinen Stücken von

Mozart entsteht hier – auch in den lyrischen Partien – durchweg der Eindruck von

stämmiger Kraft.“9

Die Entstehung von op. 119 erstreckt sich insgesamt über etwa fünfundzwanzig Jahre.

Obwohl es uns die Opuszahl so glauben machen möchte, zählen die Elf Bagatellen

weder zu den späten Werken, noch sind sie ein Zyklus. Es handelt sich um eine

Zusammenstellung von Klavierstücken, die – aufgrund ihrer langen Entstehungszeit –

vom Stil her deutlich verschieden sind. Die Bagatellen Nr. 7–11 erschienen im Juni

1821 im dritten Teil von Friedrich Starkes Wiener Pianoforteschule. Das ganze Opus

wurde in den Jahren 1823–1824 in kurzen Abständen bei drei Verlegern in Wien,

Paris und London veröffentlicht.

6 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 434. 7 Geck, Beethoven und seine Welt, S. 11. 8 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 74. 9 Ebda.

7

3. Beethovens Sechs Bagatellen op. 126

3.1. Entstehung und musikgeschichtlicher Kontext

Als Ciclus von Kleinigkeiten10 komponierte Beethoven in den Jahren 1823 und 1824

die Sechs Bagatellen op. 126, die letzte seiner drei Bagatellensammlungen (op. 33, op.

119 und op. 126). Da der Zyklus nach Beendigung zweier großer Werke – der 9.

Sinfonie und der Missa solemnis – entstand, verwirrte der bescheidene Titel Beetho-

vens Zeitgenossen. Denn Bagatellen galten als einfache, schlichte Kompositionen.

Das Unverständnis reichte bis hin zu spöttischen Bemerkungen: „Wer keine Sonaten

mehr komponieren kann, begnügt sich eben mit Bagatellen wie Fantasien und Varia-

tionsreihen.“11 Es fiel vielen Beobachtern offenbar schwer zu verstehen, warum ein

großer Meister seine Aufmerksamkeit einer solch anspruchslosen musikalischen

Gattung widmete.

Schon bei den Bagatellen op. 119 hatte Beethoven Probleme mit der Publikation des

Werks. Der Verleger Peters wollte sie nicht veröffentlichen, er hatte Angst „dass ich

mich nicht der gefahr aussetzten mag, in den Verdacht zu gerathen, daß ich einen

Unterschleif gemacht und Ihren Namen jenen Kleinigkeiten fälschlich vorgesetzt

habe, denn daß dieses Werkchen von dem berümhten Beethoven sey, werden wenige

glauben.“12 Beethoven hatte aber ganz klare Vorstellungen von seinen Kleinigkeiten.

Sein op. 126 beschrieb er in einem Brief an den Verleger Schott in Mainz mit den

bekannten Worten: „6 Bagatellen oder Kleinigkeiten für Klavier allein, von welchen

wohl manche etwas ausgeführter u. wohl die Besten in dieser Art sind, welche ich

geschrieben habe.“13

Im Gegensatz zu den op. 33 und op. 119 griff Beethoven bei diesem Werk nicht auf

älteres Material zurück, obwohl er eine Zeitlang mit dem Gedanken spielte, eine

umgearbeitete Fassung des Klavierstückes Für Elise dazu zu verwenden. Viele

Skizzen und Überarbeitungen zu diesem Werk beweisen „dass es sich bei Beethovens

Bagatellen keineswegs um spontan niedergebrachte Geistes- oder Gedankenblitze,

skizzenhafte oder al fresco-Stücke handelt.“14 In diesen mehr oder weniger kurzen

10 Schneider, Bagetelle, Sp. 1109. 11 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 434. 12 Schneider, Bagetelle, Sp. 1109. 13 Ebda. 14 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 177.

8

Stücken kann man deutlich bemerken, wie Beethoven in seinem Spätwerk zur Über-

windung der Gattungsgrenzen tendierte.

Diese Bagatellen sind also nur scheinbar einfache, unproblematisch aneinander

gereihte Kleinigkeiten. „Nicht nur sind die Gegensätze zwischen den einzelnen

Stücken sehr stark, ja kraß, sondern innerhalb der verschiedenen Nummern versam-

melt sich auch scheinbar Unvereinbares zu einem Ganzen, das schwer zu durchschau-

en ist.“15

3.2 Gesamtanlage des Zyklus

Die in Beethovens Bagatellenzyklus op. 126 zusammengefassten sechs kontrastieren-

den Stücke verbindet eine Tonartenfolge im Großterzzyklus: G – g – Es – h – G – Es,

wie dies auch in den Klaviervariationen op. 34 von 1802 der Fall ist. Das ist aber

natürlich nicht das einzige Merkmal, das diese Bagatellen zu einem Zyklus macht.

Viel wesentlicher ist die Tatsache, dass Beethoven in jedem einzelnen Stück von einer

einfachen Struktur ausgehend etwas ganz Unerwartetes baut. Auf diese Weise verliert

„das Gefällige und Angenehme, ja auch das Primitive, seine Selbstverständlichkeit“.16

So wie die sechs Stücke aufeinander folgen, kontrastieren sie einander in ihren Cha-

rakteren. Von der ersten bis zur sechsten Bagatelle wechseln konsequent heitere und

schwere Stimmungen. Auf diese Weise stehen die Nr. 1, 3 und 5 wie auch die Nr. 2

und 4 nahe zueinander. Die letzte Bagatelle stellt eine Ausnahme dar. Auf ein kurzes,

wütendes Presto folgt ein zartes Andante con mobile. Es wirkt so als Synthese der

bisher vorkommenden Charaktere (lyrisch und wild ausbrechend). Obwohl sie kon-

trastieren, kann man doch auch Ähnlichkeiten zwischen einigen benachbarten Stücken

bemerken. Die zweite Bagatelle löst das Formproblem des zweiten Teils in ähnlicher

Weise wie die erste Bagatelle. Nach dem klar gegliederten ersten Teil folgt der

zweite, der sehr verwirrend, labyrinthisch angelegt ist. Die vierte Bagatelle bringt

zwar rhythmisch Neues (jazzartige Synkopen), aber die motivische Abspaltung

erinnert an die durchführungsartige Episode der zweiten Bagatelle. Die fünfte Baga-

telle ist die einfachste von allen, doch die weite Lage in der Coda bezieht sich auf die

Lagen in der Nr. 1. Das Außergewöhnliche dieses Werkes zeigt sich auf dem Gebiet

der räumlichen Lage (Nähe und Ferne, ausgedrückt durch den Abstand der Lagen),

15 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 272. 16 Ebda., S. 277.

