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Lutz van Dijk • Verdammt starke Liebe

Lutz van Dijk • Verdammt starke Liebe · Lutz van Dijk wurde 1955 in Berlin geboren. Er war mehrere Jahre Lehrer an einer Sonder-schule in Hamburg. Nach einem Zweitstudium (u.a

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Lutz van Dijk • Verdammt starke Liebe

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Lutz van Dijk wurde 1955 inBerlin geboren. Er war mehrereJahre Lehrer an einer Sonder-schule in Hamburg. Nacheinem Zweitstudium (u. a. in Is-rael) und der Promotion zum Dr. phil. war er in der Lehrer-ausbildung und im Anne-Frank-Haus in Amsterdam tätig. SeineJugend- und Sachbücher wur-den in mehrere Sprachen über-setzt und erhielten verschie-dene Preise. Seit 2001 arbeitetLutz van Dijk für die Stiftung

HOKISA (Homes for Kids in South Africa), die sich für AIDS-Waisenkinder in Südafrika einsetzt. Er lebt in Amsterdam undKapstadt.

Lutz van Dijk im Urteil der Presse:»Reale Menschenschicksale und Geschehnisse, historischewie heutige, nutzt [...] Lutz van Dijk als Ausgangssituationenseiner schriftstellerischen Arbeit. Mit dokumentarischerLiteratur schreibt er gegen das Vergessen an. Sein Credo:Wahrhaftigkeit; seine Zielgruppe: Jugendliche.«

Börsenblatt

In der Pressemitteilung zum Hans-im-Glück-Preis, den dieStadt Limburg 1992 an den Autor für »Der Partisan« und»Verdammt starke Liebe« vergab, heißt es: »Lutz van Dijkhat die Jury durch seine bisherigen Bücher überzeugt.Immer ergreift er entschieden Partei für Verfolgte, Verach-tete und Ausgestoßene. Er vertritt beharrlich die radikaleIdee der Humanität. Er hat für seine aufrüttelnden Ge-schichten eine eigenständige Fiktion und Dokumentationverbindende Form der Darstellung gefunden.«

Von Lutz van Dijk ist bei cbt erschienen:Anders als du denkst. Geschichten über das erste Mal (30074)Der Attentäter (30108)Der Partisan (30049)Township Blues (30109)Von Skinheads keine Spur (30013)

Weitere Titel sind bei ELEFANTEN PRESS erschienen.

DER AUTOR

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Lutz van Dijk

Verdammtstarke Liebe

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Band 30213 cbt – C. Bertelsmann TaschenbuchDer Taschenbuchverlag für JugendlicheVerlagsgruppe Random House

www.cbj-verlag.de

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchs sind chlorfrei und umweltschonend.

1. AuflageErstmals als cbt Taschenbuch Mai 2005Mit aktualisiertem SachanhangGesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2001 C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenUmschlagbild: Corbis, DüsseldorfUmschlagkonzeption:init.büro für gestaltung, Bielefeldlf • Herstellung: CZSatz: Uhl+Massopust, AalenDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN 3-570-30213-XPrinted in Germany

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Inhalt

Der letzte Sommer 7Ohne Zuhause 22

Aufregende Gefühle 35Nachts in der Stadt 48

Die geheime Scheune 65Zukunftspläne 81

Der Brief 103Gefangen 130

Flucht über den Fluss 148

»Ich bin Stefan K.« 163

Nachwort des Autors 166Anmerkungen 169

Zeittafel zur Geschichte derHomosexuellenverfolgung 175

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Stefan K. (16) im Juli 1941 in Polen

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Der letzte Sommer

8. Juli 1941. Den Tag werde ich nie vergessen. Es war imzweiten Kriegssommer in Polen – ein schöner, richtig hei-ßer Tag. Mit ein paar Freunden war ich nach meiner frü-hen Arbeit als Laufbursche beim deutschen Bäcker MaxLicht an die Weichsel zum Baden gefahren …

Als wir mittags am Flussufer angekommen waren,klebten alle Sachen am Leib von der großen Hitze. Nurflüchtig sondierten wir das Gebiet, um zu sehen, dass wirmit keinen Deutschen aneinander gerieten, womöglichnoch mit Soldaten, die ebenfalls die heißen Tage zum Ba-den nutzten. Dann ließen wir alle Vorsicht außer Acht …

Andrzej, ein Nachbarjunge, hatte als Erster die Bö-schung erreicht, warf seinen kleinen Rucksack ins Gras,daneben sein Hemd und die kurze Hose, und schon warer mit einem Jubelschrei kopfüber im Wasser verschwun-den. Kurz darauf waren wir mit ihm in den erfrischendenFluten.

