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Machst Du mit Senta

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Berte Bratt

Machst Du mit, Senta?

Erst als Sonja auf dem Flughafen steht, erfährt sie, daß auch ihre Zwillingsschwester Senta dieselbe Reise ge-bucht hat. Da gibt es übermütige Verwechslungen und riskanten Rollentausch am laufenden Band. Wie lange das wohl gutgeht?

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Erinnerst du dich, Schwesterchen? „Wenn ich bloß eine blasse Ahnung hätte…“ sagte ich, und deckte meine kleine Nichte zu, die ich gerade ins Gitterbettchen verfrachtet hatte.

Meine Schwester Sonja richtete sich auf, nachdem sie ihr zweites Töchterchen ebenfalls ins Bettchen gebracht hatte.

„Eine Ahnung – wovon?“ fragte sie. „Welche meiner Nichten ich gerade zu Bett gebracht habe! Ist es

Beatchen oder Helenchen?“ „Aber Senta! Das habe ich nicht von dir erwartet! Du müßtest

doch Zwillinge auseinanderhalten können.“ „Denkste! Wenn ich deine Gören ansehe, verstehe ich, daß wir

beide unsere Mitmenschen zur Verzweiflung gebracht haben. Also, wer ist nun wer?“

„Du hast eben Beate zu Bett gebracht. Siehst du nicht, daß ihr Näschen noch ein klein bißchen stupsiger ist als Helenes?“

„Nein, das sehe ich durchaus nicht. Aber ich weiß, was ich den beiden zum Geburtstag schenke! Ein silbernes ,B’ und ein silbernes ,H’ an zwei Halskettchen.“

„Da siehst du, das ist der Ausweg“, lachte Sonja. „Und ein brauchbarer. Bei uns war es anders, weil wir beide mit ,S’ anfingen. Aber sieh bloß, wie prächtig und gut erzogen meine Kinder sind, sie

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schlafen schon!“ „Genieße bloß diese Zeit“, seufzte ich. „Mach dich auf alles ge-

faßt, wenn sie das Alter meines unternehmungslustigen Sohnes er-reicht haben. Wenn ich den vormittags zum Schlafen bringen wollte, müßte ich ihn narkotisieren!“

„Nun, heute kannst du dich nicht beklagen“, meinte Sonja. „Jetzt haben wir zwei Stunden für uns allein, ohne Schreikinder und ohne lästige Ehemänner! Vorausgesetzt, daß Annettchen es so lange mit deinem Sprößling aushält!“

Dieses Gespräch fand in unserem Kinderzimmer statt, in unserem Elternhaus in einem Vorort von Oslo. Sonja war am Tage vorher mit ihren Zwillingen zu Besuch gekommen, aus England, wo sie zu-sammen mit ihrem Mann an dem Mary-Green-Institut arbeitete. Ich hatte an diesem Morgen gleich nach dem Frühstück das Auto meines Mannes gemopst und war mitsamt Sohn die zehn Minuten zu unse-ren Eltern gefahren, um so bald wie möglich ein paar ungestörte Stunden mit Sonja zu verleben. Das hatten wir seit vielen Jahren nicht gehabt. Ich vermißte meine Schwester furchtbar. Denn wir sind viel mehr als Zwillingsschwestern: Wir sind die allerbesten Freun-dinnen. Unsere kleine Schwester Annette – oder Halbschwester, um es ganz genau zu sagen – , zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt, hatte sich dazu verpflichtet, meinen Sohn zu hüten und mit ihm im Sand-kasten zu spielen und aufzupassen, daß er keinen Unfug machte. Es war zum Glück schulfrei, und Annette konnte sich ihrer Tätigkeit als Kindermädchen ganz und gar widmen. Sie machte es gern, aus zwei Gründen: Erstens war sie sehr damit beschäftigt meinem Sohn bei-zubringen, daß er sie mit „Tante“ anreden sollte. Zweitens hatte ich ihr einen einigermaßen guten Stundenlohn versprochen, mit dem sie schon etwas anfangen konnte.

Unsere Beatemutti war in der Küche sehr beschäftigt, unser jetzt dreizehnjähriger Bruder Stefan war mit unbekanntem Ziel ver-schwunden, und unser vielbeschäftigter Vater kümmerte sich um die leidende Menschheit, sprich Blinddärme, Arm- und Beinbrüche, Gallensteine und was es sonst auf dem Lebensweg eines Chirurgen so zu tun gibt.

Mein Angetrauter kümmerte sich um die zahnleidende Mensch-heit. Seine Praxis war in dem letzten Jahr enorm gewachsen.

„Es ist eigentlich komisch“, sagte Sonja. „Nun freut man sich wahnsinnig darauf, wieder mal seine Schwester und beste Freundin zu treffen – man macht Striche in den Kalender und zählt die Stun-

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den, und dann ist es soweit, und man sitzt da und weiß einfach nicht, womit man anfangen soll!“

„Und dabei ist es hundertmal vorgekommen, daß ich gedacht ha-be, ach, wenn ich nur Sonja fragen könnte oder dies hätte Sonja miterleben müssen…" „Genauso geht es mir!“ nickte Sonja eifrig. „Als diese Reise bestimmt wurde…“

„Ja, erzähl mir davon!“ unterbrach ich. „Wieso kommt es, daß du plötzlich Hund und Institut und Mann verlassen konntest?“

„Die Reihenfolge ist richtig“, lächelte Sonja. „Hasso war es, der am meisten heulte, als ich wegfuhr! Nein, weißt du, es war einfach so, daß das Institut für ein paar Wochen meine wertvolle Mitwirkung entbehren konnte. Und dann griff ich die günstige Gelegenheit beim Schopf, habe die Kinder eingepackt und bin losgeflogen. Es war doch wirklich an der Zeit, daß ich euch meine Goldkinder vorführe! Und daß ich euch alle wiedersehe!“

„Du sagst, daß das Institut dich entbehren konnte. Aber kann Heiko es denn auch?“

„Es blieb ihm nichts anderes übrig“, sagte Sonja. „Er wird gut versorgt. Tante Helenes Köchin kocht in dieser Zeit seine ganzen Lieblingsgerichte. Hasso kommt mit ins Institut und löst Tante Hele-nes Neufundländer im Wacheschieben ab!“

„Aber Sonnie, wie kommst du eigentlich überhaupt zum Arbeiten im Institut? Mit Haushalt und Zwillingen und Kochen…“

„Es geht noch, solange die Kinder vormittags zwei Stunden schlafen, und sie die übrige Zeit im Laufstall sind. Wir nehmen sie morgens mit, und Tante Helenes gute Betty wirft immer ein Auge auf sie. Lunch nehmen wir dann mit Tante Helene zusammen ein. Ich brauche mich also erst abends um das Kochen zu kümmern. Die Einkäufe macht Tante Helenes Fahrer. Er fährt einmal in der Woche nach London mit einer Einkaufsliste so lang wie eine Klopapierrolle, und besorgt alles – angefangen bei Papierwindeln, über Brot und Butter und Aufschnitt bis zu Tante Helenes Medizin und Hassos Hundekuchen! Ja, wie gesagt, noch geht es, aber wir müssen uns wohl bald nach einem zuverlässigen Kindermädchen umsehen. Ich möchte doch so gern weiter im Institut mit Heiko arbeiten! Nanu, warum seufzst du so abgrundtief?“

„Habe ich geseufzt? Das war wohl aus Neid!“ „Beneidest du mich um meine Zwillinge? Dann mal ran, viel-

leicht schaffst du es auch!“ „Quatschkopf! Ich beneide dich, weil du mit deinem Mann zu-

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sammen arbeiten kannst! Daß ihr alles gemeinsam habt, auch die Arbeit! Während ich…“

„Während du was?“ „Na ja, während ich rumsitze, koche, wasche und Staub wische.

Aber ich weiß überhaupt nichts von der Arbeit, die Rolf so ganz erfüllt. Weißt du, er geht mit Leib und Seele in seinem Beruf auf, und seine Patientenschar wächst und wächst!“

„Ja, aber die Abende gehören ihm doch privat. Es ist ja bei euch nicht so wie hier im Hause, wo unser armer Papa so oft abends und nachts weg muß!“

„Denkste! Ja, natürlich, ein Zahnarzt macht ja keine Krankenbe-suche, das stimmt. Aber, daß die Abende uns privat gehören… daß ich nicht lache! Rolf hat sich ein kleines Labor zugelegt, und in dem arbeitet er oft bis Mitternacht. Oder er sitzt mit dicken Büchern da, von denen ich so viel verstehe wie von chinesischer Grammatik. Rede ich ihn aber an, dann sieht er einen Augenblick ganz zerstreut hoch und sagt: Ja, natürlich, Liebling. Oder: Mach ganz wie du denkst, alles ist mir recht. Und dann versinkt er wieder in seine Fach-literatur!“

Wenn ich mitleidsvolle Worte von Sonja erwartet hatte, dann wurde ich enttäuscht. Sie nickte nur allwissend: „Wem erzählst du das? Ich kann dir sagen, ich kenne die Situation!“

„Du? Du, die du immer mit Heiko zusammenarbeitest?“ „Es war doch nicht immer so! Die ersten vier Monate unserer

Ehe waren genauso, wie du es jetzt schilderst. Heiko war bei seiner Doktorarbeit, und außerdem hatte er seine Schule. Ich sah ihn nur zu den Mahlzeiten und war schlechter dran als du es jetzt bist. Du hast die ganze Familie in der Nähe, du brauchst nie einsam zu sein. Aber ich damals! Erinnerst du dich an unsere Wohnung im Fliederweg?“

„Und ob ich mich erinnere! Damals, als wir deine Wirtin zu Tode erschreckten, als sie meinte, sie sähe doppelt!“

„Ja, siehst du, damals war ich furchtbar allein. Heiko war den lieben langen Tag weg. Die Fahrt nach Hamburg war weit und vor allem teuer. Du weißt ja, wie eisern wir Geld sparten! Wenn ich zurückdenke, kommt es mir vor, als ob wir nur Milchreis, Kartoffel-puffer und Margarinebrote aßen. In Hamburg hatte ich allerdings meine Schwiegereltern und hatte auch Anke. Aber ich konnte es mir einfach nicht erlauben, sie öfters als höchstens einmal pro Woche zu besuchen. Mensch, wie war ich allein!“

„Aber Sonnie, das wurde ja bei dir anders! Ich frage mich oft, ob

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es bei uns immer so bleiben muß! Rolf wird doch bestimmt nicht weniger zu tun kriegen. Wird er dann immer den ganzen Tag arbei-ten müssen? Damals, als ihr in Hamburg wohntet, machte Heiko seine Doktorarbeit. Aber das hat Rolf doch längst hinter sich!“

„Frage ihn doch!“ schlug Sonja vor. „Vielleicht macht er eine wissenschaftliche Arbeit, vielleicht betreibt er Forschung – Men-schenskind, zeig doch Interesse für seine Arbeit, auch wenn du we-nig davon verstehst! Versuch, ob du ihn zum Sprechen, zum Erzäh-len bringen kannst! Heiko sagt immer, wenn man mit einem Problem beschäftigt ist, hilft es einem weiter, wenn man darüber sprechen kann! Hast du überhaupt Rolf gefragt, was ihn am Labor und an den Fachbüchern fesselt?“

„Nein…“ gab ich zögernd zu. „Wenn ich überhaupt dazu komme, mit ihm zu sprechen, geht es ja gewöhnlich um Gerry. Der Bengel sorgt weiß Gott für genug Gesprächsstoff!“

(Gerry ist also unser Sohn. Er ist nach seinem Opa auf den Na-men Gerhard getauft. Als er anfing zu sprechen, nannte er sich selbst Gelli, daraus wurde allmählich Gerry. Und der Name bleibt wahr-scheinlich an ihm hängen! )

„Hat Rolf denn für Gerry Zeit?“ „Viel Zeit nicht, aber wenn er sich ab und zu frei macht, dann

spielt er mit dem Jungen und plaudert mit ihm, erklärt ihm alles, was er wissen will, und das ist sehr viel. Er leidet unbedingt an Frageritis – ja, doch, Rolf ist ein entzückender Vater, das gebe ich zu – wenn er Zeit hat!“

„Aber Sentachen, dann ist alles nur halb so schlimm. Du liebst Rolf und er liebt dich, ihr seid finanziell gut dran, du hast die Eltern und die Geschwister in der Nähe. Frag doch Rolf wegen seiner Ar-beit! Zeig doch Interesse, Menschenskind!“

„Man merkt, daß du eine Viertelstunde älter bist als ich“, sagte ich. „Du bist anscheinend die Reifere und Erfahrenere von uns bei-den!“

„Wie gut, daß du es endlich einsiehst!“ lachte Sonja. „Nein, Sen-ta, guck mal, da hängen noch die beiden Kinderzeichnungen an der Wand – erinnerst du dich daran? Wir machten sie im Kindergarten, und wir verlangten, daß sie an die Wand kommen sollten!“

„Ich weiß noch, daß Beatemutti sie gleich am ersten Abend hier entdeckte! Weißt du das noch?“

"Nein, das habe ich vergessen. Aber ich weiß genau, daß sie die erste Nacht hier bei uns schlafen mußte, im Gästebett. Und am fol-

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genden Tag ist Tante Julie weggefahren, Gott sei Dank!“ „Ja, Gott sei Dank – aber weißt du, irgendwie tut Tante Julie mir

leid. Sie tat viel für uns, so gut sie es eben konnte. Aber viel Freude strahlte sie nicht aus!“ Sonja lächelte.

„Nein, die Freude brachte Beatemutti mit! Du, ich habe oft daran gedacht, was wäre aus uns allen geworden, falls Beatemutti nicht zu uns gekommen wäre?“

„Mensch, nicht auszudenken!“ rief ich. „Wenn ich zurückdenke – jetzt, als erwachsener Mensch – , wird es mir immer mehr klar, daß sie hier wahre Wunder vollbrachte!“

„Und weißt du noch, daß wir sie gleich duzen durften – und wie sie eine richtige Freundin für uns wurde, und gleichzeitig Mutter und Erzieherin…“

„Ich weiß jedenfalls, daß sie einmal mir einen hintendraufklebte, als sie auf dich böse war!“ lachte ich.

„Und du bekamst eine gesalzene Ohrfeige von Papa, als er am liebsten Beatemuttis Verehrer eine geklebt hätte!“ erinnerte sich Sonja.

Damit waren wir schon tief drin in dem „Weißt-du-es-noch-Gespräch“ und das dauerte so lange, bis die zweite Ausgabe von Zwillingen in unserer Familie aufwachte. Gleichzeitig erschien An-nette mit ihrem Neffen an der Hand.

„Senta! Gerry hat die Hose naß gemacht!“ verkündete sie. Ich hatte mit einer solchen Möglichkeit gerechnet und holte trockene Sachen aus der Tasche.

„Aber Annette, du hättest doch mit ihm zum Klo gehen und ihm helfen können!“ meinte Sonja.

„Ich kenne mich nicht so richtig aus“, kam es altklug von Annet-te. „Denn weißt du, Jungens sind so… ja, so ganz anders!“

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Familienzähne und Reisepläne Während dieser Zeit sahen Sonja und ich einander fast jeden Tag. Gewöhnlich fuhr ich zu ihr, es war für mich am einfachsten, weil ich den Wagen zur Verfügung hatte, und weil ein Junge von zweieinhalb immerhin einfacher zu transportieren ist, als zwei Mädchen von anderthalb.

Am Sonntag machte Rolf sich endlich frei und kam mit zum Fa-milien-Mittagessen bei den Eltern. Sie hatten gerade einen langen Brief von Hans Jörgen erhalten, unserem zwanzigjährigen Bruder, der sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Drontheim absolvierte. Von dem Altesten, Bernt, hörten wir weni-ger. Er war dabei, eine eigene Arztpraxis in einer Kleinstadt in Süd-Norwegen aufzumachen.

„Ja, ja“, philosophierte Papa am Tisch. „Es lichtet sich in der Kinderreihe! Jetzt ist die ganze erste Garnitur weg, und unser Tisch ist furchtbar zusammengeschrumpft. Täglich sitzen meist nur wir beiden Alten hier…“

„… mit der zweiten Kindergarnitur!“ ergänzte Beatemutti. „Üb-rigens, Gerhard, protestiere ich gegen das Wort ,alt’. Ich bin genau achtunddreißig – kaum älter als du warst, als wir heirateten! Aber wie dem auch sei, es ist wahnsinnig nett, euch hier zu haben, Kin-der!“

„Gerade das wollte ich sagen, aber du hast mich wie gewöhnlich nicht ausreden lassen, holdes Weib! Das mit ,alt’ bezieht sich nicht auf Jahre oder Aussehen, sondern auf die Tatsache, daß unser Enkel dich immer und lautstark ,Oma’ nennt!“

„Ja, das habe ich nun davon!“ lächelte Beate. „Übrigens, Annette, weißt du noch, was die Dame im Selbstbedienungsladen gestern sagte? Du weißt, die, der du tragen geholfen hast.“

„Ach die!“ rief Annette. „Ja, sie sagte: Was, haben Sie schon eine so große Tochter, Sie sind doch noch so jung! Genau das sagte sie!“

Papa schmunzelte. „Und was hat Mutti dann geantwortet, An-nettchen?“

„Gar nichts! Ich habe geantwortet! Ich sagte, ich bin die jüngste von sechs Geschwistern!“

„Wetten, daß die Dame sich bei der Kassiererin nachher über die Familie Rywig erkundigt hat“, sagte Sonja. „Übrigens, daß ich es nicht vergesse: Hast du morgen oder übermorgen ein klein wenig

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Zeit für mich, Rolf? Du kannst doch nicht mit ansehen, daß deine Schwägerin mit Zahnschmerzen rumläuft?“

„Komm nur, aber das müssen wir nach der Sprechstunde erledi-gen, also gegen Abend. Was hast du denn?“

„Ich habe den Verdacht, daß ich einen Weisheitszahn kriege, und wahrscheinlich wächst er ganz verkehrt, vielleicht mußt du ihn raus-operieren!“

Rolf sah Sonja aufmerksam an: „Oben links?“ „Erraten! Bist du ein Hellseher?“ „Nicht das gerade, aber… sag mal, seit wann merkst du es?“ „Oh, etliche Wochen. Ich wollte nur nicht zum Zahnarzt in Eng-

land, weil ich ja einen so einmaligen Zahnarzt in der Familie habe!“ „Senta“, wandte mein Göttergatte sich an mich, „weißt du genau,

wann du deine ,Weisheit’ spürtest?“ „Haargenau! Das erste Mal war es, als ich Beatemutti half, Papas

Geburtstagstorte zu dekorieren, also am vierten Februar!“ „Stimmt!“ rief Sonja. „Ich habe es gemerkt, als ich den Telefon-

hörer zurücklegte, ich rief doch Papa am Geburtstag an!“ „Na, ihr geht vielleicht im Takt, ihr beiden“, lächelte Beatemutti. „Und ob sie das tun“, mischte sich Papa ein. „Du hättest das Ge-

brüll hören müssen, als die beiden ihren ersten Zahn bekamen, Rolf! An sich war es ein Glück, daß es gleichzeitig geschah, dann war alles sozusagen ein Abwasch.“

„Weißt du noch, welcher Zahn zuerst kam?“ Rolfs Stimme war nicht nur interessiert. Es war, als ob er mit der größten Spannung auf die Antwort wartete.

„Ja“, drückte Papa sich medizinisch korrekt aus: „Unten, eins, links!“

„Helene und Beate bekamen zuerst den rechten“, sagte Sonja. „Gleichzeitig?“ wollte Rolf wissen. „Die eine an einem Sonntag, die zweite Montag morgen!“ „Sag mal, Rolf“, fragte Papa, „betreibst du Zwillingsstudien?“ "Ja“, gab Rolf zu. „Und Erbanlagen. Wenn du in diesem Punkt

etwas zu meinem Wissen beitragen kannst…“ „Kann ich! Als Bernt die Milchzähne verlor, fiel ihm zuerst ein

Eckzahn unten aus, statt eines Schneidezahns, wie es sich gehört. Tante Julie konnte mir erzählen, daß bei mir genau dasselbe gewesen war.“

„Und Hans Jörgen?“ „Nein, bei ihm nicht.“

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„Aber bei Stefan!“ rief Beatemutti. „Das weiß ich ganz be-stimmt.“ Nach dem Essen setzte Rolf sich zu seinem Schwiegervater und fragte ihn weiter aus, während wir Frauen den Tisch abräumten und Kaffee machten.

„Siehst du“, sagte Sonja, „das ist es, was Rolf so beschäftigt! Erbanlagen in der Dentalmedizin! Du Schaf, warum hast du ihn nicht gefragt?“

„Ich wollte es tun, aber ich bin noch nicht dazu gekommen“, gab ich zu. „Du liebe Zeit, was hat er dann für Studienobjekte in der Familie! Zwei Garnituren Zwillinge, und sein Schwiegervater hat Kinder aus zwei Ehen. Ich muß ja direkt zusehen, daß ich auch Zwil-linge bekomme!“

„Ja, lieber das, als eine zweite Ehe“, lächelte Sonja. „Ich möchte meinen Schwager behalten, ich bin mit ihm sehr zufrieden!“

„Ich eigentlich auch“, räumte ich ein. Am folgenden Abend kam Sonja in die Praxis. „Darf ich dabeisein?“ fragte ich. „Wenn die Patientin es erlaubt“, lächelte Rolf. Die Patientin er-

laubte. Ich versuchte so gut wie ich es konnte, die Helferin zu vertre-ten, reichte Rolf Instrumente, entfernte die gebrauchten, holte sterile Tupfer aus dem Behälter und band dann meiner Schwester die schwere Bleischürze um, als sie geröntgt werden sollte.

„Ich werde das Bild gleich entwickeln“, sagte Rolf. „Ihr beide könnt ja rübergehen, ich rufe euch, wenn ich fertig bin.“

Wir gingen rüber ins Wohnzimmer und unterhielten uns. „Sag mal, was macht ihr im Sommer?“ fragte ich. „Du wirst lachen – wir fliegen höchstwahrscheinlich nach Kana-

da“, erzählte Sonja. „Ich lache gar nicht, ich weine! Vor Neid! Wieso und warum?“ „Oh, es ist wieder so eine Gruppenreise, die Heiko mit Arbeit

und Beruf verbinden kann. Warte mal, ich habe doch den Prospekt in der Tasche. Ja, siehst du, es ist eine ganz tolle Sache. Zuerst Van-couver und dann verschiedene Nationalparks – dann muß Heiko für ein paar Tage die Gruppe verlassen und ganz privat, das heißt für das Institut, nach Saskatchewan fliegen, da will er sich über die Biber informieren, und dann trifft er wieder die Gruppe in Prince Ru-pert…“

„Was ist das?“ wollte ich wissen. „Eine kleine Hafenstadt, nicht weit von der Grenze zu Alaska.

Von dort geht es per Schiff nach Skagway in Alaska, dann mit einer

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komischen kleinen Bahn quer durch die bekannten Goldgräbergebie-te – dann folgt ein Ausflug zu einer Eskimosiedlung, und nachher in den berühmten Mount-McKinley-Nationalpark mit Bären und Kari-bus…“

„Kari-was?“ „Nordamerikanische Rentiere! Ja, und Elche und Schneeziegen

und allerlei Kleingetier. Ganz zuletzt nach Anchorage, von dort über den Nordpol bei Mitternachtssonne nach Hause!“

„Mensch!“ rief ich. „Und das erzählst du so mir nichts, dir nichts! Du hast aber Schwein! Und wer kümmert sich um deine Nachkom-menschaft?“

„Xenia, die deutsche Studentin, die voriges Jahr bei uns war. Sie kommt sogar sehr gern, weil sie sich mit einem Engländer verlobt hat. Er wohnt nicht allzuweit weg von uns. Weißt du, als wir von Hawaii damals zurückflogen, guckte ich immer nach unten auf die Rocky Mountains, und wünschte mir so brennend, dieses phantasti-sche Bergmassiv von unten zu sehen. Jetzt kriege ich also die Gele-genheit dazu!“

„Ich wünsche dir alles Gute, Schwesterchen“, seufzte ich. „Aber neidisch bin ich trotzdem!“

„Was macht ihr denn im Urlaub?“ fragte Sonja. „Wir fahren wahrscheinlich in die Hütte meiner Schwiegerel-

tern“, sagte ich. „Ab Mitte Juli ist sie frei. Na ja, das ist ja auch schön und gut, aber… wenn ich an eine solche Reise denke… du, ich habe unsere Afrikareise noch so lebendig in Erinnerung, sie war zu schön. Ich möchte auch so gern mehr von dieser Erde sehen, nicht nur Europa…“

Da kam Rolf mit zwei kleinen Röntgenfilmen in der Hand an. „Guckt euch das bloß an!“ rief er. „Sieh da, das bist du, Senta, und hier ist Sonja – guckt euch die Wurzeln von euren Weisheitszähnen an! Beide ganz verrückt schief, beide drücken auf den Nachbarzahn, beide Wurzeln gleich geformt.“ – Rolf schaute sich die Aufnahmen mit einem geradezu verliebten Blick an.