9

des Rhythmus (Bewegung im Raum ausgedrückt durch rhythmische Ostinati), der

Dynamik (rasche Wechsel von piano und forte) sowie der Harmonik (harmonische

Rückungen bzw. Bewegungslosigkeit ausgedrückt durch Bordun). „Mit der Kürze des

Stücks wächst bei Beethoven oft das spezifische Gewicht, die Bedeutungsschwere der

Musik. So steckt das Große im Kleinen, das Monumentale in der Miniatur.“17

3.3 Analyse

3.3.1. 1. Bagatelle, G-Dur

Die Komplexität der ersten Bagatelle liegt zunächst nicht in ihrer Phrasenstruktur. Der

A-Teil ist mit einer 16-taktigen Periode zu 4x4 (bzw. 2x8, vgl. Abb. 2) Takten voll-

kommen regelmäßig gebaut und auch im weiteren Verlauf dominieren geradzahlige

Phrasenlängen.

Abb. 2 T. 1–20

Im Mittelteil entsteht allerdings durch die kurzen Segmente und die rhythmische

Beschleunigung bis zur Auflösung des Metrums ein ganz anderes Zeitgefühl, das sich

auch auf die „Reprise“ auswirkt. Die unklare Form der „Reprise“ manifestiert sich

durch die Doppeldeutigkeit ihres ersten Viertakters, der gleichzeitig zwei formale

Abschnitte repräsentiert: Er ist sowohl Ende der Kadenz, als auch Vordersatz der

17 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 20.

10

„Reprise“. Obwohl die Coda variiertes Anfangsmaterial (absteigende Achtelfigur aus

T. 4) bringt, vermittelt sie auch das Gefühl eines Neubeginns. Die extreme Lage ganz

am Ende des Stückes ist neu. Wiederholungszeichen, die andeuten, dass vom Mittel-

teil aus wiederholt werden soll, stellen die dreiteilige Liedform der Bagatelle in Frage.

Diese Wiederholung steht hier möglicherweise auch, um den verhältnismäßig großen

Tonumfang der Coda zu festigen.

Solche Eigentümlichkeiten des Stückes sind aber schon im ersten Teil zu bemerken.

Der klaren Form (2x8 Takte, vgl. Abb. 2) wird eine ganz ungewöhnliche Harmonik

gegenüberstellt. Statt mit der Tonika-Grundstellung beginnt die Bagatelle in Quart-

sextakkordlage. Da im Bass über alle vier Takte des Vordersatzes d wiederholt wird,

ist dieser vom Dominantbereich bestimmt – in der Terminologie Heinrich Schenkers

handelt es sich also um eine Prolongation oder Auskomponierung der Dominante.

Durch das in Vierteln pulsierende d in der linken Hand wird die Tempoangabe Andan-

te con moto plastisch. Diese schwebende Atmosphäre endet erst am Ende des Vorder-

satzes, wo die Tonika zum ersten Mal in Grundstellung – dies jedoch nur vorüberge-

hend – erscheint (T. 4).

Ganz unmerklich wechseln im Nachsatz (T. 5–8, vgl. Abb. 2) Hauptstimme und

Begleitung die Positionen. Das Thema verläuft im Bass um eine Undezime tiefer

transponiert, was jedoch durch die Entfaltung der melodischen Linie in der rechten

Hand verschleiert wird. Die Aufmerksamkeit des Hörers bleibt also im Nachsatz auf

die Linie des Kontrapunkts konzentriert. Die Komplexität dieser Bagatelle offenbart

sich auch in der Mehrdeutigkeit der auf den ersten Blick regelmäßigen Taktfolge.

Schon die ersten acht Takte zeigen eine Doppeldeutigkeit – die Regelmäßigkeit der

Bassstimme (2x4 Takte) wird durch die Unregelmäßigkeit der Oberstimme (3+5

Takte) gestört. Beim Übergang vom Vordersatz in den Nachsatz (T. 4) ist unklar, wo

die folgende Phrase beginnt. Verwirrend ist insbesondere der Legatobogen, der den

ersten und zweiten Schlag in der Oberstimme (T. 4) verbindet, wodurch man das

Gefühl hat, als hätte der Nachsatz schon hier begonnen. Wir müssen aber in Betracht

ziehen, dass der dritte Schlag – analog zum Vordersatz – Auftakt des folgenden

Taktes ist, so dass auch hier der Anfang des Nachsatzes angesetzt werden könnte.

Dieser Möglichkeit entspricht auch das Auftreten des Themas in der Unterstimme (T.

4).

In einer ähnlichen Situation befindet man sich in der Wiederholung der Periode (T. 9–

16), die eine figurierte Variante der ersten acht Takte darstellt. Während die Begle i-

11

tung durch Achtel bereichert wird, verläuft das Thema fast identisch zu seinem ersten

Auftreten.

Der viertaktige Gedanke des Mittelteils (T. 17–20, Abb. 3) bezieht sich stark auf den

Vordersatz des A – Teils (T. 1–4).

Abb. 3 T. 17–20

Die aufsteigende Linie der rechten Hand (T. 17) ist aus dem Kopfmotiv des Themas

abgeleitet und auf die Dauer eines Taktes diminuiert. Durch seine harmonische

Geschlossenheit entsteht der Eindruck eines Vordersatzes. Der erwartete Nachsatz

tritt aber nicht auf – der Mittelteil bricht plötzlich ab, „er macht den Prozeß des quasi

Transzendierens, des Übergehens von einer Sphäre in die andere so recht deutlich.“18

Es folgt ein motivischer Abspaltungsvorgang. Die bisher klar aufgeteilte Form wird

so einem improvisationsartigen Abschnitt gegenüberstellt. Das dreitönige Kopfmotiv

(T. 17) wird abgespalten und allmählich beschleunigt. Dieses Verfahren „löst schließ-

lich das ganze Gefüge auf und bedroht damit jede Geschlossenheit der Form.“19 Der

Zeitverlauf, der – nach dem Metrumwechsel (T. 21, 2/4 Abb. 4) und Auftreten der

Triolen bzw. Sechzehntel – immer schneller wird, erreicht seinen Höhepunkt in einer

Rubato-Kadenz (T. 29 und 30). Aus den Trillern (T. 29–30) entwickelt sich eine

fantasieartige Passage, die ihre Spannung weiter auf das folgende aufsteigende Sech-

zehntelmotiv (T. 30.4) überträgt. Statt der Beruhigung durch die Tonika treten Zwi-

schendominanten auf (T. 31), die die Wirkung des Dominant-Bereichs verlängern.

Das Ende der Kadenz wird erst nach vier Takten erreicht (T. 35).