Während wir im Wasser herumtobten, merkten wirnicht, dass doch irgendwo eine Patrouille von zwei deut-schen Soldaten in der Nähe gewesen sein musste. Wirtauchten einander gegenseitig unter und schrien nur so vor Vergnügen. Vielleicht schrien wir sogar unmäßig

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laut, weil derartige Unternehmungen so selten gewor-den waren in den vergangenen Jahren, in denen Kriegherrschte und Polen von der deutschen Wehrmacht be-setzt war.

Jeder von uns hatte in dieser Zeit etwas eigenes Schlim-mes erlebt, der eine mehr, die andere weniger – nurschlechter war es uns seitdem allen gegangen. Jetzt je-doch, beim Herumtoben in der Weichsel, beim Erfrischenim kühlen, klaren Wasser, war all das für einen Momentvergessen.

Und es war wieder Andrzej, der als Erster einen vomUfer weit herüberragenden Ast als Sprungbrett für unsentdeckte und nackt, wie er war, mit einem übermüti-gen Salto voransprang. In dem Augenblick, als wir es ihmnachtun wollten und gerade Richtung Ufer schwammen,um zu dem Ast zu gelangen, brüllte plötzlich eine herri-sche Stimme in unmittelbarer Nähe: »Los, rauskommen!Sofort alle Mann raus aus dem Wasser und stillgestan-den!«

»Alle Mann« – das waren der mutige, dünne Andrzej,der kleine Pawel und sein noch kleinerer Bruder Marekund ich, der längste von allen. Tropfend und vor Angstzitternd, nicht vor Kälte, stolperten wir vollends aus demWasser und blickten in Richtung der bärbeißigen Stim-me. Jetzt erst zeigte sich hinter einem dichten Gebüschder rundliche Besitzer dieses Organs mit seinem etwasjüngeren Begleiter: zwei deutsche Soldaten, die ihre Ge-wehre auf uns gerichtet hatten.

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»Wisst ihr, was im Krieg mit Partisanen geschieht?«,bellte der Ältere erneut los, kaum dass wir alle aus demWasser waren und versuchten, irgendeine uns militä-risch erscheinende Haltung einzunehmen. Aber machdas mal, klitschnass und splitternackt! Da ich von unsvieren am besten deutsch sprach, meldete ich mich zag-haft zu Wort:

»Aber, Herr, wieso denn Partisanen? Wir sind Kinder,die hier allein zum Baden hergekommen sind. Bitte ge-ben Sie uns doch unsere Sachen und wir werden sofortnach Hause gehen.«

Zum ersten Mal zeigte der Soldat ein Grinsen, wenn esauch nur höhnisch war:

»Ach, ›Baden‹ nennt ihr Ganoven heute eure konspira-tiven Treffen! Sagt bloß noch, ihr wisst nicht, dass es euchverboten ist, in der Öffentlichkeit eure Polackensprachezu benutzen?«

Darauf wollte er also hinaus – ich musste mich beherr-schen, um mir nicht unwillkürlich an den Kopf zu fas-sen wegen dieses Unsinns. Ja, es stimmte, es gab da diese Anordnung, dass wir in Gegenwart von Deutschen nichtpolnisch sprechen durften – aber hier waren doch bis vor wenigen Minuten gar keine gewesen! Vielleicht fand der Ältere es auch einfach komisch, ein paar polnischeJungen zu schocken. Doch wie sollte es nun weiterge-hen?

Zum Glück schien sein Begleiter nicht das gleiche Ver-gnügen zu empfinden. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr,

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worauf dieser zustimmend nickte. Dann schrie er erneutim Kasernenton in unsere Richtung:

»Wir werden euch dieses eine Mal noch ziehen lassen.Aber merkt euch in Zukunft: Polen gibt es nicht mehr –das hier ist jetzt wieder Westpreußen und gehört zumGroßdeutschen Reich! Habt ihr das verstanden?«

Andrzej und ich nickten. Als wir sahen, dass Pawelund Marek nur stumm vor sich hin starrten, boxten wirsie in die Seiten, damit sie auch nickten.

