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8/8/2019 Luhmann - 1992 - Die Wissenschaft Der Gesellschaft
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Niklas Luhmann
Die Wissenschaftder Gesellschaftsuhrkamp taschenbuch
Wissenschaft
8/8/2019 Luhmann - 1992 - Die Wissenschaft Der Gesellschaft
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s u h r k a m p t a s c h e n b u c h
W i s s e n s c h a f t i o o i
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Absicht dieses Buches ist es, zwei verschiedene Theoriebereiche zu ver-knpfen, und entsprechend kann man es von zwei verschiedenen Aus-gangspunkten her lesen. Einmal handelt es sich um einen Beitrag zurGesellschaftstheorie. Die Gesellschaft modernen Zuschnitts wird alsfunktional differenziertes Sozialsystem aufgefat und Wissenschaft folg-lich als eines der Teilsysteme dieses umfassenden Sozialsystems. MitHilfe des Konzepts der Systemdifferenzierung kann man etwas ber dieGesellschaft lernen, die solche Differenzierung aushlt, ja frdert undsich seit langem auf eine Autonomie ihrer Funktionssysteme eingestellthat. Im gleichen Zuge erfhrt man aber auch etwas ber die Funktions-
systeme, hier die Wissenschaft, die zu Selbstorganisation, ja zur eigenenProduktion ihrer eigenen Elemente freigestellt sind.Der andere Ausgangspunkt liegt in Diskussionen, die seit der Mitte desvorigen Jahrhunderts unter Bezeichnungen wie Erkenntnistheorie oderEpistemologie gefhrt werden. Hier zeichnen sich heute Trends zukonstruktivistischen Konzepten ab, die auf idealistische oder tran-szendentale (und in diesem Sinne subjektive) Begrndung verzichtenund statt dessen durchaus reale Systeme voraussetzen, die eigene Beob-achtungen an eigenen Konstruktionen orientieren und orientieren ms-sen, weil sie keinen eigenen Zugang zur Umwelt haben.
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Niklas Luhmann
Die Wissenschaftder Gesellschaft
Suhrkamp
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz fr diese Publikationist bei Der Deutschen Bibliothek erhltlich.
suhrkamp taschenbuch W i s s e n s c h a f t IOOI
Erste Auflage 199 2
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des ffentlichen Vortrags, der bertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der bersetzung, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,
vervielfltigt oder verbreitet werden.
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Umschlag nach Entwrfen von
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
4 5 6 7 8 9 - 07 06 05 04 03 02
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Inhalt
Vorwort 7
1 Bewutsein und Kommunikation 11
2 Beobachten 68
3 Wissen 122
4 Wahrheit 167
5 Wissenschaft als Sys tem 271
6 Richtige Reduktionen 3 6 2
7 Reflexion 4 6 9
8 Evolution 549
9 Wissenschaft und Gesellschaft 616
10 Die Modernit t der Wissenschaft 702
Register 721
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Vorwort
Die Wissenschaft der Gesellschaft - der Titel zeigt an, da die
Wissenschaft nicht als freischwebender Weltbeobachter behan-delt wird, sondern als wissenfrderndes Unternehmen der Ge-
sellschaft und genauer: als Funktionssystem der Gesellschaft. In
diesem Sinne liegen wir also auf einer Ebene mit Untersuchun-gen ber die Wirtschaft der Gesellschaft, die Politik der Gesell-
schaft, das Recht der Gesellschaft usw. Im Bereich Wissenschaft
stoen wir jedoch auf eine traditionsbestimmte Vbrrangbehaup-
tung - und nicht, wie im Falle der Politik, fr eine Position inder Gesellschaft, sondern fr eine Position ber der Gesell-
schaft. Denn wenn man die Gesellschaft erkennen will, so heites, mu man doch zuerst die Bedingungen der Mglichkeit von
Erkenntnis erkennen, bevor man sich diesem Gegenstand oder
anderen Gegenstnden zuwendet. Aber wo soll diese Positionauerhalb der Gesellschaft zu finden sein ? Und wer sollte sie,
wenn es sie gbe, beobachten knnen?
Die analytische Philosophie hat unter dem Einflu von lingui-
stischen Analysen wichtige Schritte getan, um soziale Bedin-gungen in die Erkenntnistheorie einzubauen, vor allem durchZentrierung auf sentence und public discourse als Formen
der Wahrheitsfindung. Aber dies geschah ohne zureichende
Theorie der Kommunikation, allein auf Grund einer Orientie-rung an Sprache. Erst recht wurde der Kontakt mit den philo-
sophisch naiv verfahrenden Sozialwissenschaften vermieden.
Die radikaleren Formen eines wissenssoziologischen Konstruk-
tivismus und des in Edinburgh ausgearbeiteten strong Pro-gramme wissenschaftssoziologischer Forschung waren hier
nicht anschlufhig, und die Kluft fhrte zu unergiebigen, mi-verstndnisreichen Kontroversen. Wir unterlaufen diesen Dis-kussionsstand mit der These, da eine adquate Erkenntnis-
theorie zu einer funktional differenzierten Gesellschaft passen,
also der Tatsache der Ausdifferenzierung eines Funktionssy-stems Wissenschaft Rechnung tragen, ja diese Bedingung ihrer
Mglichkeit reflektieren mu.
Es mag sein, da die Philosophie ihr Mitspracherecht nur da-
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durch begrnden kann, da sie erkenntnistheoretische Fragen
als Vorfragen behandelt, die geklrt sein mssen, bevor man mit
wissenschaftlichen Untersuchungen beginnt; oder auch als Fra-gen, die nicht ihrerseits durch empirische Untersuchungen
geklrt werden knnen. Sie mu deshalb Unterscheidungen
vorschlagen, in denen sie sich selbst placieren kann. Analy-tisch/synthetisch, von Kant geweiht, ist das bisher erfolgreich-
ste Angebot. Die heute dominierenden Wissenschaften der
Kognition (cognitive sciences) gehen jedoch anders vor. Sie set-
zen dabei freilich oft erkenntnistheoretisch unreflektiert an,indem sie voraussetzen, da es eine Realitt gibt, auf die man mit
empirisch erforschbaren Erkenntnisapparaten zugreifen kann -
und sei es auf sehr verschiedene, systemabhngige Weise. DieseKognitionswissenschaften entwickeln eine Art Konstruktivis-
mus, der sein Realittsproblem pluralistisch auflst. Er
schliet mit Lorenz und anderen von Lebensdienlichkeit aufAuenweltbezug. Aber damit ist das Problem der Erkenntnis
nicht befriedigend gelst (und hier mu man die Ansprche der
Philosophie als berechtigt anerkennen), sondern nur plurali-stisch abgelegt.
Seitdem man die Gesetze der Thermodynamik (Boltzmann) auf-
gestellt hat, ohne sie auf der molekularen Ebene der Materieverifizieren zu knnen, hat man ein weiteres Problem, nmlich
das Problem der Realitt der Wahrscheinlichkeit der Ordnungs-auflsung. Wahrscheinlichkeit ist ein Begriff, der einen Beob-
achter voraussetzt. Beobachtet der Beobachter seinen eigenen
thermodynamischen Zerfall? Beobachtet er sich als seinen eige-nen Gegenstand? Oder ist er, wer immer er ist, durch seine
Beobachtungen zum Rckschlu auf die Bedingungen der Mg-
lichkeit eben dieser Beobachtungen - hier also: Negentropie -
gentigt ? Jede Genetik stellt heute vor dieselbe Frage: Wer oder
was diskriminiert eigentlich den Aufbau der Ordnung? Dochnicht die Information! Mssen wir hier einen Beobachter
vermuten, oder gar, wie Ranulph Glanville annimmt, Selbstbe-obachtung als konstitutive Diskrimination der Objekte ?
Fast alle Disziplinen sind heute an solchen epistemologischen
Problemen interessiert - von der Physik ber die Biologie, dieNeurophysiologie, die Psychologie und die Linguistik bis hin
zur Soziolo gie. Das wissenssoziologische Problem derWahr -
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heit ist zum Problem aller Disziplinen geworden. Man kann
nach den physikalischen, biologischen, neurophysiologischen,psychologischen, linguistischen, soziologischen Bedingungen
von Erkenntnis fragen. Immer mu man dabei autologisch
forschen, das heit: Rckschlsse auf das eigene Tun beachten.Ein solcher Zirkel ist keineswegs vitis. Man mu nur die
Rckverwandlung von Forschungsresultaten in Forschungsbe-
dingungen im Auge behalten und sich dafr Zeit nehmen. Unddie empirische Theorie mu komplex genug sein (mit Fragen an
das Ausreichen einer zweiwertigen Logik), um den autologi-
schen Schlu vollziehen zu knnen. Verglichen mit den Fort-
schritten, die hier inzwischen erzielt sind, machen Erkenntnis-
theorien, die selbstreferenzaversiv gebaut sind oder die hierfrersonnenen Figuren weiterverwenden, einen eher zweitrangi-
gen Eindruck. Sie bleiben, wie man an Popper sehen kann, inmethodologischen Ratschlgen stecken, die man natrlich im-
mer wieder gern zur Kenntnis nimmt und zur Beachtung
empfiehlt.
Eine allgemeine Lizenz zu autolog ischem Forschen enthlt frei-
lich noch wenig Instruktion; sie erklrt noch nicht, wie es zumachen ist. Hie r mssen die Disziplinen ihren eigenen, entspre-
chend revidierten Theorieapparat beisteuern, und im Folgendengeht es um Soziologie. Im Kontext einer allgemeinen Theorie
autopoietischer Sozia lsysteme beschreiben wi r die Wissenschaftals ein Funktionssystem der (modernen) Gesellschaft, das sich
unter historisch vorliegenden gesellschaftlichen Rahmenbedin-
gungen zu eigener operativer Geschlossenheit ausdifferenzierthat, also selbst diskriminiert, was wahr und was unwahr ist. Die
Selbstbeobachtung der Welt durch Physiker mu nicht nur phy-
sisch und lebensmig, sie mu auch sozial ermglicht werden.Das erfordert die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems Wis-
senschaft. Hierfr mssen mannigfaltige Vorbedingungen er-fllt, mssen zahlreiche strukturelle Kopplungen von System undUmwelt eingerichtet sein; und zwar in einer Weise eingerichtet
sein, die die operative Geschlossenheit, die Selbstorganisation,
das laufende rekursive Arbeiten mit der Unterscheidung vonSelbstreferenz und Fremdreferenz des Systems nicht verhindern,
sondern ermglichen. Da dies mglich ist, ist uns auf der Ebene
der alltglichen Phnomene gelufig. Wie es mglich ist, ist das
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Thema der nachstehenden Untersuchungen. Und da die Frage
als Wi e -Frage gestellt wird , realisiert zugleich den autologi-
schen Schlu vom Ergebnis auf die Forschung.Einfacher gesagt: Wir versuchen, die Theorie der funktionalen
Differenzierung mit dem heute unausweichlichen Radikalismus
erkenntnistheoretischer Fragestellungen zusammenzuschlie-en, aus dem einen Konzept auf das andere zu schlieen und
wieder zurck. Primr handelt es sich um einen Beitrag zur
Theorie der modernen Gesellschaft. Aber es soll dabei zugleichdeutlich werden, welche erkenntnistheoretischen Konzepte
diese Gesellschaft auf Grund der Form ihrer Differenzierung
erzeugt und im Nebenertrag: wie unzureichend es ist, es bei
Begriffen wie Relativismus, Pluralismus oder Postmoderne zubelassen.