18 Ebda., S. 177. 19 Ebda., S. 178.

12

Abb. 4 T. 21–35

Hier endet aber nicht nur der Mittelteil, sondern auch der Vordersatz der Reprise, die

kaum merkbar eingesetzt hatte (T. 32). Nicht nur die unklare harmonische Situation

(verminderter Septakkord in T. 30–31), sondern auch das neue, chromatisierte Materi-

al der Oberstimme in T. 32 verdecken den Einsatz des Themas im Bass, trotz der

Oktaven. Diese wirken eher wie eine Bassstimme zu den oben verlaufenden Akkor-

den in der rechten Hand als wie ein eigenständiges Thema. Die ersten vier Takte der

Reprise sind also doppeldeutig: Sie stellen zugleich Erweiterung bzw. Schluss der

Kadenz dar als auch den Vordersatz des Themas in der Reprise, der erst durch das

punktierte Motiv (T. 34) erkennbar wird. Im Unterschied zum Vordersatz, wo beide

Hände in großer Entfernung voneinander spielen, beginnt der Nachsatz (T. 36, Abb.

5) zunächst in relativ enger Lage.

13

Abb. 5, T. 36–47

Von dort weg bewegt sich das Tonmaterial in entgegengesetzte Richtung bis in T. 38

der tiefste und der höchste Ton (G1-e3) gleichzeitig erreicht werden. Obwohl das

Thema in der Oberstimme auftritt, hat es den Anschein, dass es im Gewebe der

Stimmen versteckt und kaum erkennbar ist.

Der Sinn des einfachen, losen Tonmaterials der Coda (T. 41–47) lässt sich durch die

extremen Lagen – in welchen sich das Tonmaterial bisher noch nicht befand – erklä-

ren. Doch wirken die auf- und absteigenden Linien an dieser Stelle ganz neu und

unerwartet, obwohl sie von der – dort sekundären – Bassfigur von Takt 4 abgeleitet

sind. Die Dissonanzen der Oberstimme (T. 44 und 45) sind durch die hohe Lagen

gemildert. Der weite Abstand zwischen beiden Händen im pianissimo (T. 43–47) ist

eines der auffälligsten Merkmale von Beethovens pianistischem Spätstil20 (z. B.

Klaviersonate op. 111, 2. Satz, T. 116–119 Abb. 6).

20 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 273.

14

Abb. 6, Klaviersonate op. 111, 2. Satz

Ungewöhnlich ist, dass die Coda zusammen mit dem Mittelteil noch einmal wieder-

holt wird: „Es scheint unwiederholbar, einmalig zu sein. Doch will der Komponist

diese prekäre formale Situation noch einmalig zurückholen und damit das ganze Stück

unwiderruflich auf ein höheres Niveau heben, als es die hintersinnige Anmerkung

compiacevole verspricht.“21

3.3.2. 2. Bagatelle, g-Moll

„In der Freiheit der Erfindung ist ihr kaum ein anderes Werk vergleichbar, und doch

fühlen wir in jedem Takt die zwingende Logik.“22 In der Bagatelle Nr. 2 geht das

Experimentieren mit der Form noch weiter als im vorangegangenen Stück. Nach dem

ersten Teil, der sehr übersichtlich ist ([2x8] + 10 Takte) „beginnen mit dem zweiten

Teil bedeutende Schwierigkeiten hinsichtlich des Erkennens der Funktion der einzel-

nen Abschnitte.“23

In ihrem Charakter steht dieses Stück im heftigen Gegensatz zum Kopfsatz des

Zyklus. Die barocken Einflüsse in Beethovens Spätwerk sind hier besonders offen-

sichtlich. Rasche Sechzehntel, die auf beide Hände aufgeteilt sind, entwickeln sich zu

einer toccatenartigen, absteigenden Linie (T. 1–4, vgl. Abb. 7). Dieser viertaktigen

Linie stellt Beethoven einen ebenfalls viertaktigen Kontrastgedanken entgegen (T. 5–

8), dessen Achtelbewegung im dreistimmigen Satz piano und legato eine ruhige,

21 Ebda., S. 273. 22 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 172. 23 Ebda.

15

aufsteigende Melodik entwickelt. Da danach dieselbe Folge von Sechzehntel- (T. 9–

12) und Achtelbewegung (T. 13–16) wiederholt wird, lässt sich erahnen, dass es sich

um den Nachsatz einer Parallelperiode handelt.

Abb. 7 T. 1–27

Die Besonderheit des Vordersatzes dieser Periode sind die beiden – schon erwähnten

– motivisch stark kontrastierenden Abschnitte. Die riesige Spannweite, die durch die

Gegenüberstellung von forte und piano, energisch und ruhig, Ein- und Dreistimmig-

keit, Aufwärts- und Abwärtsbewegung entsteht, erinnert uns an die breiten Lagen der

1. Bagatelle (Coda, T. 43–47), wo der Raum plötzlich und unerwartet extrem ausge-

dehnt wurde. Das „Unerwartete“ der 2. Bagatelle offenbart sich durch die Konfronta-

tion von „anscheinend Unzusammenhängende[m].“24 Das liegende g der rechten

Hand (T. 5–8 mit Auftakt) und die Legatbögen stoppen die Motorik des ersten Vier-

takters und ergeben ein ganz anderes Gefühl des Zeitverlaufs bzw. ein In-die-Länge-

Ziehen der Zeit. Doch haben die beiden Abschnitte etwas Gemeinsames. Denn die

24 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 274.

16

Achtel-Phrase (T. 5–8) kann auch als Variation des ersten Viertakters betrachtet

werden. Erwin Ratz25 sieht das besonders in der Linie d – es-d (T. 1–2), die im zwei-

ten Abschnitt erweitert wird: d – f – es-d (T. 6–8, auch die Folge d-es-d der linken

Hand ).

Abb. 8, Erwin Ratz, 2. Bagatelle, S.172

„So ist die p-Achtel-Episode (T. 5–8) nicht nur milder Gegensatz zum f-Sechzehntel-

Beginn, sondern zugleich dessen expressive Steigerung; die beiden kontrastierenden

Teile bilden also keinen absoluten, sondern einen in sich vermittelten Gegensatz.“26

Die Schlussgruppe dieser Exposition ist eine Synthese des ganzen Tonmaterials. Doch

überwiegt deutlich das Übergewicht des ruhigeren Elements (T. 19–26).

Den zweiten Teil der Bagatelle, der danach folgt, kann man in vier Abschnitte glie-

dern: 1. 8 + 7 = 15, 2. 8 + 8 = 16, 3. 16 + 4 = 20, 4. (2x4) + (2x2) = 12 Takte.27 Seine

Form ist aber nur scheinbar klar. Der Beginn des zweiten Teiles (T. 27, vgl. Abb. 9)

der Bagatelle bringt eigentlich nichts Neues, das Tonmaterial der Schlussgruppe (T.