Endlich schienen die beiden ihre Vorstellung beendenzu wollen. Doch es war ihnen noch ein besonderer letzterEinfall gekommen. Sie hatten wohl Andrzejs Rucksackerspäht und stopften nun alle Kleidungsstücke, die sievon uns herumliegen sahen, in diesen Rucksack. Zuletztergriff einer von ihnen einen schweren Stein, der am Uferlag, und verschnürte ihn ebenfalls darin. Dann schleu-derten sie den nun prallen Rucksack, so weit sie konnten,zur Mitte des breiten Weichselstromes hin, wo er, nach-dem er eine große, blubbernde Luftblase abgegebenhatte, augenblicklich versank …

Warum erzähle ich das eigentlich so ausführlich?Schließlich war ja alles noch mal eher gut abgelaufen. Ma-rek und Pawel heulten zwar noch ein bisschen, aber And-rzej und mir gelang es schließlich doch, nach über einerStunde, mit einem Hanfseil unseren Rucksackschatz ausder Tiefe zu bergen. Das Tollste war noch, dass die beidenSoldaten Pawels kleine Boxkamera übersehen hatten, dieer vor dem Schwimmen an einer schattigen Ecke sorgsam

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abgelegt hatte. Und so ist am späten Nachmittag etwaeinhundert Meter weiter ein Foto entstanden, das ich nochheute besitze. Der kleine Marek war auf einem Hügel ab-gestellt zum Aufpassen, während wir anderen drei einpaar feucht gewordene Brotkanten aufbrieten und dazufrische Himbeeren aßen.

Während wir in unseren schon fast trockenen Sachenim Gras saßen und das leckere Mahl genossen, musste ichwieder daran denken, was der Soldat gebrüllt hatte: Po-len gibt es nicht mehr!

Polen gibt es nicht mehr! Polen gibt es nicht mehr! Die-ser Satz ist in meiner Erinnerung bis heute fest ver-bunden mit jenem Tag im Spätsommer 1939, als ich er-fuhr, dass ich nie wieder eine Schule besuchen dürfte.

Im Frühsommer 1939 hatte ich mit vierzehn Jahren ge-rade die sieben Klassen der polnischen Volksschule ab-solviert. Ich war ein ziemlich guter Schüler gewesen – daskann ich ja heute als alter Mann sagen. In der Schule warwenigstens immer etwas los. Außerdem mochte ich gernlesen und am liebsten mochte ich Musik. Im Musiksaalunserer Schule stand ein uralter Konzertflügel, den unserfröhlicher, junger Klassenlehrer einmal von einer entfern-ten Tante geerbt und uns gestiftet hatte. Darauf konnte er schön und mit so großer Begeisterung spielen, dass es nicht selten vorkam, dass die ganze Klasse das Läutenüberhörte und vergaß, nach Hause zu gehen.

Es war dieser junge Herr Scibarski, der eines Tages

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meinen Vater in die Schule bat und zu ihm sagte: »Wis-sen Sie eigentlich, dass eine musische Begabung in IhremSohn steckt? Er muss unbedingt auf ein Gymnasium, damit alle seine Fähigkeiten angemessen gefördert wer-den!«

»Aha«, brummte mein Vater. Er kratzte sich etwas unsicher am Hinterkopf und faltete dann seine zerbeulteEisenbahnermütze sorgfältig zusammen und wiederauseinander. Dann schaute er mich an: »Und was willstdu, Junge?«

Ich war genauso unsicher wie Vater, hatte aber leiderkeine Mütze zum Zusammenfalten. Weder Vater nochMutter hatten in den vier Volksschuljahren ihrer Kindheitrichtig lesen und schreiben gelernt. Immerhin waren sieauf einer deutschen Schule gewesen und so waren wirvon früh an zweisprachig erzogen worden. Vater hattespäter den Beruf eines Eisenbahnarbeiters bei der Güter-abfertigung in Torun gelernt. Mutter war eine ungelernteArbeiterin geblieben.

Beide hatten uns den katholischen Glauben gelehrt,was für mich von früh an mit einer schönen und einernicht so schönen Erfahrung verbunden war: Jeden Abendvor dem Schlafengehen betete Mutter mit jedem Einzel-nen von uns fünf Kindern. Danach hatte sie immer nochein paar Minuten Zeit, wo sie sich unsere großen undkleinen Sorgen anhörte und mit uns beriet, was jeweilsam kommenden Tag getan werden sollte. Das war dieschöne Erfahrung.