Dem ungeduldigen Leser wird ein erhebliches Ma an Redun-
danzen und Wiederholungen auffallen - teils im Verhltnis zu
anderen Publikationen von mir, teils innerhalb dieses Buches.Aber auch eine zu konzentrierte Schreibweise ist oft moniert
worden. Ich hoffe, da das hier gesuchte Kompromi eine ver-
tretbare Lsung darstellt. Im brigen liegt ein Grund fr Wie-derholungen in der Schwierigkeit, den Text auf die Reihe zu
bringen. Der Gedankengang ist zu komplex fr eine linearePrsentation, wie die Schrift sie verlangt. Wiederholungen so-wie rekursive Rck- und Vorgriffe ermglichen es, einer nicht-
linearen Theoriearchitektur Rechnung zu tragen. 1
Die Grund ideen dieses Buches sind auf Grund eines vorlufigenManuskripte s im Wintersemester 1987/88 in einem Kolloquium
an der Universitt Bielefeld diskutiert worden. Dieser Reso-
nanztest hat zu einer grndlichen berarbeitung des Manu-
skriptes gefhrt. Ich danke den Teilnehmern, vor allem denMitgliedern des Universittsschwerpunktes Wissenschaftsfor-
schung, fr ihre Teilnahme und fr zahlreiche kritische Hin-weise. Es bleibt nur noch, wie blich, zu sagen, da verblei-bende Fehler zu meinen Lasten gehen - mit Ausnahme von
Fehlern in diesem Satz, versteht sich!
Bielefeld, im M rz 1990 Nik las Luhmann
1 Zum selben Problem George J. Kr, Architecture of Systems Problem Solving,
New York 1985, S. VHIf.
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Kapitel i
Bewutsein und Kommunikation
I
Von Wissen und Wissenschaft spricht man blicherweise in
einer subjektbezogenen Begrifflichkeit. Das Subjekt des Wis-sens ist demnach der Mensch; oder jedenfalls das Bewutsein
des Menschen; oder eventuell der Kollektivsingular des tran-
szendentalen Bewutse ins der Menschen. Ganz ohne einen sol-
chen Trger kann man sich Wissen schwer vorstellen. Irgendwo
in der Welt mu es ja vorhanden sein, zugerechnet werden,berprft und verbessert werden knnen. Und selbst wenn
man, philosophisch inspiriert, das Subjekt extramundan denkt,macht es doch keine Schwierigkeiten, es an der nchsten Stra-
enecke aufzutreiben und zu befragen. Auch Wissen ber
Kriterien und Kontrollen des Wissens wird letztlich ber dieVorstellung des Menschen in die Welt eingefhrt; und wenn
man es nicht direkt am Menschen wahrnimmt, sondern zum
Beispiel in Bchern liest, haben die Bcher angeblich einen
Autor, Kant zum Beispiel.1
Die folgenden Untersuchungen sind darauf angewiesen, da wir
uns von dieser Zurechnungskonvention lsen. Oder sie machen jedenfalls den Versuch, so zu verfahren, als ob dies mglich sei.
Damit dies ge lingt, mssen wir in einem ersten Kapitel zunchst
einmal diese Konvention charakterisieren, sie in ihren Folgenskizzieren und uns auf eine theoretische Alternative einlassen.
Die Zurechnung von Wissen auf etwas, was man in der Kom-
munikation als Mensch, Subjekt, Bewutsein, Individuumkennzeichnet, hat enorme Konsequenzen gehabt. Schon in der
griechischen Philosophie wurden die Kontroversen innerhalbdieser alltagsplausiblen Konvention gefhrt. Wenn es zum Bei-spiel im Theaetet darum ging, ob der Mensch das Ma aller
I Mittelalterliche Textgepflogenheiten, die das .Buch selbst wie einen Autor spre-
chen lassen, haben den Buchdruck nicht berlebt. Es wre nicht ganz abwegig, sie
wiederaufzugreifen, denn schlielich stammt, jedenfalls wo es wissenschaftlich
zugeht, nur sehr weniges, was in einem Buch zu lesen ist, von dem Autor
selbst.
II
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Dinge sei, so stand die Zurechnung des Wissens auf den Men-schen nicht in Frage, sondern bestritten wurde im Namen des
lgos nur, da jeder auf seine Weise Kriterium des Urteils wahr
bzw. unwahr sei. In der Tat liegt es ja auch nahe, Wissen bei dem
zu vermuten, den man fragen kann, und dann nur noch diesubjektive Beliebigkeit des Urteils zu bestreiten und an diesem
Problem weiterzuarbeiten. Ebensowenig wurde die Lokalisie-
rung am Menschen in den spteren Kontroversen ber Realis-mus und Nominalismus in Zweifel gezogen. Im Zuge solcher
Kontroversen wurde der Mensch dann mehr und mehr Instanz
seines Wissens. Er hatte gewissermaen das Privileg, sich irrenzu knnen (die Welt irrt sich nicht ber sich selbst), und war
damit auch fr die Korrektur seiner Irrtmer verantwortlich.Und je mehr deutlich wurde, da die Negativitt in der Weltselbst keinen Ort hat, da nichts negativ sein kann, desto mehr
war man gezwungen, das auf Irrtumsberwindung beruhende
Wissen zwar im Menschen, aber zugleich transmundan zu ver-orten. Je mehr das empirische Beobachten als Wissenserwerbs-
und -kontrollinstrument erkannt wurde, desto mehr wurde der
Beobachter darauf verwiesen, etwas Nichtempirisches in sich
selbst zu vermuten. Je mehr dies auch fr die Logik selbst an-zunehmen war, desto mehr mute die Welt auf ein alogisches
Etwas reduziert werden. Selbst den Axiomen der Logik, etwa
dem Postulat der Widerspruchsfreihei t, fehlt dann ein Realitt s-korrelat; denn wenn man beweisen wollte, da die Welt selbst
widerspruchsvoll bzw. widerspruchsfrei existiert, mte die
Beweisfhrung eben dieses Axiom bereits verwenden. 2
Da der Mensch schlielich als Subjekt seines Wissens ange-
sehen wurde, kann man als eine Residualisierung der Trger-
schaft begreifen, als eine Art transitorische Semantik, die trotzzunehmenden Bewutseins der Vlkervielfalt, der Sitten- und
Glaubensunterschiede und der Individualitt der Menschennoch an der Zurechnung auf den Menschen festhalten will, aber
eben diese Zurechnung nicht mehr empirisch, sondern nur nochin sich selbst verorten kann. Angesichts der immensen Kom-
plexitt, Detailliertheit und raschen Variabilitt wissenschaftli-
chen Wissens wird dieses Subjekt jedoch zur Chimre - oder,
2 Vgl. etwa Henri Atlan, A tort et raison: Intercritique de la science et du mythe,Paris r986, insb. S. 141 ff.
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wie bei Husserl, zum Rebell, der erklren lt, seine konkret-
lebensweltlichen Erfahrungen, seine originre Sinnstiftung
w rden von der Wissenschaft nicht hinreichend bercksichtigt.Wenn dann noch das Subjekt die wissenschaftliche Empirie ab-
lehnt (weil sie nur in Begriffen mglich is t), lie gt es nahe, auf die
Unterscheidu ng von empirisch und transzenden tal ganz zu ver-
zichten. 3
Ungeachtet aller spezifischen Theorieannahmen (Bewutsein,
Vernunft, Subjektivitt betreffend) kann man eine Theorie alstranszendental charakterisieren, wenn sie nicht zult, da die
Bedingungen der Erkenntnis durch die Ergebnisse der Erkennt-
nis in Frage gestellt werden. Transzendentale Theor ien blockie-
ren den autologischen Rckschlu auf sich selber . Als empirischoder als naturalistisch kann man dagegen Erkenntnistheorien
bezeichnen, wenn sie fr sich selbst im Bereich d er wissenswer-ten Gegenstnde keinen Ausnahmezustand beanspruchen, son-
dern sich durch empirische Forschungen betreffen und in der
Reichweite der fr Erkenntnis offenen Optionen einschrnken
lassen. 4 Wi r legen Wert auf diese Belehrung und verzichten des-halb auf die Unterscheidung empirisch/transzendental, die nur
von transzendental angesetzten Erkenntnistheorien bentigt
wird.Die Ansicht, Erkenntnis sei immer Erkenntnis eines Subjekts
und einSubjekt sei immer individuelles Bewutsein, hat denZusammenbruch der Unterscheidung von empirisch und tran-
szendental berstanden. Sie kann noch heute als herrschende
Auffassung gelten, besonders bei Philosophen 5 und im Alltags-leben. Man gelangt zwar bis zur Annahme eines konstitutiv
irreflexiven, operativ nicht auf Selbsterkenntnis angewiesenen,
Ereignisse der aktuellen Bewutheit prozessierenden Bewut-
seins, also bis an die Schwelle dessen, was wir im folgenden
3 "Wenn man mit Jean-Franois Lyotard, Le diffrend, Paris 1983, S. 51, diese
Unterscheidung beibehlt, sie aber als einen Zirkel konstruiert, luft das auf das-
selbe hinaus. Die Unterscheidung hatte ihren Sinn ja als Asymmetrie. Resymme-
trisiert hebt sie sich selbst auf.
4 Natr lich ist bekannt, da genau diese Option fr Einschrnkbarkeit von Op-
tionen es dem Transzendentalisten ermglicht, tu quoque zu argumentieren.
Lassen wir ihm das Vergngen, sofern er sich darauf beschrnkt.
5 Siehe als berblick ber die aktuelle Diskussion Manfred Frank, Die Unhin-
tergehbarkeit von Individualitt, Frankfurt 1986.
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Autopoiesis nennen werden - aber nicht darber hinaus; und
man hlt vor allem an der These fest, da das bewute Subjekt
der einzige Fall dieser Art sei.
Die analytische Philosophie schlielich hat eine entsprechende
Unterscheidung der Form nach beibehalten, sie aber vom Sub- jekt auf die Sprache verlagert. Bei Sprache geht es ihr jedoch
nicht um Kommunikation, sondern um Regeln, die gleichwohl,
mit einer theorienotwendigen Unscharfe, eine naturalisierteEpistemologie begrnden sollen. Aber die dies leitende Un-
terscheidung von analytisch und synthetisch lt sich nicht
sprachlich begrnden. Sie setzt einen nichtempirischen Zugangzu Wissensvoraussetzungeri voraus. Und die Linguistik behilft
sich dann nach dem Muster der Logik mit einer ebenfalls nicht-empirischen Unterscheidung von Sprache und Metasprache. 6
Diese Voraussetzungen werden gesprengt, wenn man, mit Hilfeder Soziologie, von Sprache auf Kommunikation umstellt und
unter Kommunikation eine stets faktisch stattfindende, empi-
risch beobachtbare Operation versteht.
Denn die Wissenschaften, die direkt mit der Komplexitt em-
pirischer Verhltnisse konfrontiert sind, machen hier schon seitlangem nicht mehr mit. Als Resultat einer langen, aber in der
Zurechnung des Wissens auf den Menschen eindeutigen Tradi-
tion kann eine gewisse Idealisierung des Beobachters als'einesKomplexes von Messungen und Berechnungen festgestellt wer-
den. Das gilt in besonders eindeutiger Weise fr die moderne
Physik, die mehr die Effekte ihrer Instrumente als die Effekte
des Menschen, der sie jeweils handhabt, reflektiert. Fast knnteman daher auf die Subjektfassung der Beobachter verzichten7
und nur von Beobachten bzw. Beobachtungen sprechen.