16–26) – die durchgehende Achtelpulsation – wird hier weitergeführt.

25 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 172 26 Uhde, Beethovens Klaviermusik, Bd.1, S. 180. 27 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 173.

17

Abb. 9, T. 27–42

Doch erreicht Beethoven mittels Charakterwechsel (Allegro zu cantabile) eine ganz

andere Atmosphäre: „Seine hochdramatische Steigerung bei geringsten satztechni-

schen Mitteln und innerhalb solch kleiner Form ist auch bei Beethoven einzigartig.“28

Da das neue Thema an die Schlussgruppe anknüpft, kann man nicht von einem

Seitensatz sprechen, „umso mehr als die modulatorische Anlage den Charakter eines

Überleitenden noch verstärkt. Trotz seiner bis zu einem gewissen Grade periodischen

Struktur ist dieser Abschnitt am ehesten im Sinne eines einleitenden Teiles der Durch-

führung zu verstehen.“29 Nach der Beruhigung im decrescendo beginnt der zweite

Abschnitt des zweiten Teiles mit einem energischen Anfangsmotiv in forte: „Seine

Struktur zeigt unbedingt durchführungsartige Züge.“30 Mittels des dreitönigen Kopf-

motivs aus T. 1 baut Beethoven eine achttaktige Sequenz (T. 43–50, vgl. Abb. 10).

Abb.10, T. 43–50

Die langen Pausen, die zwischen jeder Stufe auftreten, unterbrechen den bisherigen

Entwicklungsprozess des Tonmaterials. Dieser Abschnitt verarbeitet nicht nur das

motivisch-thematische Material des Beginns, er steht ihm auch in seiner Gegenüber-

28 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 180. 29 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 173. 30 Ebda.

18

stellung der zwei kontrastierenden Elemente nahe. Hier geschieht das aber auf einer

anderen Ebene – in einer Auseinandersetzung von Ton und Pause (vgl. Abb. 11).

Abb. 11

1. TEIL, VS (T. 1–8) 2. TEIL, 2. ABSCHNITT (T. 42–49)

Unterbrechungen

Unterbrechungen

Kontrastierendes Material Ton – Pause

Sechzehntel in f – Achtel in p Bewegung – Ruhe

absteigende Linie – aufsteigende Linie erste Oktave – zweite Oktave

Nirgendwo im Stück gibt es so viel Freiraum nur auf einen Platz konzentriert. Ein

kleines Muster für dieses Verfahren war im doppelten Auftakt (T. 16/17) der Schluss-

gruppe vorbereitet. Ab T. 50 (vgl. Abb. 10) wird die Dichte des Satzes wieder er-

reicht. Da die Pausen allmählich kürzer werden, wird der Abstand zwischen den

einzelnen Erscheinungen des Motivs immer kleiner, so weit, bis sie völlig verschwin-

den. Dieser Moment erscheint in T. 55, wo die Figurationen der beiden Hände so nahe

zueinander kommen, dass alles zu einer ununterbrochenen, aufsteigenden Linie

übergeht (Abb. 12).

Abb. 12, T. 51–57

Den Abschnitt, der danach folgt, könnten wir nur im abstrakten Sinn als „Reprise“

bezeichnen. Vielmehr wirkt er als eine Weiterentwicklung der Durchführung. Den

großen – aus dem Anfangsmotiv abgeleiteten – Sextsprüngen, die sich in dem riesen-

haft erweiterten Klangraum frei bewegen, ist die Bewegungslosigkeit – ausgedrückt

19

durch den Orgelpunkt bzw. der Umspielung der Dominante – im Bass gegenüberge-

stellt. Der Stimmentausch in T. 62 (Umspielung des d in der rechten Hand, Umrisse

des Themas in der linken Hand), der danach folgt, zieht eine Parallele zur Reprise der

ersten Bagatelle, wo das gleiche Verfahren angewendet wurde (Abb. 13).

Abb. 13, T. 57–77

Der „sukzessive[r] Klangabbau“31 wird in der Coda (T. 78, vgl. Abb. 14) weiter

fortgesetzt. Die Bewegung wird konsequent von Sechzehntel über Achteltriolen zu

Vierteln verlangsamt. Der Umfang der Stimmen wird in die enge Lage geführt, die

Dynamik von heftigen sforzandi zum piano abgeschwächt.

31 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 442.

20

Abb. 14, T. 78–89

Die kantable viertaktige Melodie am Beginn der Coda (T. 78–81) bezieht sich un-

missverständlich auf die Schlusstakte der Exposition (T. 23–26, vgl. Abb. 15).

Abb. 15

T. 23–26

T. 78–81

Hier folgt aber noch eine Wiederholung in der Moll-Tonika (T. 82–85, vgl. Abb. 14).

Diese letzte Phrase (T. 86–89) bringt die endgültige Beruhigung des Stückes. Wie

bereits in der ersten Bagatelle soll „der ganze Mittelteil und die Wiederaufnahme der

21

Motivik des Hauptteils mit seinen problematischen Aspekten“32 erneut gespielt

werden.

3.3.3. 3. Bagatelle Es-Dur

An das ruhige Ende der zweiten knüpft die dritte Bagatelle an. Sie ruft uns „die

lyrische Stimmung des Kopfsatzes“33 ins Gedächtnis zurück. Ihr Charakter ist aber

nicht die einzige Verbindung zwischen den beiden Bagatellen 1 und 3. Ihre Form hat

zahlreiche Analogien zur ersten Bagatelle (vgl. Abb. 16).

Abb.16

1. BAGATELLE (47 T.) 3. BAGATELLE (52 T.)

16 T. ERSTER TEIL 16 T.

periodischer Aufbau des Themas (8+8 T.)

periodischer Aufbau des Themas (8+8 T.)

15 T. MITTELTEIL 12 T.

motivisch-thematische Arbeit mit variiertem, abgespaltenem

Kopfmotiv,

fantasieartige Kadenz

motivisch-thematische Arbeit mit variiertem, abgespaltenem Kopfmotiv und Kontrapunkt

der Nebenstimmen (T. 4-8),

fantasieartige Kadenz

7 T. REPRISE 16 T.

das Thema erscheint variiert

zunächst im Bass (oktaviert),

dann in der rechten Hand

das Thema erscheint variiert und figuriert

zunächst im Bass, dann in der rechten Hand

8 T. CODA 9 T.

motivisch-thematische Verarbeitung des Anfangsmo-

tivs

motivisch-thematische Verarbeitung des Anfangsmotivs

Gegenüber dem komplexen Organismus der vorigen Bagatelle sind hier die Funktio-

nen der einzelnen Abschnitte ganz deutlich dargelegt. Die sechzehntaktige Periode

des A-Teils (T. 1–16, vgl. Abb. 17) hat die Tendenz, sich zur Höhe hin zu entwickeln.