„Ja, das ist schön und gut“, meinte Sonja. „Du darfst mich gern als Studienobjekt betrachten. Aber was machst du nun mit meinem verrückten Zahn?“

„Ja, was mache ich? Ich könnte ihn gleich rausoperieren. Aber – wie lange bleibst du? Eine Woche noch? Weißt du was, dann warten wir ein paar Tage. Der Zahn ist kurz vor dem Durchbruch, vielleicht kommt er in zwei, drei Tagen zum Vorschein, dann kann ich ihn

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rausziehen und brauche das Zahnfleisch nicht aufzuschneiden.“ „Schön, ich warte dann ein paar Tage“, sagte Sonja. „Hoffentlich

guckt dann das Biest raus! Wer von euch ist willig und bereit, mich nach Hause zu fahren?“

Ich erklärte mich bereit, und Rolf zog sich mit seinen Röntgen-aufnahmen ins Labor zurück.

Als ich zurückkam, fand ich ihn im Wohnzimmer mit einem dik-ken, wissenschaftlich aussehenden Buch in der Hand vor. Hatte ich gedacht, daß er was Schönes sagen würde, so wie: „Bist du da, Lieb-ling“ oder: „Schön, daß du kommst, mein Schatz“, dann hatte ich mich gewaltig geirrt. Denn die Worte, die mit Inbrunst über seine Lippen kamen, in dem Augenblick, als ich das Zimmer betrat, waren kurz und bündig:

„Verdammt noch mal!“ „Hab innigen Dank für diese liebevollen Worte“, sagte ich. „Ach, bist du da, Sentalein. Meine Äußerung betraf nicht dich!“ „Wen denn?“ „Meinen alten Englischlehrer! Warum in aller Welt hat der Kerl

nicht mehr Englisch in meinen Holzkopf reingehämmert? Im Ernst, Sentachen, ich muß mich auf den Hosenboden setzen und Englisch pauken!“

„Wunderbar!“ rief ich. „Ich pauke mit! Denk an Sonja und Hei-ko, die gemeinsam Suaheli lernten, dann können doch wir beide unsere englischen Schulkenntnisse gemeinsam auffrischen!“

„Großartig, mein Schatz!“ Er zog mich zu sich aufs Sofa. „Weißt du, da sitzt doch so ein alter Professor in Amerika und erzählt eine Menge über Dinge, die mich gerade so beschäftigen. Und dann muß ich zu meiner Schande feststellen, daß ich seinen Artikel nicht rich-tig lesen kann! Aber das muß anders werden!“

„Das wird auch anders!“ rief ich. „Als Sonja damals vor vielen Jahren nach England wollte – oder mußte, es war ja Papa, der darauf bestand – da besaß sie einen Englischkurs auf Platten. Sie sind be-stimmt noch auf dem Boden bei Mutti und Vati, ich hole sie mor-gen!“

„Fein! Und dann wird studiert, daß es nur so raucht, verstehst du?“

„Und ob ich verstehe! Ich habe mich oft darüber geärgert, daß ich so wenig Englisch kann. Aber dafür können wir beide fließend Deutsch!“

„Kunststück, wo wir beide in Deutschland studiert haben!“

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„Und du hast sogar deine Doktorarbeit in Deutsch gemacht! Al-so, ab morgen Englisch!“

„Abgemacht! Ab morgen Englisch! Prima, daß du mitmachst, mein Schatz! Du entwickelst dich immer mehr in Richtung ideale Ehefrau.“

„Und du immer mehr in Richtung Professor!“ „Denkste! Nein, im Ernst, Sentachen. Ich bin von diesem Thema

besessen, ich habe keine Ruhe, bis ich nicht genug Material gesam-melt habe, so daß ich stichhaltige Vergleiche ziehen kann. Verstehst du nicht, daß man von einer Idee oder einer Aufgabe besessen sein kann?“

„Doch, das begreife ich. Jetzt, wo ich weiß, worum es geht. Ich dachte immer, es sei deine tägliche Routinearbeit, die dich so ganz und gar in Anspruch nimmt – so daß ich…“ Ich schwieg.

„So daß du – was?“ „Nein, nichts.“ „Doch. Sprich es nur ruhig aus. Wolltest du nicht sagen, so daß

du dich vernachlässigt fühltest?“ „Nun ja, so was Ähnliches.“ „Sentalein, warum hast du das nicht gesagt?“ „Ach… ich weiß nicht… ich wollte dich ja nicht stören – und ich

weiß ja aus meiner Kindheit wie es war, wenn Papa so sehr von seiner Arbeit in Anspruch genommen wurde. Und wie es bei Sonja und Heiko war, als er seine Doktorarbeit machte.“

„Ja, das habt ihr davon, ihr Frauen, wenn ihr Wissenschaftler hei-ratet! Aber Senta, Liebling, es wird ja nicht immer so bleiben. Wenn ich mit dieser Forschung zu einem Resultat gekommen bin, wenn ich den Zusammenhang gefunden habe, dann werde ich ein braver Zahnarzt, der Zähne zieht und Füllungen macht und Prothesen an-paßt. Und nach der Sprechstunde widme ich mich Frau und Kin-dern…“

„Ich höre immer Kindern! Wenn ich mich nicht irre, haben wir nur eins!“

„Aber das soll doch nicht immer so bleiben!“ wiederholte Rolf.

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Das haut grade hin! Sonja und ich wühlten auf dem Boden des elterlichen Hauses. Wir suchten den Englischkurs auf Schallplatten.

Es ging, wie es immer bei solchen Arbeiten geht. Wir fanden dies und jenes, dessen Existenz wir mehr oder weniger vergessen hatten, Gegenstände, mit denen wir ein gerührtes Wiedersehen feierten.

„Mensch, da steht doch der alte Puppenwagen! Annettchen ist dafür zu groß – du, den nehme ich mit nach Hause! Ob der zweite wohl auch da ist?“ Sonja arbeitete sich durch eine Reihe Pappkartons und stieß einen Freudenschrei aus. „Da ist er ja! Haben wir vielleicht Schwein!“

„Der Englischkurs?“ fragte ich. „Iwo, der zweite Puppenwagen! Ach so, ja, richtig, Englischkurs,

das hatte ich vergessen. Schau mal nach in der Kiste mit all den alten Kinderbüchern – da könnte er sein!“

Er war da. Ebenso etliche Bilderbücher, die ich für meinen Sohn beschlagnahmte.

„Senta, guck mal, da ist auch… nanu!“ Sonja unterbrach sich selbst und blieb stehen mit einem merkwürdig verzerrten Gesicht. Sie machte lebhafte Bewegungen mit der Zunge.

„Du – ich glaube, er ist da!“ „Wer ist da?“ „Der Zahn! Guck mal rein, kannst du was sehen?“ Ich meinte ihn

sehen zu können. Dann packte ich Schwester und Englischkursus in den Wagen und fuhr schnurstracks nach Hause, nachdem Sonja ihre Sprößlinge der immer hilfsbereiten Oma anvertraut hatte.

Wir tranken Kaffee und warteten darauf, daß mein vielbeschäftigter Mann endlich den letzten Patienten hinauskomplimentieren konnte.

„Warum wollt ihr plötzlich Englisch studieren?“ wollte Sonja wissen. Ich erklärte es ihr.

„Ach so, deswegen! Ich dachte, ihr wolltet uns auf unserer Reise Gesellschaft leisten!“

„Ach, das wäre zu schön! Nein, das kommt nicht in Frage, wir sind schließlich keine Millionäre! Übrigens, ich verstehe nicht, war-um ihr in einer Gruppe fahren wollt! Ich meine, da doch das Institut die Reise bezahlt?“

„Heikos Reise zum Teil schon! Aber meine nicht. Es ist nämlich so, die Reise wird, wie du aus dem Prospekt gesehen hast, von unse-

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rem lieben alten Reiseunternehmen ,Tellus-Touren’ in Hamburg arrangiert. Wahrscheinlich haben wir damals, als wir uns in Afrika als Reiseleiter betätigten, einen guten Eindruck gemacht. Denn jetzt hat man Heiko gefragt, ob er in den Tiergebieten die zoologische Reiseleitung übernehmen will. Er war ja schon mal in Alaska.“

„Weiß ich!“ „Außerdem kennt er ja auch die Viecher, die wir vielleicht in

Kanada zu sehen bekommen. Also, er kriegt die Reise für den halben Preis. Ja, und noch eins: Heiko muß diesen Extraausflug nach Saskatchewan machen, dann fühlt er sich ruhiger, wenn er mich sicher in der Gruppe weiß, als wenn ich so ganz allein in der Gegend rumschwebte!“

Rolf kam zur Tür herein. „So, liebe Schwägerin, ich erwarte dich mit gezückter Zange!“

„Es ist furchtbar lieb von dir, daß du mich noch nach der Sprech-stunde rannimmst, Rolf!“

„Ich tu es auch nur unter einer ausdrücklichen Bedingung!“ „Daß du etwa ohne Betäubung ziehen darfst? Dann protestiere

ich aber laut und vernehmlich!“ „Du würdest viel lauter werden, wenn ich es wirklich täte! Aber

nein, du kriegst so viele Spritzen wie du willst. Die Bedingung ist, daß du mir den gezogenen Zahn schenkst!“

Sonja lachte laut. „Bitte, bitte, lege ihn zu Sentas Zahn und hüte beide als unersetzliche Schätze!“

„Genau das habe ich vor! Also, los!“ Sonja verschwand und ich mußte mich um meinen Sohn küm-

mern, der mit einem kleinen Nachbarjungen im Sandkasten gespielt hatte. Er sah entsprechend aus.

Kaum hatte ich ihn gewaschen und umgezogen, kamen Sonja und Rolf aus der Praxis zurück.

Sonja mit einem Taschentuch vor dem Mund und mit Sprech-schwierigkeiten, Rolf glückstrahlend mit etwas in der Hand, das er mir begeistert zeigte.

„Senta, guck doch! Hast du so was gesehen? Gibt es hier über-haupt einen Unterschied?“

Auf seiner ausgestreckten flachen Hand lagen zwei Zähne. „Ja“, sagte ich. „Der eine ist noch blutig!“

„Ach so, ja, dann siehst du also doch den Unterschied. Aber sonst? Menschenskind, ist das vielleicht schön!“

„Ehrlich gesagt, ich kann unmöglich gezogene Zähne als was

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Schönes anerkennen, aber…“ „Aber daß du und Sonja mir erheblich in meiner Arbeit weiterge-

holfen habt, das ist doch schön?“ Rolfs Augen strahlten. „Ja, Rolf, das ist es! Und denk bloß wie glücklich du sein wür-

dest, falls du uns alle Zähne ziehen und uns Prothesen machen könn-test!“

„Ja“, kam es träumerisch von Rolf. „Das wäre schön!“ Am gleichen Abend saßen Rolf und ich andächtig zusammen und

hörten uns die erste Englischplatte an. Zu unserer Freude stellten wir fest, daß die erste Lektion uns doch zu einfach war. Soviel hatten wir aus unserem Schulunterricht behalten. Wir versuchten die dritte Lektion, und bei ihr gab es schon etwas zu lernen. Wir machten eifrig Notizen und hörten uns anschließend gegenseitig die Vokabeln ab.

Sprachstudien machen hungrig. Es fiel mir ein, daß ich noch ei-nen Rest Kompott vom Mittag hatte. Ich wanderte also zum Kühl-schrank. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, räumte Rolf den Couchtisch auf, damit Teller und Schüssel Platz fanden. Dabei fiel etwas auf dem Fußboden. Er bückte sich und guckte es sich an.

„Nanu, läßt du dir Reiseprospekte schicken?“ „Ach nein, den hat Sonja wohl liegenlassen. Sie und Heiko ma-

chen im Sommer eine ganz weite Reise.“ „Ja, das tun sie ja andauernd. Wo geht es denn dieses Jahr hin?“ „Nach Kanada. Warte mal – die Reise steht auf Seite 36 – ja, da

ist sie. Von Hamburg mit Zwischenlandung in London, dann nach Toronto, und von dort geradewegs zum ersten Ziel, Vancouver.“

Rolf ließ den Kompottlöffel sinken. – „Sagtest du Vancouver? Gib her…“

Er nahm mir den Prospekt aus der Hand, und las halblaut. „An-kunft Vancouver sechsundzwanzigsten Juli… sechsundzwanzig-ster… Moment mal!“

Er rannte in die Praxis und kam mit einer Fachzeitschrift in der Hand zurück. Ich guckte über seine Schulter. Da war ein Verzeichnis über zahnärztliche Kongresse.

„Sechsundzwanzigster – Mensch, Senta! Das haut grade hin!“ „Was haut hin?“ „Kongreß! Vortrag! Professor Simmons!“ Ich war noch nicht im

Bilde. „Was für ein Professor Simmons?“ „Der, der den Artikel geschrieben hat! Über Erbanlagen und

Zwillingsvergleiche! Der Artikel, der mich zum Englischlernen ge-

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bracht hat! Er hält einen Vortrag auf einem Kongreß in Vancouver am siebenundzwanzigsten Juli! Mal sehen… na ja, eine schöne Summe ist es ja… aber trotzdem… trotzdem… viel billiger als eine Privatreise… na ja, das wird ein Loch in unseren Geldbeutel reißen, aber… das Geld ist ja da, und Professor Simmons ist in Vancouver…

Was meinst du, Sentachen? Wollen wir Gerry zu Oma schicken, und dann fahren wir los, du und ich? Zusammen mit Sonja und Hei-ko? Nach Vancouver? Und zu den Eskimos?“

Ich machte den Mund auf, aber da kam kein Wort über meine Lippen. Ich saß da und starrte Rolf an. Seine Augen leuchteten, seine Stimme war voll Freude, sein Gesichtsausdruck voll Unterneh-mungslust.

Endlich fand ich die Sprache wieder. „Rolf, ist es wirklich dein Ernst? Ich kann es nicht glauben… es

ist allzu schön… aber Rolf, ist es nicht bodenlos leichtsinnig? Ich meine finanziell?“

„Natürlich ist es leichtsinnig. Aber wie grau und langweilig wäre das Leben, wenn man nie eine Leichtsinnigkeit beginge!“

„O Rolf, Liebster, jetzt erkenne ich dich wieder! So warst du frü-her, bevor du ein verbissener Forscher wurdest! So warst du, als wir uns kennenlernten!“

„Also, machst du mit?“ „Und ob! Und ob!! O Rolf, ich freue mich so wahnsinnig, so un-

beschreiblich, aber es will mir nicht in den Kopf, daß es wahr ist. Ich kann es nicht glauben!“

„Das wirst du aber tun müssen! Denn jetzt schreibe ich ,Tellus-Touren’ und melde uns an! Gott sei Dank, daß es ein deutsches Rei-seunternehmen ist, das eine vernünftige Sprache versteht!“

Als wir zu Bett gegangen waren, konnten wir nicht einschlafen. Wir nahmen den Reiseprospekt mit als Bettlektüre. Und da wir nur ein Exemplar hatten, mußten wir ganz dicht zusammenrücken. Ich las mit meinem Kopf auf Rolfs Schulter.

„Nur eins verstehe ich nicht“, sagte ich endlich. „Für all das Geld, das du jetzt springen läßt, hättest du doch glatt allein und pri-vat reisen können. Du hättest dich längst als Kongreßteilnehmer anmelden können…“

Rolf drückte mich fester an sich. „Kongreß hin, Kongreß her! Ei-ne solche Reise, quer über ein Weltmeer und einen ganzen Konti-nent, eine solche einmalige Reise mache ich doch nicht ohne meine Frau! Daß du das weißt!“

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Der Professor in Kanada Drei Tage später kam die Bestätigung von „Tellus-Touren“ in Ham-burg: Alles in Ordnung, Plätze reserviert.

„Ja, Rolf“, sagte ich, als ich den Brief gelesen hatte. „Jetzt gibt es kein Zurück! Jetzt mußt du!“

„Dasselbe sagte mein Vetter eine halbe Stunde vor unserer Trau-ung“, lächelte Rolf. „Hoffentlich wird dieses Unternehmen auf seine Art genauso glücklich wie das Unternehmen damals.“

„Du meinst also unsere Ehe?“ „Genau das meine ich. Wir haben es doch ganz nett zusammen?“ „Ganz nett ist gut! Wir haben es wunderbar zusammen, Rolf!

Wenn ich mich auch sehr auf die Zeit freue, wo du ein bißchen mehr Zeit für Gerry und mich haben wirst!“

„Ich freue mich genauso darauf, Liebling. Wenn du ein ganz lie-bes Mädchen bist, fährst du morgen vormittag in die Stadt zum Kon-sulat und holst uns Visa-Antragsformulare. Ja, und glaubst du, daß mein einmaliger Schwiegervater uns zu Hause impfen kann? Oder verlangt er, daß wir in die Praxis kommen?“

„Das ist nicht das größte Problem“, meinte ich. „Vor allem muß ich meine schwergeprüften Eltern schonend darauf vorbereiten, daß sie drei Wochen unseren Sohn auf dem Halse haben werden!“

Die Schwergeprüften nahmen es mit Fassung hin. Sie nahmen rührend Anteil an unserer Freude, und versprachen hoch und heilig, kein Wort Sonja und Heiko gegenüber verlauten zu lassen. Sonja fuhr nichtsahnend mitsamt Zwillingen und alten Puppenwagen nach Hause. Wir hatten ihr nichts über unsere Pläne erzählt – wenn die beiden in London an Bord gingen, sollten sie uns unverhofft unter den Passagieren finden. Das würde vielleicht eine Überraschung werden!

Ja, wir wollten in Hamburg starten, aus verschiedenen Gründen. Wenn wir mit der Oslo-Kiel-Fähre fuhren, konnten wir erstens meine liebe Frau von Waldenburg besuchen – so wie ich sie kannte, würde sie uns ganz bestimmt auch für eine Nacht beherbergen – und Rolf wollte seinen damaligen Doktorvater in Kiel aufsuchen. Dann war es nur ein Katzensprung nach Hamburg und dem Flughafen und unse-rem Amerika-Flugzeug!

Sonja war beim Abschied ganz unglücklich. „Wenn ich bloß mit Sicherheit wüßte, wann wir uns wiedertreffen werden“, seufzte sie. „Wenn ich einen bestimmten Zeitpunkt wüßte, worauf ich mich

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freuen könnte!“ „Und Striche in den Kalender machen“, ergänzte ich. „Sonnie,

ich hoffe doch sehr, daß ich dich in einer nicht allzufernen Zukunft besuchen kann!“

Wenn du wüßtest, dachte ich im stillen. Wenn du wüßtest, wie wenig fern der Zeitpunkt ist!

Beatemutti und ich brachten sie zum Flughafen. Es lief nicht ganz ohne ein paar Tränchen ab. Die einzigen, die von der Situation ganz unberührt blieben, waren meine beiden Nichten. Die eine saß quietschvergnügt auf dem Arm einer netten Stewardeß, die andre ebenso quietschvergnügt bei der Mutti. In der Tür zur Wartehalle drehte sich Sonja noch einmal um.

„Senta! Denk daran, wie vorteilhaft ein Englandbesuch für eure Sprachkenntnisse wäre!“

„Und eine Amerikareise erst recht“, flüsterte ich Beatemutti ins Ohr. Sie war ja im Bilde, aber sie spielte die Komödie wunderbar mit.

Unsere Sprachstudien gingen vorwärts, wir lernten sehr fleißig. Rolf hatte ja schließlich das Abitur gemacht, und ich war einmal in Afrika und einmal in England von der englischen Sprache ganz ab-hängig gewesen. Bei den Gelegenheiten hatte ich ja ein bißchen dazugelernt.

Eines Tages saß mein fleißiger Ehemann mit Grammatik und Wörterbüchern und Luftpostpapier vor sich und schwitzte. Er war dabei, einen Brief an Professor Simmons in Kanada zusammenzuba-steln. Endlich war er fertig, und er zeigte mir das Resultat. Soweit ich es beurteilen konnte, war alles unbedingt verständlich, und das war ja die Hauptsache!

Die Zeit rannte dahin. Ich hatte allerlei vorzubereiten. Dann kam Rolf eines Tages mitten in der Sprechstunde angerast, mit einem blauen Luftpostbrief in der Hand.

„Senta! Lies mal! Denk dir, der Goldschatz schreibt auf deutsch! Er möchte mich gern sprechen – und ich kann ihm alles auf deutsch erzählen, von meinen Beobachtungen und meinen Experimenten und…“

„Rolf, gehe ich recht in der Annahme, daß der Goldschatz Pro-fessor Simmons ist?“

„Ja, wer sonst? Mensch, ich bin ja so froh! Jetzt freue ich mich erst richtig auf die Reise! Du, lies den Brief, ich muß rennen, bin eben rübergelaufen, während die Betäubungsspritzen wirken. Ich

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muß einem armen Kerl alle Zähne ziehen, ein Glück, daß er nicht allzuviel übrig hat – und bei dem Nächsten habe ich ein Pfund Zahn-stein zu entfernen…“

„Verwechsle sie nur nicht“, ermahnte ich ihn. „Ich werde mir alle Mühe geben.“ Ich bekam einen schnellen

Kuß, und mein Göttergatte lief zu seinem betäubten Patienten. Ja, der Brief war in einwandfreiem Deutsch geschrieben! Der

Professor habe mit großem Interesse Rolfs Brief gelesen, er freue sich sehr darauf, ihn zu sprechen und seine Forschungsresultate mit den eigenen zu vergleichen.

„Sie brauchen sich gar nicht wegen Ihrer eventuellen Fehler im Englischen zu entschuldigen“, schrieb der Professor zuletzt. „Aber da Sie in Deutschland studiert und auch dort Ihre Doktorarbeit ge-macht haben, ziehen Sie wahrscheinlich einen deutschen Brief vor. Sie wissen vielleicht nicht, daß ich ein gebürtiger Österreicher bin. Seit 1938 wohne ich in Kanada, aber zum Glück habe ich meine Muttersprache noch nicht verlernt. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Gattin eine angenehme Reise und bitte Sie, so bald wie möglich nach Ihrer Ankunft in Vancouver mich anzurufen.“

Der liebe Professor hätte vielleicht Augen gemacht, falls er mei-ne erste Reaktion auf seinen Brief gesehen hätte! Ich rannte zum Bücherbord und holte die Weltgeschichte raus. Was war im Jahre 1938 passiert? Ich hatte so eine Ahnung – ja, siehe da, es stimmte: In dem Jahr war ja der sogenannte „Anschluß“ – Österreich wurde deutsch, und die, die keine arischen Großeltern hatten, taten gut daran, das Land zu verlassen. Vielleicht war er deswegen ausgewan-dert. Dann mußte er ja ein ziemlich alter Mann sein! Ich zählte die Jahre an den Fingern ab. Ja, bestimmt, er mußte unbedingt ein Mann „reiferen Alters“ sein.

Oh, wie freute ich mich für Rolf! Und ein klein wenig stolz war ich auf meinen Mann, dessen Arbeiten so wertvoll waren, daß ein bekannter Professor auf der anderen Seite des Erdballs sich dafür interessierte!

Gesegnet sei Sonja, daß sie ihren Reiseprospekt hier liegen gelas-sen hatte.

Jetzt machte ich buchstäblich Striche in den Kalender! Ich freute mich so, daß ich kaum schlafen konnte! Eine solche Reise zu ma-chen, mit meinem geliebten Mann und meiner sehr lieben Schwester und allerbesten Freundin!

Was war ich doch für ein Glückspilz!

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„Du mußt meine Frau sein!“ „Ach Kinder, wie schön, euch wiederzusehen! Wie reizend, daß ihr über Kiel gefahren seid! Kommt schnell, mein Wagen mit Bicky drin steht da drüben. Nein, Bicky wird so nervös vom Verkehr hier auf dem Kai, ich lasse sie lieber im Auto warten. Nein, Senta, es nützt nichts, nach meinem Miniwagen Ausschau zu halten. Ich habe jetzt einen, der eine Nummer größer ist, so daß ich euch und euer Gepäck vernünftig unterbringen kann. So, hier wären wir – ja, Bickylein, gleich kommt Tante Senta zu dir!“

Es war ein sonniger Morgen auf dem Oslokai in Kiel, und der Willkommensgruß kam von Tante Christiane.