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Nicht so schön war, dass wir jeden Sonntag in so ge-nannte gute Kleider gesteckt wurden für den Kirchgang.Nicht allein, dass diese steifen Hosen und Kragen ent-setzlich kratzten auf der Haut, auch war Mutters ganzeFreundlichkeit verschwunden, kaum dass dieses Folter-zeug uns einhüllte. Dann sauste sie aufgeregt um uns herum, zerrte an schief sitzenden Manschetten und Kra-gen und warnte uns mit wildesten Drohungen vor derkleinsten Beschmutzung. Nie konnte ich glauben, dassdas der liebe Gott wollte, als er den Sonntag geschaffenhatte …

So schaute ich nun meinen Vater ratlos an und sagteschließlich etwas, das wohl jeden anderen armen Vater,der jeden Pfennig zweimal umdrehen musste, eher abge-schreckt hätte: »Ich möchte so gern richtig singen lernenund einmal Sänger werden!«

Nicht so mein Vater! Anders als Mutter, die wegen unserer Armut ab und zu panische Zustände bekam,hatte sich Vater immer einen Sinn für das »wahre Leben«,wie er es nannte, bewahrt. »Das wahre Leben ist nicht nurAckern und Schuften und Geld zusammenkratzen«, sosagte er manchmal zum Ärger von Mutter auch in unse-rer Gegenwart, »sondern das wahre Leben, das sind dieschönen Dinge.« Dabei grinste er wie ein Schuljunge, undes blieb unserer Fantasie überlassen, welche »schönenDinge« er jeweils meinte. Jetzt erfuhr ich, dass für ihn zumeinem Glück auch das Singen dazugehörte.

Zu Herrn Scibarski gewandt, meinte er jedenfalls fröh-

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lich: »Gut, Herr Lehrer, soll der Stefan mal seine musi-schen Begabungen schulen, nicht?« Und ernst fügte ernoch hinzu: »Aber Sie müssen ihm dabei auch ein wenighelfen! Meine Frau und ich wollen ihn kleiden und er-nähren, aber bei der Schule helfen können wir nicht …«

So kam es, dass ich in diesem Sommer 1939 oft beiHerrn Scibarski in seiner kleinen, gemieteten, schattigenStube saß, während die anderen Kinder schon ihre Fe-rien genossen. Ich büffelte für die Aufnahmeprüfung desstaatlichen Toruner Gymnasiums, Herr Scibarski nahmdafür nicht einen Zloty von meinen Eltern, obwohl esschließlich auch seine Ferien waren.

Anfang August war endlich die Aufnahmeprüfung.Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugetan und schlicham anderen Morgen blass und mit schweißnassen Hän-den zum ersten Mal durch das beeindruckend große Portal des Gymnasiums. Unten war auf eine Stelltafel mitKreide notiert: »Aufnahmeprüfungen im Zeichensaal!«Da ich keine Ahnung hatte, wo der Zeichensaal war,schaute ich mich fragend um und sah eine kleine Gruppeblasser Jungen eine der großen Treppen hinaufgehen. Dasonst niemand im Schulhaus war, lief ich ihnen einfachhinterher.

Im Zeichensaal wurden wir jeder an einen Tisch ge-setzt, der so großen Abstand zum nächsten Tisch hatte,dass man sich nichts zuflüstern konnte. An die Gesich-ter der anderen Kinder erinnere ich mich kaum noch. Mirscheint, dass wir alle gleich ausgesehen haben, jedenfalls

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machte die Prüfungsangst uns alle zu ähnlich maus-grauen, verschüchterten Erscheinungen.

Auch habe ich keine Erinnerung, was nun eigentlichgeprüft wurde. Dagegen spüre ich noch heute, dass mei-ne Finger so verschwitzt waren, dass ich Mühe hatte, denStift richtig zu halten, und dass alle meine Blätter leichteWellen von der Feuchtigkeit meiner Hände aufwiesen,als ich sie endlich abgab. Am Ende wusste ich kaumnoch, wie ich hieß …

Von den folgenden zwei Wochen weiß ich nur, dass ichin völliger Erschöpfung die meiste Zeit irgendwie vormich hin dämmerte. Das heißt, ich machte weiter meinenormalen Arbeiten wie Zeitungen austragen und Aus-helfen bei einem Gärtner, mit denen ich auch sonst einwenig für unsere Familie dazuverdiente, aber ich tat allesin einem Zustand geistiger Betäubung. Nur so kann icherklären, dass ich in jenem heißen Sommer 1939 nichtwirklich mitbekam, was um mich herum geschah.