Solche Kautelen bringen jedoch nicht viel, wenn man nach wievor nur eine einzige Mglichkeit hat, den Beobachter zu iden-
tifizieren, nmlich als Menschen. Man mag ihn dann wie immerabstrakt beschreiben und damit dem Umstand Rechnung tra-gen, da der Mensch noch mehr tut, als nur zu beobachten; aber
6 Vgl. dazu Louise M. Antony, Naturalizcd Epistemology and the Study of Lan-
guage, in: Abner Shimony/Debra Nas (Hrsg.), Naturalistic Epistemology: A
Symposium of Two Decades, Dordrecht 1987, S. 235-257.
7 Niemand sagt bisher der/die Beobachter/in. Aber das wird kommen, wenn
man sich nicht rasch eines Besseren besinnt!
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im Effekt unterstellt man fr das, was man als Beobachten (undfolglich: als Wissen) bezeichnet, nach wie vor nur eine einzige
Systemreferenz: den Menschen. 8 Aber warum mu man das,
was als Beobachter in den Proze der Produktion und Repro-duktion von Wissen eingeht, durch die Systemreferenz Mensch
konkretisieren, wenn man doch wei, da damit zu viel (und
vielleicht auch zu wenig) bezeichnet ist?Zugleich erzwing t die moderne Gesellschaft mit ihrem weit aus-
gedehnten historischen und kulturell-vergleichenden Wissen
sich selbst zur Anerk ennu ng der Relativitt aller Weltanschau-ungen und damit allen Wissens. Das gilt heute sogar fr Vor-
stellungen von Zeit, Raum, Farbe usw., also fr Gestaltwahr-
nehmungen jeder Art. Dabei scheinen zunchst Relativierungund Subjektivierung einander zu sttzen, einander Argumentezu liefern. Das hat die historische (oder geisteswissenschaftli-
che) Hermeneutik der Lebensphilosophie eines Dilthey aus-
gearbeitet. Mit der Zurechnung auf den Menschen, die imSubjektbegriff impliz iert ist, wir d jedoch die Unterste llung tra-
diert, als ob Weltanschauungen, we il relativ und wei l subjektiv,
gewhlt werden knnten. Man knne sich, so scheint es, fr dieeine oder andere Zeit- oder Raum- oder Ding- oder Symbol-
vorstellung entscheiden. 9 Das ist jedoch nicht der Fall. Geht
man vom Einzelmenschen als Subjekt aus, sind seine Vorstel-lungen durch Teilnahme an gesellschaftlichen Kommunika-
tionszusammenhngen dermaen sozialisiert, da nur die Ent-
scheidungsfreiheiten bestehen, die gesellschaftlich verstndlichgemacht werden knnen. Im zu akzeptierenden Relativismus
steckt keinerlei Beliebigkeit, sondern nur die Nachfrage nach
den Konditionierungen, die das Wie der Unterscheidungen
bestimmen. U nd das luft auf eine empirische Frage , eine Fragean den Beobachter von Beobachtern hinaus.
Es liegt in der Konsequenz einer derart natura lisierten (= de-
8 Siehe die wohl unbemerkt paradoxe Beschreibung bei Atlan, a.a.O., S. 228f.:
Car l'observateur physique n'estpas un homme mais un systme idal constitupar un appareil de mesure et un physicien idal,c'est--dire un homme idaliscapable de dtecter de faon objective les indications de l'appareil de mesure et de
les interprter dans le cadre de la connaissance physique. (Hervorhebungen durch
mich, N. L.).
9 Siehe zur Kritik dieser Prmisse auch Steve Fller, Social Epistemology,
Bloomington Ind. 1988, S. i24ff.
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transzendentalisierten) Epistemologie, da sie hhere Anforde-
rungen an die Selbstreferenz stellt, da sie eine genauere
Beschreibung der empirischen Kognitionsprozesse erfordertund da sie schlielich ber die Bezugseinheit Mensch hin-
ausgehen mu. Quine hatte mit diesem Programm sicher nur
sagen wollen, da man Erkenntnis als menschliches Verhalten inBetracht ziehen msse. 1 0 Aber dabei kann man nicht stehenblei-
ben, wenn man die sozialen Bedingungen auch des wissen-
schaftlichen Forschens in Betracht zieht." Damit wird dannaber die Grundproblematik des Verhltnisses von Individuum
und Gesellschaft epistemologisch (und damit zirkulr auch fr
das Begreifen eben dieser Grundproblematik) relevant.
Schneiden wir diesen Zirke l zunchs t mit einer wohl unbestreit-baren berlegung an. Schon einfaches Nachdenken kann zei-
gen, da nicht der ganze Mensch erkennt. Erkennen kommt nuraufgrund der Mglichkeit des Sich-Irrens zustande. Das Leben,
und selbst das Gehirn, kann sich aber nicht irren. Es ist ja ent-
scheidend an der Produktion wahrer und unwahrer Vorstellun-gen beteiligt und produziert beides auf gleiche Weise, mit
gleichen Operationen, mit gleichen Apparaturen. Wir mssen
also Erkenntnis, wenn berhaupt auf den Menschen, auf sein
Bewutsein zurechnen und dem Leben allenfalls eine notwen-dige Beteiligung bei der Ermglichung diskriminierender Beob-
achtungen und insbesondere bei der Ermglichung von Irrt-
mern zuerkennen. 12 Zurechnung auf den Menschen ist mithinein Artefakt, eine Konstruktion. Und die Frage ist dann, wie
und wofr wird sie angefertigt und gebraucht? Zugestanden,
10 Siehe Willard van O. Quine, Epistemology Naturalized, in ders., Ontological
Relativity and Other Essays, New York 1969, S. 69-90. Zur umfangreichen an-
schlieenden Diskussion siehe Hilary Kornblith (Hrsg .), Naturalizing Epistemo-
logy, Cambridge Mass. 1985, und den bereits zitierten Band von Shimony und
Nails 1987.11 Dies betont bei allem Festhalten am Desiderat rationaler Kriterien Mary Hesse,
Socializzare Tepistemologia, Rassegna Italiana di Sociologia 28 (1987), S. 331-356.
Siehe auch Karin Knorr Cetina, Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der
Verdichtung von Gesellschaft, Zeitschrift fr Soziologie 17 (1988), S. 8;-ioi.
12 Zu beachten ist, da Humberto Maturana terminologisch umgekehrt operiert,
nmlich den Begriff der Kognition bereits auf der Ebene des Lebens ansetzt und
von Beobachten nur in bezug auf Systeme spricht, die ber Sprache verfgen. Siehe
die Aufsatzsammlung Erkennen: Die Organisation und Verkrperung von Wirk-
lichkeit, Braunschweig 1982.
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da eine entsprechende Konvention fr die Kommunikation
ber Wissen unentbehrlich ist. Aber wenn das zugestanden
wird, ist dann nicht eigentlich die Kommunikation selbst dasBeobachten, das sich des Menschen nur bedient, was immer siedamit meint, um sich selbst fortzusetzen ?
Auf die gleiche Frage kommt man, wenn man berlegt, wie es
berhaupt zur Wahrnehmung eines Unterschiedes von Men-schen und Dingen oder Subjekten und Objekten kommt. Zu-
meist wird dieser Unterschied einfach vorausgesetzt und dann
auch in der Introspektion nachgewiesen. Um diese Unterschei-dung machen zu knnen, mu man aber weder die andere (und
erst recht nicht: die eigene) Person noch das Objekt kennen.
Schon das Wahrnehmen des Wahrnehmens eines anderenschliet ja gar nicht dessen bewutseinsmige, geschweige
denn dessen neurophysiolog ische Prozesse ein. Ma n nimmt gar
nicht wahr, wie ein anderer wahrnimmt, sondern nur, da einanderer wahrnimmt, und zwar mit Hilfe der Unterscheidung
von Subjekt und Objekt. Dafr gengt ein black box-Kon-
zept vollauf. Die Unterscheidung selbst ist die primre Diffe-
renz, und das, was dann anhand des eingefhrten Unterschiedesjeweils als Subjekt oder als Objekt erkannt und behandelt wird,
ist nur ihre Folge. Erst diese Unterscheidung lt das konden-sieren, was man ber Menschen bzw. Dinge konkret wissenmu, um die Kommunikation fortsetzen zu knnen. Die Un-
terscheidung ist notwendig, damit man Anschlsse fr Kom-
munikation lokalisieren kann (oder genauer: damit die Kom-munikation Anschlsse fr Kommunikation lokalisieren kann).
Man redet nicht mit dem Objekt ber das Subjekt, sondern mit
dem Subjekt ber das Objekt. Was und wieviel man dabei berdas andere Subjekt bzw. ber das Objekt wissen mu, hngt
ganz von der Kommunikation und ihren jeweiligen Themen
und Umstnden ab. Das gilt in geradezu spek takulrer Weise frwissenschaftliche Kommunikation. Die Kommun ikation ist aufdiese Differenz angewiesen, sie entwickelt sich erst in der ge-
sellschaftlichen Evolution; und danach richtet sich, was die
Menschen voneinander halten.
Empirisch gesehen lt diese These vom genetischen Primat derKommunikation sich durch Untersuchungen ber Interaktion
mit Babies berprfen und, soweit man sehen kann, belegen.
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Schon im zweiten Monat nach der Geburt sind Verhaltenswei-
sen mglich, die als Kommunikation verstanden und erwidert
werden, also vor jedem Spracherwerb und fast gleichzeitig mitder Entwicklung von wahrnehmungsmigem Unterschei-dungsvermgen. 13 Dabei spielt die hierzu notwendige zeitliche
Sequenzierung mit selektiver Bindung von Aufmerksamkeit -
zum Beispiel: das Wiederholen, das turn taking - eine wichtigeRolle. Man wird diese Befunde kaum als eine organisch ange-
legte, angeborene Kommunikationsbereitschaft interpretie-
ren knnen , 1 4 wohl aber als Beleg fr das rekursive Ingangkom-men von Kommunikation, die als Beitrag zur Kommunikation
verwenden kann, was noch nicht so gemeint war, und dann
als Resultat das Vermgen zur Unterscheidung von Subjekt undObjekt aufbaut.
Diese berlegungen fhren zu einem folgenreichen Umbau der
blichen Annahmen ber die Konstitution des alter Ego oder
ber die Erzeugung der Du-Subjektivitt. Die blicheVersion lautet: da ein Subjek t mit kogn itivem Umweltkontakt
irgendwann einmal die Erfahrung macht, da andere Menschen
anders sind als Dinge, und dann mit dieser Erfahrung zu rech-
nen beginnt. Der radikale Konstruktivismus ist bisher ber
diese Version nicht hinausgekommen, mu also, gegen sein ei-genes Theorieprogramm, eine Art Ich-Analogie unterstellen -
zumindest als je eigene Konstruktion. Es bleibt dann dochmerkwrdig, da diese Konstruktion des alter Ego ohne jede
Realittsentsprechung immer wieder eingerich tet wird. Der Er-
kenntnisvorteil liegt zwar auf der Hand, er liegt in einer ArtDoppelprfung der Kognition aus eigener und aus selbstkon-
13 Vgl. Stein Braten, Dialogic Mind: The Infant and the Adult in Protoconver-
sation, in: Marc E. Carvallo (Hrsg. ), Nature, Cogni tion and System Bd. 1,
Dordrecht 1988, S. 187-205.14 So aber Colwyn Trevarthen, The Foundations of Intersubjectivity: Develop-
ment of Interpersonal and Cooperative Understanding in Infants, in: David R.
Olson (Hrsg.), The Social Foundations of Language and Thought: Essays in Honor
of Jerome S. Bruner, New York 1980, S. 316-342, ders., The Primary Motives for
Cooperative Understanding, in: George Butterworth/Paul Light (Hrsg.), Social
Cognition: Studiesof the Development of Understanding, London 1982,5.77-109;
ders., Development of Intersubjective Motor Control in Infants, in: M. G. Wade/
H. T. A. Whiting (Hrsg.), Motor Development, Dordrecht 1986, S. 209-261. Ich be-
ziehe mich auch auf eine mndliche Diskussion mit Trevarthen.