Rolf verstaute das Gepäck, während ich im Auto ein stürmisches Wiedersehen mit der Pudelmischung Bicky feierte. Sie war alt ge-worden, die kleine Bicky. Ihr schwarzes Fell hatte viele graue Haare bekommen, und ihre schönen braunen Augen hatten den bläulichen Schimmer, den man manchmal auch bei alten Menschen sieht.

„Ja, sie ist eine Dame reiferen Alters“, sagte Tante Christiane. „Aber sie ist in sehr guter Verfassung, und ich bete und hoffe, daß ich sie noch ein paar Jahre behalten darf! So, Bickylein, geh ans Fenster, damit Tante Senta auch Platz hat. Du mußt bei Bicky blei-ben, Sentachen, Rolf kommt nach vorne zu mir.“

Ich kannte Tante Christianes Haus noch nicht. Als ich bei ihr Haustochter war, hatte sie eine Mietwohnung. Seit anderthalb Jahren hatte sie nun ihr eigenes Haus, das ich nur aus den Beschreibungen von Beatemuttis Schwester Heidi kannte. Heidi studierte in Kiel und wohnte sagenhaft billig bei Tante Christiane. Aber jetzt war sie mit ihrem Verlobten auf Urlaub in Norwegen.

Es war wirklich ein ulkiges Haus, von außen und von innen. Es sah aus, als wäre es aus großen und kleinen Würfeln zusammengeba-stelt, als ob man immer neue Würfel angeklebt hätte, wenn man mehr Raum brauchte!

Drinnen war das Haus urgemütlich. Rolf und ich bekamen ein nettes, sonniges Zimmer in der ersten Etage – wir waren herzlich zum Übernachten eingeladen worden.

In einer reizenden Eßecke in der großen Küche war ein einladen-der Frühstückstisch gedeckt. Wir mußten alles mögliche erzählen, aus unserem täglichen Leben, aus der Praxis, und natürlich vor allem von Gerry.

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„Ich glaube, ich muß eine Norwegenreise in Erwägung ziehen“, sagte Tante Christiane. „Mein Zahnarzt ist leider gestorben. So könnte ich einen Norwegenurlaub mit Zahnbehandlung bei Ihnen kombinieren, Rolf!“

„Sie sind willkommen“, lächelte Rolf. „Ich mache Füllungen und baue Brücken oder mache Vollprothesen, alles nach Wunsch!“

„Um Gottes willen!“ rief Tante Christiane. „Weder Brücken noch Prothese, so weit ist es noch nicht mit mir! Aber fühlen Sie sich nicht zu sicher, vielleicht wird es ernst! Bicky kommt zu meinem Sohn, und ich fahre los!“

„Sie kriegen Gerrys Zimmer“, versprach Rolf. „Und Senta kocht all Ihre Lieblingsgerichte! Aber wie dem auch sei, darf ich mich vorerst verabschieden? Mein ehemaliger Doktorvater erwartet mich in gut einer halben Stunde! Wo ist die Bushaltestelle?“

„Nehmen Sie doch meinen Wagen, ich brauche ihn heute vormit-tag nicht! Hier sind Schlüssel und Papiere.“

Glücklich zog Rolf los, und dann verbrachten Tante Christiane und ich einen herrlichen, friedlichen Vormittag zusammen. Ich muß-te ihr erzählen, wie es zu dieser Reise gekommen war. Sie lachte laut, als ich erklärte, Sonja sei ahnungslos, und würde uns erst mor-gen nachmittag in der Wartehalle in London entdecken.

„Na, das wird vielleicht ein Wiedersehen geben! Nein, wie freue ich mich für euch beide – für euch alle vier! Wie ist es mit euren Ehemännern, sie verstehen sich doch gut?“

„Bestens!“ versicherte ich. „Sie sind ganz dicke Freunde!“ Gegen Mittag kam Rolf zurück, strahlend und aufgekratzt, mit einem wun-derbaren Empfehlungsschreiben von seinem Doktorvater.

„Zwei Arten Freude kämpfen um den ersten Platz im Herzen meines Göttergatten“, sagte ich. „Wenn er sich von der dentalen Freude ein bißchen ausruhen wird, kommt gleich die Ferienfreude und erfüllt ihn!“

„Ja, ich komme aus der Freude gar nicht heraus“, lachte Rolf. „Möge es immer so bleiben!“ wünschte ihm Tante Christiane. Am Abend wurden wir rechtzeitig ins Bett geschickt. „Denkt an den morgigen Tag!“ ermahnte uns Tante Christiane:

„Der wird überhaupt kein Ende nehmen!“ „Wegen des Zeitunterschiedes, meinst du?“ „Ja, eben! Ihr werdet andauernd die Uhr zurückstellen müssen.

Und auf der Rückfahrt werdet ihr mit der Uhr um die Wette fliegen, und die Uhr wird gewinnen! Der Unterschied zwischen uns und New

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York beträgt sechs Stunden. Und der Himmel weiß, wie viele Stun-den noch, bis ihr an der Westküste seid. Heute nacht müßt ihr auf Vorrat schlafen!“

Wie zwei artige Kinder sagten wir gute Nacht und sanken in Tan-te Christianes schöne Gästebetten.

„Unser nächstes Nachtlager befindet sich auf der anderen Seite der Erde“, sagte Rolf. „Und bis wir das erreichen, haben wir wahr-scheinlich soviel erlebt, daß wir vor lauter Aufregung nicht schlafen können! Also müssen wir es jetzt tun, und zwar ein bißchen dalli!“

Worauf er die Nachttischlampe ausmachte, den Arm ausstreckte und mich näher an sich zog.

Am folgenden Morgen kamen wir rechtzeitig in Hamburg an. Gegen 14 Uhr sollten wir im Flughafen sein, und vorher wollten wir einen kleinen Stadtbummel machen. Wir stellten unsere Koffer in ein Schließfach auf dem Bahnhof und gingen zielbewußt zu einer Konditorei in der Mönkebergstraße, wo ich einmal mit Sonja gewesen war und märchenhaft guten Kuchen gegessen hatte. Denn wir hatten Hunger, wir waren sehr früh von Kiel losgefahren, „bevor der Appetit noch wach war“, wie Rolf sagte. Jetzt war er aber hellwach! Wir hatten gerade unseren Kaffee bekommen, als ein neuer Gast zur Tür hereinkam. Sonst war es im Lokal ziemlich leer, da es früh am Tag war.

Ich ließ meinen Blick flüchtig streifen, sprang dann aber so schnell auf, daß meine Kaffeetasse umkippte.

„Heiko! Menschenskind, was machst du hier?“ Unser Staunen war gar nichts im Vergleich mit Heikos.

„Was ich mache? Ich bereite unsere Kanadareise vor, ich muß vorher mit Tellus-Touren sprechen. Aber ihr beide? Ich denke, du kümmerst dich um norwegische Hohlzähne, Rolf, und du, Senta, wo hast du dein armes Kind gelassen? Und überhaupt, was habt ihr hier in Hamburg zu suchen?“

„Ein Flugzeug“, antwortete Rolf. „Und zwar dasselbe, das euch nach Kanada bringen wird. Wir fliegen mit!“

„Was tut ihr? Mitfliegen? Wollt ihr nach Kanada?“ „Ja, und Alaska, wenn du nichts dagegen hast!“ „Mensch, das ist ja klasse! Und wie wird Sonja sich freuen!“ „Ja, wo ist sie überhaupt?“ „In England. Wahrscheinlich nimmt sie in diesem Augenblick

Xenia in Empfang und zeigt ihr, wo die Windeln liegen und die Badewanne steht. Sie hätte eigentlich mitkommen sollen, hierher

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meine ich. Aber das ging dann doch nicht. – Vielen Dank, Fräulein“, die letzten Worte waren an die Serviererin gerichtet, die Heiko Kaf-fee und belegte Brötchen brachte.

„Ich habe einen Mordshunger“, erklärte Heiko. „Ich kam gestern abend an, habe in der Wohnung meiner Eltern übernachtet, sie sind in Urlaub, und das einzige Eßbare was ich vorfand, waren zwei Do-sen Brechbohnen und ein Paket Knäckebrot!“

„Und was mußt du jetzt mit Tellus-Touren besprechen?“ „Frage Direktor Grünbach! Er rief vorgestern an und schien

ziemlich verzweifelt zu sein. Alles geht schief mit dieser Reise, be-hauptete er. Er brauche jemanden, der das Schiefe unterwegs wieder geradebiegen kann. Ja, und dann war irgendein Problem mit dem Reiseleiter…“

„Ich denke, du bist der Reiseleiter?“ „Nein, aber ich fürchte, daß ich es werde! Von meinem getreuen

Weib unterstützt! Ich habe ja nur versprochen, in den tierreichen Gebieten mit meinen zoologischen Kenntnissen beizutragen. Na, mal sehen, was der Grünbach von uns will. Zu schade, daß Sonja nicht mitkommen konnte. Grünbach ließ mich nämlich am Telefon verste-hen, daß er von ihr etwas ganz Besonderes wollte. Na, sie hat mir jedenfalls freie Hand gelassen, ich kann für sie alles verabreden. Aber Grünbach wird enttäuscht sein, denn… ach, ich Idiot! Du mußt mitkommen, Senta! Du mußt jetzt meine Frau spielen!“

„Nun hör aber auf!“ protestierte Rolf. „Denkst du, daß ich meine Frau ausleihe?“

„Ja, für eine Stunde! Ich revanchiere mich, Rolf, du darfst dir auch meine gelegentlich borgen. Im Ernst, Grünbach sitzt irgendwo in der Tinte. Er war ganz außer sich am Telefon, und ich möchte ihm wirklich gern helfen.“

„So, das möchtest du! Und ich soll dir helfen?“ fragte ich. „Ach Senta, tu es doch! Du bist doch kein Spielverderber!“ „Gewöhnlich nicht“, stimmte ich zu. „Also gut, ich komme mit.

Was soll ich tun?“ „In die Haut deiner Schwester kriechen, das hast du doch öfters

gemacht!“ „Und ob!“ „Ja, und wenn er fragt, ob du dies oder jenes auf dich nehmen

willst – ich meine, ob Sonja es will – und du nicht so richtig weißt, was du antworten sollst, dann wendest du dich an mich und sagst untertänig, wie es sich für eine gute Ehefrau gehört: ‚Ja, was meinst

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du, Liebling?’“ „Merk dir das mit untertänig sein“, ermahnte mich Rolf. „Und

ich, lieber Schwager, was soll ich tun?“ „Dich fern von Tellus-Touren halten. Geh ins Wochenschau-

Kino oder laufe zweimal um die Alster, oder sieh dir das Rathaus an. Aber sei um 12 Uhr am Bahnhof, vor eurem Gepäckfach. Welche Nummer habt ihr? Hundertsieben, gut, ich habe es mir schon ge-merkt. Sei pünktlich, sonst fahre ich ohne dich mit zwei Frauen nach Kanada! Hier, bezahle auch für mich, hier ist Geld. Ach, ich lade euch ein, dann spart ihr eure Märkchen – tschüs, Rolf, bis nachher!“

Worauf Heiko und ich loszogen, um Direktor Grünbach zu trö-sten.

„Sie sind unser Retter in der Not!“ waren die Willkommensworte des Direktors. „Ich bin besonders froh, daß Sie mitgekommen sind, Frau Brunner. Wie nett, Sie wiederzusehen, Sie haben sich überhaupt nicht verändert seit damals, als Sie bei uns Reiseleiter-Assistentin waren. – Sie sehen noch so aus, als wären Sie siebzehn!“

„Sie müssen zehn Jahre dazugeben, Herr Direktor“ sagte ich. „Tatsächlich? Sind sie wirklich siebenundzwanzig? Aber Sie se-

hen genauso aus wie damals! Also, nun hören Sie bitte zu: Ich möch-te doch so gern, daß diese Reise reibungslos verläuft. Es bedeutet so viel für unser kleines Unternehmen, daß die Kunden zufrieden sind. Und jetzt, Stunden vor der Reise, türmen sich die Probleme! Erstens haben wir einen jungen Reiseleiter, der alles, aber auch alles über Kanadas und Alaskas Geographie und Geschichte weiß. Er ist ein lebendiges Lexikon. Aber nachdem ich vorgestern ein Gespräch mit ihm hatte, mache ich mir Sorgen. Er ist vierundzwanzig Jahre alt und sieht unheimlich jung aus. Als er sich hier vorstellte, trug er einen Vollbart. Nun hat er ihn sich abrasiert und hat ein Gesicht wie ein Babypopo – oh, Verzeihung!

Außerdem ist er still und bescheiden. Ein furchtbar netter Kerl, aber ob er sich als Reiseleiter durchsetzen kann, das bezweifle ich! Aber Sie besitzen Autorität, Herr Doktor Brunner, Sie und Ihre Frau haben es damals bei der Afrikareise glänzend geschafft. Ich bekam lauter Lobesworte nachher von den Teilnehmern zu hören. Wären Sie bereit, unserem jungen und unerfahrenen Reiseleiter beizuste-hen? Und noch etwas: Sie kennen ja die lästigen Tagesabrechnun-gen…“

„Und ob ich sie kenne!“ seufzte Heiko. „Meine Frau und ich sa-ßen manchmal bis Mitternacht dabei!“

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„Lieber Doktor Brunner, wollen Sie es noch einmal tun? Sie können es, und ich habe den starken Verdacht, daß es unserem klei-nen Geographen zuviel wird. Selbstverständlich kriegen Sie dann die Reise umsonst…“

„Aber Herr Direktor, ich muß ja für zwei Tage die Gruppe ver-lassen, ich muß unbedingt nach Saskatchewan und fliege von dort direkt nach Prince Rupert…“

„Ich weiß, ich weiß! Und jetzt kommen Sie dran, gnädige Frau…“ Donnerwetter, dachte ich. Wenn ich gnädig werde, dann hat er was Besonderes auf dem Herzen!

„Könnten Sie für Ihren Mann einspringen, wenn er in Saskat-chewan ist? Mit den Hotelleuten sprechen, bei der Zimmerverteilung behilflich sein, und die Tagesabrechnungen machen?“

Jetzt war der Augenblick da, wo ich Heiko programmgemäß fra-gend ansah und zögernd sagte: „Ja, was meinst du, Liebling?“

„Ach, das schaffst du doch!“ sagte Heiko. „Denk daran, wie gut es in Afrika ging, und jetzt bist du obendrein sechs Jahre älter!“

„Ja – wenn mein Mann meint…“ sagte ich. „Gott sei Dank, dann ist mein größtes Problem erledigt“, äußerte

Direktor Grünbach erleichtert. „Aber es kommt noch mehr. Unser Vertreter drüben hat mir die traurige Mitteilung gemacht, daß man in zwei der Hotels keine Einzelzimmer verschaffen kann, und wir ha-ben zwei ältere Damen unter den Teilnehmern, die sehr deutlich und sehr lautstark auf Einzelzimmer bestanden haben. Das wird ein Theater geben, wenn sie keines kriegen! Nun fiel mir ein, wir haben auch ein junges norwegisches Ehepaar auf unserer Liste – mal sehen, wie heißen sie nun gleich – ja richtig, Skogstad, Zahnarzt – da fiel mir ein, Sie sind doch gebürtige Norwegerin, gnädige Frau?“ Die Gnädige bestätigte es mit Kopfnicken.

„Nun ist es so, diese Appartements – es handelt sich um Vancou-ver und Lake Louise – bestehen aus zwei Räumen, einem Schlaf-zimmer und einem Wohnzimmer, auch mit Schlafgelegenheit. Wenn Sie sich nun mit diesem jungen Ehepaar gut verstehen würden…“

„Das tun wir schon“, lächelte Heiko. „Das ist überhaupt kein Problem! Frau Skogstad ist die Schwester meiner Frau, und wir können selbstverständlich ein gemeinsames Appartement nehmen. Meinst du nicht, Liebling? Nun ja“ – hier guckte der Schalk aus Heikos Augen – „Senta kann ja ein bißchen schwierig sein, sie hat ja so ihre bestimmten Ideen, vielleicht ist es ihr nicht recht…“

„Aber Heiko, wie kannst du so was sagen!“ protestierte ich.

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„Senta ist doch ein entzückender Mensch, ja entschuldige, daß ich das so von meiner eigenen Schwester behaupte, aber sie ist es wirk-lich, und sie macht doch alles mit!“

„Nun ja, eigentlich stimmt es schon“, gab Heiko zu. In lauter Freude und Erleichterung wandte Direktor Grünbach sich wieder zu mir. „Wie reizend, daß Ihre Schwester mitkommt, Frau Brunner! Ist sie auch so charmant wie Sie? Sieht sie Ihnen auch ähnlich?“

„O ja, das kann man vielleicht sagen. Übrigens, Senta ist unbe-dingt die Charmanteste von uns, und mit Abstand die Intelligente-ste!“ Dies verschlug Heiko die Sprache!

„Na na, übertreiben Sie nun nicht, liebe Frau Brunner! Ja, dann hätte ich wohl all meine Sorgen ausgepackt, nur eine Bitte hätte ich noch: Die Gruppe besteht hauptsächlich aus älteren Damen und Herren, Damen natürlich in Majorität, wie immer. Wenn Sie sich ein bißchen um die älteren Damen kümmern würden? Also als eine Art Hosteß mithelfen? Dafür bekommen Sie die Reise zum halben Preis, und – ja richtig, den Ausflug nach Point Barrow, den hatten Sie ja gebucht – ich berechne nichts dafür, wenn Sie da ganz als Reiseleiter fungieren wollen, Doktor Brunner. Denn da fliegt ja nur die Hälfte der Gruppe mit, und Herr Weiden, unser kleiner Geograph, muß sich um die zweite Hälfte kümmern.“

„Gut“, sagte Heiko. „Machen wir!“ „Und ich werde unter die älteren Damen Kopfschmerztabletten

und tröstende Worte verteilen“, versprach ich im Namen meiner nichtsahnenden Schwester.

Ich stand wieder auf der Straße. Heiko war bei Direktor Grün-bach geblieben, um bei ihm den jungen Geographen zu treffen. Das wollte ich nun vermeiden! Fest stand, daß wir den Direktor haushoch an der Nase herumgeführt hatten. Ganz was anderes wäre es, die Komödie einem Menschen gegenüber zu spielen, mit dem wir jetzt drei Wochen gemeinsam verbringen sollten. Heiko hatte bestimmt dasselbe gedacht, denn er sagte freundlich besorgt, wie es sich für einen guten Ehemann gehört: „Ich nehme an, daß du dich jetzt ver-abschiedest, Sonja. Du wolltest doch Besorgungen machen?“

Grade das wollte ich. Es war elf Uhr, ich hatte eine Stunde zur Verfügung, bevor ich meinen im Stich gelassenen Ehemann am Bahnhof treffen sollte.

Also, ich stand auf der Straße und guckte rechts und links. Und – o Freude! – da entdeckte ich, was ich dringend brauchte: einen Fri-seursalon! Nix wie hin!

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Eine halbe Stunde später waren meine schulterlangen Haare kurzgeschnitten. Jetzt bedeckten sie gerade noch das Ohrläppchen. Genau wie bei Sonja.

Noch hatte ich eine halbe Stunde Zeit. Ich eilte durch die Mön-kebergstraße und meine Augen hingen an den Preisschildern in den Läden. Ja, das war was! Blusen im Restverkauf, schrecklich billig!

Vor dem Geschäft zählte ich meine Kröten. Allzuviel deutsches Geld hatte ich nicht. Aber es reichte für zwei gleiche Blusen zum Billigpreis.

Jetzt war es fünf vor zwölf. Ich raste zum Hauptbahnhof und fand die beiden Männer vor dem Schließfach.

„Du freches Biest“, waren die freundlichen Begrüßungsworte meines Schwagers. „Die entzückende und intelligente Schwester kriegst du gelegentlich heimgezahlt. Übrigens soll ich dir diese An-stecknadel überreichen. Du mußt sie tragen, bis wir in London sind. Dann mußt du mit Sonja zum Klo gehen und ihr die Nadel geben. Am besten auch gleich dein Kopftuch.“

„Paßt vorzüglich zu meinen Plänen!“ sagte ich, und machte die Anstecknadel am Revers fest. Heiko trug genauso eine: eine winzige Weltkugel mit „Tellus-Touren“.

„Was für Pläne hast du?“ fragte Rolf inquisitorisch. „Etwas, was mit deiner neuen Frisur zu tun hat?“

„Unbedingt. Ich erzähle es gleich. Aber können wir nicht eine nettere Umgebung finden als gerade hier vor den Schließfächern?“

„Fahren wir doch gleich zum Flughafen“, schlug Heiko vor. „Ich muß sowieso vor der vereinbarten Zeit da sein, ich werde mich mit dem Babypopo treffen.“

„Mit wem?“ fragte Rolf. „Mit einem süßen kleinen Geographen, der wie ein Schuljunge

aussieht. Nun kommt, Kinder, wir gehen rüber zur S-Bahn. Habt ihr eure ganzen Siebensachen zusammen? Nein, ich habe nichts, alles steht im Flughafen! Also los!“

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Sonja und Isabel „Nun paßt mal auf“, fing ich an, als wir uns an einem Tisch im Flug-hafenrestaurant niedergelassen hatten. „Erstens spiele ich natürlich die Rolle als Reisehosteß Sonja Brunner, bis wir in London sind, das ist klar. Und dann kriegt Sonja meine Tellus-Nadel und meinetwegen auch mein Kopftuch und übernimmt selbst die Verantwortung. Ach Heiko, ahnst du, ob Sonja ihren hellen Mantel trägt, den sie sich in Norwegen kaufte?“

„Ganz sicher! Sie hat ihn ja für die Reise gekauft!“ „Fein.- Wie du siehst, habe ich denselben. Also, Sonja kommt

dann vom Klo mit Nadel und Kopftuch zurück. Aber das ist nicht alles. Ich werde sie über alles informieren, was wir mit Grünbach besprochen haben. Ja, Heiko, ich kann es besser als du, weil wir ja ungeniert norwegisch sprechen können. Und dann kommt also mein Plan. Sonja hat sich so wahnsinnig auf diese Reise gefreut, und es wäre furchtbar für sie, wenn sie sich andauernd um diese blöden Hosteßpflichten kümmern müßte, und außerdem noch um die Tages-abrechnungen. Nun werde ich ihr vorschlagen, daß wir uns die Ar-beit teilen. So daß Sonja jedenfalls jeden zweiten Tag frei ist! Des-wegen habe ich mir die Haare schneiden lassen und deswegen habe ich zwei gleiche Blusen gekauft, damit wir nicht immer die Sachen hin und her tragen müssen. Bei den Abrechnungen kann ich nicht helfen, aber um alte Damen kann ich mich kümmern, und blöde Fragen kann ich wahrscheinlich genausogut wie meine Schwester beantworten, und wenn jemand ein Wehwehchen hat, kann ich schon eine Kopfschmerztablette verabreichen.“

„Du liebe Zeit, was habe ich für eine ausgekochte Frau geheira-tet!“ seufzte Rolf.

„Ehrlich gesagt, ich finde es reizend von dir, Senta“, sagte Heiko. „Ich habe mir auch Sorgen gemacht, daß Sonja gar nicht dazu kom-men würde, die Reise in Ruhe zu genießen. Aber wenn sie jeden zweiten Tag wirklich nur begeisterter Tourist sein darf… Daß ihr euch bloß nicht verplappert!“

„In dem Punkt kannst du beruhigt sein“, versicherte ich. „Wir haben unser Leben lang unseren Mitmenschen Schnippchen geschla-gen. Ich habe mich für Sonjas Paß fotografieren lassen, und Sonja hat sich in der Schule gemeldet, wenn ich aufgerufen wurde…“

„Hör auf!“ rief Heiko. „Ich fange langsam an, unsicher zu sein.

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Du, Rolf, glaubst du, daß wir beide die richtige Braut heimgeführt haben?“

„Sicher“, beruhigte ihn Rolf. „Ich habe immer gewußt, daß ich die frechste bekommen habe, und wie du siehst, stimmt es!“

In der Wartehalle fingen unsere Tellus-Touren-Leute an, sich zu versammeln. Sie waren leicht erkennbar durch die grünen Taschen mit ,Tellus-Touren’ drauf, und die grünen Kofferanhänger.

Heiko war schon eifrig ins Gespräch vertieft mit einem jungen Mann mit Tellus-Anstecknadel an der Jacke. Ich wurde ihm als Frau Brunner vorgestellt, und beiläufig erwähnte Heiko, daß seine Schwägerin, meine Zwillingsschwester, sich in London der Gruppe anschließen würde.

„Bringen Sie sie bloß nicht durcheinander, Herr Weiden“, sagte Heiko. „Sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen.“

„Na, dann gucke ich eben nach der Anstecknadel“, lächelte Herr Weiden.