Der Orgelpunkt auf der Tonika, der sich über die ersten vier Takte des Vordersatzes

(T. 1–8) erstreckt, hält aber die dichten dreistimmigen Akkorde fest.

32 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 274. 33 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 442.

22

Abb. 17, T. 1–16

Trotzdem steigt die Musik von der Tiefe (T. 1–8) über die enge mittlere Region (T. 9–

16) bis in die ganz hohen Lagen der Reprise (ab T. 36) auf. Schon das Tonmaterial

des Mittelteils (T. 17–27, vgl. Abb. 18) beruhigt diese entfernten Sphären. An dieser

Stelle (T. 20–23) ergibt sich ein weitgespannter Klang, dessen leerer Innenraum durch

die nachfolgenden Passagen der Kadenz (T. 23–25) aufgefüllt wird.

23

Abb. 18, T. 17-27

Dadurch wird auch die Kraft des Orgelpunktes geschwächt bzw. gebrochen. Das

Material kann sich jetzt frei im Raum bewegen. Wie in der ersten Bagatelle ist diese

Kadenz eine Vorbereitung für die nachfolgende Reprise. „Diesen Takten fehlt jede

Zielstrebigkeit, sie scheinen mit ihrem Wogen zwischen den hohen und tiefen Lagen

und dem reichlichen Pedalgebrauch in sich zu ruhen und keiner Fortsetzung zu

bedürfen.“34

Der Übergang zur Reprise wird aber mittels eingeschobenen zweitaktigen Rezitativen

verfeinert bzw. unmerklicher gemacht. Die Repetition des b2 (T. 27, vgl. Abb. 19)

wird in einen zarten Triller umgewandelt, der den Orgelpunkt des Anfangs ersetzt.

Obwohl das Thema auf dem zweiten, also leichten, nachschlagenden Sechzehntel

erscheint, können wir es doch deutlich erkennen.

34 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 275.

24

Abb. 19, T. 27–32

Nur vier Takte später erscheint das Thema dann ganz deutlich in der Oberstimme (T.

32, vgl. Abb. 20). Hier beginnt eine dichte motivisch-thematische Arbeit, die bis zum

Schluss der Bagatelle andauert. Die Melodietöne verschwinden langsam unter der

Zweiunddreißigstelfiguration. Die Episode von T. 35–43 ist auch unter zeitlichem

Aspekt eine Synthese der bisherigen Geschehnisse.

Abb. 20, T. 32–43

25

Die Beweglichkeit bzw. der Rhythmus ihrer Figuren erinnert an die Arpeggi der

Kadenz (vgl. Abb. 18). Während die Arpeggi sich aber im weiten Raum bewegen,

entwickelt sich das Material der Episode nur in den hohen Lagen. Dadurch entsteht

ein Eindruck von Statik und gleichzeitiger Beweglichkeit: Statisch ist die Musik im

Sinne der Beschränkung des Materials auf einen bestimmten Tonraum. Auch durch

den Orgelpunkt in der Unterstimme wird dieser Eindruck verstärkt. Beweglich ist sie

aber doch, weil sich die Figurationen des Themas ständig weiter entwickeln und so

eine gewisse Zielstrebigkeit ausprägen. Der Zeitverlauf „stellt sich nicht in gleichmä-

ßigem Verfließen dar; ein musikalisches Subjekt überläßt sich ihm nicht im Einver-

ständnis mit dem Vergehen (wie so oft in der Rhythmik des 18. Jahrhunderts). Viel-

mehr sind die Beethovenschen Gestalten innerhalb des Zeitverlaufs tätig, indem sie

ihre Bewegung beschleunigen oder auch der Strömung entgegenarbeiten, wie ein

Schwimmer im Fluß.“35

Aus den höchsten Lagen des Klaviers senkt sich das Material allmählich in die tiefen

Lagen des Beginns herab. In der Coda (T. 44–52, vgl. Abb. 21) geht die Zweiunddrei-

ßigstelfiguration in die linke Hand über.

Abb. 21, T. 44–52

35 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 11.

26

Damit wird das Prinzip der Variation beendet. In der Kadenz (T. 48) wird das Kopf-

motiv sequenziert und auf beide Hände im Pianissimo aufgeteilt. „Eine rein klang-

sinnliche Komponente manifestiert sich hier, die aber an die Grenzen der pianisti-

schen Möglichkeiten stößt.“36

3.3.4. 4. Bagatelle, h-Moll

Das längste Stück des Zyklus besteht aus zwei kontrastierenden Abschnitten. Nach

„h-Moll, [der] schwarzen Tonart“37 folgt der zweite trioartige Teil in H-Dur (T. 52–

105), der wieder von der Reprise des h-Moll-Teils (T. 106–162) abgelöst wird – diese

Folge von Moll und Dur in derselben Grundtonart (Variante) befestigt den eindeuti-

gen Scherzo-Charakter dieser Bagatelle. Danach erscheint noch einmal der unverän-

derte zweite Teil, mit dem die Bagatelle ohne Coda endet. Das Stück wird eröffnet

mit einem schlichten zweitaktigen Kopfmotiv (T. 1–2, vgl. Abb. 22) und seiner

variierten Wiederholung (T. 3–4). Daran schließt sich eine Unisono-Fortspinnung an

(T. 5–7), die durch ihre Tonart (G-Dur) und durch die Einstimmigkeit zum kontra-

punktisch verarbeiteten Anfang (T. 1–4) in starkem Kontrast steht. Das Thema wirkt

in seiner „rüden Art wie eine Bourée aus dem Zeitalter des Barocks“. 38

Abb. 22, T. 1-8

36 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 275. 37 Beethoven, zit. nach Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 187. 38 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 275.

27

Nach der Wiederholung dieses achttaktigen Gedankens erscheint das Thema im Bass

(T. 9, e-Moll, vgl. Abb. 23), aber anstelle der Unisono-Fortspinnung tritt nun neues

Tonmaterial, bestehend aus Achtelgruppen in Erscheinung, „deren sperrige Synkopen

(auf vorgezogener Zählzeit Eins) geradezu jazzig wirken“ .39 Der synkopierte Rhyth-

mus durchbricht die bisherige streng durchgeführte Viertelpulsation. Dadurch wird

das Material befreit und kann sich leicht zu hohen Lagen hin bewegen, nach denen der

Satz von Anfang an strebt.