Ich erwachte erst aus diesem Zustand, als ich in dervorletzten Augustwoche endlich das Ergebnis der Prü-fung erfuhr. Zuerst war es nur eine Erlösung, dass dieZeit des Wartens vorbei war – allmählich drang auch derBescheid zu mir durch, dass ich bestanden hatte und zumneuen Schuljahr aufgenommen war.

Vater und Mutter und selbst meine Geschwister sahenmich so stolz an, dass ich mich fast ein wenig schämte.

»Freue dich einfach, Stefan!«, meinte Vater zu mir.»Wegen einer besseren Schule ist man sicher kein bes-

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serer Mensch. Aber etwas einfacher hat man es vielleichtdoch mal im Leben …«

Und Mutter, die doch sonst immer zuerst Ängste ent-wickelte wegen des fehlenden Geldes, sagte mit festerStimme:

»Morgen gehen wir zum Schneider und dort werdenwir dir eine neue Schuluniform kaufen. Niemand soll se-hen, dass du aus einem armen Elternhaus kommst!«

Langsam taute ich aus meiner Erstarrung wieder auf.Am meisten freute mich, dass mein älterer Bruder Miko-laj, der eigentlich ein viel ehrgeizigerer Junge war als ichund leider nicht für eine höhere Schule vorgeschlagenworden war, überhaupt nicht gekränkt oder eifersüchtigwar. Eines Abends vor dem Schlafengehen kam er nocheinmal rüber zu meinem Bett, kniete sich daneben undlegte mir einen kleinen Umschlag auf mein Kopfkissen:

»Hier, nimm mal – ich bekomme doch schon ein biss-chen Lohn und du wirst ja nun noch ’ne Weile armerSchüler bleiben und kannst es sicher brauchen!«

In dem Umschlag waren ein paar Zloty-Münzen –keine große Summe, aber doch so viel, dass ich wusste,dass er dafür beinahe eine Woche arbeiten musste.

»Danke, Mikolaj, ich werde dir das nie vergessen!«Er klopfte mir nur sanft auf die Schulter: »Ich freue

mich mit dir, ehrlich! Du weißt, dass ich auch gern wei-ter zur Schule gegangen wäre, aber in den letzten Wochendenke ich schon manchmal, vielleicht ist es in diesen Zei-ten besser, wenn man einen Beruf gelernt hat …«

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Damit erhob er sich, um zu seinem Bett zu gehen. Ichhörte im Dunkeln, wie er sich aufs Bett legte, ohne sichzuzudecken.

»Mikolaj, was meinst du mit ›diesen Zeiten‹?«, fragteich noch einmal leise zu ihm hinüber.

»Es gibt viel Hass und viele gegenseitige Drohungen in der Welt – in den letzten Tagen vor allem zwischenDeutschland und Polen. Wir sind ein kleines Land zwi-schen dem großen Deutschland im Westen und der gro-ßen Sowjetunion im Osten. Ich hoffe nur, dass sich die Po-litiker wieder beruhigen und ihre Drohungen nicht wahrmachen …«

Selten redete mein älterer Bruder so lange auf einmal.Ich spürte, dass er sich eigene Gedanken um die Welt ge-macht hatte, und fühlte mich plötzlich ziemlich naiv inmeiner Beschränktheit auf die Vorbereitung für die hö-here Schule – das war meine ganze Welt in den letztenWochen gewesen. Ich konnte nicht ahnen, dass diese Weltbereits in wenigen Stunden nicht mehr existieren sollte …

Am 30. August 1939, zwei Tage vor Beginn des neuenSchuljahres, kam schließlich die neue Schuluniform fürmich. Der Schneider hatte meinen Eltern gestattet, denAnzug in 24 Monatsraten abzuzahlen. Mutter bestanddarauf, dass ich ihn sofort anzog. Glücklich und ent-spannt, wie ich sie noch nie bei »guten Kleidern« erlebthatte, umkreiste sie mich mehrfach und streichelte dabeiden »hervorragenden Stoff« an allen möglichen Stellen.