Natürlich hätten wir uns ihm anvertrauen können, aber wir kann-ten ihn ja noch nicht, und wußten nicht, wieviel Verständnis und Humor er aufbringen konnte. Aber ich fühlte mich sicher. Jetzt mit meinen kurzen Haaren und mit dem Mantel genau wie Sonjas! Da konnte kein Mensch außer unseren Ehemännern den Unterschied sehen!

Im Flugzeug konnte ich mich ganz entspannen und mich auf norwegisch mit Rolf unterhalten. Nur mußten wir Händchenhalten und andere Liebesbeweise vermeiden. Vorläufig war ich ja Rolfs Schwägerin!

Es dauerte unglaublich kurze Zeit, dann wurde die Landung in London angesagt. Da unten irgendwo stand nun meine Schwester und ahnte nichts davon, was auf sie zukam!

Ich sah sie gleich in der Wartehalle, versteckte mich hinter Heiko und wartete, bis er ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte.

Dann tauchte ich hinter Heiko auf. „Nein!“ rief Sonja. „Das ist doch nicht wahr! Das kann nicht wahr sein! Menschenskind, bedeu-tet dies, daß du mitkommst?“

Zum Glück rief sie das alles auf norwegisch. „Genau das – und Rolf habe ich auch im Schlepptau. Sonnie,

komm schnell mit aufs Klo, ich muß dir etwas erklären!“ Wir verschwanden so schnell hinter der Tür für „Ladies“, daß

wohl kaum jemand von der Gruppe es registriert hatte, daß die „Rei-sehosteß“ sich verdoppelt hatte. Und als sie es entdeckten, trug Sonja

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schon meine Anstecknadel und mein rotes Kopftuch, und ich hatte ihr ganz schnell das Wesentlichste von unserem Gespräch mit Direk-tor Grünbach erzählt.

„Ja, und Sonnie, die Dicke mit dem weißen Haarknoten, Frau Hacker heißt sie – die hat mich in Hamburg gefragt, ob wir im Flug-zeug Mittagessen bekommen. Ich sagte ja – daß du es nur weißt. Und dann die Lange, Magere mit dem Muttermal am Kinn, die spricht kein Englisch, ich versprach ihr behilflich zu sein, als ob ich das könnte – warte mal, hier ist die Teilnehmerliste, ja, die ist es, Frau oder Fräulein Franzen. Ja, und dann habe ich dem kleinen Weiden erzählt, daß ich mich in Afrika als Reiseleiter-Assistentin betätigt habe.“

„Ja, aber Senta, war es denn notwendig, diese ganze Komödie zu spielen?“

„Klar! Du kriegst eine dicke Preisermäßigung, weil du freundli-cherweise als Hosteß mitkommst, und dann darfst du dich nicht jeden zweiten Tag von einer unwissenden Schwester vertreten las-sen!“

„Nun ja, also gut“, sagte Sonja. „Aber von dem Geld, das ich zu-rückbekomme, kriegst du dann die Hälfte!“

„Mensch!“ rief ich begeistert. „Dann kann ich den todschicken Hosenanzug kaufen, für den ich in Oslo kein Geld hatte! Ich schreibe Beatemutti, sie soll ihn mir zurücklegen lassen!“

Dann war es soweit. Die vier Triebwerke des Jumbo-Jets heulten auf, wir sausten über

die Startpiste, und dann kam der kleine Ruck, der uns klarmachte, daß wir den festen Boden verließen. Ich bin öfters geflogen, aber trotzdem habe ich immer ein bißchen Kribbeln im Magen, wenn eine solche Riesenmaschine sich in die Lüfte hebt.

Wir hatten in einer der viersitzigen Mittelreihen Plätze bekom-men. So konnten wir alle vier zusammen sein. Vorläufig wurden die Fluggäste von reizenden Stewardessen betreut. Heiko, Sonja und Herr Weiden durften Privatmenschen sein, und Rolf und ich erst recht!

Mein persönlicher Privatmensch saß schon tief vergraben in einer der amerikanischen Fachabhandlungen, die er nach unserem fleißi-gen Sprachstudium besser lesen konnte. Heiko unterhielt sich quer über den Gang mit Herrn Weiden über die Sorgen und Nöte im Rei-seleiterberuf. Und so konnten Sonja und ich nach Herzenslust in unserer Muttersprache plaudern.

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Das Essen wurde gereicht, und ich habe es genossen! Ich finde es immer so spannend, wenn die „Gulaschkanone“, wie mein lieber Schwager sagt, angerollt kommt, und die schönen Tabletts verteilt werden.

Wenn man wie ich aus Profession Köchin ist, genießt man es, „mal was anderes“ zu kriegen, etwas, was von anderen Menschen zubereitet ist. Nun ja, ich bin ja eigentlich ausgebildete Diätköchin, aber ich kann auch für normale Menschen kochen und tu es furchtbar gern. Als ich fünfzehn war, habe ich Beatemutti aus der Küche ver-trieben, und meine arme Familie mußte sich durch all meine Expe-rimente durchessen. „Ein Glück, daß wir alle gesund und wider-standsfähig sind“, seufzte Papa, wenn ich meiner Kochphantasie allzu freie Zügel gelassen hatte!

Aber trotzdem, ich genieße es sehr, mich in puncto Essen überra-schen zu lassen. Und die delikaten Flugzeugmenüs genieße ich ganz besonders!

Bald gab es aber was anderes zu genießen. Herr Weiden war auf-gestanden, guckte zum Fenster raus und kam zu uns zurück.

„Jetzt müssen Sie rausgucken! Wir überfliegen gerade die Süd-spitze von Grönland!“

Es war ein märchenhafter Anblick. Das Meer war strahlend blau, und überall waren größere und kleinere Ansammlungen von Treibeis zu sehen. „Das sind also die gefürchteten Eisberge?“ fragte ich.

Herr Weiden erklärte bereitwillig, daß das, was wir als kleine Treibeisstücke sehen konnten, nur die oberen Spitzen von ganz gro-ßen, für die Schiffahrt ungeheuer gefährlichen Eisbergen sein könn-ten. Er erzählte von Grönland, wo die Küsten jetzt im Sommer eis-frei waren, von den Eskimos und wie sie sich im Winter gegen die Kälte schützten. Er wußte über alles Bescheid, er sprach plötzlich mit der Autorität des sicheren Fachmannes, und man vergaß für eine Weile sein kindliches Gesicht und sein bescheidenes Wesen.

„Wollen Sie nicht der ganzen Gruppe etwas erzählen?“ schlug Heiko vor. „Es wird doch bestimmt die Teilnehmer interessieren!“

Das tat er auch. Auch andere Fluggäste, die gar nichts mit unserer Zwanzig-Personen-Gruppe zu tun hatten, horchten und stellten Fra-gen, die alle klar und ausführlich beantwortet wurden.

„Wenn ich den Kleinen so höre“, sagte Heiko, „dann verstehe ich, daß Grünbach ihn engagiert hat. Aber er hätte seinen Vollbart behalten sollen!“

Tante Christiane behielt recht: Unsere Uhren zeigten bald ganz

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verkehrt an. Es wurde und wurde nicht Abend! Immer noch strahlte die Sonne, wir kamen aus dem schönen Nachmittagslicht gar nicht raus!

Ein junges Mädchen aus unserer Gruppe kam zu uns. „Entschul-digen Sie, Sie sind ja die Reisehosteß…“ Plötzlich stockte sie. Sie sah ganz verwirrt von Sonja auf mich, von mir auf Sonja.

„Sie sehen nicht doppelt!“ half Sonja. „Wir sind wirklich zwei. Zwillinge, wie Sie vielleicht erraten können!“

„Ja, aber in Hamburg war ja nur eine…“ „Ja, meine Schwester ist in London zugestiegen“, log Sonja in

gekonnter Weise. „Kann ich etwas für Sie tun, Fräulein…“ sie guck-te in die Teilnehmerliste – „ja, Sie sind bestimmt Fräulein Lander?“

Das Mädchen zeigte mit dem Finger in die Liste. „Ja, da – nein, nicht Elise Lander, das ist meine Mutter – ich bin Isabel.“

Sonja lächelte zuvorkommend. „Was für ein hübscher Name! Hätten Sie etwas auf dem Herzen, Isabel?“

„Ja, ich wollte nur fragen – wissen Sie vielleicht, ob man hier im Flugzeug zollfreie Sachen kaufen kann? Zum Beispiel eine Flasche Whisky?“

Whisky! Plötzlich erinnerte ich mich. Ich hatte in dem Duty-Free-Shop, dem „Zollfreiladen“, im Hamburger Flughafen Schoko-lade gekauft. Neben mir hatte ein junges Mädchen gestanden und so viel Whisky gekauft wie es beim Vorzeigen der Bordkarte kaufen durfte. Natürlich! Sie war es, die Isabel!

„Ich glaube schon“, sagte Sonja. „Ich werde es gleich ergrün-den.“

„Kaufen ist eins, es durch den Zoll zu kriegen ist was anderes“, wagte ich, mich einzumischen.

„Nun, eine Flasche kann man bestimmt anstandslos einführen“, meinte Sonja.

Isabel biß sich auf die Lippe. „Ach, nur eine – wissen Sie, ich möchte doch meinem Onkel in Vancouver eine Flasche als Geschenk mitbringen… und eine wollte ich… wollten Mutti und ich bei uns behalten, ich habe gerade eine Grippe gehabt, und… und…“

„Na, wenn Sie eine Flasche zuviel haben, dann kann ich sie in meine Tasche stecken“, sagte Heiko gutmütig. „Ich trinke allerdings nie harte Sachen, aber das weiß der Zöllner ja nicht!“

Als Isabel in meine Nähe kam, um Heiko die Flasche zu reichen, merkte ich es: Sie hatte eine unverkennbare Alkohol-‚Fahne’.

Ich sagte leise zu Sonja, als Isabel weitergegangen war: „Du, da

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stimmt was nicht. Sie hat in Hamburg eine Flasche gekauft. Warum konnte dann die Mutti nicht die Flasche für den Onkel einstecken, die sie anscheinend hier kaufen will?“

„Das kann ja gut werden“, meinte Sonja, „wenn wir unter den Passagieren eine Alkoholikerin haben. Dann ist es gut, daß die Ho-steß sozusagen mit Durchschlag existiert!“

Wir hatten norwegisch gesprochen, aber im Laufe der Zeit hatte Heiko soviel von unserer Muttersprache gelernt, daß er es einiger-maßen verstehen konnte. Wie Sonja sagt: „Der Kerl versteht immer das, was er nicht verstehen sollte!“

„Der Witz mit dem Durchschlag stammt von mir!“ sagte Heiko. „Ich bin mir nie so ganz sicher, wer von euch das Original und wer die Kopie ist!“

Wir hatten jetzt ein Auge auf Isabel. Sie wanderte durch die Gänge, das durften wir tun, denn das Flugzeug war nicht voll besetzt. Jetzt verschwand sie in dem kleinen Quergang zur Toilette. Gleich darauf kam Frau Lander zu uns. Ob wir die Tochter gesehen hätten? Ja, erklärte ich, sie sei zur Toilette gegangen.

Nach einigen Minuten sah ich sie wiederkommen. Sie blieb ste-hen, wischte sich den Mund ab, begrub etwas in ihrer Flugtasche und holte eine Pastillenschachtel aus der Jackentasche. Ich kannte die Packung. Es waren Hustenbonbons mit einem starken Eukalyptusge-schmack.

Es war keine große Kunst auszurechnen, was sie in der Tasche verstaut hatte, und warum sie so eine Pastille in den Mund steckte.

Da fiel mir ein Zeitungsartikel ein, den ich neulich gelesen hatte. Es wurde dort behauptet, jetzt seien nicht mehr Hasch oder LSD das größte Jugendproblem. Das schlimmste sei der Alkohol. Es wurde von Alkoholmißbrauch sogar unter Schülern geschrieben.

Die arme Isabel! Ob sie schon ein Opfer des Alkohols war? Dann kam Herr Weiden zurück von seiner „Aufklärungsrunde“.

In der Hand hielt er eine Flasche. „Na, Einkäufe gemacht?“ fragte Heiko. „I wo! Nein, eine junge Dame fragte mich, ob…“

Ich hörte nicht mehr hin. Ich wechselte schnell einen Blick mit Sonja.

Und sie sagte leise in unserer Muttersprache: „Wenn sie einen Onkel in Vancouver hat, dann fresse ich dein rotes Kopftuch!“

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Per Schiff in ein Blumenparadies Wenn ich jemals gefragt werden sollte, ob ich mal in Toronto war, wüßte ich nicht was ich antworten sollte. Ich habe meine Füße auf Torontos Boden gehabt, also bin ich da gewesen. Aber nicht mehr als eine Viertelstunde! Wir sollten hier in ein anderes Flugzeug um-steigen. Da wir mit etwas Verspätung ankamen, wurden wir nur von einem langbeinigen jungen Mann in Uniform durch ein paar lange Gänge getrieben, und schon saßen wir im neuen Flugzeug. Heiko und Herr Weiden zählten ihre Schäfchen, halfen das Handgepäck tragen, beantworteten Fragen – und kaum hatten wir uns ange-schnallt, ging es in die Luft!

Jetzt wurde es endlich dunkel, nach einem unfaßbar langen Tag. Mein Körper war noch auf den europäischen Zeitrhythmus einge-stellt und sehnte sich nur nach einem Bett. Aber mein Geist war, wenn auch übermüdet, sehr wach und voll Vorfreude auf alles, was wir jetzt vor uns hatten.

In diesem Flugzeug hatten wir Fensterplätze, und bei dem Ein-flug über Vancouver glaubte ich beinahe, daß die Fensterscheibe eine Beule bekam, so habe ich die Nase dagegengedrückt!

Rolf ging es nicht anders. Nur, glaube ich, waren seine Gedanken etwas anders als meine. Ich dachte immer, was für ein prachtvoller Anblick, was für ein Lichtermeer, all diese Farben von den Lichtre-klamen – und welche Ausdehnung hat doch die Stadt! Aber ich wette darauf, daß mein Göttergatte ungefähr so dachte: Irgendwo da unten ist das Gebäude, in dem der Kongreß morgen stattfinden wird – in irgendeinem von diesen unzähligen Häusern sitzt der liebe Professor Simmons, der sich für meine Arbeit interessiert.

Dann war es soweit. Herr Weiden, Heiko und Sonja hatten bei der Ankunft genug zu

tun. Es ist so eine Sache, zwanzig zum Teil unerfahrene und zum Teil auch nicht Englisch sprechende Menschen zusammenzuhalten, sie zu beruhigen und aufzuklären. Dazu kam, daß alle schrecklich übermüdet waren.

Es dauerte lange, bis wir alle Formalitäten erledigt hatten. Die Paßkontrolle war sehr genau – ja richtig, da mußten wir aufpassen! An den Tagen, wo ein Grenzübergang uns bevorstand, mußte Sonja schon selbst Dienst machen. Es könnte zu leicht passieren, daß ein Gruppenteilnehmer einen Blick auf den Paß warf. Denn die, die von

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uns die Anstecknadel und das rote Kopftuch hatte, mußte einen dun-kelgrünen deutschen Paß haben und nicht einen feuerroten norwegi-schen!

Noch genauer war die Kontrolle des Handgepäcks. Zuletzt muß-ten wir einzeln durch eine Art Tor oder Tunnel wandern, wo ein Piepston zu hören war, wenn wir etwas aus Metall am Körper hatten.

Viele mußten ihre Taschen leeren. Da kam Kleingeld zum Vor-schein, da waren Schlüssel, Zigarettenetuis, Feuerzeuge, Pillendö-schen und was man so an Kleinkram in die Jacken- oder Mantelta-schen steckt.

Diese strenge Kontrolle war mir neu. Sonja konnte mir erzählen, daß dasselbe Theater uns bei jedem Grenzübertritt erwartete. Sie kannte es aus Afrika und von ihrer Australienreise.

Endlich, endlich war die ganze Meute in einem Bus verstaut. Die kleine Isabel sank wie ein Waschlappen zusammen auf ihrem Sitz, machte die Augen zu und war für die ganze kanadische Welt verlo-ren. Heiko half der Mutter, das Handgepäck zu verstauen.

„Ach ja, richtig, ich habe ja hier etwas, was Ihrer Tochter ge-hört!“ erinnerte sich Heiko. „Darf ich Ihnen das gleich geben, ehe ich es vergesse?“

Da stand Frau Lander mit einer Flasche in der leicht erkennbaren Verpackung vom Hamburger Flughafen in der Hand. Ich beobachte-te ihr Gesicht. Einen Augenblick flog ein Ausdruck von Schmerz und Hilflosigkeit über ihre Züge. Dann brachte sie ein Lächeln zu-stande und bedankte sich bei Heiko.

Mit meinen letzten Kräften raffte ich mich zusammen und beo-bachtete, wie das Zimmerverteilen vor sich ging. Die Schlüssel wur-den dem Reiseleiter ausgehändigt, die Gruppenteilnehmer mußten sich der Reihe nach eintragen und dann wurden die Zimmer verteilt nach der Liste. Es kam ein bißchen Unordnung in das genau festge-legte Programm, als Frau Hacker sich in gepflegtestem Oxfordeng-lisch an den Empfangschef direkt wendete wegen des Einzelzim-mers. Zum Glück verstand sie nicht so ganz seine amerikanische Aussprache. Heiko konnte sich schnell einschalten und ihr erklären, daß es in Ordnung sei, sie bekäme ein Zweibettzimmer ganz allein. Ebenso die lange magere Frau Franzen. So waren alle zufrieden bis auf das Zimmermädchen, das in unserem Appartement zwei Betten extra beziehen mußte. Aber ein Geldstück von Heiko machte ihr die Arbeit scheinbar angenehmer.

„Du grüne Neune!“ rief Sonja, als wir endlich unser Appartement

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betreten konnten. „Habt ihr so was schon gesehen! Guck, Senta, eine Küche ist auch dabei“, sie riß ein paar Schranktüren auf. „Mit Koch-töpfen – und Tellern und Bestecken – sag mal, ist denn alles hier auf Selbstbedienung eingestellt?“

„Zum Teil wohl“, meinte Heiko. „So war es auch in Alaska.“ „Wenn wir also in den Lokalen einen Schlangenfraß kriegen,

können wir selbst kochen!“ meinte ich. „Jedenfalls können wir Morgenkaffee machen, und das tut not“,

erklärte Heiko. „In puncto Kaffee macht euch auf alles gefaßt. Aber Kinder, jetzt in die Betten, wir müssen morgen scheußlich früh auf-stehen. Rolf und Senta, nehmt ihr das Schlafzimmer, ich muß ja noch früher auf – packt nur das Allernotwendigste aus und macht eine Katzenwäsche!“

Das brauchte er uns nicht zweimal zu sagen. Nach zehn Minuten sanken wir in die Betten. Auf Rolfs Nachttisch lag ein Briefchen, das ihm gleich bei der Ankunft überreicht worden war. Er möge morgen früh gegen acht Professor Simmons anrufen.

Ob das glückliche Lächeln, das noch im Schlaf auf seinem Ge-sicht stand, Vancouver, Professor Simmons, dem schönen Flug oder der Anwesenheit meiner Wenigkeit zuzuschreiben war, weiß ich bis heute nicht. Aber ich tippte auf den Professor.

Es war erst halb sechs morgens, als die Gruppe – unbarmherzig per Zimmertelefon geweckt – sich in der Hotelhalle versammelte. Alle bis auf meinen Angetrauten, der noch zwei Stunden im Bett bleiben konnte. Er hatte mir eben einen verschlafenen Kuß gegeben und „viel Vergnügen“ gesagt. Dann schlief er wieder und ich stellte vorsorglich den Reisewecker auf halb acht, und entfernte ihn so weit weg vom Bett, daß Rolf ihn nicht aus alter Gewohnheit abstellen konnte.

Wir hatten heute ein tagesfüllendes Programm. Allerdings wuß-ten wir nicht, daß es mit einem erfrischenden Fußmarsch anfangen sollte. Es war zu früh, um Frühstück im Hotel zu kriegen, und Herr Weiden führte uns zielbewußt durch morgenstille Straßen zu einem „Rund-um-die-Uhr“-Lokal, wo wir an zwei langen Tischen Plätze bekamen.

„Jetzt will ich hot cakes mit maple syrup essen!“ verkündete Son-ja. „Das habe ich in Honolulu gegessen und sie schmecken unwahr-scheinlich gut!“

„Marplesirup? Sind sie nach Miß Marple in den Agatha-Christie-Krimis benannt?“ wollte ich wissen.

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„Nicht Marple, du Schaf! Maple ohne r! Es bedeutet Ahorn“, be-lehrte mich meine Schwester. „Heiße Kuchen mit Ahornsirup!“

Da ich mich beruflich verpflichtet fühlte, immer neue Gerichte kennenzulernen, bestellte ich auch die „hot cakes“. Heiko und Sonja waren den Gästen behilflich bei den Bestellungen und der Verstän-digung. Ich sah mir die Teilnehmer der Reihe nach an. Wer war zum Beispiel der dünne, dunkelhaarige, nervös wirkende Mann mit der großen Filmkamera?

„Ach der!“ konnte mich Herr Weiden aufklären. „Der ist mein Zimmergenosse. Er hat schon über das frühe Aufstehen gemeckert, und über das Essen im Flugzeug. Außerdem hat er gestern abend Schlaftabletten geschluckt und war heute um fünf kaum wachzukrie-gen. Er heißt – wie war das nun gleich – Balberg, ja, richtig. Und der mit der großen Brille ist Doktor Scherning, rechts neben ihm seine Frau. Dann Frau Lander mit Tochter…“

„Ja, die kenne ich!“ Isabel sah elend aus. Leichenblaß und mit matten, müden Augen.

Die Mutter wirkte auch nicht gerade taufrisch. Sonja und Heiko kamen zurück zu ihren Plätzen. Jetzt ergriff

Herr Weiden das Wort. Während wir auf das Essen warteten, erzähl-te er uns, was wir vor dem heutigen Ausflug wissen mußten. Wir würden per Schiff rüber zu der großen „Vancouver Island“ fahren. Auf dieser Insel läge die eigentliche Hauptstadt von British Colum-bien, eine wunderbare Stadt mit dem Namen Victoria. Da würden wir essen. Und nachmittags sollte es nach den weltberühmten ‚Butchart’s Gärten’, zwanzig Kilometer von Victoria entfernt, gehen.

Es wurde dies und jenes gefragt, und Herr Weiden hatte sichere, ausführliche und schnelle Antworten. Er war wirklich, wie Direktor Grünbach gesagt hatte, ein lebendiges Lexikon!

Er konnte auch erzählen, daß diese Insel zu derselben „Faltformation“ des Gebirges gehörte, wie die Rocky Mountains.

Das Frühstück kam, die hot cakes waren vorzüglich. Während wir aßen, fragte ich Herr Weiden, ob er schon diese Reise gemacht habe. Ja, er hätte voriges Jahr eine Studentengruppe geführt. „Aber da wohnten wir nicht in einem so feinen Hotel“, lächelte er. „Damals habe ich übrigens dieses Lokal entdeckt, deshalb habe ich Sie heute hierhergeführt. Es liegt ja auch so bequem in der Nähe unseres Ho-tels.“

Die gute Laune stieg, es wurde lebhafter an unseren Tischen. Al-lerdings drohte eine kleine Katastrophe, als der Kaffee serviert wur-

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de. Es war eine dünne, hellbraune, beinahe durchsichtige Brühe, die nur dadurch genießbar wurde, daß Heiko aus seiner Reisetasche ein großes Glas Pulverkaffee zauberte, aus dem sich alle der Reihe nach bedienten!

Die meisten nahmen die dünne Brühe mit Humor hin. Einer be-hauptete, wenn dies Kaffee sei, hätte er sich sein Leben lang in Kaf-fee gewaschen. Ein anderer meinte, nichts gehe über eine Tasse gekochtes Wasser morgens, es sei so gut für die Gesundheit! Nur der nervöse Herr Balberg meckerte, sauer und humorlos. Er werde sich bei Tellus-Touren beschweren. Was sei das für eine Reise, wo man nicht einmal eine anständige Tasse Kaffe kriegen könnte!

Na, an dem Zeitgenossen würden wir bestimmt viel Freude ha-ben!

Dann ging es zum Hafen, wo unser Bus an Bord des Schiffes rollte, zusammen mit vielen anderen Bussen, Lastautos und Perso-nenwagen. Wir konnten uns überall frei auf dem Schiff bewegen, brauchten also nicht in der Gruppe zu bleiben. Wie schade, daß Rolf nicht dabei war! Jetzt war es acht Uhr, jetzt rief er seinen Professor an. Möge dieser Tag für ihn so erfreulich werden wie er hoffte!