Abb. 23, T. 9-19

Über C-Dur und G-Dur kehrt die Musik anscheinend zur Ausgangstonart h-Moll

zurück (T. 20/21, vgl. Abb. 24). Einem ff-„Weckruf“ auf einem Unisono-fis (T. 21

mit Auftakt) schließt sich das Kopfmotiv an, jedoch in C-Dur (T. 23–24), das nach

zwei Takten erneut von demselben Weckruf auf fis unterbrochen wird. Die dazwi-

schen liegenden Pausen vergrößern die Spannung vor der erwarteten Fortsetzung des

Themas (vgl. 2. Bagatelle, T. 42–54). Der bisher ununterbrochene Zeitverlauf des

Satzes wird hier auf einmal gestoppt. Der starke Kontrast, der durch die Konfrontation

von Ton und Pause entsteht, wird auch durch den plötzlichen Wechsel zwischen

fortissimo und piano (T. 20–23) verschärft. Die fünftaktige Engführung (T. 27), die

daran anschließt, wendet sich nach e-Moll, in dem schließlich eine homophone

Themenvariante beginnt. Das Thema steigert sich, vergleichbar dem anfänglichen

Unisono, in eine hohe Lage (T. 36–39): „Mit diesem Wechsel des Ausdruckscharak-

ters verliert die Bourée ihre Naivität und zeigt sich überraschenden Wandlungen

fähig, wie sie im Barock kaum aufgetreten sein dürfen.“40 Dann sinkt der Satz plötz-

39 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 443. 40 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 276.

28

lich in die Tiefe. In der düsteren Stimmung des Anfangs beginnt die Reprise (T. 40).

Der zweite Thementeil steht aber nicht in G-Dur, „sondern wird in h-Moll gewaltsam

festgehalten“.41

Abb. 24, T. 20-51

Das Trio bzw. der Mittelteil (T. 52–105, vgl. Abb. 25) in H-Dur „ist eine Musette, wie

man sie in den Bagatellen häufig antrifft.“ 42

41 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 189. 42 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 277.

29

Abb. 25, T. 52-105

Der synkopierte Bordun-Bass erinnert mit seiner Gestik an die Achtelsynkopen des

ersten Teils (T. 13–20). In der Oberstimme verläuft eine einfache Melodie in regel-

mäßigen Viertelpulsen, stets durch Pausen auf dem ersten Schlag unterbrochen, die

„den Eindruck von Atemlosigkeit“43 hervorrufen. Im Unterschied zum ersten Teil

handelt es sich nicht mehr um einen „Kampf der Tonarten“44, sondern alles verläuft in

stabilem H-Dur, befestigt durch den Orgelpunkt auf H. Diese Kontinuität wird abrupt

durch vier eingeschobene Takte im pp unterbrochen (T. 68–71, vgl. Abb. 25): „Es

43 Edler, Jenseits der Klaviersonate, S. 256. 44 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 190.

30

wirkt wie der Einbruch aus einer andern Welt, der diese ländliche Musik auf die Höhe

des Beethovenschen Spätstil hebt.“45 Der musikalische Stoff dieses Einschubs – die

chromatischen Intervalle – sind allerdings schon von vorher bekannt, es handelt sich

nämlich um das ausgedehnte und leicht variierte Kopfmotiv.

Nach dieser Unterbrechung wird der Bordun-Bass weitergeführt. Kurz vor der Reprise

des ersten Teils tritt noch eine zehntaktige Abspaltung auf, die das ganze Material aus

der höchsten Lage (T. 86–91, vgl. Abb. 25) allmählich in die tiefe Lage der Reprise

führt (T. 106, vgl. Abb. 26, T. 106–162).

Abb. 26 T. 106-162

45 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 276.

31

Der abschließend wiederkehrende B-Teil (T. 163ff., vgl. Abb. 27) verflüchtigt sich in

ähnlicher Weise in sehr tiefe Lagen (T. 213–216).

32

Abb. 27, T. 163-216

Durch die sich fast über zwei Takte erstreckenden langen Pausen setzt Beethoven wie

in den A-Teilen (T. 21–26 und 126–131, vgl. Abb. 28) markante formale Brüche, ein

weiteres plötzliches Abbrechen findet sich am Ende der A-Teil-Reprise (T. 161f.).

33

Abb. 28, T. 21–26

T. 126-131

Die schwebende Stimmung unterbricht der B-Teil, der eintritt, als sei nichts passiert,

und der das Stück weit im Raum verklingend zu Ende führt.

Die Klischees der einfachen Tanzmusik, die Beethoven in dieser Bagatelle verarbei-

tet, werden mit derartigen kompositorischen Techniken nachhaltig gebrochen.

34

3.3.5. 5. Bagatelle, G-Dur

Die fünfte Bagatelle kennt so rasche Wechsel nicht. Sie verläuft ganz ruhig und ohne

extreme Gegensätze. In ihrem lyrischen Charakter ist sie das exakte Gegenstück zur

vierten Bagatelle. Obwohl in Form und Satz nicht so originell wie die anderen Stücke

des Zyklus, ist ihre Verbindungsfunktion zwischen der vorigen und der nachfolgenden

Bagatelle von großer Wichtigkeit. Ohne bedeutende dynamische Kontraste (A-Teil, T.

1–16, nur piano) und nur geringfügige Änderungen des Tonmaterials (die Achtel-

bewegung wird vom ersten bis zum letzten Takt beibehalten), wirkt sie wie ein

Zwischenraum an Intensität, der das vorige und das nächste Stück mildern soll.

Der erste Teil (T. 1–16, vgl. Abb. 29) der dreiteiligen Liedform, steht in G-Dur, das

im Quintenzirkel genau in der Mitte zwischen H-Dur (Schluss von Nr. 4) und Es-Dur

(Nr. 6) liegt. Nach dem achttaktigen Vordersatz folgt der modulierende Nachsatz (T.

9–16), der auf der Dominante von e-Moll endet. Das Tonmaterial bewegt sich im

engen Raum. Obwohl in einigen Takten (T. 5/6 bzw. 11/12) die Tendenz nach einer

Ausweitung der Lage zu bemerken ist, wird eine echte Klangsexpansion erst im

Mittelteil erreicht (T. 26–32).

35

Abb. 29, T. 1-16

Der Mittelteil (T. 17–32, vgl. Abb. 30) erscheint auf der Subdominante in C-Dur.

Obwohl es eine verwandte Tonart ist, klingt C-Dur an diese Stelle „wie ein Übergang

in entfernteste tonartliche Gegenden [...] neu, nicht erwartet.“46 Während die ein-

stimmige Linie des Soprans (T. 1–15, vgl. Abb. 29) von der linken Hand, jeweils auf

das zweite Achtel einer drei-Achtel-Gruppe, übernommen wird (T. 22–25, vgl. Abb.