18
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struierter fremder Sicht . 1 5 Aber die stndige Repetition genau-
dieser und keiner anderen Problemlsung gibt doch zu denken;
ganz zu schweigen von der Schwierigk eit, die Genese eines sol-chen Analogieerlebens berhaupt nachzuweisen. Wir gehen
statt dessen davon aus, da es die Teilnahme an Kommunikation
ist, die es nach ausreichender Einbungszeit sinnvoll macht, ein
alter Ego zu unterstellen, um Erfahrungen kondensieren zuknnen. Die Primrerfahrung liegt nicht in einer wie immer
rudimentr sich anbietenden Analogie von eigenem und frem-
dem Erleben, 16 also auch nicht in einer Art Menschenkenntnis;sie liegt in der Notwendigkeit, im Umg ang mit Kommunikation
zwischen Mitteilung und Information zu unterscheiden und die
Differenz dann mit Sinngehalten anzureichern. Daher ist Kom-munikation denn auch Bedingung fr so etwas wie Intersub-
. jektivitt (wenn man den Au sdru ck berhaupt, beibehalten
will) und nicht Intersubjektivitt Bedingung fr Kommunika-tion. Es ist dieser Vorgang des Siche inlassens auf Situationen, die
als Kommunikation interpretiert werden, der Anla gibt zur
Entstehung von doppelter Kontingenz, mit der dann die Au^topoiesis sozialer Systeme anluft. 17
Das Bewutsein hat seine fr die Kommunikation unerreich-
bare Eigenart in der Wahrnehmung bzw. in der anschaulichenImagination. Am besten lt diese Eigenar t sich begreifen, wenn
man das Bewutse in zunchst vom (zentralisierten) Nervensy-stem unterscheidet. Das Nervensystem ist eine Einrichtung zur
Selbstbeobachtung des Organismus. Es kann nur krpereigene
Zustnde diskriminieren und operiert deshalb ohne Bezug aufdie Umw elt. Das.Bewutsein kompensiert diese Beschrnkung,
es externalisiert, obwohl strukturell an das Nervensystem ge^
koppelt, das, was ihm als Eigenzustand des Krpers suggeriert
. 15 So z. B. Ernst von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffsder.Objektivitt, in: Heinz Gumin/Armin Mhler (Hrsg.), Einfhrung in den
, Konstruktivismus, Mnchen 1985, S. 1-26 (22ff.).
16So z. B. Peter M.'Hejl, Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien
einer konstruktivistischen Sozialtheorie, in: Gumin/ Mhler, a.a.O., S. 85-115
(97ff.), der eine Parallelisieruhg des sich selbst erlebenden Lebens (aber wie ist
das biologisch zu konstruieren?) mit anderen Lebewesen auerhalb als Voraus-
setzung ansieht fr das Entstehen von Kommunikation und Sprache.
17 Vgl. anschlieend Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundri einer allgemei-
nen Theorie, Frankfurt 1984, S. 148 ff.
19
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wird; es kehrt sozusagen das Innen des Krpers nach auen,
und selbst der eigene Leib wird vom Bewutsein als bewut-
seinsextern, als Gegenstand des Bewutseins erlebt. Das Be-
wu tse in kons truie rt auf der Grund lage der laufenden, ge-ruschlosen, unbemerkten Aktivitt des Nervensystems eine
Welt, in der es dann die Differenz des eigenen Krpers und der
Welt im brigen beobachten und auf diese Weise sich selbstbeobachten kann. Die semantische Figur des Subjekts (der
Welttrgerschaft des Bewutseins) hat diesen Sachverhalt nur
interpretiert , ohne ihn zu ana lys ieren; un d sie hat deshalb wederdie eigentmliche Umkehrle istung noch di e strukturelle Kopp-
lung von Nervensystem und Bewutsein begriffen.
Dieser auch schon an Tieren beobachtbare Sachverhalt hat zu-nchst mit Kommunikation nichts zu tun. Eben deshalb konn-ten wi r sagen, da das Bewut sein im Wahrnehmen bzw. in der
anschaulichen Imagination eine fr Kom munikat ion unerreich-
bare Eigenart besitzt. Die Wahrnehmung selbst ist nicht kom-munizierbar, 18 denn nur Kommunikation ist kommunizierbar.
Sicher kann sich Kommunikation wie auf alles so auch auf
Wahrnehmungen beziehen; aber dies nur, weil diese Mglich-keit durch vorherige Kommunikation schon entwickelt worden
ist, also nur im rekursiven Netz der durch Kommunikation
ermglichten Kommunikation.
In der Wahrnehmung (ber die wir jetzt, wenn es gelingt,
kommunizieren) wird Unterschiedenes, obwohl unterschie-den, als Einheit erfat. Die Distinktheit geht in das Wesen der
Sache ein. Man sieht den Baum nur als Form, nur als begrenz-
tes Objekt mit dem Anderssein des anderen drum herum, aberder Blick gert nicht ins Oszillieren, er erfat nicht die Unter-
scheidung, sondern den B aum dan k se ine s, Unterschieden-
seins. In diesem von Referenz auf Sinnlichkeit ganz abstra-
hierenden Sinne kann man akzeptieren, was Merleau-Pontyschreibt: La perception est la pense de percevoir quand lle
est pleine et actuelle." Dagegen ist und bleibt Kommunika-tion immer das Prozessieren einer Unterscheidung als Unter-
18 Wer das bezweifelt, sollte sich in die Situation eines Menschen versetzen, der
eine noch nie gesehene Farbe gesehen hat und anderen darber berichten mch-
te.
19 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l'invisible, Paris 1964, S. 50.
20
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Scheidung - und zwar der Unterscheidung von Informationund Mitteilung.
Die Teilnahme an Kommunikation setzt zwar auch Wahrneh^mung und damit Bewutsein voraus, fhrt jedoch zugleic h ber
das bloe Wahrnehmen hinaus. Man kann dies am besten am
Irrtumskriterium erkennen: Wer die Uhr falsch abliest, hat sel-ber schuld. Wer durch die Zeitansage eine falsche Information
bekommt (die er doch selber hren, also wahrnehmen mu),
wird der Zeitansage die Schuld geben. Vielleicht ist diese Pro-blematik der Auslage rung von Verantwortung fr Irrtum, Tu-
schung, Symbolmibrauch berhaupt der erste Grund fr die
Ausbildung eines ber das bloe Wahrnehmen und ber das
Wahrnehmbare hinausgehenden Interesses am Alter als alterEgo. Jedenfalls bringt Kommunika tion durch die ihr eigentm-
liche Unterscheidung von Information und Mitteilung ein neu-artiges Interesse am anderen in Gang, das dann rckwirkend
auch das Interesse an sich selbst verndern wird.
In den bisherigen Wissenskonstruktionen, die auf den Men-
schen verweisen und sich darauf beschrnken, dessen Naturbzw. Seelensubstanz aufzulsen, bleibt das Phnomen der
Kommunikation unterbelichtet. Es wird erst sekundr einge-
fhrt als ein Verstndigungsmittel unter Menschen. Dem ent-spricht, da man die Wahrheitsproblematik als ein Problem der
Inter-Subjektivitt behandelt. 20 Wenn man diesen Ausgangs-
punkt in Frage stellt, gert man auf ungesicherten Grund. Esspricht aber eine gewisse Anfangsplausihilitt, wir haben das
angedeutet, dafr, da man zahlreiche Probleme der traditio-
nellen Erkenntnistheorie anders beleuchten kann, wenn man dieSystemreferenz von Mensch oder Bewutsein auf Gesellschaft
oder Kommunikation umstellt.
Schon eine einfache berl egung kann dies zeigen: 2 1 Ein Indivi-
duum kann sein Wissen relativ leicht auswert en , zum Beispiel
logische Schlsse ziehen oder mit einer Art Kurzschaltung krea-tiv denken. Bei gesellschaftlich vertei ltem Wissen hngt dagegen
alle Auswertung von Kommunikation ab und wird daher durch
20 Hierzu ausfhrlicher Niklas Luhmann, Intersubjektivitt oder Kommunika-
tion: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, Archivio
di Filosofia 54 (1986), S. 41-60.
21 Anregend hierzu: Barry Barnes, About Science, Oxford 1985, S. 82f.
21
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Eigentmlichkeiten der Kommunikationsmedien gefiltert. Das
sieht zunchst wie ein Nachteil aus. Logisches und kreatives
Denken bleibt jedoch-gnzlich ohne Effekt, wenn es nicht kom-muniziert wird. So ist denn auch das Wissen, ber das ein
Einzelbewutsein als ber eigenes zu verfgen meint, im we-
sentlichen Resulta t von Kommunikation; und hinzu kommteigentlich nur ein gewisses Ma an Idiosynkrasien und Zufalls-
konstellationen der je individuellen Biographie. Kein individu-
ell bewutes Wissen lt sich isolieren, wie i mm er berzeugend
dem Einzelnen sein Wissen erscheinen mag. Weder die In-halte noch die Gewiheitsquellen des Wi ss en s knnen daher auf
die Ressourcen des individuellen Bewutseins zurckgefhrt
werden, und zwar auch dann nicht, wenn man Individuen ih-rerseits als autopoietisch geschlossene und dadurch komplexe
Systeme begreift.22 Erst wenn man dies einsieht, kann man zu-
treffend erfassen, wie unentbehrlich Bewutsein fr Kommu-nikation ist.
Auch wenn man die Eigendynamik der Kommunikation be-
tont, besteht kein Zweifel, da dadurch biologisch und psycho-
logisch begreifbare Individuen betroffen sind. Man mu undkann auch nicht in Frage stellen, da die Kommunikation deren
Verhalten koordiniert. Nur ist dies nicht die Funktion der Kom-munikation, 2 3 sondern ein Erfordernis der Absicherung ihrerFortsetzbarkeit mit einer realen, von Individuen bevlkerten
Umwelt. So ist denn auch nicht zu erwarten, da durch Kom-
munikation die Integration von Individuen oder ihre wechsel-
seitige Transparenz oder auch nur die Koordination ihresVerhaltens verbessert werden knn te. Die wen ige n Jahrtausen-
de, die wir berblicken knnen, haben zwar zu einer immensen
Steigerung der Reichweite, des Tempos, der Themenbreite,
22 In diesem Punkte anderer Meinung Gebhard Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft,Geschichte: Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt 1987. Eine
Testfrage knnte sein, wie eine sich auf biologische und psychische Systemreferenz
beschrnkende konstruktivistische Theorie das Tempo der soziokulturellen Evo-
lution erklren knnte; oder auch: wie sie erklren knnte, da heute 5 Milliarden
gleichzeitig erlebende Individuen nach Magabe einer sozialen Ordnung zu leben
vermgen.
23 Vgl. insbesondere Terry Winograd/Fernando Flores, Understanding Compu-
ters and Cognition: A New Foundation for Design, Reading Mass. 1986; dt.
bers. Berlin 1989.