Ich stand an der Reling und dachte an meinen Mann. Es war sehr kühl. Ich zog den Mantelkragen hoch und suchte hinter einer Art Aufbau Schutz gegen den Wind.

Plötzlich rührte sich etwas hinter dem Aufbau. Eine Frau ging zur Reling, guckte schnell rechts und links. Dann nahm sie etwas aus ihrer Reisetasche und warf es über Bord.

Ich hatte gesehen was es war: ein weißer Karton mit roten Buch-staben und Goldrändern. Die Packung der Whiskyflasche vom Flug-hafen Hamburg. An der Armbewegung der Frau hatte ich erkennen können, daß es sich um einen schweren Gegenstand handelte. Es war kein leerer Karton, der langsam, vom Wind gesteuert, ins Wasser fiel. Es war etwas, das richtig reinplumpste und sofort sank.

Die Frau drehte sich um und ging in einen der Aufenthaltsräume im Inneren des Schiffes. Es war wie ich dachte. Es war Frau Lander, Isabels Mutter.

Sie hatte eine unangebrochene, teure Whiskyflasche ins Meer geworfen.

Es schlug uns eine Hitzewelle entgegen als wir an Land stiegen. Der Unterschied zu der kalten Frische an Bord war erheblich. Es wurden Mäntel ausgezogen, Jacken und Wollpullis häuften sich auf den Gepäckablagen im Bus.

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Überall war es herrlich grün, da waren unzählige verschiedene Bäume, zum Teil Arten, die mir ganz unbekannt waren. Während der Busfahrt ergriff Herr Weiden das Mikrophon und erzählte von James Cook, der diese Insel für „Hudson Bay Company“ entdeckt hatte. Damals wurde eine Pelzfänger-Station hier errichtet. Jetzt stand alles im Zeichen der Holzindustrie.

„Es erinnert tatsächlich an Norwegen“, meinte Sonja, und sie hat-te recht! Wald und Holz, große Sägemühlen, ungeheure Mengen Holzstämme – genau wie man es in den ostnorwegischen Tälern sieht.

Dafür war die Hauptstadt Victoria bestimmt nicht nach norwegi-schem Muster! Es war eine wunderbare Stadt, mit breiten Straßen, mit viel Licht und Luft – und Blumen!! Herrliche Parkanlagen, und das allerschönste waren – die Laternenpfähle! An jedem Pfahl waren zwei große Blumenkörbe angebracht, aus denen märchenhafte Blu-menranken in Rot und Goldgelb, in Blau und Lila und Rosa herun-terquollen. Der unerschöpfliche Herr Weiden erzählte uns, daß sechshundert solcher Laternenpfähle in der Stadt existieren.

Wir konnten uns hier wie freie Menschen bewegen, nur hatten wir strengen Bescheid, Punkt 14 Uhr im Bus zu sein. Die Zeit war knapp, wir wollten doch zu den Butchard-Gärten und nachher zum Schiff, das nicht auf eine zu spät kommende europäische Reisegrup-pe warten würde.

Also aßen wir ganz schnell ein Steak in einem kleinen Lokal mit dem verlockenden Namen ‚The Pancake House’. Ein Pfannkuchen-haus war es allerdings nicht, es duftete intensiv nach gebratenem Fleisch und gebackenen Kartoffeln. Herr Weiden nahm es auf sich, zu bestellen, und schritt zur Theke. Als dann die Steaks kamen, konnten wir kaum unsere Enttäuschung beherrschen. „So was!“ rief ich. „Ich denke, wir sind im Lande der Steaks, und dann können sie das Fleisch nicht einmal richtig braten! Ein Steak soll doch innen rosa sein, und ich persönlich esse es am liebsten ganz blutig!“

Herr Weiden sah ganz unglücklich aus. „Da bin ich dran schuld“, bekannte er. „Als ich die Studenten führte, habe ich immer für die ganze Gruppe bestellt, das einfachste war, alle Steaks ,well done’ zu verlangen, und…“

„Ja, sehen Sie“, sagte Heiko gutmütig, „eine Gruppe mit so ver-schiedenen, zum Teil auch älteren Menschen zu betreuen ist viel schwieriger als eine einheitliche Studentengruppe. Ich würde Ihnen raten, die Leute selbst bestellen zu lassen, wir müssen eben nur ein

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bißchen mit der Übersetzung helfen. O ja, es ist komplizierter als der Dreh, den Sie kennen. Aber schließlich wollen Sie doch eine zufrie-dene Gruppe haben?“

„Sehen Sie nicht so unglücklich aus, Herr Weiden“, tröstete ich. „Mein Mann sagt zwar, daß ein durchbratenes Steak ein Scheidungs-grund sei, und ich gebe ihm recht. Ich esse es ,saignant’, meine Schwester ‚medium’ und mein Schwager ist Allesesser.“

„Woher hast du bloß diese englischen Kenntnisse?“ fragte Heiko. „Das ist nicht in erster Linie englisch, es ist internationale Kü-

chensprache! ,Saignant’ ist übrigens französisch und nicht englisch, es bedeutet ,blutig’, falls du es nicht weißt!“

„Ich kann es mir schon denken“, sagte Heiko und schnitt tapfer in sein durchbratenes ‚well done’-Steak.

„Wenn es bloß heute abend gut geht“, kam es kummervoll von Herrn Weiden.

„Heute abend? Ach ja, richtig, dann essen wir doch in einem be-rühmten Lokal, das sich immer so dreht, wie ein Karussell?“

„Ja, und da habe ich schon das Menü bestellt, ich lief schnell hin zwischen Frühstück und Busstart – ich dachte nicht daran, daß…“ Er sah so jung und unglücklich aus, daß er mir direkt leid tat.

„Oh, das wird schon gehen! Wenn etwas komisch schmeckt, dann sagen Sie, daß es eine Spezialität ist, und daß man Vancouver nicht verlassen kann ohne das gekostet zu haben!“

Ich hätte gern mehr von dieser schönen Stadt gesehen. Aber alles war ja auf die Minute ausgerechnet, und jetzt standen also die be-rühmten Gärten auf dem Programm.

Unterwegs erzählte Herr Weiden per Lautsprecher, daß diese Gärten von einem Ehepaar Butchard angelegt wurden, und zwar in den Resten eines stillgelegten Steinbruchs. Jetzt wurden in der Blu-menanlage dreihundert Gärtner beschäftigt, und jedes Jahr bewun-derten unzählige Touristen diese Anlage.

Dazu gab es allen Grund. Etwas Schöneres habe ich nie in mei-nem Leben gesehen! Es war eine Explosion von Farben, von Schön-heit, von Duft! Herrliche Kletterrosen rankten sich um kanadische Bäume, deren Namen ich selbstverständlich vergessen habe. Blü-hende Sträucher, exotische, farbenprächtige Blumen aus allen Erdtei-len – da eine bezaubernde Laube, hier eine kleine japanische Brücke – dann ein sprudelnder Wasserfall, der in einem märchenhaften, kleinen See endete. Dort ganz was Seltenes, ‚Blauer Mohn’ – da japanische Kirschen, dann plötzlich ein kleiner Springbrunnen, von

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unzähligen Blumen gesäumt. Und überall Rosen, Rosen, in allen Schattierungen, in allen Arten – es war eine solche Schönheitsoffen-barung, daß einem die Sprache wegblieb!

Die Anlage war auch enorm groß. Zehn Hektar, erzählte der all-wissende Herr Weiden. Kein Wunder, daß man hier dreihundert Gärtner brauchte!

Aber wie war es hier heiß! Das Thermometer war auf beinahe 90 Grad Fahrenheit gestiegen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich das komplizierte Umrechnungssystem: Von der Fahrenheitzahl 32 abzie-hen, den Rest durch 9 teilen, das Resultat mit 5 multiplizieren, und schon wußten wir, wieviel Grad Celsius wir hatten!

Wir hatten augenblicklich 86 Grad. 86 weniger 32, das gab 54, durch 9 machte 6, mal 5 – wir hatten 30 Grad Wärme!

Die Getränkebuden am Ausgang der Gärten wurden gestürmt! Es war Nachmittag geworden, und wir mußten zurück zum

Schiff. Wir waren alle müde, verschwitzt und voll Staub. Die Stimmung

war etwas gedämpft. Die meisten von unserer Gruppe machten ein Nickerchen, was bestimmt sehr vernünftig war. Denn heute abend sollten wir ja fein ausgehen!

Ob Rolf zurück im Hotel war? O wie wünschte ich für ihn, daß dieser Tag ihm all das gegeben hatte, was er sich erhoffte!

Ich verkroch mich in eine Ecke im großen Aufenthaltsraum. Meine Lider waren schwer. Alle Geräusche um mich wurden immer gedämpfter, sie störten mich nicht mehr. Es war mir nicht mehr be-wußt, daß ich einen halben Erdumkreis weg von zu Hause war, ich dachte nicht daran, daß ich auf einem Schiff zwischen Vancouver Island und der kanadischen Küste war. Vor meinen Augen flimmer-ten rote Rosen, blauer Mohn, bunte Zinnien, schneeweiße Lilien – und in einer blumengekleideten Laube saß Rolf und aß ein durchge-bratenes Steak.

Ich schlief fest.

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Echte Ehefrau und falsche Hosteß Es war halb acht abends, als unser Bus eine staubige, verschwitzte und müde Gruppe vor dem Hotel ablieferte.

„Also, nachher geht es zum Essen in ein sehr schönes Lokal“, verkündete Herr Weiden. „Die Herren werden gebeten, Jackett und Krawatte zu tragen. Treffen wir uns dann hier in der Halle in einer Viertelstunde?“

Ein mehrstimmiger Ruf des Entsetzens erklang aus zehn Frau-enmündern.

„Glauben Sie, daß wir hexen können? Eine Viertelstunde, um zu duschen, sich umzuziehen, die Haare in Ordnung zu bringen, das Gesicht aufzufrischen! Eine halbe Stunde ist das wenigste!“

Die energische Frau Hacker guckte auf die Uhr. „Es ist jetzt fünf nach halb acht. Zehn Minuten nach acht werden wir hier sein!“ Dann strömten alle zu den Aufzügen, die Damen voran. Heiko sah Herrn Weiden lächelnd an. „Ja, sehen Sie, habe ich das nicht gesagt? Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Studentengruppe und einer Gruppe älterer Menschen! Sie begnügen sich nicht damit, die Hände zu waschen und eine Krawatte umzubinden! Ja, und Herr Weiden, denken Sie bitte daran, daß die Teilnehmer selbst ihre Ge-tränke zahlen? Und die Rechnung fürs Essen geben Sie mir bitte nachher, ich habe ja Direktor Grünbach versprochen, diese Arbeit zu übernehmen!“

Und das ist gut, dachte ich. Sonst würden wir jeden Tag ein Hamburger und eine Flasche Mineralwasser und ein Schälchen Kompott hingestellt bekommen, und fertig wäre die Laube!

Inzwischen hatte Sonja festgestellt, daß unser Zimmerschlüssel nicht da war. Also mußte Rolf gekommen sein! Ich raste nach oben und fand einen strahlend glücklichen Ehemann in einem blütenwei-ßen Hemd und mit seiner schönsten Krawatte vor.

„O Rolf, ich bin so gespannt – aber jetzt habe ich keine Zeit, wir müssen in einer halben Stunde unten sein.“

„Du nicht!“ erklärte Rolf und küßte meine verschwitzte Wange. „Laß Sonja den Vortritt im Bad, wir beide werden bis um halb neun von Professor Simmons und seiner Frau abgeholt! Wir sind groß eingeladen worden, es gibt Essen in Vancouvers berühmtestem Lo-kal! Hol nur das gute Kleid aus dem Koffer. Und wenn du irgend etwas Schmuckähnliches mit hast, dann such es raus!“

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Ich hatte ein paar Stücke Modeschmuck mit. Ich wußte durch meine weitgereiste Schwester, daß man auf Reisen nie echte Sachen mitnehmen soll. Besagte Schwester machte gerade ein Blitzbad, vergaß in der Eile, daß Rolf da war, und erschien äußerst spärlich angezogen.

„Macht nichts“, tröstete Rolf. „Ich gucke nicht hin, und wenn schon, es regt mich nicht auf, denn ihr seht ja ganz gleich aus, mit oder ohne Kleider!“

„Wie kannst du das wissen?“ fragte Heiko inquisitorisch und ver-schwand ins Bad.

Als die beiden weg waren, konnte Rolf endlich die Schleusen seines angestauten Redeflusses aufmachen. Während ich die Haare bürstete und ein bißchen Lidschatten auflegte, und Rolf mir den Reißverschluß hinten zumachte, purzelten die Worte nur so aus ihm heraus. Er hätte den Vortrag überraschend gut verstanden, hätte nachher ein langes Gespräch mit Professor Simmons gehabt, hätte mit ihm und ein paar englischen und amerikanischen Kollegen zum Lunch gegessen, dann hätte ein junger Zahnarzt, der in Vancouver wohnte, ihn auf eine Stadtrundfahrt in seinem Wagen mitgenommen. Und um halb neun waren wir also von dem guten Professor zum „Dinner“ eingeladen.

Ich sah ein, daß ich bei einer solchen Gelegenheit einen guten Eindruck machen mußte, deswegen die Füße in Sonjas neue weiße Schuhe steckte und mir ein zartrosa Chiffontuch aus ihrem Koffer herausholte.

Ich weiß nicht, ob es Sonjas Tuch, meine Lidschatten oder die angeborene Höflichkeit und altmodische gute Erziehung des Profes-sors war – jedenfalls wurde ich zum erstenmal in meinem Leben mit einem Handkuß begrüßt! Gott sei Dank, Rolf war geistesgegenwärtig genug, um sich bei der Gattin des Professors in der gleichen Art zu revanchieren!

Es wurde ein reizender Abend! Wenn auch der Professor zwei Drittel seines Lebens in Kanada

verbracht hatte, so war trotzdem seine österreichische Herzlichkeit und ein lustiger kleiner Schalk erhalten geblieben!

„Und Sie sind also die gesegnete Dame mit dem Weisheitszahn!“ waren seine Begrüßungsworte.

„Um es ganz genau zu sagen, Herr Professor – ohne den Weis-heitszahn“, erwiderte ich. „Den trägt mein Mann bestimmt zusam-men mit dem von meiner Schwester ganz dicht an seinem Herzen!“

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Frau Simmons lachte und sagte freundlich: „Wir beide müssen zusammenhalten, Frau Skogstad! Wenn unsere Männer mit den Zähnen anfangen, können wir sie gleich als aufmerksame Kavaliere abschreiben!“

„Mariechen!“ kam es vorwurfsvoll vom Professor: „Warum, glaubst du, ist mein Kollege Skogstad aus Norwegen hierhergekom-men?“

„Das weiß ich genau. Aber seine kleine Frau ist gekommen, um etwas von Kanada zu sehen, und das wollen wir jetzt tun!“

Wir fuhren zum ‚Sheraton’-Hotel, wo ein Lift uns 42 Stockwerke hochbrachte. Du lieber Himmel, was werden wir für einen großarti-gen Blick von hier haben, dachte ich.

Ich sah gerade noch, beim Betreten des schönen Lokals ganz oben in dem Wolkenkratzer, daß es rund war, und zu allen Seiten einen atemberaubenden Ausblick hatte – dann hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam: „Ich kann nicht hier am Fenster sitzen! Hier wird einem ja schwindlig!“

Ich drehte den Kopf und sah unsere ganze Bande! Gerade stand Herr Balberg von seinem beneidenswert schönen Fensterplatz auf und tauschte mit Doktor Scherning. Aha, dies war also das „Karus-sell-Lokal“, das sich immer ganz langsam drehte, eine Runde per Stunde, so daß man den Ausblick ringsherum genießen konnte!

Als wir an dem Gruppentisch vorbeigingen, wechselte ich einen schnellen Blick mit Sonja.

„Ach, wie steht dir doch das rosa Tuch gut!“ sagte sie in dem Augenblick, wo ich in Hörweite war.

„Und die Schuhe noch besser“, antwortete ich und fühlte förm-lich, wie ihr Blick sich nach unten richtete.

Der gute Professor war ein Feinschmecker. Es war eine Wonne, mit ihm gemeinsam die Speisekarte zu studieren.

„Hier kann man international essen“, erklärte er. „Das ist mit ein Grund, daß ich Sie hierher mitgenommen habe. Denn so gern wie ich auch in diesem schönen Land bin, vor der kanadischen Küche muß ich Sie warnen! Es ist mein Glück, daß meine Frau wienerisch kocht!“

Was wir zu essen bekamen, war leicht, wohlschmeckend und mit einem Hauch von französischer Kochkunst.

Die Männer versanken wieder in Wissenschaft und Frau Sim-mons fragte mich nach dem weiteren Reiseprogramm. Ich erzählte, daß wir in verschiedene Nationalparks fahren würden, und fragte, ob

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man große Möglichkeiten habe, wilde Tiere zu sehen. „O ja, aber nicht so wie zum Beispiel in Yellowstone! In den ka-

nadischen Naturparks kommen nicht die Bären ans Auto und betteln, und die Elche spazieren nicht auf der Landstraße!“

„Eigentlich möchte ich furchtbar gern Bären sehen“, sagte ich. „Ich kenne sie nur aus Zoos. Aber ich würde wohl doch Angst be-kommen, falls ich plötzlich einem solchen Riesenkerl gegenüber-stünde!“

„Gewöhnlich sind sie friedlich, wenn man sich nur ruhig ver-hält“, erklärte Frau Simmons. „Wo Gefahr besteht, stehen in der Regel Warnschilder. Aber eins müssen Sie unbedingt wissen: An den gewissen fünf Tagen im Monat darf eine Frau nie Waldspaziergänge machen, da wo die Möglichkeit besteht, Bären zu treffen! Warum es so ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß ganz genau, daß man in den Parks in den Staaten davor gewarnt wird, und daß zwei junge Mäd-chen vor ein paar Jahren von einem ganz wild gewordenen Bären zerrissen wurden, weil sie diese Warnung nicht beachtet hatten!“

„Das muß ich sofort den Damen in unserer Gruppe erzählen!“ meinte ich. „Vielleicht ist es doch das sicherste, die lieben Teddys vom Auto zu bewundern, so wie die Löwen und Leoparden in Ost-afrika!“

„Ach, waren Sie dort? Das muß interessant gewesen sein!“ Ich erzählte, daß Sonja und ich vor sieben Jahren eine Ostafrikareise gewonnen hatten, und wie diese Reise Sonjas ganzes Leben be-stimmt hatte.

So kam es, daß wir plötzlich in Vancouver in einem sich drehen-den Lokal saßen und über Afrika sprachen!

Sonja und Heiko kamen für ein paar Minuten herüber zu unserem Tisch und begrüßten unser nettes Professorenpaar. Natürlich sperrten die beiden die Augen auf über diese Doppelausgabe von einer blon-den Norwegerin, und Heiko und Rolf mußten zum x-tenmal die Frage beantworten, ob sie nun immer sicher seien, die Richtige bei sich zu haben.

Während Heiko ein paar interessierte Fragen von dem Professor beantwortete, wechselte ich schnell etliche Worte auf norwegisch mit Sonja.

„Wir haben einen Schlangenfraß gekriegt“, seufzte sie. „Der kleine Weiden ist ein lieber Kerl, aber vom Essen versteht er nicht mehr als meine Töchter! Aber was schlimmer ist, die Isabel hat einen handfesten Schwips, und die Mutter sieht einfach verzweifelt aus!“

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„Das kann ja gut werden“, meinte ich. „Das arme Mädchen! Wenn man ihr bloß helfen könnte!“

In diesem Augenblick klang ein lautes, hektisches Lachen vom Gruppentisch herüber. Heiko warf einen Blick dorthin und verab-schiedete sich. Ich sah, daß er mit Frau Lander ein paar Worte wech-selte.

Arme Isabel! Arme Frau Lander! Wir hatten beinahe zwei Stunden hier gesessen. Zweimal hatte

sich unser Lokal gedreht. Es ging so langsam, daß wir die Bewegung gar nicht merkten. Nur der Ausblick wechselte. Vor einer halben Stunde hatten wir die hell erleuchtete Stadt vor uns gehabt. Jetzt schauten wir auf das blanke, dunkle, nachtstille Meer. Es war unfaß-bar schön.

Die Gruppe brach auf. Herr Weiden stützte Isabel und lotste sie zur Tür hinaus. Kurz danach verabschiedeten wir uns von unseren reizenden Gastgebern. Wir hatten beide einen anstrengenden Tag vor uns. Rolf auf seinem Kongreß, ich auf einer Stadtrundfahrt, wo ich mein Debüt als Reisehosteß haben sollte.

Wenn es bloß gutginge! Als wir in unser Hotelzimmer kamen, fanden wir außer Heiko

und Sonja auch Herrn Weiden vor. „Gut, daß ihr kommt“, sagte Heiko. „Wir sitzen hier und überle-

gen, was wir mit der Isabel machen können. Wenn man bloß die Mutter zum Sprechen bringen könnte – wenn wir wüßten, was das Mädchen zum Trinken gebracht hat! Jedenfalls muß etwas gesche-hen. Wir können nicht ein ewig beschwipstes Mädchen überall mit-lotsen und Kindermädchen spielen.“

Ich erzählte von meiner Beobachtung an Bord, wie Frau Lander eine ganze Flasche Whisky ins Meer geworfen hatte.

„Vielleicht kann eine von euch am besten Kontakt mit der armen Frau kriegen“, meinte Heiko. „Sie spricht vielleicht besser mit einer anderen Frau als mit einem Mann. Und dann müssen wir mit ihr zusammen eine Hilfsaktion planen.“

„Ja, was man alles als Reiseleiter machen muß!“ sagte Herr Wei-den, und er hatte eine tiefe Kummerfalte auf seiner sonst so glatten Babystirn.

Am nächsten Morgen war ich früh auf den Beinen. Ich gab Rolf einen Abschiedskuß und ermahnte ihn, ja nicht das Flugzeug nach Banff morgen zu verpassen. Dort würde er seine sich sehnende Le-bensgefährtin wieder treffen. Dann band ich das rote Tuch um, befe-

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stigte die Tellus-Anstecknadel an meinen Mantel, und guckte in den Spiegel. Ja richtig – Schuhe!

„Nimm meine“, sagte Sonja. „Ich muß sowieso heute offene Sandalen tragen, ich habe mir gestern beim Laufen in Butchards Gardens eine Schürfwunde an der Ferse zugelegt.“

„Deine Schwesterliebe ist rührend“, meinte ich. „Jetzt soll ich al-so durch deine blöden Schuhe auch eine Schürfwunde kriegen?“

„Ach Quatsch, heute sitzen wir den ganzen Vormittag im Bus und den Nachmittag im Flugzeug! Und ich nehme jetzt die Kamera und mache Aufnahmen und bin Tourist und keine Hosteß. Viel Ver-gnügen, Schwesterchen!“

Es wurde schwieriger als ich dachte! Daß ich auf die Anrede „Frau Brunner“ hören mußte, war das

wenigste. Aber es kamen Fragen, die sich auf Sonjas Tätigkeit am Vortagebezogen, es kamen freundliche kleine persönliche Fragen – ob ich Kinder hätte, ich war geistesgegenwärtig und erzählte von den Zwillingen – , und zu allem Unglück fing eine nichtsahnende Dame an, über Afrika zu sprechen. Ganz schlimm wurde es, als Doktor Scherning, der selbst ein großer Afrikafreund war, mich nach einem Suaheliwort fragte! Wie hieße nun gleich Moskitonetz? Er hätte sich in einem Hotel in Ostafrika furchtbar abgequält, um einem Zimmer-diener begreiflich zu machen, daß er ein Bett mit Moskitonetz wün-sche!

„Ach, wie heißt es nun gleich…“ Ich tat, als dachte ich intensivst nach. „Wissen Sie…“ Da kam mir eine Idee. „Nachdem ich die Zwillinge bekam, ist mein Gedächtnis wie ein Sieb geworden… ach Heiko, wie heißt nun gleich Moskitonetz auf Suaheli?“

„Chandalua“, kam es wie ein Schuß von Heiko. „Ach ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich…“ Wir saßen im Bus,

und nach meiner Meinung sollte die Gruppe sich jetzt um Vancou-vers Sehenswürdigkeiten kümmern und nicht um Afrika und Suahe-li!

Zum Glück ergriff nun Herr Weiden das Mikrofon und erzählte und erklärte. Wir fuhren durch den chinesischen Teil der Stadt, nachher machten wir Pause in einem herrlichen, sonnigen Park mit einer Sammlung höchst interessanter indianischer Totempfähle. Als es zum Essen ging, hatte ich keine Probleme. Ein paar der Teilneh-mer wollten Erklärungen und Ratschläge wegen des Menüs haben, und da fühlte ich mich sicher. Denn vom Essen verstehe ich sogar mehr als meine Schwester!

