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1 Luísa Costa Gomes Tag für Tag (Dias a fio) Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis

Luísa Costa Gomes

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Page 1: Luísa Costa Gomes

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Luísa Costa Gomes Tag für Tag (Dias a fio) Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis

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© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH / Alexander Verlag Berlin, 2021. Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audio-visuelle Medien. Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Lausitzer Platz 15 10997 Berlin [email protected] Tel +49 30 4431 8888

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Luísa Costa Gomes

TAG FÜR TAG Aus dem Portugiesischen

von Marianne Gareis

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Tag für Tag

Personen

Florinda Immobilienmaklerin Palmira Immobilienmaklerin Márcia Tochter von Florinda und BráulioBráulio Ehemann von FlorindaAlberto ImmobilienmaklerFábio Sohn von Florinda und Bráulio, BankangestellterJunqueiro Mann im RegenmantelMann, der ein paar Dinge sagtStand-up-ComedianKosmetikerinReinigungskraftCurling-MannschaftClarice (gelbe) KönigsboaZwei joviale ÄrzteHomero, der Alte aus dem HausStimme vom Brunnengrund

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Tag für Tag

1.

Mann, der ein paar Dinge sagt (fällt, am Fuß aufgehängt, von der Decke)Das passiert jedem mal. Früher oder später. Man sucht das Hemd in der obersten Schublade, das weiße, ordentlich ge-bügelte Hemd, und findet, schlecht versteckt, die Waffe, mit der gerade eine Frau getötet wurde. Es ist entweder ein Messer oder ein Revolver oder ein Strick. Wer sie getötet hat, darum geht es in dieser Geschichte. In einer erbarmungslosen Rück-blende werden wir, wenngleich gezwungenermaßen, auch ihrer Vergewaltigung beiwohnen, in jedem Detail. Die Fol-ter, der sie unterworfen wurde und die wir Zuschauer noch einmal durchleben, ist eine neuerliche Schmach für sie und für uns. Ihr Tod ist offensichtlich, plastisch, wie Musik. Die Hände auf dem Bauch gefaltet, schauen wir zu. Wir sind das Publikum. Gleich am nächsten Morgen unterzeichnen wir Petitionen. Die Petition, ein Dorf, in dem Menschen glücklich im Schoß der Natur und ihres Dorfes leben, nicht in der Mitte durchzuschneiden, die Petition, nichts in der Mitte durchzuschneiden, die Petition, nicht zu schneiden, die Petition, keine aussterbenden Tiere aussterben zu las-sen, weder im Urwald noch außerhalb des Urwalds, Tiere, die auf unmenschliche Weise getötet werden, die Petition für die Freilassung einer Frau, die das Pech hatte, in einem Land geboren zu sein, wo es für Frauen generell ein Pech ist, geboren zu werden, die Petition zur Beendigung des Hun-gers auf der Welt, die Petition, nicht mehr das Wort »alt« zu verwenden, die Petition, ein Wort fortan auf eine bestimmte Art zu schreiben, die Petition zur endgültigen Abschaffung des Elends, die Petition, Menschen nicht an einem Strick um den Fuß aufzuhängen!

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2.

Von rechts wird Florinda, Maklerin der Immobilienfirma IM-MOBILIS, von der Kosmetikerin auf einer Rollliege hereinge-schoben. Die Kosmetikerin blickt auf den Mann, wartet, bis er aufhört zu reden. Der Mann stöhnt laut, die Arme vor der Brust gekreuzt. Die Kosmetikerin parkt die Liege in der Mitte der Bühne, direkt unter dem Mann, der am Strick hängt.

Mann, der ein paar Dinge sagt (klammert sich an den Strick und brüllt nach oben) Lass mich hoch! Ich mag nicht mehr! Lass mich hoch! Oder lass mich fallen! Schneid den Strick durch! Ich fleh dich an! Es reicht! Lass mich runter! Hier gibt es nichts zu sehen. Nein, warte. (Er legt die flache Hand über die Augen und versucht nach hinten zu spähen) Nein, hier gibt es nichts zu sehen. Zieh! (Er verstummt urplötzlich.)