30), erscheinen die Terzen der Begleitung in der Oberstimme. „Die Melodie klingt –

wie bei Gustav Mahler – nicht real, sondern fast wie ein Zitat oder wie eine vorüber-

ziehende Erinnerung.“47 Der zugrunde liegende Orgelpunkt vermittelt eine eigenartige

Bewegungslosigkeit, in der die Melodie gefangen scheint. Ab T. 25 „löst sich der

Bann“48 und die Musik ist wieder frei. Ober- und Unterstimme laufen – in einer

Crescendo-Dynamik – auseinander, bis sie in T. 29 den Höhepunkt des Satzes errei-

chen. „Nur der weite Abstand zwischen den beiden Händen erinnert hier an den

46 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 193. 47 Ebda. 48 Ebda.

36

pianistischen Spätstil Beethovens.“49 Das Tonmaterial bleibt aber nur wenige Takte in

diesen neu erreichten weiten Lagen. Allmählich senkt sich die Melodik und die Hände

kommen wieder nahe zueinander.

Abb. 30, T. 22-32

Zwei Überleitungstakte (T. 33 und 34, vgl. Abb. 31), die daran anschließen, bilden

eine kurze Rückleitung in die Reprise. Sie durchbrechen den sonst regelmäßigen

achttaktigen Ablauf dieser Bagatelle. Dieser „Verzicht auf die Dehnung der Periodik,

wie man sie bei den Rückleitungen der ersten und dritten Bagatellen von op. 126

antraf, wirkt besonders subtil und stellt das Neue in einem sich sonst demütig konven-

tionell gebenden Stück dar.“50

Abb. 31, T. 33-34

In ganz hoher Lage setzt die verkürzte Reprise (T. 35–42, vgl. Abb. 32), die nur den

variierten Vordersatz des A-Teils bringt, ein. Gleichzeitig wirkt sie auch als Coda.

Diese Überlappung der Formteile erinnert an die erste Bagatelle, wo die ersten Takte

(bzw. der Vordersatz) der Reprise zugleich die Kadenz des Mittelteils bilden.

49 Hirsbrunner, 6 Bagatellen für Klavier op. 126, S. 276. 50 Ebda.

37

Abb. 32, T. 35-42

3.3.6. 6. Bagatelle, Es-Dur

Im letzten Stück des Zyklus findet man das Spiel mit den Kontrasten ins Extreme

gesteigert: ein hektisches sechstaktiges Presto (vgl. Abb. 33), das am Anfang und am

Ende des Stücks steht, umrahmt das lyrische Andante amabile e con moto.

Abb. 33, T. 1-6

Der Satz besteht hauptsächlich aus einer Aneinanderreihung von Dreitaktern. In den

anderen Bagatellen dominiert dagegen im Prinzip die „Viertaktigkeit als [das] tragen-

38

de Gerüst der Konstruktion.“51 In der Durchführung (T. 22–32, vgl. Abb. 36) wird die

Dreitaktigkeit das einzige Mal durchbrochen (3+3+3+2 oder 3+3+2+3 T.). Die da-

durch entstehende Verkürzung wird auch deutlich als Abweichung von der Norm

wahrgenommen. Die Reprise, die danach folgt (T. 33), bringt die konsequente Anei-

nanderreihung von Dreitaktern zurück. Sie stellt aber keine bloße Wiederholung des

Expositionsteils dar, vielmehr wirkt sie als eine motivisch-thematische und harmoni-

sche Weiterentwicklung der Durchführung. Der Gestus der Coda (ab T. 54) schließt

an den Schluss der Reprise an (T. 51–53) und verarbeitet ihn bis zum höchsten

Espressivo (T. 59–62). Als Ende der Bagatelle bringt Beethoven noch einmal das

wilde Presto des Anfangs.

Die dreiteilige Form des Satzes ist regelmäßig auf drei Gruppen von 21 Takten

aufgeteilt. Nur die Durchführung widerspricht der Symmetrie (Abb. 34).52

Abb. 34

21 T.

Presto-Vorspiel +

Thema

(T. 1–6, 7–21)

11 T.

Durchführung

(T. 22–32)

21 T.

Reprise

(T. 33–38, 39–53)

21 T.

Coda+

Presto-Vorspiel

(T. 54–68, 69–74)

= 74 T.

6 T. //: 15 T. :// //: 11 T. 6 T. + 15 T. :// 15 T. + 6 T.

Das Andante amabile e con moto beginnt mit einem dreitaktigen Motiv, aus dessen

Variationen das Material des A-Teils (T. 7–21, vgl. Abb. 35) abgeleitet wird. Aus

dem Frage-Antwort-Typ der ersten beiden Dreitakter (T. 7–12) entwickelt sich in den

folgenden Dreitaktern eine Sequenz. Auf diese Weise bilden beide Phrasen (T. 7–12

und 13–18) das Verhältnis von Thema und Entwicklung aus. Dabei bleibt die themati-

sche Substanz der Dreitakter erhalten. Die relative Stabilität der ersten Phrase (T. 7–

12) wird mittels eines Tonika-Orgelpunkts und der Pausen, die die Gestalt zerklüften,

erreicht. Danach kommt die Harmonik in Fluss, die Akkorde wechseln fast auf jeder

Achtelnote. Das Material entwickelt sich unter einem wellenförmigen, aufwärts

gerichteten Bogen. Der Satz wird plötzlich dichter. Die Sechzehnteltriolen des schlie-

ßenden Dreitakters stellen das Muster für die rhythmische Struktur des nachfolgenden

Mittelteils bereit.

51 Ebda., S. 277. 52 Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 178.

39

Abb. 35, T. 7-21

Der Mittelteil bringt kein neues Thema, von seiner Funktion her wirkt er wie eine

Durchführung (vgl. Abb. 36). Der große Abstand zwischen den Händen, der schon am

Anfang der Bagatelle zu bemerken ist, wird hier weiterentwickelt. Die Oberstimme

strebt nach hohen Lagen, während die Unterstimme in die Tiefe zieht. Dadurch

verbreitert sich der Raum. Die Terzen, die in der mittleren Lage zwischen den beiden

voneinander weit entfernten Stimmen hervortreten, füllen den Zwischenraum aus.

Nach dem ersten Dreitakter in B-Dur, folgt die Modulation nach c-Moll. Die nächste

Phrase (T. 25–32, vgl. Abb. 36) durchbricht wie dargestellt die das ganzen Stück

beherrschende Dreitakt- bzw. Sechstakt-Gliederung.