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Ich warf sooft wie möglich ein Auge auf Isabel. Sie hatte einen unruhigen, flackernden Blick. Plötzlich stand sie auf und verschwand hinter der ‚Ladies’-Tür. Da ging ich ihr kurzerhand nach und kam gerade rechtzeitig um zu sehen, daß sie im Vorraum einen Schluck aus einer kleinen Flasche nahm.

„Nanu, geht es Ihnen nicht gut, Isabel?“ fragte ich. „Doch… nein… ich habe es mit dem Magen…“ Damit ver-

schwand sie in einen der beiden Toilettenräume. Ich ging in den anderen, und durch die kleine Trennwand hörte ich, wie die Flasche wieder entkorkt wurde.

Als ich mir die Hände wusch, kam Isabel wieder. Sie lutschte ei-nes ihrer eukalyptusduftenden Bonbons.

Wenn ich bloß einen Punkt finden könnte, etwas, worüber wir sprechen könnten, einen kleinen Grundstein, worauf man eine Art Vertrauen bauen könnte…

Sie blieb einen Augenblick vor dem Spiegel stehen und glättete ihre Haare.

„Was haben Sie da für eine lustige Brosche, Isabel“, sagte ich. Es war ein kleiner goldener Steinbock, den sie am Revers trug. „Das ist bestimmt Ihr Sternzeichen? So eine möchte ich auch haben, ich bin nämlich auch ein Steinbock. Wissen Sie, wo die Brosche gekauft ist?“

„Keine Ahnung. Ich habe sie geschenkt bekommen.“ „Wenn Sie das erfahren könnten…“ fing ich an. „Kann ich nicht.

Der großzügige Spender ist aus meinem Gesichtskreis verschwun-den. Auf Nimmerwiedersehen. Er hinterließ die Brosche und vier Schallplatten und ein gebrochenes Herz. So, und nun muß ich zurück zu meiner besorgten Mutter.“

Ich ging ihr langsam nach und kehrte zu meinem Tisch zurück. Ich hatte etwas zu denken bekommen. Das war also der Grund! Eine unglückliche Liebe, ein untreuer Freund – war er verschwunden, weil Isabel zu trinken angefangen hatte, oder hatte sie mit dem Trin-ken angefangen, weil sie ihn verloren hatte?

Ich war beinahe froh über ihren Schwips. Wäre sie nüchtern ge-wesen, hätte sie bestimmt nicht soviel erzählt.

Zwei Stunden später saßen wir in einem Flugzeug, das uns nach Calgary brachte – eine Stadt, von der ich nur die kurze Strecke vom Flughafen bis zu einem wartenden Bus gesehen habe. Im Flugzeug konnte ich mich auf norwegisch mit Sonja unterhalten und von Isa-bel erzählen. „Da sehe ich nur eine einzige Heilungsmöglichkeit“,

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meinte Sonja. „Das Mädchen muß sich schleunigst wieder verlieben, und am

liebsten in einen Abstinenzler!“ „Und du glaubst, das könnte sie vom Trinken abbringen?“ „Ich sehe jedenfalls keine andere Möglichkeit. Liebe kann Wun-

der wirken“, sprach meine kluge Schwester.

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Drei Paar Kindermokassins Gegen Abend kamen wir in Banff an. Wir wurden in einem entzük-kenden Motel einquartiert. Lauter kleine Appartements – alle mit eigenem Eingang direkt von einem großen sonnigen Hof mit Platz für unzählige Autos.

Ich half mit dem Zimmerverteilen, trug Frau Hackers Reisetasche und Mantel in ihr Appartement, löste ein Problem für eine andere Dame, die einen falschen Schlüssel erwischt hatte, und nähte schnell einen Knopf an das Jackett von einem hilflosen Junggesellen namens Felber. Da ein paar der Gäste sich auf dem Hof befanden, wanderte ich zielbewußt in Heikos und Sonjas Zimmer. Da fand ich Heiko allein.

„Sonja ist rein zu dir gegangen“, verkündete er. „Sieh mal zu, daß ihr bald die Rollen tauscht, ich möchte gern die Nacht mit mei-ner eigenen Frau verbringen.“

„Das kann ich verstehen“, nickte ich. „Genau da beginnt die Grenze, nicht wahr?“ Ich machte die Tür auf und rief zurück ins Zimmer, so laut, daß die Gruppenteilnehmer da draußen es hören konnten: „Ich komme gleich, Liebling, ich laufe eben schnell rüber zu Senta!“

Dann bekam Sonja das Kopftuch und die Anstecknadel und ich war für den Rest des Tages entlassen. Was mir ehrlich gesagt eine Erleichterung war. Früher, als wir Schulmädchen waren und im Elternhaus wohnten, war es ganz einfach, die Rollen zu tauschen. Damals waren wir immer zusammen, erlebten dieselben Dinge, hat-ten gemeinsame Freunde und Freundinnen. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, als mir diese Idee kam, daß ich in die Haut eines Men-schen schlüpfen mußte, der beinahe vier Jahre in Afrika verbracht hatte, der im Mary-Green-Institut arbeitete, der in Australien gewe-sen war, fließend Englisch sprach, und außerdem Suaheli! Auf der Busfahrt von Calgary hatte schon wieder eine freundliche Dame angefangen, sich mit mir privat zu unterhalten, und ich wurde nur dadurch gerettet, daß Herr Weiden das Mikrofon ergriff und uns etwas über die Gegend erzählte, die wir gerade durchfuhren. Was an sich interessant genug war! Wir befanden uns jetzt mitten in den Rocky Mountains. Der Ort Banff liegt am Ufer des Flusses Boul, was in der Indianersprache „Bogenfluß“ bedeutet. Um uns hohe Berge, unglaublich hoch, die oft an die Dolomiten erinnerten. Wir

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waren in der „Faltenzone“ – man könnte sich denken, daß eine Rie-senhand einen Griff um die ganze Westküste von Nordamerika getan und alles zusammengedrückt hatte, so daß diese enormen Berge und die tiefen Täler entstanden.

Ich freute mich auf den morgigen Tag! Dann würde ich ein freier Mensch sein, konnte alles Schöne in mich aufnehmen, und mich darüber freuen, daß ich auf der anderen Seite des Erdballs war, und so viel Neues erleben durfte.

Und morgen würde Rolf kommen! Das war das allerbeste! Wie war ich froh, und dem Schicksal unendlich dankbar, erstens,

weil Rolf diese einmalige Gelegenheit hatte, um mit bekannten Kol-legen zusammenzukommen und mit ihnen zu reden – und zweitens, daß es uns vergönnt wurde, eine solche Reise zu machen!

Ich saß auf der Türschwelle meines kleinen Appartements und freute mich über den schönen Sonnenuntergang. Eine wohltuende Ruhe war über mich gekommen. Ich dachte an meinen kleinen Ger-ry, der so gut aufgehoben war – ich dachte an meine lieben Eltern, an meine Geschwister, und war von einer großen Zärtlichkeit erfüllt. Wie hatten wir es gut zusammen! Was hatten doch mein Papa und meine geliebte Beatemutti uns alles gegeben! Diese Harmonie, die-ses volle gegenseitige Vertrauen, dieses schöne Elternhaus. „Senta! Wir müssen Essen gehen!“

Es war Sonja, die mich aus meinen Gedanken riß. Ich bürstete die Haare, nahm meine Handtasche, schloß die Tür ab und ging mit.

Am folgenden Tag machten wir einen schönen Ausflug am Fluß entlang, in eine Gegend, wo wir wildlebende Bisons sahen. Heiko erzählte von dem furchtbaren Schicksal dieser herrlichen Tiere, wie sie im vorigen Jahrhundert ganz einfach niedergemetzelt wurden, beinahe ausgerottet – und wie sie im allerallerletzten Augenblick gerettet wurden. „Genau wie die Koalas in Australien!“ nickte Sonja.

Nachher fuhren wir zu einem Indianermuseum, anschließend machten wir „Shopping“ und kauften Reisemitbringsel. Es war ein Geschäft voll Indianerspezialitäten – Holzschnitzereien, Glasperlen-schmuck und phantasievoll ausgestattete Mokassins, auch für Kin-der.

Die waren zu niedlich! Ich kaufte ein kleines Paar für Gerry, und Sonja suchte zwei noch kleinere Paare für ihre Zwillinge aus.

Welches Glück, daß ich heute keinen „Dienst“ hatte! Im Anden-kenladen kam der eine nach dem anderen zu Sonja und bat um sprachliche Hilfe. Du liebe Zeit, wenn sie mich gefragt hätten, wie

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‚kochfest’, ‚Briefbeschwerer’, ‚farbecht’ und ‚buntbestickt’ auf eng-lisch heißen, wäre ich restlos blamiert!

Wir aßen zu Mittag in einer Cafeteria und Heiko hatte durchge-setzt, daß wir freie Wahl hatten, ‚bis zu acht Dollar’, wie er sagte. Natürlich könnten wir teurer essen, aber was über acht Dollar war, mußten wir dann selbst bezahlen.

„So vermeiden wir Meckern und Unzufriedenheit“, hatte Heiko erklärt, und Herr Weiden nickte und war einverstanden. Kunststück! Es war sowieso Heiko, der die ganze Buchführung hatte, und abends nahm er die Bons und machte Abrechnungen!

Als wir zurück zu unserem Motel kamen, zogen die Teilnehmer sich zur Mittagsruhe zurück. Aber ich konnte nicht schlafen. Bald würde wohl Rolf kommen! Sicher per Taxe vom Flugplatz! Ich setz-te mich auf einen Stein am Straßenrand und hielt Ausschau. Da kam Herr Weiden. „Störe ich Sie, Frau Skogstad?“

„Gar nicht. Bitte, suchen Sie sich einen weichen Stein zum Sitzen aus! Übrigens, sind Sie nun sicher, daß ich nicht meine Schwester bin?“

„Ja, merkwürdigerweise bin ich das. Sagen Sie übrigens“, er guckte mich mit einem kleinen neckischen Lächeln an, „haben Sie morgen wieder Dienst?“

„Was meinen Sie?“ „Ja, da Sie gestern Ihre Schwester vertreten haben, dachte ich,

Sie würden sich jeden Tag ablösen?“ „Da haben wir den Salat!“ seufzte ich. „Aber nun sagen Sie bloß,

wie Sie das herausgefunden haben!“ „Oh, das war nicht so schwer. Ich wußte, daß eine der Zwillinge

vorgestern eine Schürfwunde hatte. Ich habe ihr selbst mit einem Pflaster ausgeholfen.“

„Ja, aber wußten Sie dann, welche?“ „Nein, eben nicht! Aber jedenfalls war es die, die gestern nicht

Reisehosteß war. Die mit der Schürfwunde trug offene Sandalen und man konnte deutlich das Pflaster sehen.“

„Ja, aber…“ „Ich brauchte also nur herauszufinden, wer das Pflaster trug, und

das war ganz einfach. Heute stand ich hinter Ihnen im Andenkenla-den und habe mir gemerkt, daß die ohne Pflaster, also die, die ge-stern Dienst hatte, ein Paar kleine Mokassins kaufte, und die andere, die heute Anstecknadel und Kopftuch trug, zwei Paar aussuchte – zwei ganz winzige Paar. Also: Die mit dem Pflaster hat Zwillinge

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und mußte Frau Brunner sein. Die, die gestern Dienst hatte, konnte nur ein Kind haben und müßte Frau Skogstad sein. So einfach war es.“

Ich mußte lachen. „Sie haben aber einen scharfen Blick! Hoffent-lich haben es nicht die anderen!“

„Sagen Sie“, kam es langsam von Herrn Weiden, „warum ma-chen Sie das eigentlich?“

„Das ist doch klar! Damit Sonja auch etwas von der Reise hat, damit sie nicht jeden Tag nur an das Wohlergehen der Gruppe den-ken muß! So erleben wir beide wenigstens die halbe Reise als Pri-vatmensch!“

Herr Weiden lächelte. „Das ist ja furchtbar lieb von Ihnen – denn eigentlich ist es ja Ihre Schwester, die als Hosteß angestellt ist. Aber warum sagen Sie es nicht der Gruppe, ganz einfach? Früher oder später wird etwas geschehen, was den einen oder den anderen auf die Spur bringen wird. Zum Beispiel…“

„Ja, zum Beispiel als der verflixte Scherning mich nach einem Suaheliwort fragte! Dabei besteht mein Suaheliwortschatz aus dem einen Wort ‚Jambo’ was ,Guten Tag’ bedeutet!“

„Ja, sehen Sie! Erzählen Sie es doch ganz einfach! Solange Sie sich so reizend um die alten Damen kümmern wie gestern, wird kein Mensch etwas dagegen haben, daß Sie Sonja ablösen!“

„War ich reizend? Oh, das höre ich gern. Wissen Sie, ich glaube Sie haben recht. Das schlimmste ist ja, daß ich, wenn ich Dienst habe, den lieben langen Tag so tun muß, als wäre mein Mann mein Schwager, und wir dürfen weder Küßchen geben noch Händchen halten!“

„Wenn das kein schwerwiegender Grund ist!“ schmunzelte Herr Weiden. „Übrigens, wissen Sie, mit wem ich mich gerade unterhal-ten habe? Mit der kleinen Isabel. Sie war ausnahmsweise ganz nüch-tern. Es ist schade, daß das nette Mädchen diesem verdammten, oh, Entschuldigung, ich meine, diesem unglückseligen Alkohol verfallen ist! Wenn ich bloß wüßte, wie sie dazu kam.“

Ich erzählte ihm von meinem Gespräch mit Isabel beim gemein-samen Händewaschen. Vielleicht war es indiskret von mir, aber anderseits: Sollte man ihr helfen, mußte man ja den Grund des gan-zen Unglücks kennen. Und wer konnte wissen – vielleicht konnte der nette junge Herr Weiden helfen?

„Armes Häschen“, sagte er, als ich meinen Bericht abgeschlossen hatte. „Wenn man siebzehn ist, wird man schwer mit einer unglück-

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lichen Liebe fertig!“ „Es klingt, als ob Sie Erfahrungen hätten“, meinte ich. „Habe ich auch. Ich war allerdings achtzehn. Mein bester Freund

hat mir mein Mädchen abgeknöpft, damit verlor ich beide! Aber nur für eine Zeit. Jetzt sind sie verheiratet und wir sind gute Freunde. Aber damals war es schlimm!“

„Aber Sie haben jedenfalls nicht im Alkohol den Trost gesucht“, stellte ich fest.

„Nein, in Arbeit! Mit dem Resultat, daß ich ein viel besseres Abi-tur schaffte, als ich zu hoffen gewagt hatte.“

„Weil Sie dem Mädchen zeigen wollten, was für ein Teufelskerl Sie sind?“

Herr Weiden lachte. „Das vielleicht auch. Jedenfalls wirkte es sich sehr gut auf meine Zukunft aus. Aber zurück zu Isabel. Haben Sie gesehen, was für hübsche Augen das Mädchen hat? Intelligent ist sie auch. Wenn Sie mal mit der Mutter sprechen, könnten Sie dann nicht aus ihr herauskriegen, wofür Isabel sich interessiert? Was für Hobbys sie hat oder hatte, bevor das Unglück anfing? Damit man wüßte, auf welchem Gebiet man einen Kontakt mit ihr bekommen könnte?“

„Ich werde es versuchen“, versprach ich. „Oh, da kommt ein Au-to – das könnte sein… ja, das ist Rolf!“

Ich rannte ihm entgegen und umarmte ihn, noch bevor er die Fahrt bezahlt hatte. Anschließend krochen er, ich selbst und Herr Weiden herum und sammelten alle Geldstücke zusammen, die ihm aus der Hand gefallen waren.

„Und nun fühle ich mich hier überflüssig“, grinste Herr Weiden und verschwand.

Sonja war einverstanden, und die beiden Ehemänner erst recht. Ich sollte weiterhin jeden zweiten Tag Dienst machen, aber unter meinem eigenen Namen.

Es war Heiko – der große Diplomat der Familie – der in munte-ren und geschickten Worten der Gruppe erzählte, daß seine Schwä-gerin ab und zu als Hosteß einspringen würde. Und wenn man mit ihren Leistungen nicht zufrieden sein sollte, dürfte man sich ganz offen beklagen. Aber an sich müßte es ja gutgehen, denn die beiden Schwestern würden sich bestimmt der Konkurrenz wegen die größte Mühe machen!

Seine kleine Rede löste Lächeln und Witze aus. So ging ich zum zweitenmal an meine Aufgabe als Hosteß, und jetzt mit leichterem

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Herzen! Im stillen segnete ich sowohl Herrn Weiden als auch die Kin-

dermokassins!

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Wo ist Isabel? Ich saß auf einer sonnenheißen Treppe und streichelte einen großen, weißen Hund. Die Treppe gehörte zu einem herrlichen Hotel in ‚La-ke Louise’ und der Hund gehörte einem jungen Mann, der im Hotel angestellt war, und der zu meinem Staunen bayerisch sprach. Wie er hier gelandet war, habe ich nicht herausgekriegt. Jedenfalls konnte ich mich glänzend mit ihm unterhalten, denn bayerisch war mir lie-ber als amerikanisch! Obwohl das Bayerische für mich arme Norwe-gerin auch nicht ohne Probleme ist.

„Wissen Sie, was für ein Tier Sie da streicheln?“ fragte der Ame-rika-Bajuware.

„Einen sehr lieben Hund, was sonst?“ „Einen halben Wolf streicheln Sie! Er ist ein Lobo, eine Mi-

schung von Wolf und Hund.“ „Was? Halb-Wolf? Und er ist doch so zahm und liebebedürftig!“ „Ja, warum sollte ein Wolf nicht liebebedürftig sein? Hier, sehen

Sie sich die Zähne an“, der junge Mann öffnete das Maul des Tieres, das übrigens auch auf den Namen ‚Lobo’ hörte und zeigte mir das imposante Wolfsgebiß.

Dies mußte ich meinem zoologischen Schwager erzählen! Wo war er bloß? Wir hatten in unserem gemeinsamen Appartement zu-sammen gefrühstückt, ich hatte in der praktischen kleinen Küche alles selbst zubereitet. Sonst hätten wir mit leerem Magen loswan-dern müssen, um in einem Lokal in der Nähe den dünnen kanadi-schen Morgenkaffee zu trinken. Die ganze Gruppe war schon losge-wandert, mit Herrn Weiden als Betreuer und meiner geplagten Schwester als Dolmetscherin und Blitzableiter. Denn das kanadische Essen hat sehr oft einen Blitzableiter nötig. Heiko, Rolf und ich waren im Hotel geblieben, das heißt, die beiden Männer hatten sich anscheinend selbständig gemacht.

Nein, da kam Heiko um die Ecke. „Senta, komm mal schnell, ich werde dir etwas zeigen!“

„Und ich dir! Guck dir den Hund an, was glaubst du…“ „Er ist kein Hund, er ist ein Lobo!“ unterbrach mich mein allwis-

sender Schwager. „Ich habe mich schon in aller Frühe mit ihm un-terhalten, während du Kaffee machtest. – Aber komm nun schnell mit, Rolf steht schon mit der Filmkamera schußbereit!“

Er zog mich mit, um das Haus und ein paar Meter weiter. Und da

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– auf einem kleinen Hügel saß das niedlichste kleine Streifenhörn-chen, wie ich es bisher nur in Zoogeschäften gesehen hatte. Da kam noch eins, und noch eins – da ein etwas größeres, ohne Streifen – es war weniger scheu als die kleinen. Ich lief wie der Blitz zurück in unser Appartement und nahm alles mit was ich an Keks- und Brotre-sten hatte, einen Apfel fand ich auch. Dann rannte ich wieder raus zu den süßen Tierchen. Das große kam ganz nah, zuletzt hat es Apfel-stückchen aus meiner Hand genommen. Die kleinen kamen auch näher, so daß Rolf mit Teleobjektiv „formatfüllende Bilder“, wie er sagte, kriegen konnte.

Dieser Tag stand überhaupt im Zeichen der Erdhörnchen! Als die Gruppe, gestärkt durch Obstsäfte und ‚hot cakes’, zurückkam, starte-ten wir per Bus zu einem Tagesausflug in den ‚Yoho Nationalpark’. Nach meinen Afrikaerfahrungen stellte ich mir immer ein Tierpara-dies in jedem Nationalpark vor, aber das stimmte hier nicht! Die süßen Hörnchen sahen wir in Hülle und Fülle, groß und klein, ge-streift und nicht gestreift, aber dabei blieb es.

„Vielleicht kriegen wir in Jasper Biber zu sehen“, tröstete uns Herr Weiden. „Und in Alaska, in dem großen Mount-McKinley-Reservat gibt es Karibus, Bären, Schneeziegen und Elche. Aber es gibt ja schließlich auch andere Sehenswürdigkeiten als Tiere!“

Da hatte er recht. Dieser Tag bot uns eine Reihe von Schönheits-offenbarungen! Tiefe Canyons, brausende Wasserfälle, Pause an einem wunderbaren, intensiv grünen See, der den sehr passenden Namen ‚Emerald-Lake’ – der ‚Smaragdsee’ – trug. Die Filmkameras surrten, die Fotoapparate machten klick-klick, und die Ausrufe der Begeisterung hörten nicht auf.

Was mich auch sehr beeindruckte, war diese unbeschreibliche Weite, die meilenlangen, unbewohnten Strecken – das Land war so groß, man hatte so viel Platz, so viel Luft!

„Hier könnte man es ein paar Jahre aushalten“, meinte ich. „Weit weg von Hochhäusern und Supermärkten und Autoverkehr und Luftverschmutzung!“

Ich war auf dem besten Wege, mich einfach in die kanadische Natur zu verlieben, so wie Sonja sich damals in Afrika verliebt hatte!

„Solch ein Haus möchte ich eigentlich mit nach Deutschland nehmen“, sagte Herr Felber. Wir fuhren gerade an einer kleinen Siedlung vorbei, eine Siedlung, die aus ganz gleichen Häusern be-stand. Hübsch und sauber waren sie, und sahen ganz geräumig aus, aber alle hatten eine längliche, schmale Form, wie große Eisenbahn-

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waggons! Und tatsächlich – sie standen auf Rädern! Es waren Häuser zum

Mitnehmen! Herr Weiden erzählte, daß man spezielle Trecker für diese Häu-

ser hat. Wenn eine Familie umzieht, braucht sie nur einen Trecker zu bestellen, und das Haus wird dann zum neuen Wohnort transportiert, mit dem ganzen Mobiliar drin!

An einem besonders schönen Aussichtspunkt hielten wir wieder an. Da sahen wir einen anderen Bus, und eine Reisegesellschaft stand knipsend und filmend und voll Begeisterung am Straßenrand und genoß einen herrlichen Ausblick.

Neben mir bemerkte ich Isabel. Schmal, schweigsam, müde, mit matten Augen.

„Sind Sie müde, Isabel? So ein Tagesausflug mit dem Bus ist an-strengend.“

„Wenn man sich bloß hinlegen könnte“, murmelte Isabel. „Ich bin so furchtbar schläfrig.“

„Aber das können Sie doch! Gehen Sie ganz nach hinten in den Bus, da ist eine durchgehende Bank, legen Sie sich bloß hin!“

„Kann ich das? Ja, dann trolle ich mich zurück und mache es mir bequem.“

In diesem Augenblick kam Frau Franzen mit einer Frage, ob ich ihr helfen könnte, einen neuen Film einzulegen. Das konnte ich, und sah nicht, daß Isabel in den Wagen stieg.

Nun kam der Fahrer des anderen Busses, seine Gesellschaft muß-te einsteigen, man hatte es eilig, sie sollten noch am Abend in Jasper sein.

Der Wagen startete, und gleich darauf wurden wir auch gebeten, einzusteigen. Herr Weiden zählte seine Schäfchen, blieb ratlos ste-hen, zählte noch einmal.

Bevor er etwas sagen konnte, rief Frau Lander: „Wo ist Isabel? Sie wollte doch zurück in den Bus…“

Ich warf einen Blick nach hinten. Die Bank war leer. Isabel war nirgens zu sehen.

Herr Weiden rannte raus, guckte die Böschung runter, rief, und suchte die Böschung mit den Augen ab. Keine Isabel.

Da kam mir ein furchtbarer Gedanke: „Wenn sie bloß nicht in den verkehrten Bus gestiegen ist!“

„Aber das müßten die anderen Fahrgäste doch gesehen haben!“ meinte Frau Lander.

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„Nein – Isabel wollte sich auf die Bank ganz hinten hinlegen, sie wollte schlafen… und in der Eile… wer hat schon ganz nach hinten geguckt…“

Frau Lander war leichenblaß geworden. „Und sie hat keine Ta-sche mit, kein Geld, keinen Paß.