»Wir müssen an seinem ersten Schultag unbedingt ein

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Foto von Stefan machen lassen!«, meinte sie zu Vater ge-wandt, der seiner unerwartet leichtsinnig gewordenenEhefrau sofort begeistert zustimmte: »Ja, Liebe, aber vondir wollte ich auch schon lange ein Foto und unsere an-deren Kinder sollen nicht hintanstehen!«

Über Mutters Gesicht huschte ein kurzer, ernster Schat-ten. Dann lachte sie befreit und sagte: »Aber nur dieseseine Mal!«

Mein erster Schultag im Gymnasium hat nie statt-gefunden. Dafür ist er in die Geschichte eingegangen. Anjenem 1. September 1939 lagen wir noch ahnungslos inunseren Betten, als nördlich von unserer Stadt Torun ander Mündung der Weichsel, genauer gesagt im Hafenvon Danzig, ohne Kriegserklärung vom deutschen Lini-enschiff »Schleswig-Holstein« aus auf das polnische Fest-land gefeuert wurde.

Ein paar Stunden später erklärte der deutsche Regie-rungschef Adolf Hitler, der so genannte Führer, im Rund-funk: »Seit heute Morgen um 5.45 Uhr wird zurück-geschossen!« Dabei log er gleich zweimal, wobei das eine vielleicht wirklich nur schlichte Unkenntnis war.Nicht um 5.45 Uhr, sondern um 4.45 Uhr war der Angriffim Hafen von Danzig erfolgt, für den er bereits am Vor-tag, mittags um 12.40 Uhr, den geheimen Befehl gegebenhatte.

Zum anderen war es ein Angriff und keine Verteidi-gung, wie er mit dem Wort »zurückgeschossen« vorgebenwollte. Den Vorwand für den Angriff hatten die Nazis

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selbst geliefert: In der Nacht zum 1. September hatte eseinen bewaffneten Überfall auf den deutschen Grenzsen-der in Gleiwitz gegeben. Nach dem Krieg stellte sich he-raus, dass es von den Deutschen gedungene Banditen ge-wesen waren, die diesen Überfall vorgespielt hatten.

Wir wurden an diesem Morgen nicht wie sonst vomsanften Rütteln unserer Mutter geweckt, sondern vomDröhnen schwerer deutscher Militärflugzeuge, die überunsere Siedlung hinwegdonnerten. Mikolaj war als Ers-ter auf den Beinen und starrte aus dem weit geöffnetenFenster zum Himmel.

»Jetzt geht es los, Stefan!«, sagte er leise zu mir, als ichneben ihm stand und sah, wie er seine Erregung zu ver-bergen suchte durch tiefes Ein- und Ausatmen. Sein kräf-tiger Brustkorb hob und senkte sich, aber er sprach denganzen Morgen kein weiteres Wort.

Dafür redete Mutter umso aufgeregter: »Was soll dasdenn jetzt! Du lieber Gott, sind die Menschen endgültigverrückt geworden?«

Irgendwann erinnerte sie sich an das, was wir heute ei-gentlich vorgehabt hatten: »Also, das geht nicht, wirmüssen doch heute zum Fotografen! Stefan, du ziehstjetzt sofort deine neue Schuluniform an!«

Fragend schaute ich zu Vater. Er bedeutete mir stummund ernst, dass ich ihn für eine Weile mit Mutter alleinlassen sollte. Kurz darauf hörten wir fünf Kinder, die wir alle im Nebenzimmer hockten, wie Mutter laut auf-schluchzte, und dazwischen immer wieder Vaters Stim-

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me, scharf und entschlossen. Als sie endlich herauska-men, sagte Vater: »Ich gehe jetzt mal zu unseren Nach-barn. Die haben ein Radio, und ich hoffe, wir werdenbald Genaueres wissen. Beruhigt Mutter, Aufregung istjetzt fehl am Platz.«

Mutter saß stumm auf dem Ehebett und schniefte leisein ein Taschentuch …

Endlich kam Vater zurück.»Krieg! Es ist tatsächlich Krieg! Unsere Regierung for-

dert alle Männer auf, sich sofort zu melden. Für die Ver-teidigung unserer Hauptstadt Warschau sollen allein120 000 Mann zusammengezogen werden! Ich werdemich noch heute beim Rathaus melden!« Dann schaute erfragend Mikolaj an.