22
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kurz: der Komplexitt von Kommunikation gefhrt, ohne da
aber dadurch die Integration von Lebens- und Bewutseinszu-
stnden der Individuen verbessert worden wre. Im Gegenteil:es ist nicht mehr unwahrscheinlich, da durch Auswirkungen
von Kommunikation Leben und Bewutsein von Menschengnzlich ausgelscht wird. Unter solchen Umstnden ist es
ebenso verstndlich wie hoffnungslos, Idealbedingungen eines
Konsenses aller wohlmeinenden Individuen zu normieren. Sichso weit von Realbedingungen zu entfernen, kann nicht gut als
rational postuliert werden . Und erst recht ist damit ausgeschlos-
sen, da Konsens von Individuen als Selektionsfaktor in der
gesellschaftlichen Evolution wirken knnte. 2 4
Wi r stellen aus diesen Grnden die Zurechnung von Wissen umvon Bewutsein auf Kommunikation, also von psychischer auf
soziale Systemreferenz. 25 Die folgenden berlegungen diesesKapitels sollen zunchst einige systemtheoretische Vorausset-
zungen dieses Wendemanvers klren.
II
Kommunikation setzt immer eine Mehrheit psychischer Sy-steme voraus. Das ist zunchst trivial, wird aber zu einer
folgenreichen Feststellung, wenn man hinzufgt, da die psy-
chischen Systeme selbstreferentiell-geschlossen operieren undfreinander unzugnglich sind. Kein Bewutsein kann die ei-
genen Operationen an die eines anderen anschlieen, kein
Bewutsein kann sich selbst im anderen fortsetzen. Schon dieneurophysiologische Fundieru ng des Bewutseins schliet das
aus, was immer man von den Beziehungen zwischen Gehirn
24 Da die soziale Evolution Konfliktbehandlungsmechanismen bentigt, die in-nerhalb des Kommunikationssystems auftretende Konflikte (Widersprche) pro-
zessieren, ist damit nicht bestritten. Siehe zu diesem Punkte auch Michael Schmid,
Collective Action and the Selection of Rules: Some Notes on the Evolutionary
Paradigm in Social Theory, in: Michael Schmid/Franz M. Wuketits (Hrsg.), Evo-
lutionary Theory in Social Sciences, Dordrecht 1987, S. 79-100 (94f.).
25 Vgl. auch Lyotard,a.a.O-, S. 188: Lesphrasesquiarriventsont>attenduesubjets< conscients ou inconscients qui les anticiperaient, mais parce
qu'elles comportent avec elles leur >mode d'emploi
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und Bewutsein halten mag. Es gibt daher auch keine Sonder-
sphre des Dazwis chen , der Relation od er des Inter .. . - es
sei denn als Konstruktion eines wiederum geschlossen operie-renden Beobachters. Es gibt daher auch, wie die Informations-
theorie seit ihren Anfngen sagt, keine bertragung von
Bedeutung von Bewutsein zu Bewutsein. Es gibt nur eine
konvergierende Konzentration von Aufmerksamkeit, zum Bei-
spiel auf Signale. Das Problem der Kommunikation liegt in der
selbstreferentiellen Geschlossenheit lebender und psychischer
Systeme.
Dieser Sachverhalt erst gibt der Kommunikation ihre Be-
deutung und zugleich ihre Eigenstndigkeit als operativ selb-
stndiges System. Alle Begriffe, mit denen Kmmunikationbeschrieben wird, mssen daher aus jeder psychischen System-
referenz herausgelst und lediglich auf den selbstreferentiellen
Proze der Erzeugung von Kommunikation durch Kommuni-
kation bezogen werden.
Machen wir uns das an einigen Beispielen klar. Jede Kommu-
nikation differenziert und synthetisiert eigene Komponenten,
nmlich Information, Mitteilung und Verstehen. Das geschieht
jenseits dessen, was in den psychischen Systemen jeweils be-
wut wird (woran sie gerade denken), durch den Kommunika-tionsproze selbst. Die Differenz von Mitteilung und Informa-
tion wird dadurch hergestellt, da die Mitteilung als Zeichen fr
eine Information genommen wird (und in diesem begrenzten
Sinne ist auch die semiologische Interpretation der Sprache be-
rechtigt). Aber sowohl die Zeichenhaftigkeit der Mitteilung als
auch die Information selbst sind kommunikationssystemin-
terne Konstrukte. Sie werden in der Kommunikation aufgebaut
und abgebaut, aktualisiert, eventuell aufgezeichnet, eventuell
erneut thematisiert. Sie kommen nicht als Bewutseinsopera-
tion in das System, nicht als Wissen eines psychischen Systems,das vorher da ist und dann in die Kommunikation eingegeben
wird . 2 6 Ein solches berschreiten von Systemgrenzen durch
systemeigene Operationen ist strikt empirisch unmglich, und
gerade auf dieser Unmglichkeit beruht, wie wir noch ausfhr-
te Als treffende Kritik dieser Vorstellung vgl. Benny Shanon, Metaphors for
Language and Communication, Revue internationale de systmique 3 (1989),
S. 43-59.
2 4
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lieh sehen werden, die Leistungsfhigkeit autopoietischer Sy-steme. Also ist sowohl die Informativitt der Information als
auch die Differenz von Information und Mitteilung als auch die
sie berbrckende Zeichenhaftigkeit der Mitteilung eine Eigen-leistung des Kommunikat ionssystems, und insbesondere seiner
Sprache. Es ist nicht notwendig, da ein an Kommunikation
beteiligtes Bewutsein jeweils denkt, das Wort Apfel sei einZeichen fr einen Apfel; und es wre uerst hinderlich und
wrde die Kommunikation dem Stillstand annhern, wenn dies
jeweils bewut gedacht werden mte. Ntig ist nur, da dieAutopoiesis der Kommunikation das Wort als Wort und als
Zeichen fr eine Information zu behandeln vermag und dadurch
den Eigenbereich abgrenzt gegen das, was , wie ma n dann meint,als Apfel real existiert.
Ebensowenig ist das fr Kommunikation notwendige Verstehenpsychologisch zu verstehen. In einem sehr allgemeinen Sinne ist
Verstehen auch als einseitige oder wechselseitige Wahrnehmung
psych ische r Systeme mglich, also auch ohne Kommunikation.Man sieht jemanden vor seiner Haustr stehen und in seiner
Hosentasche kramen und versteht: er sucht seinen Schlssel.
Durch Verstehen stellt man einen Bezug her auf die Selbstrefe-
renz des beobachteten Systems.
2 7
Die Hintergrundwahrneh-mung der Selbstreferenz zwingt zur Beobachtung als Selektion,
und der Reiz des Verstehens besteht gerade darin, da dasverstandene System intransparent und unzugnglich bleibt.
Man versteht trotzdem.
Dies ist deshalb mglich, weil der Verstehende in der Lage ist,Redundanzen zu organisieren und in das verstandene System
hineinzuvermuten. Verstehen ist insofern der laufende Aufbau
und Abbau von Redundanzen als Bedingung fr rekursiye Ope-rationen, das Wegarbeiten von Beliebigkeiten, die Verringerung
von Informationslasten und das Einschrnken von Anschlu-mglichkeiten - und all das vor dem Hintergrund des Zuge-
stndnisses von Selbstreferenz, also in dem Wissen, da allesauch anders mglich wre. Das Raffinement des Verstehens be-
steht in der Auflsung der Paradoxie der Transparenz des
27 Vgl . auch Niklas Luhmann, Systeme verstehen Systeme, in: Niklas Luh-
mann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.), Zwischen Intransparenz und Verstehen:
Fragen an die Pdagogik, Frankfurt 1986, S. 7 2 - 1 1 7 .
2
J
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Intransparenten. Man versteht nur, weil man nicht durch-schauen kann. Es geht also nicht um Vorhersage und nicht um
Erklrung psychischer Zustnde; und es geht erst recht nicht
um eine Vollerfassung selbstreferentieller Systeme durch ein-zelne externe oder interne Operationen. Aber zum Problem
wird Verstehen nur dadurch, da selbstreferentielle Systeme re-
kurs ive Opera tionen durchfhren und sich eine dafr ausrei-chende bersicht schaffen mssen.
Weil psychische Systeme verstehen knnen, ohne ihre Intrans-
parenz fr sich selbst und fr andere aufgeben zu mssen, ist
Kommunikation mglich. Es mag ein punktuelles Aufblendenund Abblenden des Verstehens geben, ohne da Kommunika-
tion in Gang kommt. Wenn Kommunikation in Gang kommt,bildet sie ein eigenes autopoietisches System mit eigenen rekur-siv vernetzten Operationen, das sich auf die Fhigkeit des
Bewutseins zur Transparenz auf der Grundlage von Intrans-
parenz verlassen kann. Diese Fhigkeit wird benutzt, sie wirdaber in der Kommunikation keineswegs in Richtung auf mehr
Transparenz entfaltet. Im Gegenteil: angesichts der selbstrefe-
rentiellen Komplexitt psychischer Systeme wre es fr Kom-
munikation eine endlose Aufgabe, htte sie festzustellen, ob die
beteiligten psychischen Systeme eine mitgeteilte Informationverstanden haben oder nicht - um so mehr, als dazu gehren
wrde, da man mitversteht, was durch die entsprechendenSelektionen ausgeschlossen worden ist. Dem Verstehen psychi-
scher Systeme (das natrlich zum Thema der Kommunikation
werden kann) fehlt die fr den Kommunikationsproze not-wendig e Diskretheit. Psychisch gibt es hier kei n entweder/oder.
Genau das braucht aber der Kommunikationsproze, um seine
eigene Autopoiesis fortsetzen zu knnen. Was als Verstehenerreicht ist, wird daher im Kommunikationsproze souvern
entschieden und als Bedingung frs Weitermachen bzw. fr kl-rende Zwischenkommunikation markiert. Wenn Verstehenproblematisiert wird, geschieht das mit Bezug auf die Selbstre-
ferenz, das heit mit Bezug auf die innere Unendlichkeit
psych ischer Systeme. Aber gerade das heit dann , da der Kom-
munikationsproze selbst der weiteren Exploration ein Endesetzen, also das Thema wechseln, die Exploration abbrechen
mu.
26
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Also ist das, was man traditionell als das Wesen der Kommu-
nikation ansieht, nmlich die bertragung von Information
(Nachrichten, Bedeutungen etc.), nur ein Nebeneffekt, den siein ihrer psychischen Umwelt auslst und den sie selbst mangels
Zugang zu dieser Umwelt nicht kontrollieren kann. Der ber-tragungseffekt koordiniert System und Umwelt von Moment
zu Moment; aber wie weit das psychisch gehen mu, bleibt
dabei eine offene Frage und wird dabei normalerweise wederzum Bewutseinsinhalt noch zum Mitteilungsinhalt der Kom-
munikation. Es ist unmglich, bei aller Kommunikation immer
noch mitzukommunizieren, da dies eine bertragung ist undwas dies bedeutet; und ebensowenig sind bewute Gedanken
immer belastet mit der berlegung, was andere an entsprechen-dem Gedankengut aktualisieren. So etwas mag, gleichsam inKrisenfllen, vorkommen; aber dann wiederholt sich das glei-
che Unvermgen an dieser berlegung bzw. Kommunikation.
Psychische Systeme, die an Kommunikation teilnehmen, pro-
zessieren in sich selbst denn auch sehr viel mehr Information, alssie in die Kommunikation eingeben. 28 Und umgekehrt gibt der
Gebrauch von sprachlich fixiertem Sinn der Kommunikation
immense berschsse an semantischen Selektionsmglichkei-
ten, die zu Informationen verarbeitet werden knnen, die psy-chisch erst erlebbar werden in dem Moment, in dem dies
geschieht.