Um Gottes willen, was machen wir…“ Heiko sprach mit unserem Fahrer. Ja, er hatte ein paar Worte mit

seinem Kollegen im anderen Bus gewechselt. Dieser war sehr in Zeitnot. Er wollte sofort nach Jasper fahren, er hatte schon erhebli-che Verspätung.

Noch ein Grund, daß niemand die Zeit gehabt hatte, ausgerechnet auf die Hinterbank des Busses einen Blick zu werfen.

Möge Isabel bloß da sein! Sie war so unberechenbar, man konnte nicht wissen… oder vielleicht hatte sie sich auf der anderen Straßen-seite ins Gebüsch zurückgezogen? So was kommt auf einer weiten Busfahrt vor, wenn weit und breit keine Toilette ist.

Frau Lander, Sonja und ich gingen auf die Suche. Wir riefen, wir pfiffen – außer ein paar aufgescheuchten Erdhörnchen rührte sich nichts.

Was sollten wir bloß machen? „Passen Sie auf“, sagte Herr Weiden, als wir von der vergebli-

chen Suche zurückkamen. „Ich werde mal sehen, ob irgendein Auto mich mit nach Jasper nimmt. Dann fahren Sie auf dem schnellsten Wege zurück nach Lake Louise, von dort rufen Sie das Motel in Jasper an, und sagen, das Mädchen soll warten, gleich kommt ihr Reiseleiter. Ist das nicht die beste Lösung?“

Das war es, ohne Zweifel. In diesen leeren, unbewohnten Gegenden waren die Autofahrer

hilfsbereit. Der erste Wagen, der angerollt kam, hielt sofort auf sein Winken, und nach zwei Minuten saß Herr Weiden drin und fuhr Richtung Jasper.

Und unser Bus brachte uns zurück zum Hotel in Lake Louise. Es wurde rumgerätselt, alle unterhielten sich über denkbare und

undenkbare Möglichkeiten, von Ohnmachtsanfall bis Entführung, von Sittlichkeitsverbrechen bis Absturz in den See.

Ich hatte mich neben Frau Lander gesetzt und versuchte, sie zu trösten. Isabel würde ganz bestimmt in dem anderen Bus tief schla-fen! Ich hatte mehrmals gesehen, wie sie schlafen konnte, im Bus, im Flugzeug und auf dem Schiff.

Und ich hatte ihr ja selbst gesagt, daß sie sich auf die Bank hinle-

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gen könnte. Daß man in einen verkehrten Bus einsteigen konnte, war durchaus denkbar. Diese Busse sahen ja alle gleich aus.

„Wenn sie bloß nicht… Sie wissen ja nicht, Frau Skogstad…“ Dann schwieg Frau Lander und preßte die Lippen zusammen.

In Lake Louise ging Heiko schnurstracks zum Telefon und be-kam Verbindung mit dem großen Motel in Jasper. Ja, man erwartete dort eine Busgesellschaft, eigentlich müßte sie bald da sein. – Heiko erklärte klar und deutlich die Situation, und man versprach ihm, nach Isabel Ausschau zu halten.

Dann konnten wir nichts mehr machen. Ich ging mit Frau Lander in ihr Appartement. Viel konnte ich ja

nicht tun, aber sie sollte nicht allein sein! Es war jetzt sieben Uhr. Frühestens um neun könnte der Bus in

Jasper sein. Zwei Stunden in Angst und Ungewißheit mußte die arme Mutter verbringen.

Ich holte Kaffee aus unserem Appartement und brühte eine große Portion auf, eine Menge, die nach kanadischen Bräuchen für die ganze Reisegruppe gereicht hätte. Ich dachte an eine Weisheit von meiner Beatemutti: „Wenn du gar nicht weißt, wie du einem Mit-menschen helfen sollst, dann gib ihm eine Tasse starken Kaffee!“

Draußen bereitete man einen Barbecue-Abend vor. Einige Meter vom Haus entfernt war ein großes Zelt mit Bänken, Holztischen und einem Grill. Da sollte heute abend gegessen werden. Der ‚Amerika-Bajuware’, mit Lobo an den Fersen, trug schon große Ladungen Steaks dorthin.

Frau Lander trank ihren Kaffee, und plötzlich fing sie an zu re-den. Sie redete, redete, hörte gar nicht auf. Es war, als wäre ein Si-cherheitsventil geplatzt. Alles, was sich in ihr an Kummer und Ver-zweiflung angesammelt hatte, brach nun aus ihr heraus. Es war ein Strom, eine Lawine, die sich einfach nicht aufhalten ließ.

Ich konnte nichts anderes tun als dazusitzen und zuzuhören, sie reden lassen.

Sie hatten gestern eine furchtbare Auseinandersetzung gehabt, Mutter und Tochter. „Meine Verzweiflung ging mit mir durch“, flüsterte Frau Lander. „Ich hatte mich zu lange beherrscht, habe zu lange Geduld gehabt. Zu lange gehofft, daß sich alles einrenken würde. Gestern hatte sie wieder getrunken, ich weiß nie, woher sie den Alkohol bekommt, es ist mir immer ein Rätsel. Dann entdeckte ich, daß ihre Gesichtswasserflasche Whisky enthielt und daß zehn Dollar aus meinem Geldbeutel verschwunden waren. Ja, dann verlor

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ich also die Beherrschung, und ich fürchte, ich habe viel gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen. Ich rief in meiner Verzweiflung: ,Ich habe dir das Leben geschenkt, und ich erlaube nicht, daß du es zer-störst’, – und dann – dann antwortete sie, eiskalt: ,Du hast es mir geschenkt, aber mein Leben gehört mir und ich mache damit, was ich will. Es ist auch mein Recht, ihm ein Ende zu machen!’“

„Frau Lander“, sagte ich und drückte ihre Hand. „So was sagt man in der Aufregung. Oh, man sagt oft soviel, was man gar nicht meint. Man sagt so was, aber man macht es nicht!“

„Sie kennen Isabel nicht“, flüsterte Frau Lander. „Sie war immer so – so kompromißlos. Wenn sie sich für etwas einsetzte, dann im-mer ganz! Immer hundertprozentig! Als sie sich noch für die Schule interessierte, arbeitete sie so zielbewußt, so – ja eben wie ich sagte, so hundertprozentig! Wenn sie einen Menschen lieb gewann, dann auch hundertprozentig. In ihren Freundschaften war sie auch so. Und wenn sie enttäuscht wurde, knickte sie zusammen. Sie war hundert-prozentig dabei in Freude und Glück, und deswegen trafen sie die Enttäuschungen auch hundertprozentig. Verstehen Sie das?“

„Ja, Frau Lander. Ich verstehe es.“ „Dann verliebte sie sich. Sie leuchtete vor Glück. Und für diesen

Mann war sie auch hundertprozentig da! Ohne Kompromisse, ohne Diplomatie, ohne Komödiantenspiel. Was sage ich – Mann? Ein Junge war er, achtzehn Jahre, sie war damals sechzehn. Sie erzählte uns kaum etwas, wir sahen nur, daß sie glücklich war, daß sie etwas hatte, was ihr ganzes Dasein mit Glück erfüllte. Und dieses Glück spiegelte sich überall. Sie war so lieb zu uns Eltern, so hilfsbereit und nett zu allen Menschen, oh, wenn Sie sie damals erlebt hätten! Aber dann – dann brach alles zusammen. Warum dieser Junge sie sitzen ließ – ich weiß es noch nicht. Vielleicht war sie ihm zu offen, zu wenig spannend. Nicht raffiniert genug. Keine Spur von Kokette-rie. Immer aufgeschlossen, immer hellhörig für seine Wünsche und Vorschläge. Eben – hundertprozentig. Als er sie dann verließ, brach sie vollkommen zusammen. Auch in ihrer Verzweiflung war sie hundertprozentig. Oh, wenn sie sich nur ausgesprochen hätte, wenn sie zu ihrer Mutter gekommen wäre! – Ist es nicht merkwürdig, daß junge Mädchen, wenn sie Probleme haben, immer gerade die Person meiden, die sie am innigsten liebt, die alles, aber auch alles tun wür-de, um zu helfen? Warum ist es so? Ist es Ihnen auch so ergangen?“

„Nein“, gab ich zu. „Erstens habe ich keine ernsten Probleme ge-habt, zweitens habe ich eine junge Stiefmutter, die ich als Freundin

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betrachte und mit der ich immer reden kann.“ „Ja, sehen Sie – junge Mädchen brauchen oft eine Freundin eher

als eine Mutter. Aber warum? Mein Herz blutet für mein Kind, ich hätte alles für sie tun können – aber sie ließ mich nicht ran! Wie das mit dem unglückseligen Alkohol begann – ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, wo oder durch wen sie daraufkam. Aber sie merkte wohl, oder meinte zu merken, daß so ein Rausch für ein paar Stunden ir-gendwie betäubend wirkte. Oh, ich weiß nicht, Frau Senta, ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß es immer schlimmer wurde, sie machte sich abhängig von dem Zeug. Sie ließ nach in der Schule, sie war in der Obersekunda und sie wollte studieren, und plötzlich machte sie Schluß. Ihr Vater und ich versuchten mit ihr zu reden, fragten, was für Zukunftspläne sie hätte, was sie tun wollte, flehten sie an, doch weiterzumachen. Nichts nützte. ,Ich habe keine Lust’, war die Ant-wort. Oder: ,Ich schaffe es doch nicht. Ich kann nicht mehr lernen.’ Wir paßten auf sie auf, versuchten, sie fern von dem Alkohol zu halten, aber sie wurde schlau, fand immer einen Ausweg. Sie haben es ja selbst miterlebt, im Flugzeug – und dies ist es, wofür sie sich jetzt hundertprozentig einsetzt: sich den täglichen Alkohol zu ver-schaffen! Sie hat sich daran gewöhnt, sie ist eine Sklavin des Alko-hols geworden, sie kann ihn nicht mehr entbehren! Verstehen Sie, was das für Eltern bedeutet?

Was haben wir an schlaflosen Nächten verbracht, wie haben wir geredet, uns überlegt. Dann kam meinem Mann diese Idee: eine weite Reise, neue Umgebung, neue Menschen, eine Reise, weit weg, so weit wie möglich. Vor ein paar Jahren hatten wir ein Buch über British Columbia gelesen, und Isabel war brennend interessiert. Ich weiß noch wie sie sagte: ,Wenn ich einmal viel Geld habe, fahre ich nach Kanada, das muß ein phantastisches Land sein!’ Wir haben nicht viel Geld, wir haben uns diese Reise vom Munde abgespart. Mein Mann brauchte dringend einen neuen Wagen, er ist in seinem Beruf davon abhängig, unsere Wohnung müßte tapeziert werden. Oh, es gibt so allerlei… wir haben all das Geld in diese Reise ge-steckt, um unserem Kind zu helfen. Lieber eine teure Reise als eine Entwöhnungsanstalt. Sie haben ja selbst gesehen, wie wenig es hilft.“

Jetzt übermannten sie die Tränen. Oh, wie tat sie mir leid! Ich hätte am liebsten mitgeheult! Was sollte ich bloß sagen? Etwas, was vernünftig war, nicht nur leere Worte?

„Frau Lander“, sagte ich zuletzt, „ich glaube, Isabel braucht kei-

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ne Entwöhnungskur. Wenn man bloß den Menschen finden könnte, der sie davon überzeugen würde, wie dumm, wie gefährlich dieses Trinken ist, dann würde Isabel sich noch einmal hundertprozentig für etwas einsetzen – nämlich für den Kampf, herauszukommen, raus aus dem Bann des Trinkens! Aber wer schafft es, ihren hundertpro-zentigen Willen zu mobilisieren?“

In dem Augenblick hörten wir eilige Schritte, unsere Tür wurde aufgerissen, und da stand Sonja.

„Frau Lander! Kommen Sie ans Telefon! Herr Weiden ist da – mit Isabel! Sie ist wohlauf! Kommen Sie!“

Herr Weiden ist da – da schlug ein Gedanke wie ein Blitz in mei-nen Kopf ein: Herr Weiden! Der nette, freundliche und intelligente junge Mann, der selbst eine unglückliche Liebe gehabt hatte, der so positiv über Isabel gesprochen hatte, der jetzt vierundzwanzig Stun-den mit ihr verbringen mußte, bis wir alle am nächsten Abend in Jasper ankamen – würde er der Mensch sein, der Isabels hundertpro-zentige Einstellung mobilisieren konnte?

„Sonnie, erzähl!“ bat ich, als Frau Lander zum Telefon gerannt war.

„Es war genau wie du dachtest. Isabel schlief wie ein Säugling, bis ein Fahrgast sie zufällig entdeckte. Und das war kurz vor Jasper. Mehr weiß ich nicht, dann nahm Heiko den Hörer und ich rannte hierher!“ Frau Lander kam zurück. Noch mit verweinten Augen, aber mit einem Ausdruck – beinahe hätte ich gesagt, einem glückli-chen Ausdruck im Gesicht.

Jetzt kam mein immer auf das Wohlergehen seiner Frau bedach-ter Göttergatte anmarschiert mit einem großen Tablett in den Hän-den.

„Hier, Senta, hier sind zwei Steaks und Salat und Brot, zeig was du kannst, sorg dafür, daß nicht nur Frau Lander, sondern auch du selbst was zu essen kriegst.“

Wir nahmen Frau Lander mit in unser Appartement. Während ich das Essen bereitete, erzählten Heiko und Frau Lander. Ja, Herr Wei-den war in Jasper angekommen, ungefähr zwanzig Minuten nach dem Bus. Da hatte Isabel auf einer Treppe gesessen, ziemlich allein und klein und vor allem ohne Geld. Sie war Herrn Weiden fast um den Hals gefallen, so freute sie sich. Dann waren sie zum Telefon gelaufen – und jetzt wollten sie was essen und das mußte schnell geschehen, da das einzige Eßlokal um zehn abends dichtmachte. Und irgendwie würde es wohl mit dem Nachtquartier klappen, Herr Wei-

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den hatte sowohl Geld als auch sehr gute englische Sprachkenntnis-se. Jedenfalls bestand kein Grund mehr, sich zu ängstigen!

„Frau Lander, wollen Sie Ihr Steak medium haben, oder…“ rief ich von meiner Kochnische.

Frau Lander stand auf und kam zu mir. „Ja, bitte. Medium. – Wissen Sie, Senta…“ sie sprach ganz leise, so daß die anderen es nicht hören konnten, „Isabel sagte mir am Telefon, wir sollten beide versuchen, alles von gestern zu vergessen. Sie hätte es nicht ernst gemeint. Ihre Stimme klang so anders… wissen Sie… beinahe wie früher…“ Heiko und Sonja mußten zurück zu ihren Schützlingen, die noch im Barbecue-Zelt saßen. Als Rolf auch gehen wollte, bat Frau Lander ihn zu bleiben. „Ich habe ja die ganze Zeit Ihre Frau sozusa-gen beschlagnahmt, Herr Doktor. Bleiben Sie doch hier, es ist schließlich Ihr Appartement.“

„Ja, wenn Sie wollen. Ich muß zugeben, daß ich mich nicht zu der lauten Gesellschaft im Barbecue-Zelt zurücksehne. Am liebsten wären meine Schwägerin und mein Schwager und ich selbst bei Ihnen geblieben. Aber das Programm mußte ja weitergehen, sowohl unsere Gruppe als auch die englische Gruppe, die hier ist, sollten ja abgefüttert werden. Na, hoffentlich hat meine Frau Sie gut behandelt und sich als vernünftige Reisehosteß gezeigt!“

„Mehr als das“, sagte Frau Lander mit einem kleinen Lächeln. „Sie hat sich vor allem als ein guter Mensch gezeigt, das brauchte ich dringender als eine Hosteß!“

Es wurde spät, bevor wir uns endlich zur Ruhe begeben konnten. Bevor wir zu Bett gingen, hielten Rolf, Heiko, Sonja und ich einen kleinen, friedlichen Schwatz.

„Der kleine Jochen Weiden ist ein Goldstück!“ stellte Heiko fest. „Von wegen ,kleine’“, protestierte ich. „Innerlich ist er erwach-

sen, sein Babygesicht täuscht! Er ist intelligent, und außerdem ein lieber Mensch.“

„Wenn Isabel sich bloß in ihn verlieben würde!“ sagte Sonja. „Das wäre vielleicht ihre Rettung!“

„Weißt du, wie lange sie schon dem Alkohol verfallen ist?“ frag-te Rolf.

„Ich glaube, etwa ein halbes Jahr“, meinte ich. „Dann besteht ja die Möglichkeit, daß sie es mit großer Willens-

anstrengung noch schafft, vom Alkohol wieder wegzukommen.“ „Wenn es bloß unserem ,Baby’ gelingt, den Willen dazu in ihr zu

wecken“, sagte Sonja gedankenvoll.

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„So, nun müssen wir aber schlafen gehen“, bestimmte Heiko. „Morgen haben wir schon wieder einen anstrengenden Tag. Also, husch, husch ins Körbchen, und vergessen wir nicht, für Isabel die Daumen zu drücken!“

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Die Traumstraße „Glück muß man haben“, lächelte mein Mann und drückte meine Hand. „Erinnerst du dich noch an den Fernsehfilm damals?“

„Du meinst ,Die Traumstraße’?“ „Klar, was sonst? Und nun fahren wir auf der Traumstraße und

wir haben ein prachtvolles Wetter, und du hast heute keinen Dienst, wir können also ganz und gar genießen und uns bewußt sein, daß wir es sind, die die Traumstraße jetzt mit unseren eigenen Augen sehen!“

Ja, es war wirklich eine Traumstraße. Allerdings bekamen wir nur ein ganz kleines Stück von ihr zu sehen. Aber was für ein Stück! An beiden Seiten die unfaßbar hohen Berge mit ihren Schneekapu-zen, dann herrliche, blaue Seen. Später machten wir eine Pause an einem prachtvollen Wasserfall, dann sahen wir wieder die schwin-delerregend hohen Berge.

Der Höhepunkt des Tages war ein Ausflug in den merkwürdig-sten Fahrzeugen, die ich jemals gesehen habe. Eine Art Raupen-busse, oder wie man sie nennen soll. Sie brachten uns hoch auf einen echten, großen Gletscher. Heiko hatte uns alle ermahnt, festes Schuhzeug anzuziehen, was Herrn Balberg nicht daran gehindert hatte, offene Sandalen zu tragen. Natürlich fror er und bekam pitsch-nasse Füße, wofür er „Tellus-Touren“ die Verantwortung gab, er wollte sich schriftlich beschweren!

Aber wir waren heute alle so glücklich und erleichtert, daß wir sogar Herrn Balbergs Meckern mit Humor hinnehmen konnten.

Über Isabels Verschwinden am Vortage sprachen wir sowenig wie möglich. Die Gruppenmitglieder hatten natürlich gefragt, und Heiko hatte mit einem unbeschwerten Lächeln geantwortet: „Oh, das ist alles in Ordnung, es war so wie wir dachten, sie war in den ver-kehrten Bus gestiegen – so was kann uns allen passieren!“

Nur tat es mir leid, daß Isabel diese herrliche Fahrt verschlafen hatte. In unserem Programm stand, daß diese Strecke von der Traumstraße einer der Höhepunkte der Reise war, und das stimmte!

Auf einer schönen Anhöhe machten wir Lunchpause in einem netten kleinen Lokal. Auf dem Parkplatz machten wir übrigens eine lustige Beobachtung. An all den Autos, die vorne einen „Grill“ hat-ten, saßen kleine Vögel und pickten eifrigst irgend etwas heraus. Wir gingen näher – die kleinen Piepmätze waren sehr zahm und ließen sich nicht stören. Ja, da sahen wir es: All die unzähligen Insekten,

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die während der Fahrt den Tod in den Autogrills gefunden hatten, wurden jetzt in gekonnter Weise herausgepickt und genießerisch verspeist! Es störte die kleinen Insekten-Gourmets gar nicht, daß unzählige Fotoapparate und Filmkameras auf sie gerichtet wurden.

Es ging weiter. Langsam meldete sich die Müdigkeit. Dieser Tag brachte uns einfach zu viel. Wir kamen aus dem Bewundern und Staunen gar nicht heraus! An solchen Tagen kommt zuletzt der Punkt, wo man einfach nichts mehr aufnehmen kann. Ich sah mich um im Bus. Herr Balberg schlief tief und fest. Ein paar andere guck-ten noch mit müden Augen aus den Fenstern. Die wenigsten brach-ten es fertig, noch Aufnahmen zu machen.

Wie hieß nun gleich die schlanke Dame mittleren Alters, die mit der Brille und dem gestreiften Kleid? Sie war noch hellwach, starrte unentwegt zum Fenster hinaus, und machte zwischendurch Notizen in ein kleines Heftchen. Ach ja, richtig, es war ein Fräulein Roth-baum. Sie sprach kaum, war freundlich, wenn sie angesprochen wurde, aber von sich aus sagte sie nie etwas. Kein Meckern, keine Kritik, auch keine Bitten an uns „Reisehostessen“.

Eigentlich sollte man sich gerade um einen solchen stillen, ein-samen Menschen kümmern. Es mußte furchtbar sein, eine solche Reise allein zu machen – keinen lieben Menschen bei sich zu haben, mit dem man alle Freuden und alle Erlebnisse teilen konnte!

Ein paar der anderen Alleinreisenden schienen irgendwie An-schluß gefunden zu haben – da war zum Teil meine geschickte Schwester tätig gewesen. Aber Fräulein Rothbaum war immer allein. Wie sollte ich nun mit ihr ins Gespräch kommen, wie sollte ich et-was für sie tun können?

Da kam mir der Zufall zur Hilfe. In einer Kurve fiel eine Strick-jacke aus dem Gepäcknetz und direkt auf Fräulein Rothbaums Kopf. Ich war wie der Blitz an ihrer Seite.

„Entschuldigen Sie vielmals, Fräulein Rothbaum, ich glaube, es war meine Jacke. Haben Sie sich sehr erschrocken?“

„O nein, durchaus nicht, ich bin ja wach. Es wäre schlimmer, wenn es einen der Schlafenden getroffen hätte!“

„Sind Sie gar nicht müde?“ fragte ich und verstaute die Jacke et-was sicherer im Netz.

„Doch, eigentlich bin ich das auch, aber wissen Sie, es ist ja alles so märchenhaft schön, ich möchte keine Sekunde von diesem Tag verschlafen!“

„So geht es mir auch! Es ist meine erste Reise auf dem amerika-

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nischen Kontinent.“ „Und meine erste Reise außerhalb Europas – vielleicht bleibt sie

auch die einzige. Dann muß ich doch jede Sekunde auskosten!“ „Und sind Sie bis jetzt zufrieden?“ „Ich bin überwältigt! Und ich freue mich so sehr auf Yukon und

auf Alaska. Sich vorzustellen, den alten Goldgräbern sozusagen nachzufahren, das zu sehen, worüber man gelesen hat – Jack London zum Beispiel…“

„Oh, Sie kennen seine Alaska-Bücher?“ „Ja und ob! Ich habe mich drei Monate auf diese Reise vorberei-

tet, habe alles gelesen, was ich nur auftreiben konnte.“ „Deswegen haben Sie auch keine einzige Frage. Die anderen fra-

gen ja manchmal meinem Schwager und Herrn Weiden ein Loch in den Bauch!“

„Ihr Schwager – danke für die Erläuterung, dann sind Sie Frau Skogstad!“

„Stimmt! Aber ich habe heute keinen Dienst. Ich sitze also hier als Privatmensch und nicht als Hosteß!“

„Dann sollten Sie doch Ihren freien Tag genießen und sich nicht um uns kümmern!“

„Tu ich ja auch! Und im Augenblick ,kümmere’ ich mich gar nicht, ich plaudere nur als eine auch begeisterte Reiseteilnehmerin. Wollen Sie lieber Ihre Ruhe haben? Dann ziehe ich mich wieder zu meinem schläfrigen Mann zurück!“

„Nein, nein, ich finde es reizend, mit einem Menschen zu plau-dern, der genauso begeistert ist wie ich selbst! Ich gebe zu, daß ich manchmal einen Gleichgesinnten vermisse, mit dem ich meine Freu-de teilen könnte.“

Ich nickte. „Verstehe ich! Einen, dem Sie in der höchsten Begei-sterung in den Arm kneifen könnten – nebenbei gesagt ist der rechte Arm meines Mannes bestimmt blau und gelb – , einen, mit dem Sie abends in Freundschaft und guter Stimmung über all die Eindrücke des Tages plaudern könnten!“

„Sie drücken es sehr gut aus! Aber sehen Sie, es sind ja so viele, die allein reisen. Und gerade für die Alleinstehenden ist so eine Gruppenreise ein Segen. Welche alleinstehende Frau würde es sonst wagen, ganz allein eine so weite Reise zu unternehmen?“

Wir plauderten weiter, bis Rolf anfing, sich nach mir umzusehen. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß wir gleich in Jasper ankommen würden, oder vielmehr an unserem Motel, das noch vor der eigentli-

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chen Stadt lag. Mein Gefühl stimmte. Denn nach wenigen Minuten rollten wir

auf einen großen Platz, von langen, gelben Gästehäusern eingerahmt. Und wer stand da? Isabel, lächelnd und winkend, und neben ihr ein anscheinend quietschvergnügter Herr Weiden!