40

Abb. 36, T. 22-32

Die Reprise steigt aus tiefen Klangregionen (T. 33, vgl. Abb. 37) empor, bis sie den

Klangraum ganz ausfüllt (T. 49 und 50, vgl. Abb. 37). Dadurch geht sie deutlich über

die schlichte Exposition hinaus. Außerdem verändert sie durch Anwendung einer

neuen Variationsgestalt (T. 39–41) die Substanz des A-Teils. Daraus entwickelt sich

eine sechstaktige Skalenbewegung (T. 39–44) die „in Terzparallelen verläuft und in

ihrer Bewegung einen weiträumigen Bogen beschreibt.“53 Mit dem Auftreten der

Sequenz (T. 45) befreit sich die Musik vom pendelnden Orgelpunkt (As1 – Es) der

linken Hand, der zuvor jede harmonische Bewegung unterbindet. In dieser Phrase

erscheint nun die Haupttonart (Es-Dur) zum ersten Mal wieder. Die Reprise beginnt

auf der Subdominante (As-Dur), moduliert nach f-Moll, und erst kurz vor der Coda

wird Es-Dur erreicht (T. 48). In der Schlussgruppe (T. 51) erklingt wieder der Achtel-

rhythmus im Bass, „der nun nicht mehr wie anfangs als Bewegungssteigerung, son-

dern gerade als Beruhigung empfunden wird.“54

53 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 443. 54 Uhde, Beethovens Klaviermusik 1, S. 198.

41

Abb. 37, T. 33-53

Diese Achtelbewegung geht über auf die Coda (T. 54, vgl. Abb. 38) und entwickelt

sich bis zu T. 59, wo die Intensität des Satzes ihren Höhepunkt erreicht. Plötzlich und

unerwartet fällt das Tonmaterial in die Ruhe des Beginns zurück (T. 63).

42

Abb. 38, T. 54-74

Am Schluss steht noch einmal das furiose Presto „dessen akkordische Fanfaren das

Stück und auch den Zyklus beschließen, als falle ein Vorhang.“55

55 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 443.

43

4. Schlusswort

Die Worte Arnold Schönbergs im Vorwort zu Anton Weberns Bagatellen op. 9

können auch Wesentliches zu Beethovens Zyklus op. 126 offen legen: „Man bedenke,

welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick lässt sich zu

einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber: einen Roman durch

eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche

Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.“56

Erstaunlich an Beethovens Sechs Bagatellen op. 126 ist die Art und Weise, mit der

Beethoven Neues und Altes zusammenbringt. So sind in der vierte Bagatelle die

Formen barocker Tänze (Bourrée und Musette) verarbeitet und gleichzeitig gebro-

chen. Die dabei vorgenommenen „inneren“ Veränderungen scheinen die „äußere“

Form des Stücks nicht zu beeinträchtigen. Wir können deutlich die Grenzen der

einzelnen Abschnitte bestimmen. Von ihrem „barocken“ Material her lässt sich eine

Parallele von der vierten zur zweiten Bagatelle ziehen, deren rasche Sechzehntel am

Beginn toccatenartig wirken. Das zweite Stück ist aber hinsichtlich seiner Form weit

problematischer. Wir dürfen uns nicht von der Übersichtlichkeit des ersten Teils

irritieren lassen – danach folgt der viel längere zweite Teil, dessen Funktion mehrdeu-

tig ist und sich nicht unmittelbar erschließt. Formale Mehrdeutigkeit findet sich auch

im ersten Stück im Übergang zur Reprise. Dieselbe Doppeldeutigkeit der ersten vier

Takte der Reprise (die sowohl Ende der Kadenz aus dem Mittelabschnitt als auch

Vordersatz des Themas der Reprise bezeichnen können) finden wir auch in der

fünften Bagatelle. Dort überlappen sich aber nicht nur einige Takte, sondern ganze

Formteile des Stückes (Reprise und Coda). Trotzdem kommt das Thema hier, im

Unterschied zur ersten Bagatelle, klar zum Ausdruck. Eine echte Reprise weist aber

nur die vierte Bagatelle auf. Bis auf eine fünftaktige Erweiterung und die Auslassung

der Wiederholung ist sie identisch mit der Exposition. Die Reprise der sechste Baga-

telle wiederum wirkt eher wie eine Weiterentwicklung der Durchführung, aber auch

hier können wir das Thema noch immer klar erkennen, während in der zweite Baga-

telle das Thema in der Reprise extrem verändert auftritt. Nichtsdestoweniger weisen

diese zwei Stücke Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen wurde das Material des Mitte l-

teils aus der Schlussgruppe der Exposition übernommen. Diese motivische Beschrän-

56 Webern, 6 Bagatellen für Streichquartett op. 9, Wien, Universal Edition A. G., 1924, S. 1.

44

kung ist aber in beiden Stücken durch einen Überraschungseffekt gebrochen: der

plötzliche Abbruch der Dreitakt- bzw. Sechstakt-Gliederung in der sechsten Bagatelle

und die unerwartet langen Pausen in der zweiten. Beim ersten, dritten und fünften

Stück wird im Mittelteil das Material des Anfangs weiterentwickelt. Die vierte Baga-

telle bringt in ihrem Mittelteil ebenfalls bereits zuvor verwendetes Material (Synko-

pen), aber da Beethoven dieses in einem anderen Kontext (als Begleitung, nicht als

Hauptstimme wie in der Exposition) bringt, nimmt man es als etwas Neues wahr.

Solche Beziehungen zwischen den Sätzen lassen, zusammen mit den markanten

Kontrasten zwischen den Satzcharakteren, die sechs Stücke zu einem Zyklus werden.

Die hier vorgelegten Analysen der Bagatellen haben wichtige Besonderheiten aufge-

deckt: Die ungewöhnlichen Gegenüberstellungen von nahezu allen Parametern des

musikalischen Satzes (Lage, Rhythmus, Dynamik u.a.), die im Verlauf des Zyklus

immer wieder hervortreten, lassen sich im Zusammenhang mit dem Paradox deuten,

den der Titel Bagatellen und deren Entstehungszeit bilden: Bagatelle ↔ Spätwerk.

Hier sind zwei Extreme einander gegenübergestellt: eine schlichte Formgestalt – mit

der sich Komponisten (wenn überhaupt) am Anfang ihres Schaffens beschäftigten –

und die letzte Schaffensperiode, in der höchst komplexe und reife Werke entstehen.

Beethovens Bagatellen op. 126 sind also ein Sonderfall. Durch sie bekam das Genre

eine ganz andere, neue Bedeutung; die Gattung der Bagatelle wurde auf ein hohes

Niveau gehoben, für das es in der Musikgeschichte vor Beethoven kein Vorbild gab:

„Auch vermeintlich kleine Kunst kann großes Theater sein.“57

57 Hiemke, Klaviervariationen, Bagatellen, Einzelsätze, S. 444.

45

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