Ma n kann sich diesen Sachverhalt auch am Verhltnis von Kom-
munikation und Welt verdeutlichen. Keine Kommunikation
teilt jemals die Welt mit. Die Kommunikation teilt die Weltnicht mit, sie teilt sie ein in das, was sie mitteilt , und das, was sie
nicht mitteilt. Und soweit die Kommunikation Anschlufhig-
keit organisiert, also Autopoiesis treibt, kann das sich Anschlie-ende nur an das schon Gesagte anschlieen. Die Welt, die
vorausgesetzt war, wird dadurch reorganisiert als Einheit einer
28 What keeps communication possible is the fact that others behave as if they do
not see what they see, as if they do not hear what they hear. In other words, the
fundamental principle that governs conversation is not a principle of cooperation a
la Grice but rather a gentlemanly trust to ignore. Thus, it is not the case that
participants in conversations make an effort to convey as much information as
possible using the minimum of resources. Rather, each participant trusts the other
will ignore all information available to him except that within the constrained focal
context of the Situation. (Shanon a.a.O. S. 47).
27
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Differenz. Sie kann dann in der Kommunikation (aber das glei-che glte, mutatis mutandis, auch fr die Operationen des
Bewutseins) nur als Paradoxie beobachtet werden.
Sofern man berhaupt systemtheoretisch forscht, also die Dif-ferenz von System und Umwelt zugrunde legt, drften diese
Einsichten sich zwingend ergeben. Sie folgen aus der einfachen
These, da kein System auerhalb seiner eigenen Grenzen ope-rieren kann. Je strenger man Begriffe wie Leben, Bewutsein
und Kommunikation an die feststellbare Reichweite der damit
bezeichneten Operationen bindet und sich damit von einer kon-sequent biologischen Theorie des Erkennens trennt, 29 desto
deutlicher kommen unberschreitbare Grenzen in den Blick.
Keine Operation dieses Typs kann das System, das sie ermg-licht, verlassen, 30 keine Operation dieses Typs kann daher ihrSystem mit seiner Umwelt verbinden. In systemtheoretischer
Sicht sind lebende Systeme, Bewutseinssy steme und Kommu-
nikationssysteme deshalb verschiedenartige, getrennt operie-rende selbstreferentielle Syst eme . 3 1 Jedes dieser Systeme repro-
duziert sich selbst autopoietisch nach Magabe der eigenen
29 Auch von derjenigen Maturanas, denn Maturana legt gerade auf Kontinuitt in
dieser Hinsicht wert. Es besteht keine Diskontinuitt zwischen dem Sozialen und
dem Menschlichen, sowie deren biologischen Wurzeln, heit es in: Humberto R.
Maturana/Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis: Uber biologische Wur-
zeln des Erkennens, Mnchen 1 98 7, S. 3 1 . In gleichem Sinne wirken Metaphern
wie Wurzeln und Baum. Gleichwohl sollte man diese Differenz zu Maturana
nicht berschtzen; denn gerade seine biologische Theorie der Sprache gibt viel
Spielraum fr die Entfaltung von neuen Spielrumen der Kognition.
30 Fr Kommunikation gilt das nur fr den Fall des umfassenden, alle Kommu-
nikationen ermglichenden Systems der Gesellschaft. Innerhalb der Gesellschaft
sind natrlich aufgrund der Vorgabe von Gesellschaft Kommunikationen zwi-
schen sozialen Systemen mglich, soweit diese als Akteure begriffen werden
knnen.
31 Diefrdie folgenden Ausfhrungen wichtige Literatur sei hier nochmals an-
gegeben: Humberto Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkrperungvon Wirklichkeit: Ausgewhlte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braun-
schweig 1982; Humberto Maturana/Francisco Varela, Der Baum der Erkenntnis:
Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Mnchen 1987; Niklas
Luhmann, Soziale Systeme: Grundri einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984;
ders., Die Autopoiesis des Bewutseins, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hrsg.),
Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Gestndnis, Frankfurt
1987, S. 25-94. Als Brcke zur Literatur vgl. auch Alois Hahn, Das andere Ich:
Selbstthematisierung bei Proust, in: Volker Kapp (Hrsg.), Marcel Proust: Ge-
schmack und Neigung, Tbingen 1989, S. 1 2 7 - 1 4 1 .
28
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Struktur. Die autopoietische Reproduktion erzeugt die Einheit
des Systems und dessen Grenzen. Alles, was fr ein solches
System als Einheit fungiert, ist jeweils durch das Syst em Einheit,und dasselbe gilt erst recht fr Differenz. Es gibt we de r Importe
noch Exporte von Einheit und von Differenz in das Systembzw. aus dem System. Natrlich existiert das System in einer
Umwelt, anders knnte es seine eigene Einheit durch die Se-
quenz der eigenen Operationen nicht produzieren. Das heit
nicht zuletzt, da es Kausalbeziehungen zwischen System undUmwelt gibt, die ein Beobachter beobachten und beschreiben
kann. Ungeachtet dessen stehen die eigenen Operationen nur
dem System selbst zur Disposition. Sie knnen nur im System
benutzt werden; oder anders gesagt: das System kann nichtauerhalb seiner eigenen Grenzen operieren. Es kann die eige-
nen Operationen daher auch nicht benutzen, um sich selbst andie Umwelt zu koppeln oder diese Kopplung zu variieren. Es
kann sich nicht anpassen. Es ist immer schon an die Umwelt
gekoppelt als Folge der Sequenz eigener Operationen, es istimmer schon angepat. The recursive organization is such that
properties, once found fit with respect to a particular surround-
ing, are maintained fit - by maintaining the surrounding as a
constructed surrounding.
3 2
Und wenn die Angepatheit, auswelchen Grnden auch immer, nicht mehr gegeben ist, hrt das
System auf zu operieren. Auf diese Weise ist zum Beispiel das
Bewutsein an die neurophysiolog ischen Prozes se seines Or-ganismus gekoppelt, ohne sich diesen Prozessen anpassen zu
knnen. Es kann sie nicht einmal wahrnehmen und sie nur auf
die eigene Weise in hochselektiver Auswahl (zum Beispiel alsSchmerz) erfassen. Auf diese Weise ist auch das Kommunika-
tionssys tem Gesellschaft an die Bewut seinsp rozess e von Indi-
viduen gekoppelt; und auch diese durchgngige Kopplung
entzieht sich der kommunika tiven Thematisie rung - es sei dennin der Ausnahmeform, da die Kommunikation die Bewut-
32 Und weiter This maintainance work may require further properties, recur-
sively developed at higher levels such that essentially only the momentary top level
is exposed to actual test by natural selection. (so Lars Lfgren, Towards System:
From Computation to the Phenomenon of Language, in: Marc E. Carvallo
(Hrsg.), Nature, Cognition and System I: Current Systems-Scientific Research on
Natural and Cognitive Systems, Dordrecht 1988, S. 129-155 (147).
2
9
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seinsprozesse eines der Beteiligten explizit thematisiert und
kommunikativ prozessiert unter Verzicht auf andere The-
men.Um schon jetzt Miverstndnissen vorzubeugen, sei betont,
da der Begriff Autopoiesis mit Bedacht gewhlt und genaugemeint ist. Es geht keineswegs um Autbypostasis." Auto-
poiesis besagt nicht, da das System allein aus sich heraus, aus
eigener Kraft, ohne jeden Beitrag aus der Umwe lt existie rt. Viel-mehr geht es nur darum, da die Einheit des Systems und mit ihr
alle Elemente, aus denen das System besteht, durch das System
selbst produziert werden. Selbstverstndlich ist dies nur auf der
Basis eines Materialittskontinuums mglich, das mit der phy-
sisch konstituierten Realitt gegeben ist. Selbstverstndlichbraucht ein solcher Proze Zeit, also auch Indifferenzen gegen
temporale Strukturen seiner Umwelt, und auch der Begriff derstrukturellen Kopplung wird uns daran erinnern, da das Sy-
stem laufend Irritationen aus der Umwelt registriert und zum
Anla nimmt, die eigenen Strukturen zu respezifizieren. Dasalles mu im Begriff der Autopoiesis mitgedacht werden.
Da Bewutseinssysteme ebenso wie Kommunikationssysteme
nur unter diesen Bedingungen ihrer eigenen Autopoiesis ope-
rieren knnen, gibt es keinerlei Uberschneidung ihrer Opera-tionen. Die Einheit eines Einzelereignisses, eines einzelnen
Gedankens oder einer einzelnen Kommunikation, kann immer
nur im System unter rekursiver Vernetzung mit anderen Ele-menten desselben Systems erzeugt werden. Fr jede Produktion
von fr das System unauflsbaren Letztelementen, aus denen
das Syste m besteht, ist die Verweisung auf andere systemeigeneElemente und die Regulierung der Auswahl dieser Verweisung
durch systemeigene Strukturen unerllich. Das gilt nicht nur
fr lebende Systeme, die ihre eigenen Elemente durch (ann-
hernd genaue) Replikation reproduzieren, sondern auch frSinnsysteme, die fr jedes Elementarereignis andere Folgeereig-
nisse (Gedanken, Kommunikationen) konstituieren mssen,um ihre Autopoiesis fortsetzen zu knnen. Es gibt also keine
bewuten Kommu nikationen, so wenig wie es kom munika-
3 3 Der Begriff authypostaton findet sich bei Nikolaus von Kues, De principio, zit.
nach Philosophisch-theologische Schriften Bd. II, Wien 1966, S. 2 1 1 - 2 6 5 , z . B .
S. 212 als griechische Fassung von per se subsistens.
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tives Denken (Empfinden, Wahrnehmen) gibt. Oder andersgesagt: Der Mensch kann nicht kommuniz ieren; nur die Kom-
munikation kann kommunizieren.Fr den Fortgang der Operationen eines aktuellen Bewut-
seinssystems ist daher immer nur der jeweilige Zustand eben
dieses Bewutseins mit dessen Strukturen bestimmend (undGedchtnis ist denn auch nichts anderes als die Konsistenz-
prfung in der jeweils aktuellen Operation, also Aktualisierung
ihres jeweils nutzbaren Verweisungszusammenhanges). Das-
selbe gilt, mutatis mutandis, fr den Fortgang der Kommuni-kation. Gedankenarbeit ist Gedankenarbeit in jeweils einem
Bewutsein, und Kommunikation ist Kommunikation im so-
zialen System der Gesellschaft. Beide Operationen mgengleichzeitig verlaufen und von einem Beobachter als Einheit
gesehen werden. Wir kommen darauf zurck. Aber auch dann
bleiben die Systeme vollstndig getrennt, denn die jeweils an-
deren eigenen Operationen, deren Netzwerk die Einheit solcher
Elementarereignisse erst ermglicht, sind zwangslufig von Sy-
stem zu System verschieden. Selbst der strukturelle Opera-tionszusammenhang von Bewutsein und Kommunikation ist
nur eine von Moment zu Moment variable Kopplung, die die
Freiheit der Systeme zur Eigenbewegung mit dem Ablauf jedesEinzelereignisses immer wieder erneuert.34 Es kommt nie zu
einer Verschmelzung, auch nicht zu einer Dauersynchronisa-
tion, einem Aneinanderklebenbleiben der einmal integrierten
Systeme. Jede Integration steht unter der Notwendigkeit, sichwieder auflsen zu mssen. Jeder Gedanke erzeugt von Mo-
ment zu Moment einen eigenen Nachfolgegedanken (oder das
Bewutsein hrt auf zu operieren). Jede Kommunikation er-zeugt von Moment zu Moment, sofern es berhaupt weitergeht,
34 Maturana a. a. O. ,S . 143 ff-, isoff., 243 f. ,2 51 f., nennt dies strukturelle Kopplung(einen Ausdruck, den wir bernehmen werden) und betont die Kompatibilitt dieser
Bedingung mit der operativen Geschlossenheit autopoietischer Systeme. Es ist
wichtig, hier auf grtmgliche Genauigkeit zu achten. Strukturelle Kopplung fhrt
nicht zu einer gemeinsamen Benutzung von Elementen durch verschiedene Sy-
steme, nicht zu einem sharing of elements by diff erent organizations, nicht also zu
einem Sachverhalt, den Gotthard Gnther als intersection bezeichnen wrde.