Die Kosmetikerin trägt Florinda eine Schönheitsmaske auf. Zunächst breitet sie ein feines Netz über ihr Gesicht, dann tritt sie ein wenig beiseite und rührt die Maske in einer Art Mörser an, stellt den Mör­ser zwischen Florindas Füße und geht, eine Schere in der Hand, zu ihr und schneidet über Florindas Mund und Nase ein Loch in das Netz. Dann trägt sie nachlässig die Maske auf, mit einer Art Maler­pinsel, als würde sie eine Wand anstreichen. Sie beendet ihr Werk.

Kosmetikerin Sie dürfen jetzt nicht sprechen.

Die Kosmetikerin geht hinaus. Florinda beginnt zu stöhnen. Sie will etwas sagen, aber ihr Mund ist zugeschmiert. Sie zittert vor Angst. Panikattacke. Florinda hat Atemnot. Das Licht wird schwächer. Flo­rinda setzt sich ruckartig auf und schluchzt laut auf. Die Maske tropft, zerfließt. In der Dunkelheit hört man den dumpfen Aufprall des Mannes. Die Liege wird eilends weggeschafft.

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3.

Márcia steht mit dem Rücken zum alten Sessel, es ist dunkel, sie trägt einen Morgenmantel und ist barfuß. Lange Stille.

Márcia Aber setz dich doch wenigstens hin. Ruh dich ein biss-chen aus. Meine Beine tun mir schon weh von dem vielen Hin- und Herlaufen. Zum Fenster haben wir schon hinausge-schaut. Da ist niemand. Da draußen ist nichts. Die üblichen Laternen, das übliche gelbe Licht. Alles ist gut. Alles schläft. Ich schwör’s dir. Ich mach dir einen Melissentee, okay? Melis-sentee wirkt immer, aber er muss stark sein. Und du verträgst ihn doch gut. Und man schläft sehr gut. Ich weiß, letztes Mal hat er nicht gewirkt, ja, ich erinnere mich, bis um vier Uhr morgens habe ich wach gelegen, und am nächsten Morgen musste ich um sieben schon in der Agentur sein, um die Kundenkarten zu sortieren. Aber das war nur einmal, soweit ich mich erinnere. Und wie wär’s mit warmer Milch? Willst du warme Milch mit Honig? Nur eine kleine Tasse. Einen Fingerhut voll. Okay, dann mach ich jetzt ein wenig Milch warm, und dann kommt ein Löffelchen Honig rein, und uns geht’s gut. Es ist halb vier, beruhige dich, du hast noch viel Zeit. Ich muss heute erst um acht aufstehen. Sie kommt erst nach zehn, muss sich noch ein Haus anschauen. (Sie will hinausgehen, bleibt stehen. Verärgert) Hör mal, es ist wirklich ungut, wenn du wach bist, während alle anderen schlafen. Alle Welt schläft, nur du nicht. Was glaubst du denn, wer du bist? Was für eine Extravaganz! Schlafen heißt nicht sterben, Márcia. Wir schließen heute die Augen und sind dann für kurze Zeit, drei, maximal vier Stunden, einfach nichts, sind einfach niemand, und es gehen uns Dinge durch den Kopf, Bilder, die Angst machen, aber das sind nur Bilder, sind nicht die Dinge selbst, sie tun uns nichts, danach wachst du auf

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und sortierst am nächsten Morgen die Kundenkarten ein. Aber das ist erst am Morgen. Jetzt musst du loslassen. Die Augen schließen und loslassen. Genau so ist anscheinend das Leben, es hat eine Nacht, einen Tag, eine Nacht, einen Tag. Und das Tag für Tag. Nacht für Nacht. Man kann nichts tun, um diese Abfolge zu ändern. Die Fenster sind zu, die Tür ist zu, der Kühlschrank ist aufgeräumt, das Geschirr gespült, der Fernseher ausgeschaltet, der Computer ausgesteckt. (Sie hört die innere Stimme, die ihr sagt, es sei unwahrscheinlich, dass es einen Kurzschluss gibt) Es hat nie einen Kurzschluss gegeben, da hast du recht, aber die Tatsache, dass es nie ei-nen Kurzschluss gegeben hat, bedeutet nicht, dass es keinen Kurzschluss geben kann. Und der Kurzschluss ist gefährlich. Es funkt, ein Feuer bricht aus. Man hört doch dauernd sol-che Geschichten. Alles brennt nieder. Kinder verbrennen in ihren Wiegen. Was bleibt, ist die Asche. (Traurig) Es sollte nur Langschlüsse geben. (Sie setzt sich vorsichtig auf den Rand des Sessels. Wickelt sich in ihren Wollschal ein.)