»Ich bleibe bei Mutter!«, sagte Mikolaj sehr leise undernst. Er sagte es so eindringlich, dass Vater nur einenMoment zögerte und ihm dann mit ungewohnter Feier-lichkeit die Hand gab: »Gut, Junge, dann kann ich beru-higt los, wenn ich weiß, dass du hier bist!«

Die neue Schuluniform blieb an diesem Tag im Schrankhängen. Sie blieb auch die folgenden sechs Wochen dort.In diesen Wochen fielen etwa 70 000 Polen in den Kämp-fen. Von Vater erhielten wir die ganze Zeit über keineNachricht. Am 17. September floh die bisherige polnischeRegierung außer Landes. Die noch verbliebenen 116Flugzeuge der Luftstreitkräfte nahm sie gleich mit. Trotz-dem kämpften viele polnische Soldaten noch weiter bisAnfang Oktober, weil allen klar war, was nach der Nie-

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derlage folgen würde. Am 6. Oktober 1939 kapituliertendie letzten polnischen Einheiten.

Am Abend jenes 6. Oktober gab Mutter mir meineSchuluniform aus dem Schrank, wobei sie sie sorgfältigin einen Bogen Papier einschlug:

»Stefan, polnischen Kindern ist ab sofort der Besuch al-ler höheren Schulen untersagt. Die freien Plätze werdenan deutsche Schüler vergeben. Lauf schnell zum Schnei-der und sage ihm, dass die Uniform noch völlig unbe-nutzt ist. Vielleicht nimmt er sie noch zurück und wir ver-lieren nur die erste Monatsrate …«1*

Auf dem Weg zum Schneider kam ich an einer Gast-stätte vorbei, die vor allem von Deutschen besucht wurde.Aus den Räumen klang fröhliches Singen und Feiern bisauf die Straße. Es war ein milder Herbstabend, die Luftwie Seide, und die Abendvögel hatten gerade begonnen,sich auf ihre Lieder einzustimmen.

Ich ging mit meinem Paket unterm Arm langsam undmit schweren Schritten die Straße entlang, als ich hörte,wie ein Mann laut auf Deutsch grölte: »Polen gibt es nichtmehr! Leute, ein für alle Mal: Polen gibt es nicht mehr!«Dann ging seine Stimme im Jubel unter …

Es war ein milder Herbstabend, aber ich spürte dieschöne Luft nicht und hörte auch keine Vögel mehr.Wenn nur Vater bald heil zurückkommen würde …

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* siehe Anmerkungen ab Seite 169.

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Ohne Zuhause

Immer öfter kamen Todesmeldungen nach Torun von Vätern und Brüdern, die in den Kämpfen gegen die deut-sche Wehrmacht gefallen waren. Jedoch Vaters Namewar nicht dabei. War er verwundet? War er in Gefangen-schaft geraten?

Mutter, die noch nie lange ohne ihren Mann gewesenwar, hatte in den ersten Tagen wie gelähmt vor Entsetzenabgewartet und alles Kriegsgeschehen um sich herumwie einen Film betrachtet. Dann, nach gut zwei Wochen,war sie plötzlich aufgestanden, hatte sich energisch ihrnoch immer schönes, langes Haar gebürstet, sorgfältighochgebunden und schließlich zu uns Kindern gesagt:

»Vater wird wollen, dass wir uns nicht unterkriegenlassen!« Sie hielt einen Moment inne und lächelte zumersten Mal, seit er unsere Wohnung verlassen hatte: »Wirdürfen nicht aufhören, daran zu glauben, dass die Zeitenauch für uns wieder besser werden!«

Zunächst blieben sie aber schlecht. Es war Mikolaj, derdie nächste Hiobsbotschaft brachte:

»Pawels Bruder hat gesagt, dass sie unseren Vater zurZwangsarbeit nach Deutschland verschleppt haben. Erwar zuerst in der gleichen Kolonne wie Vater, aber dannhaben sie ihn ziehen lassen, weil er noch so jung und et-was kränklich war …«

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Lutz van Dijk

Verdammt starke Liebe

Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-30213-2

cbt

Erscheinungstermin: Mai 2005

Verbotene Liebe in der NS-Zeit. Polen, 1940. Für den 16-jährigen Stefan und den deutschen Soldaten Willi ist es Liebe auf denersten Blick – für die Nationalsozialisten ein zweifach todeswürdiges Verbrechen. Nach wenigenWochen heimlichen Glücks wird Willi nach Russland versetzt. Als Stefan die Einsamkeit nichtmehr erträgt, schreibt er einen verhängnisvollen Liebesbrief an die Ostfront ...