(Siehe z.B., bezogen auf logische "Werte bzw. Seiten einer Unterscheidung, Life as
Poly-Contextura lity, in: Gotthard Gnther , Beitrge zur Grundlegung einer ope-
rationsfhigen Dialektik Bd. II, Hamburg 1979, S. 283-306).
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eine eigene Nachfolgekommunikation. 35 Bei allen Koinziden-
zen von Bewutsein und Kommunikation kann diese Nach-
folge nie identisch sein; sie ist allenfalls eine gleichermaen
prekre Kopplung wie im vorhergehenden Moment. Und dahersind auch die elementaren Operationen, die den Wechsel der
Aktualisierungen von Moment zu Moment vollziehen und sich
in diesem Vollzug als elementare Einheiten eines Systems defi-nieren, nie identisch. Sie profitieren nur von (mehr oder weni-
ger) bereinstimmend erfatem Sinn. Bewutseinssysteme und
Kommunikationssysteme existieren getrennt.Damit ist nicht ausgeschlossen, da ein Beobachter eine be-
wute kommunikative Aktivitt - sei es Mitteilen, sei es Zuh-
ren, sei es Verstehen - als ein einziges Ereignis identifizierenkann. Auch innerhalb des Kommunikationssystems Gesell-
schaft sind ja Mehrsystemzugehrigkeiten von Ereignissen
(zum Beispiel eine Zahlung als nderung eines Rechtszustan-
des) zu beobachten. Solche Mehrsystemereignisse haben jedochnicht nur eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten und je
nach Sys tem verschiedene. Sie knnen also nicht geschichtlich
erklrt werden - es sei denn durch Beschreibung des Beobach-ters, der sie als Einheiten identifiziert. Man wird vielleicht
einwenden, da das Bewutsein sprachfrmig denken knne.Gewi! Aber solches Denken ist keine Kommunikation. Undwenn es fr sich alleine luft, sieht das Ergebnis ungefhr so aus
wie das, was Samuel Beckett unter dem Titel Comment c'est
aufgeschrieben hat. Fast nimmt die Eigenproduktion von Wor-ten und Satzstcken dann die Form von Wahrnehmungen, von
fluktuierenden Wortwahrnehmungen an - befreit von jeder
Rcksicht auf Verstndlichkeit. Operativ gesehen besetzen und
reproduzieren Wort- und Satzfetzen dann das Bewutsein mitder Evidenz ihrer Aktualitt, aber nur fr den Moment. 3 6
Nicht zuletzt erffnet die These operativer Geschlossenheit und
35 Da im sozialen System der Gesellschaft durch Systemdifferenzierung ein sehr
hohes Ma an Diskontinuierungen (bei trotzdem weiterlaufender Kommunika-
tion) ermglicht wird, wird uns im folgenden viel beschftigen. Im Moment sei nur
darauf hingewiesen, da es dafr im Bewutsein keine quivalente zu geben
scheint. Es mu statt dessen hin und wieder schlafen.
36 In der Literaturwissenschaft wird dies Thema seit lngerem im Anschlu an
William James unter dem Titel stream of consciousness abgehandelt. Ich ver-
danke diesen Hinweis Cornelia Bohn-Mller.
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entsprechend radikaler Unterschiedenheit psychischer und so-
zial er Systeme wicht ige Einblicke in Probleme des. Gleichlaufs
ihre r Operationen. Einerseits sieht man, da die Festlegung vonErwartungen in der laufenden Kommunikation (einschlielich
des Abrufens von institutionalisierten Erwartungen) den Be-wutseinssystemen die Chance der Vorbereitung, ja einer Art
Selbstdisziplinierung vermittelt. 37 Sozial bedingte grere Er-
wartungsunsicherheit kann somit zugleich die Erwartungen andie Vorprfung der indiv iduel len Beitrge st eigern - so geradezu
modellhaft in den Oberschichten der auslaufenden Stndege-
sellschaft, die Elias so berzeugend analysiert hat. Andererseitsstellt der Kommunikationsproze dafr oft nicht genug Zeit zur
Verfgung, und erst recht keine Chance zu hinreichend langfri-stiger Vorbereitung. 38 Bourdieu lst dieses Problem durch den
Begriff des unbewut handhabbaren H ab itus. Vielleicht ist esaber sinnvoller, es einfach als Problem zu bezeichnen, das von
berforderung bis zur B-outinierung sehr unterschiedliche
Halblsungen zult.
Da Bewutsein und Kommunikationssysteme vollstndig ge-
trennt und berschneidungsfrei operieren, schliet natrlichnicht aus, da man sich in der Kommunikation auf psychische
Systeme bezieht. Die Einheiten, die die Kommunikation frdiese Zwecke konstruiert, kann man in Fortfhrung einer altenTradition als Personen bezeichnen. 39 Personen sind demnach
Strukturen der Autopoiesis sozialer Systeme, nicht aber ihrer-
seits psychische Systeme oder gar komplette Menschen. Perso-
nen mssen daher von den Einheiten unterschieden werden, dieim Vollzug der Autopoies is des Lebens oder der Gedanken eines
Menschen erzeugt werden. Die Funktion der Personalisierung
37 Ralph H. Turner, Role-Taking: Process Versus Conformity, in: Arnold M.
Rose (Hrsg.) , Human Behavior and Social Processes: An Interactionist Approach,Boston 1962, S. 20-40 (33 f.) schlgt geradezu vor, im Kontext komplementren
Rollenhandelns den Begriff der Erwartung durch den Begriff des Vorbereitetseins
zu ersetzen.
38 Vgl. zum unvermeidlichen Scheitern einer ambitis angelegten Unterrichtsvor-
bereitung im Unterricht Jrgen Oelkers, Unterrichtsvorbereitung als pdagogi-
sches Problem, Zeitschrift fr Pdagogik + Theologie 40 (1988), S. 516-531.
39 Vgl. Hans Rheinfelder, Das Wort persona: Geschichte seiner Bedeutungen
mit besonderer Bercksichtigung des franzsischen und italienischen Mittelalters,
Halle 192 8.
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liegt ausschlielich im sozialen System der Kommunikation.Nur das macht semantische Traditionen verstndlich, die Men-
schen (zum Beispiel Sklaven) die Personalit t absprachen, ohnedamit ihre krperlich-mentale Existenz zu bestreiten. Wer oderwas als Person zhlt, ist jeweils abhngig von dem kohrenten
Fungieren entsprechender Bezeichnungen im System der Ge-
sellschaft und insbesondere von der Art und Weise, mit der dieGesellschaft Inklusionsprobleme lst.
Personen knnen Adressen fr Kommunikation sein. Sie kn-
nen als Aufzeichnungsstellen fr komplexe sequentielle Kom-
munikationsverlufe vorausgesetzt werden, in dieser Hinsichtfunktional quivalent zu Schrift. Sie knnen als Zurechnungs-
punkte fr Kausalannahmen und insbesondere fr Verantwor-tungen dienen. All das bleibt jedoch ausschlielich kommuni-kative Realitt ohne jede determinierende Auswirkung auf
Bewutseinsprozesse. Es mag psychisch irritierend sein, wenn
man in der Kommunikation als verantwortlich behandelt wird
oder wenn einem Erinnerungen (Aufzeichnungen) zugemutetwerden, die man beim besten Willen bewutseinsmig nicht
re-aktivieren kann - so wenn jemand behauptet, man kenne sich
aufgrund frherer Begegnungen, und man so tun mu, als ob
man dies erinnerte. Aber was aus solchen Anlssen im Bewut-sein abluft und wie das Bewutsein sich dabei selber gegen
Kommunikation abschirmt, bleibt eine Eigenleistung des Be-wutseins und wird nie zur Komponente der Kommunika-
tion.
Die Sonderkonstruktion der Personalitt ist mithin voll kom-
patibel mit der hier vertretenen These einer radikalen Trennungder Systeme. Ja sie wird erst einsichtig, wenn man diese Pr-
misse akzeptiert; denn sonst htte man keinen theoretischen
Grund, zwischen Menschen, Individuen, Subjekten, Personen
zu unterscheiden.
III
Vergleicht man vor diesem Theoriehintergrund verschiedeneMglichkeiten, autopoietische Geschlossenheit, Selbstbeob-
achtung und Umweltverhlt nis zu realisieren, kommen gewich-
34
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tige Unterschiede in den Blick je nach dem , ob es sich um einenlebenden Organ ismus, um Bewu tsein oder um ein Kommuni-
kationssystem handelt. Die genannten Vergleichsmerkmale(autopoietische Geschlossenheit, Selbstbeobachitung, Umwelt-verhl tnis ) werde n in allen Fllen realisiert. Das rechtfertigt den
Vergleich. Aber das Resultat fllt wegen der Unterschiede des
vorauszusetzenden Realittskontinuums sehr verschieden
aus.
Organi smen knnen , soweit ihre Lebensfhigkeit in einer Um-welt gesichert ist, mit Hilfe eines Nerve nsys tems eine Selbstbe^
obachtung organisieren. Die Beobachtung bezieht sich aus-
schlielich auf den Eigenzustand des Organismus. Das gilt auch
fr Gehirne jeder Art. Bewutsein entwickelt sich, wie immerparasitr, auf dieser Realittsbasis, aber mit der umgekehrten
Tendenz, primr das zu beobachten, was es als Au e nw el t sehen
kann . Bewutsein ist mit erheblichen Anteilen s einer Aufmerk-samkeit wahrnehmendes Bewutsein und wrde ohne Wahr-
nehmungsmglichkeiten rasch verkmmern. Das hat Konse-
quenzen fr Selbstbeobachtung und Umweltverhltnis. Zwarist auch das Bewutsein ein autopoietisches, operativ geschlos-
senes System und kann deshalb nicht mit eigenen Operationen
in die Umwelt ausgreifen. Aber es weist sich selbst stndig aufdie fehlende Selbstkontrolle ber den Inhalt seiner Wahrneh-
mungen hin. Es kann sich die Welt nicht nach eigenen Wn-
schen wahrnehmbar machen, nicht unwillkommene Wahrneh-mungen einfach auslschen, Gerusche weghren, sichtbare
Dinge wegsehen. Das gilt selbst fr durchschaute Wahrneh-
mungstuschungen. Man kann sie wahrnehmungsmig nicht
verhindern, obwohl man wei, da sie dem nicht entsprechen,was das Gesamtbewutsein fr Realitt halten mu. Das Be-
wutsein mu deshalb, um nderungen zu erzeugen, den
eigenen Organismus dirigieren. Nur in sehr begrenztem Um-fange lt sich dieser Mangel an Selbstkontrolle durch Denken
kompensieren (und vielleicht darf man vermuten, da ein den-
kerisches Operieren fr diese Funktion entwickelt worden ist).Zwar hat die Bewutseinsphilosophie dieses Defizit erkannt,
hat es zugleich als Realittsindex begriffen und seine Aufhe-
bung in Vernunft verlangt. Dieser Theorievorschlag blieb jedoch im Denken stecken.
35
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Die Wirklichkeit hatte lngst anders entschieden. Was man sich
von Vernunft versprochen hatte, ist nicht im Bewutsein er-
reichbar. Es wird auf einer anderen Realittsebene, in einemanderen System realisiert, nmlich durch Kommunikation. Das
heit natrlich nicht, da die Kommunikation die Ideale derBewutseinsphilosophie einlsen oder doch approximativ ver-
wirklichen knne, also ihrerseits vernnftig werden knne.