4.

Florinda und Palmira steigen jede ihre in den Himmel führen-de Treppe hoch; sie tragen hochhackige Schuhe, enge Röcke und kurze, schmal geschnittene Jacketts, alles in dunklen Tö-nen, und über der Schulter die Business-Tasche.

Florinda Wir wissen doch, wie die Männer sind. Wir müssen sie verstehen. Und wenn wir sie nicht lieben, sind sie nur schwer zu halten, es gibt immer andere, die sie wollen. An einsamen Frauen fehlt es nicht. Und an geilen auch nicht. Aber ich habe ihm eine Nachricht geschickt, und geschrieben habe ich ihm das: Denk bloß nicht, dass du mich nochmal

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betrügen kannst, denn einmal fällt man aus Versehen und beim zweiten Mal ist es ein Vergehen.

Palmira (bezieht sich auf die Treppe) Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Das ist beschwerlich. Halt das mal, mein Finger fühlt sich so komisch an, ich glaube, ich habe mir einen Nagel abgebrochen.

Florinda Und mit welcher Hand soll ich bitteschön deine Tasche halten? Willst du, dass ich hier rücklings runterfalle?

Palmira Wo denkst du hin!Florinda (misstrauisch) Ah! So kommt es mir aber vor.Palmira Ich habe dich doch nur gebeten, meine Tasche zu halten. Florinda Dass du mich um so was bittest, und noch dazu mit

so einem Gesicht! Als würde ich nicht kapieren, warum du das machst! Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Halt mal meine Tasche, du drei- bis vierhändiges Ungeheuer, sagt sie, und dann knall dort unten auf den Boden … (Noch miss-trauischer) Hast du in letzter Zeit mit Bráulio gesprochen?

Palmira Mit welchem Bráulio?! Florinda Ihr heckt doch was aus, da fress ich einen Besen!

Florinda macht Anstalten, Palmira mit ihrer Tasche zu schlagen, doch die entzieht sich den Schlägen so gut sie kann.

Palmira Florinda!Florinda Spiel mir hier bloß nicht die Ahnungslose, Palmira,

sonst klatsch ich dich dort unten auf den Boden. Ich habe dir einmal verziehen, aber beim nächsten Mal reiß ich euch beiden die Gedärme raus und koch sie in Knoblauchsud! Auf kleiner Flamme, damit es auch richtig weh tut!

Palmira (gutgelaunt) Oho! Knoblauchsud tut kein bisschen weh!Florinda Du wirst schon noch sehen! Du hast diese Manie, mir

meine Männer auszuspannen, aber das lass ich nur einmal zu, verdammt …

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Palmira Eigentlich war es zweimal, aber eins davon zählt nicht. Florinda Warum zählt es nicht?Palmira Weil es im Auto war!Florinda Du Biest! Auch noch in dieser Luxuskutsche! Komplett

von mir bezahlt, ein Leasingwagen der Agentur!

Florinda versucht, Palmira die Treppe hinunterzustoßen. Palmira klammert sich fest.

Palmira Du solltest dich schämen für dieses Auto! Es hat Prob-leme mit den Ventilen!

Florinda Es hat doch nicht mal Ventile! Ist komplett elektronisch! (Sie versucht weiterhin, Palmira hinunterzustoßen.)

Palmira Florinda! Florinda Das Auto gehört mir! Mir gehört es! Bráulio gehört

mir! Er ist mein Mann! Da kannst du noch so neidisch sein, aber du kriegst ihn nicht!

Palmira Das werden wir noch sehen!Florinda (haut mit der Tasche nach ihr) Du Biest!Palmira (ernst) Schau mal, Florinda, schau mal da! Da stürzt

gerade ein Haus ein! Da rechts, schau!

Florinda verliert das Gleichgewicht und klammert sich wieder an die Treppe.

Florinda Ist es eins von unseren?Palmira Das ist mein Revier!Florinda Aber ich hab es an Land gezogen! Palmira Ja, das hast du, aber es ist mein Revier …!Florinda Es ist verkauft. Das ist das Entscheidende!Palmira Es war eins der Ersten.Florinda Die Gegend ist ziemlich runtergekommen!Palmira Die Kommission hab ich schon in der Tasche.

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