Aber die Kommunikation, die selber nicht wahrnehmen kann,also auf diese Form der Imaginierung eines Auenverhltnisses
auch nicht angewiesen ist, ist deshalb auch nicht an diese Form
des intern realisierten Selbstkontrolldefizits gebunden. Sie setztsich mit Hilfe der Sprache und vor allem mit Hilfe der sprachlich
mglichen Negation darber hinweg. Sie kann ihre operativenSymbole mit sehr viel greren Freiheiten einsetzen als das Be-wutsein. Sie kann tuschen, sich irren, Symbole mibrauchen,
lgen und erreicht damit Freiheiten des Umgangs mit der
Auenwelt, von der die Vernunft nur trumen kann. Dann mu
die Kommunikation aber lernen, mit den daraus folgenden ei-genen Problemen umzugehen. Sie mu lernen, Falschmeldun-
gen zu kontrollieren. Sie erfindet Einrichtungen zur Kontrolle
dieser Kontrollen; und erst unter diesem Gesichtspunkt wird
Wahrheit zum Thema der Kommunikation.Diese Unterschiede von Realittsebenen sind nur erreichbar,
wenn die entsprechenden Systeme auch gegeneinander ge-schlossen werden . Sonst wre eine stndige wechselseitige Blok-
kierung durch unterschiedliche Anforderungen der Selbstbeob-
achtung unvermeidlich. Operative Schlieung heit nicht, daes zu kausalen Unabhngigkeiten, zur wechselseitigen Isolie-
rung kommt. Erreichbar ist nur, aber das gengt, da diese drei
Systeme durch strukturelle Kopplungen verknpft werden und
sich in einer Form beeinfluen, die mit voller Autonomie im
Bereich der jeweils eigenen Operationen kompatibel ist. Diewechselseitige Abhngigkeit wird herabgesetzt auf die Form
wechselseitiger Irritation, die nur im jeweils irritierten Systembemerkt und bearbeitet wird.
Die These einer radikalen, unberbrckbaren Trennung von
Bewutseinssystemen und Kommunikationssystemen (psychi-
schen Systemen und sozialen Systemen) beruht auf einer uner-
llichen Voraussetzung, auf der radikalen Verzeitlichung die-
36
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ser Systeme. Wir hatten von Operationen gesprochen. Opera-
tionen sind Ereignisse, die mit ihrem Vorkommen schon wieder
verschwinden und nicht wiederholt werden knnen. Operatio-nen sind zeitpunktmarkierte (datierte) Ereignisse, denen nur
andere Ereignisse folgen knnen. Das heit nicht zuletzt, daEreignisse nur als Differenz beobachtet werden knnen, also
nur im System eines Vorher und Nachher, durch das sie pro-
duziert und identifiziert werden. Sie gewinnen keinen Bestand,sie zerrinnen sofort, aber die Erinnerung an sie kann die ur-
sprngliche Differenz vergessen und das Ereignis mit anderen
nichttemporalen Unterscheidungen memorieren als ein Ereig-nis bestimmter Art, das sich von hnlichen und von anderen
unterscheidet. Will man Ereignisse wiederholen (was im vollenzeitgebundenen Sinne unmglich ist), mu man ihren Sinn ge-neralisieren, von Zeit abstrahieren, mu sie reproduzieren, was
durch rekurrente Zeitbestimmungen (Stunden, Tage, Wochen,
Monate, Jahre im Unterschied zu Einmaldatierungen) erleich-
tert wird. Aber nur die Einmaligkeit kann konkret sein. Alsoexistieren diese Systeme nur im Moment. Alles andere kann nur
beobachtet werden, und auch dies nur operativ, das heit eben-
falls nur im jeweiligen Moment der Operation Beobach-
tung.Es wird also nicht behauptet (um das Gegenkonzept zu nennen
und auszuschlieen), die Systeme des Bewutseins und der
Kommunikation existierten substantiell getrennt. Ihre Ge-trenntheit ist auch nicht zu. vergleichen mi t de m Nebeneinan-
derbestehen der Dinge im Raum (was einen Beobachter der
Raumdinge voraussetzt). Ihre Trennung beruht vielmehr alleindarauf, da die rekursiven Netzwerke, mit deren Hilfe die Ope-
rationen, aus denen diese Systeme bestehen, reproduziert und
identifiziert werden, verschieden sind und nicht berlappen.
Selbst wenn daher Systeme Ereignisse teilen, zum Beispiel einesprachliche Kommunikation immer auch Ereignis in einer
Mehrheit von teilnehmenden Bewutseinen ist, ndert dasnichts an einer vollstndigen Trennung der Systeme, weil das
Ereignis von den jeweiligen Systemen im Hinblick auf jeweils
andere eigene Ereignisse anders identifiz iert wir d . Jedes System
hat, auch wenn ein Beobachter Ereignisse quer durch die Sy-steme identifizieren kann (zum Beispiel sehen kann, da meh-
37
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rere Teilnehmer ein Plakat lesen, ein Wort h ren, durch ein und
denselben Knall erschreckt werden), ein eigenes Gedchtnis
und organisiert eigene Vorgriffe auf eigene anschlufhigeOperationen. Ohne diese Eigenheit kme kein das System re-
produzierendes Ereignis zustande. Und nur durch diese ereig-
nisfrmige Selbstfundierung wird die Trennung der Systemeermglicht - und zugleich erzwungen. 4 0
Erst wenn man diesen Sachverhalt hinreichend erfat und be-
schrieben hat, kann man erkennen, wie Bewutsein und Kom-munikation dann doch einen notwendigen Zusammenhang
(aber eben nicht: ein einheitliches Syst em) bil den. Der Schlssel
dafr liegt im Begriff der strukturellen Kopplung.
Denn es gilt gleichwohl: Ohne Bewutsein kei ne Kommunika-tion und ohne Kommunikation kein Bewutsein. Sicherlich
wird bezweifelt werden, da dies zutrifft angesichts von Ph-nomenen, die man als unbewute Kommunikation bezeich-
nen knnte. Wir nennen aber nicht jede wechselseitige Verhal-
tensabstimmung Kommunikation, sondern nur eine solche, dieber eine Unterscheidung von Mitteilung (kommunikativem
Handeln) und Information (Thema, Inhalt der Mitteilung) ver-
mittelt wir d. Wo diese Unterscheidung nicht gemacht wird, liegt
nur ein wechselseitiges Wahrnehmen vor, nicht aber Kommu-nikation im Sinne unseres Begriffs; denn fr die Autopoiesis, frdie Weiterbewegung der Kommunikation, ist es erforderlich,
da sie die Mitteilung als Handlung zurechnen und, in der Un-
terscheidung von ihrem Inhalt, zur Anknpfung weiterer Kom-
munikationen verwenden kann. Fr die Unterscheidung von
Mitteilung und Information ist jedoch die Kooperation vonBewutsein unerllich, und in diesem Sinne gilt dann: keine
Kommunikation ohne Bewutsein, aber auch: keine Evolution
von Bewutsein ohne Kommunikation. 4 1 Man knnte geradezu
sagen, da das gesamte kommunikative Geschehen durch eineBeschreibung der beteiligten Mentalzustnde beschrieben wer-
40 Dasselbe Argument drfte sich verwenden lassen, um den sogenannten Re-
duktionismusstreit in Bezug auf Bewutsein und Gehirn aufzulsen, wenn man
akzeptiert, da auch das Gehirn aus Ereignissen besteht und nicht etwa aus Zel-
len.
41 Wir mssen an dieser Stelle auf Evolution abstellen, weil das Bewutsein
eigene Operationen natrlich ohne aktuelle Teilnahme an Kommunikation durch-
fhren kann, whrend das Umgekehrte nicht gilt.
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den knnte - mit der einzigen Ausnahme der Autopoiesis der
Kommunikation selber. Wenn es auf eine Beschreibung mo-mentaner Zustnde ankommt, wre also ein psychischer Re-
duktionismus oder auch ein methodologischer Individualis-
mus mglich; nicht aber, wenn die autopoietische Dynamikdes Kommunikationssystems miterfat und miterklrt werden
soll . 4 2 Eine reduktive Beschreibung mte die Zeit unberck-
sichtigt lassen, und damit auch die Identitt der Elemente.Der Begriff der strukturellen Kopplung bezeichnet ein Verhlt-
nis der Gleichzeitigkeit, also kein Kausalverhltnis. Ein Beob-
achter kann na trl ich . Kausalitten konst ruieren, also etwa
beobachten, da ein bestimmter Gedanke Ursache fr eine ent-
sprechende Kommunikation ist oder umgekehrt. Festzuhaltenist nur, da mit solchen Kausalkonstruktionen der durchge-
hende Zusammenhang von Bewutsein und Kommunikationnicht zureichend ausgeleuchtet wird. Ein Bewutsein, das ein
als Ursache identifizierbares Ereignis setzt, mu auch danach
noch prsent sein, soll die Kommunikation funktionieren. Au-erdem setzt Kommunika tion mindestens ein wei ter es Bewut-
sein voraus, das zuhrt und versteht, aber normalerweise nicht
als Ursache der Kommunikation angesehen wird. Die Kausal-konstruktion, wie sie typisch einem Handlungsverstndnis von
Kommunikation zugrundeliegt, vereinfacht also betrchtlich.
In der hier vertretenen Theorieversion ist das Bewutsein nichtweniger, sondern mehr an Kommunikation beteiligt - allerdings
nicht im Sinne eines Ursachen setzenden Subjekts. Von struk-
tureller Kopplung spricht man, um die Bedingungen der Aus-
differenzierung von Systemen auf der Basis eines fortbestehen-den Materialittskontinuums zu beschreiben, nicht: um eine
Kausalerklrung zu geben. Und eben deshalb lt der Begriff
noch ganz offen, wie ein soziales System ber die Verantwort-
lichkeit fr Kommunikationen, ber Zurechnung, Verdienst,Schuld usw. disponiert.
Strukturelle Kopplungen bersetzen analoge Verhltnisse in di-
gitale. System und Umwelt existieren kontinuierlich-gleichzei-
tig, wie die Zeit fliet, und operieren insofern analog. Daraus
ergibt sich fr das System aber die Bifurkation von (unbemerk-
42 Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, da wir hier die bliche ho-
listische Fragestellung in die Zeitdimension verlagern.
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ter) Ermglichung und Irritation. Das System ist dank struktu-
reller Kopplungen immer schon angepat, sonst knnte es nicht
real operieren. Kommunikation kann sich insofern auf das Vor-
handensein von Bewutsein verlassen. Aber das schliet gele-gentliche bis hufige, berraschende bis regulre Irritationen
nicht aus, sondern ein. Und Irritationen erscheinen im System
fallweise, also digital.
Irritation ist, wie auch berraschung, Strung, Enttuschung
usw., immer ein systemeigener Zustand, fr den es in der Um-welt des Systems keine Entsprechung gibt. Die Umwelt mu,
anders gesagt, nicht selber irritiert sein, um als Quelle von Ir-ritationen des Systems zu dienen. Nur unter der Bedingung von
strukturierenden Erwartungen stellen sich Irritationen ein; undsie sind Irritationen nur insofern, als sie ein Problem bilden frdie Fortsetzung der Autopoiesis des Systems. 4 3 Daher knnen
auch minimale Umweltvernderungen erhebliche Irritationen
auslsen und, wenn man diese Formulierung akzeptiert, dis-sipative Strukturen bilden bzw. auflsen. Voraussetzung fr
Irritierbarkeit ist jedoch eine strukturelle Kopplung von System
und Umwelt im Sinne einer Form, deren Innenseite Irritationenerleichtert und deren Auenseite sie ausschliet.
Solche Kopplungen zwischen einem System und Ausschnittensei