Jedesmal, wenn wir zu einem neuen Hotel kamen, gab es Aufre-gungen und tausend Fragen und Erklärungen, bis alle endlich in ihren Zimmern untergebracht waren. So auch heute. Außerdem hat-ten wir es eilig, das Eßlokal nebenan war nicht allzulange auf. Also mußten wir uns beeilen, schnell an uns selbst „Staub zu wischen“ wie mein Mann es ausdrückt, wenn er eine Katzenwäsche meint. Haare kämmen, vielleicht eine saubere Bluse, beziehungsweise ein sauberes Hemd anziehen, und sonst alles stehen und liegen lassen. Heiko würde morgen nach Saskatchewan fliegen und erst in Prince Rupert zu uns zurückkommen, gerade noch rechtzeitig, um mit uns das Schiff zu besteigen, das uns nach Alaska führen sollte. Also hatte er viel mit Herrn Weiden zu besprechen, und natürlich auch mit Sonja, die sich am besten mit den verflixten Tagesabrechnungen auskannte. Mit anderen Worten, Rolf und ich fühlten uns überflüssig und suchten uns einen anderen Tisch aus. Es war ein Vier-Personen-Tisch. Und als Fräulein Rothbaum erschien bat ich sie, sich doch zu uns zu setzen. Als vierter kam Herr Felber, der auch allein reiste.

Während wir uns notdürftig im Zimmer zurechtgemacht hatten, hatte ich Rolf über mein neues Vorhaben informiert. Ich wollte ver-suchen, die Alleinreisenden zusammenzuführen, versuchen, gemein-same Interessen aufzuspüren – kurz gesagt, aus der Gruppe eine gemütliche Einheit mit Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen.

„Na, da hast du dir ja was vorgenommen“, sagte Rolf. Dann küß-te er mich. „Eigentlich bist du ein nettes Mädchen, Sentachen. Ich mag dich ab und zu sehr gern leiden.“

Das ist Rolfs Art, das auszudrücken, das man früher, in mehr sen-timentalen Zeiten mit den Worten „ich liebe dich“ formulierte!

Rolf kann phantastisch charmant sein, und außerdem sehr lustig. Es gelang ihm, unsere beiden Tischgenossen zum Lachen zu brin-gen, er taute sie sozusagen auf, sie wurden gesprächig. Ich erwähnte Jack London, Herr Felber biß sofort an, ja gewiß, er kenne seine Bücher. Rolf warf nette kleine Sätze dazwischen, hielt sozusagen die Gesprächsflamme brennend, Fräulein Rothbaum hatte ein paar Fra-gen, und allmählich bestritten die beiden bis jetzt so Schweigsamen die Unterhaltung und Rolf und ich konnten entspannen.

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Aber das hatte mir Freude gemacht! Morgen würde ich zusehen, ob ich die streng aussehende Frau Hacker nicht auftauen konnte. Sie war ein anderer Typ, sie war reiseroutiniert und gewandt. Aber ich hatte sie nie in einem wirklichen Gespräch mit anderen gesehen.

Persönlich hatte ich jetzt einen einzigen Wunsch: Ich wollte für mein Leben gern wissen, wie alles mit Isabel verlaufen war! Daß sie heute keine „Fahne“ hatte, weder nach Alkohol noch nach Eukalyp-tusbonbons, hatte ich schon festgestellt. Aber wie war es gekommen, daß sie ein neues Gesicht hatte, einen neuen Ausdruck in den Au-gen? War es der gestrige Schock, der sie auf andere Gedanken ge-bracht hatte, oder hatte der kleine Jochen Weiden ein Wunder bei ihr vollbracht?

Als wir langsam zu unserem Zimmer zurückschlenderten, sahen wir Isabel. Sie stand auf dem Balkon vor dem Zimmer, die Arme auf dem Geländer.

„Hallo, Isabel! Wie geht es Ihnen?“ fragte Rolf. „Oh, fein. Ich möchte bloß noch nicht schlafen gehen. Mutti ist

ins Bett gegangen, aber ich bin gar nicht müde.“ „Kommen Sie doch mit uns, wir wollten gerade die Beine etwas

vertreten.“ Sie kam etwas zögernd zu uns, und guckte sich dabei immer um. „Wissen Sie vielleicht wo Joch… ich meine, wo Herr Weiden

ist?“ Ich notierte mir das kleine Verplappern. „Oh, der sitzt mit meiner Schwester und meinem Schwager zu-

sammen und macht das Programm und die Abrechnung und kriegt Heikos Pflichten für drei Tage aufgehalst. Er verläßt uns morgen früh und kommt erst in Prince Rupert wieder zum Vorschein.“

„Ach so.“ Sie ging mit uns. Der Abend war angenehm kühl nach dem hei-

ßen Tag. „Sagen Sie, wann sind Sie eigentlich gestern im Bus aufge-

wacht?“ fragte ich. „Erst kurz vor Jasper! Ich habe wie eine Tote geschlafen. Und die

Fahrgäste im Bus waren auch müde, die meisten machten ein Nik-kerchen, und kein Mensch hatte mich entdeckt. Sie staunten nicht schlecht, als ich plötzlich auftauchte und anfing, deutsch zu spre-chen. Es dauerte eine Minute, bis es mir klar war, daß ich in einer ganz verkehrten Gruppe gelandet war, ich Schafskopf!“

Sie lachte ein wenig und erzählte weiter. Es blieb ihr nichts ande-res übrig, als bis Jasper mitzufahren. In ihrem mangelhaften Englisch

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hatte sie dann erklärt, wieso sie plötzlich da war. Sie brauchte für die Nacht ein Zimmer, ab morgen würde sie ja sowieso hier wohnen.

Es gab überhaupt kein freies Zimmer, alles war belegt. Und au-ßerdem hatte sie keinen Ausweis, kein Geld, konnte nicht einmal die Mutter anrufen. An der Rezeption des Hotels bat man sie zu warten, man hatte alle Hände voll zu tun. Diese große englische Gruppe sollte ihre Zimmer haben, und ihr Programm für die nächsten Tage und so weiter.

Isabel fühlte sich überflüssig. Sie schlenderte ein bißchen umher auf dem großen Platz, überlegte sich krampfhaft, was sie machen sollte – und fühlte sich mehr verlassen als jemals zuvor. Ganz allein in einem fremden Land, keinen Menschen mit dem sie sprechen konnte, niemand, der ihre Muttersprache verstand, ohne einen Cent in der Tasche, ohne eine Bleibe und mit einem Mordshunger!

Dann setzte sie sich auf eine Treppe und wußte weder aus noch ein. Sie saß nur da und war klein und unglücklich und unbeschreib-lich allein!

„Das Heulen liegt mir eigentlich nicht“, gestand sie. „Aber ge-stern war ich nahe dran. Ich durfte es bloß nicht tun, weil ich kein Taschentuch hatte. Das lag nämlich auch in meiner Tasche im Bus.“

Und dann, als ihre Verzweiflung sozusagen den Höhepunkt er-reicht hatte, hielt ein kanadischer Personenwagen, und – sie mußte sich selbst in den Arm zwicken – aus dem Wagen stieg Herr Weiden.

Ich lachte. „Na, ich kann mir schon Ihre Erleichterung vorstellen. In dem Augenblick hätten Sie wohl Herrn Weiden umarmen kön-nen.“

„Was heißt hier hätte? Ich fiel ihm um den Hals und dann heulte ich wirklich – und er hatte Gott sei Dank ein Taschentuch!“

Der Rest war schnell erzählt. Zuerst ging es ans Telefon, dann zum Essen, und dann erst kam die Frage: „Wo bleiben wir heute nacht?“

Es war kein Zimmer frei. Es war ja mitten in der Ferienzeit, da waren sogar in vielen Zimmern extra Notlager aufgestellt worden. Jochen hatte es auch in ein paar Hotels in der Stadt versucht – über-all war es voll. Dann zeigte sich der Autobesitzer, der Herrn Weiden mitgenommen hatte, als rettender Engel. Er ließ seinen Wagen offen, so daß die beiden Obdachlosen sich jedenfalls da reinsetzen konnten. Er borgte ihnen einen Mantel und eine Decke, und so war ihnen einigermaßen geholfen.

Sie hatten stundenlang dagesessen und geplaudert. „Man lernt

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sich eigentlich ganz gut kennen, wenn man so eine ganze Nacht dasitzt und miteinander spricht“, sagte Isabel leise. „Jochen Weiden ist ein feiner Kerl.“

„Das ist er!“ pflichtete ich ihr bei. Als es anfing, hell zu werden, machten sie einen Spaziergang.

„Und das war schön!“ erzählte Isabel. „Bei Sonnenaufgang durch den Wald zu gehen. Wir haben zwei herrliche Elche gesehen, und Jochen kannte einen Bach, wo man Biber sieht. Wir hatten Glück – wir entdeckten eine Bibermutter mit zwei kleinen Jungen, und der Biberpapa war dabei, Zweige zu holen und den Damm auszubauen! Nein, daß es so was gibt! Nachher, auf dem Rückweg, huschte uns ein Fuchs über den Pfad! Oh, diese Morgen Wanderung war die ganze Reise wert!“

Nach dem Frühstück fuhren ein paar Gäste ab, zwei Zimmer wurden frei, der Autoschlüssel wurde mit herzlichem Dank zurück-gegeben, und Isabel war ins Bett gekrochen und hatte bis zur Lunch-zeit geschlafen. Wahrscheinlich hatte Herr Weiden dasselbe getan!

Isabel lächelte vor sich hin. „Er ist wirklich ein ganz schrecklich netter Kerl“, wiederholte sie.

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Hundertprozentig! „Kinder, ist euch klar, daß solch ein Tag wie dieser ein Gottesge-schenk ist?“ fragte Sonja, als wir uns am Frühstückstisch trafen.

„Weil du deinen lästigen Ehemann los bist?“ fragte ich. „Schäme dich! Laß es dir ein für allemal gesagt sein, mein Ehe-

mann ist ein Unikum und viel zu gut für diese Welt. Das habe ich ihm auch heute früh um sechs gesagt, bevor er losfuhr. Nein, der Tag ist ein Gottesgeschenk, weil im Reiseprogramm steht: ,Dieser Tag steht zur freien Verfügung’. Also, nicht nach der Uhr leben, nicht in Windeseile den Koffer packen, auch nicht ruhelos durch die Gegend wandern, weil wir die Zimmer morgens abgeben müssen und erst abends weiterfahren werden. Ich kenne Gruppenreisen, und ich ver-stehe es, einen solchen Tag zu genießen!“

„Dann genieße“, sagte ich. „Es ist dein freier Tag, ich habe Dienst, du kannst dich in einem Liegestuhl räkeln und Kartengrüße schreiben und an deinen weggeflogenen Ehemann denken. Übrigens, wo ist heute unser ,Baby’?“

„Da kommt er“, sagte Rolf, der mir gegenübersaß und die Tür sehen konnte. „Zusammen mit Isabel und Frau Lander.“

Isabel sah frischer aus, als ich sie die ganze Zeit vorher gesehen hatte. Sie fanden einen freien Tisch, und Herr Weiden kam einen Augenblick zu uns herüber.

„Können Sie mich jetzt beim Frühstück entbehren, oder haben Sie etwas mit mir zu besprechen?“

„Klar können wir Sie entbehren. Gehen Sie ruhig zu Ihrem priva-ten Schützling, und bestellen Sie bloß nicht Eier und Speck. Der Speck ist so salzig, daß Sie nachher den ganzen Biberbach leertrin-ken würden“, riet Sonja.

Allmählich fand sich unsere ganze Gruppe ein. Ich holte die Teilnehmerliste aus der Tasche und versuchte die achtzehn Personen „auseinander zu klamüsern“, wie mein lieber Schwager sagt. Ich kannte jetzt Frau Lander und Isabel, Doktor Scherning und seine Frau, Herrn Felber und Fräulein Rothbaum, und dann die Damen Hacker und Franzen. Ja, halt – da war noch ein Ehepaar reiferen Alters, Herr und Frau Birkental, oder war es Ehepaar Tesman? Ich mußte Sonja fragen.

„Ach die da, das sind ja Inspektor Tesman mit seiner untertäni-gen Angetrauten, hast du nicht gehört, wie er immer alles bestimmt

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und wie folgsam sie ist?“ „Wie hat er das bloß geschafft?“ fragte Rolf. „Von dem muß ich

mir was abgucken, es wäre zu schön, eine folgsame Frau zu haben!“ „Die Grauhaarige da, mit dem jungen Mädchen, das ist Fräulein

Asmundson. Ja, und das Mädchen heißt Kleefeld, sie ist die Nichte. Das Tantchen hat ihr diese Reise zum zwanzigsten Geburtstag ge-schenkt.“

„Wie du Bescheid weißt!“ sagte ich. „Nun, ich weiß vielleicht das Notwendigste. Also, da wären noch zwei – die Dame Moorstedt, das muß die mit den strubbeligen Haaren sein, und dann der Profes-sor – Petersen, ja, richtig, der mit den Mundwinkeln, die immer einen Bogen nach unten beschreiben…“

„Sag mal, was ist in dich gefahren?“ fragte meine Schwester. „Sind es die Pflichten als Hosteßvertreterin, die dich bedrücken?“

„Nicht Pflichten, sondern ein löbliches Vorhaben“, erklärte ich. „Und zwar ein Vorhaben, bei dem ich auf deine tatkräftige Unter-stützung rechne. Siehst du, es sind etliche hier, die ganz allein reisen. Ich möchte, daß alle miteinander irgendwie Kontakt bekommen, daß die Gruppe sozusagen eine Einheit wird, daß wir uns alle so gut verstehen, daß jeder Teilnehmer immer jemanden hat, mit dem er seine Freude oder meinetwegen seinen Ärger teilen kann.“

„Mit anderen Worten, daß alle nachher das Gefühl haben, eine sehr schöne Reise gemacht zu haben?“ schmunzelte Sonja. „Weißt du, manchmal hast du wirklich gute Ideen. Man merkt direkt, daß du meine Schwester bist!“

„Nur habe ich nicht deine einmalige Bescheidenheit“, antwortete ich. „Im Ernst, Sonnie, wollen wir als perfekte Hostessen uns dafür einsetzen? Unser größtes Problem hat Herr Weiden uns abgenom-men, ja, ich denke natürlich an Isabel. Als ich vorgestern die schreckliche Wartezeit zusammen mit Frau Lander verbrachte, er-zählte sie mir von Isabel, so wie sie früher war. Daß sie die Eigen-schaft hatte, sich für eine Sache hundertprozentig einzusetzen. Nun habe ich mir gedacht, daß wir in diesem Falle dasselbe tun. Uns hundertprozentig dafür einzusetzen, daß kein Gruppenmitglied sich einsam fühlt, daß alle wirklich etwas von dieser Reise haben.“

„Natürlich kannst du mit mir rechnen“, nickte Sonja eifrig. „Du bist eigentlich gar nicht so dumm wie du aussiehst!“

„Nein, ich sehe ja auch genauso aus wie du“, entgegnete ich. „Aber du hast mich auf einen anderen Gedanken gebracht. Ich könn-te mir denken, daß Isabel sich auch für das Nichttrinken hundertpro-

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zentig einsetzen würde, falls…“ „… falls es Herrn Weiden in der langen Nacht im Auto gelungen

ist, sie zu überzeugen“, ergänzte Rolf. „Ihr klarzumachen, daß es nur von ihr selbst abhängt, ob sie ihr Leben zerstören oder ob sie ein glücklicher Mensch werden will.“

„Wenn ich diese Änderung sehe, die mit ihr geschehen ist, glaube ich beinahe, daß unser ,Baby’ die richtigen Worte gefunden hat“, meinte Sonja. „Aber – ich habe ja gottlob keine Erfahrungen in puncto Alkoholmißbrauch. Ist es nicht wahnsinnig schwer, davon loszukommen?“

„Sicher“, bestätigte Rolf. „Nicht, daß ich selbst jemals ein Säufer gewesen bin. Aber ich weiß es durch einen Patienten. Der ganze Organismus schreit nach Alkohol, und die Widerstandskraft ist un-geheuer geschwächt. Deswegen erlebt man ja immer wieder die traurigen Rückfälle. Aber wenn es stimmt, daß es bei Isabel nicht mehr als ein halbes Jahr gedauert hat, besteht wohl noch eine Hoff-nung. Mit diesem Patienten von mir war es soweit gekommen, daß er schon im Rinnstein lag. Und das ging jahrelang so. Und wenn er es geschafft hat, wieder ein normaler Mensch zu werden, dann müßte die kleine Isabel es erst recht schaffen.“

„Sie schafft es!“ sagte Sonja mit Überzeugung. „Ich sagte doch gleich, das Mädchen müßte sich verlieben. Das ist jetzt geschehen. Und ich habe so das Gefühl, daß Herr Weiden gestern nacht und gestern früh bei der Morgen-Waldwanderung haargenau die richti-gen Worte gefunden hat!“

„Er ist eigentlich ein Goldstück“, stellte ich fest. Für mein neues Vorhaben war der Tag gut gewählt. Der größte

Teil der Gruppe hatte sich anscheinend dafür entschlossen, einen Ruhetag einzulegen. Auf der Schattenseite des großen Hauses stan-den Tische und Gartenstühle. Bald waren alle besetzt. Der Professor las, Frau Hacker löste ein Kreuzworträtsel, Fräulein Asmundson strickte, und die meisten anderen schrieben Kartengrüße.

Ehepaar Scherning machte einen Waldspaziergang. Frau Tesman war gerade in einen bequemen Liegestuhl niedergesunken. Sie lä-chelte freundlich, als sie mich sah: „Was für ein schöner Tag – und so herrlich ruhig! Ich genieße es richtig, mal wieder faulenzen zu können! Die weiten Busfahrten haben mich ehrlich gesagt sehr ange-strengt!“

„So geht es uns allen“, meinte ich. „Man braucht ganz einfach solch einen Ruhetag zwischendurch. Kann ich etwas für Sie tun,

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Frau Tesman? Möchten Sie was trinken, oder etwas lesen? Ich habe ein paar deutsche Zeitschriften.“

„Oh, das ist lieb von Ihnen. Ja, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht… ich habe dummerweise nichts zu lesen mit…“

Ich lief in unser Zimmer, und als ich zurückkam war Frau Tes-man aufgestanden. Ihr Mann war dazugekommen. Er sah beunruhi-gend energiegeladen aus.

„Ruhetag!“ hörte ich ihn sagen. „Man zahlt doch nicht die teure Reise, um auszuruhen! Wir müssen doch etwas sehen! Mach dich schnell fertig!“

„Ach, Frau Skogstad, ich werde wohl doch nicht zum Lesen kommen. Es tut mir leid, daß ich Sie bemüht habe – mein Mann möchte gern, daß wir mit der Seilbahn auf den Mount Whistler fah-ren…“

„Aber das macht doch die ganze Gruppe morgen!“ erklärte ich. „Morgen nachmittag, dann ist das Licht besser zum Fotografieren, jetzt würden Sie enttäuscht sein. Während der Mittagshitze ist immer dieser Dunst da.“ Gott sei Dank, ich hatte mich von Herrn Weiden belehren lassen. „Und morgen müssen wir rechtzeitig unsere Zimmer räumen, dann ist es schön, ein Programm zu haben, bis unser Zug fährt.“

„Na, dann machen wir eben einen Waldspaziergang“, bestimmte der unermüdliche Herr Tesman. Seine Frau ging artig und folgsam zu ihrem Appartement, um feste Schuhe anzuziehen.

Am liebsten wäre ich in den freigewordenen Liegestuhl gesun-ken. Aber es stimmte noch nicht mit meinem „hundertprozentigen“ Programm. Da saß zum Beispiel Frau Hacker, biß auf den Bleistift und runzelte die Stirn.

„Na, haben Sie Probleme, Frau Hacker?“ wagte ich zu fragen. „Ja, und ob, ich suche verzweifelt einen großen Redner, der mit

D anfängt und elf Buchstaben hat, der vorletzte ist ein z…“ „Ach du liebe Zeit, ich habe keine Ahnung von großen Rede-

künstlern…“ Ich sah mich um. Ein paar Meter weg saß Fräulein Moorstedt. Wie war es nun – sie war doch eine pensionierte Lehre-rin? Sie saß auch ganz allein da und guckte ins Reiseprogramm.

„Ach, Fräulein Moorstedt – wissen Sie einen Redekünstler, der mit D anfängt?“

„Das könnte vielleicht Demosthenes sein!“ „Ja, aber der vorletzte Buchstabe scheint ein z zu sein.“ „Zeigen Sie mal, woher haben Sie Ihr z? Katze – nein, passen Sie

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auf, das wird Kater sein, dann stimmt es – und das r vom Kater – wo haben wir es – Himmelskörper – ja natürlich, dieses r gehört in Stern…“

Jetzt konzentrierten die beiden sich gemeinsam um das große Kreuzworträtsel, Fräulein Moorstedts Reiseprogramm war auf die Erde gefallen und blieb da liegen.

Wo war eigentlich Fräulein Rothbaum? Ob sie noch irgendwo al-lein und schweigsam dasaß, so wie ich sie in Banff gesehen hatte?

Von wegen allein!! Da saß sie auf einer Treppe, neben Herrn Felber. Sie hatten eine Landkarte über die Knie ausgebreitet und folgten mit ihren Bleistiften dem Lauf des Yukonflusses!

Kein Zweifel. Ich hatte schon ein paar kleine Erfolge zu ver-zeichnen!

Als ich eine Runde machte, um meinen Angetrauten zu finden, sah ich Isabel. Sie wanderte irgendwie ziellos auf dem großen Platz herum, blieb vor den Plakaten im Bürofenster stehen, ging weiter, guckte auf die Uhr. Dann blieb sie wieder stehen, holte ihre Geldbör-se aus der Tasche und fing an, das Kleingeld zu zählen.

Da hörte ich das Winseln eines Hundes. Ich drehte mich um und sah das Tier, an der Leine festgebunden mußte es in der prallen Son-ne stehen. Kein Herrchen oder Frauchen war zu sehen. Die Zunge hing dem Tier aus dem Maul. Bestimmt hatte es Durst.

Isabel hatte das Winseln auch gehört. Sie kam näher und entdeck-te mich.

„Haben Sie so was schon gesehen, das arme Tier hier in der pral-len Sonne anzubinden, wo kein Schatten ist! Ich hole schnell etwas Wasser.“

Sie lief in ihr Zimmer, ich löste die Leine und brachte das Tier ein paar Meter weiter weg, wo ein großer geparkter Wagen etwas Schatten spendete. Isabel kam zurück mit Wasser in einer Pappscha-le. Das Tier trank gierig. Dann verschwand sie wieder und kam mit einem langen, dicken Bindfaden zurück.

„Hiermit können wir die Leine etwas verlängern, so daß das arme Tier sich hinlegen kann. Wenn ich den Besitzer erwische, kann er sich auf etwas gefaßt machen!“

„Ich werde Ihnen beistehen!“ versprach ich. „Armes kleines Hündchen! – Übrigens, wo ist Herr Weiden geblieben?“

„Er mußte ganz schnell in die Stadt fahren, und bat Ihre Schwe-ster mitzukommen. Irgend etwas mit den Schlafwagenplätzen für morgen mußte geklärt werden.“

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„Und was machen Sie jetzt? Ihre Mutter sitzt mit Fräulein Fran-zen unter einem Sonnenschirm.“

„Ich bleibe ein bißchen bei dem kleinen Hund. Er möchte be-stimmt Gesellschaft haben. Vielleicht muß ich auch sein Wasser-näpfchen nachfüllen.“

„Sie sind lieb, Isabel! Wo der Hund sie doch gar nichts angeht.“ „Natürlich geht er mich etwas an! Wenn ich sehe, daß jemand

Hilfe braucht, dann geht es mich etwas an!“ „Wissen Sie was, Isabel?“ lächelte ich. „Ich mag Sie furchtbar

gern leiden!“ Eine feine Röte breitete sich über das hübsche kleine Gesicht. „Nicht zu glauben. Jetzt sind Sie der zweite Mensch, der mir das

sagt – innerhalb von 24 Stunden! – Da ist übrigens Ihr Mann, Frau Skogstad – ach, wie ist Ihr Name doch schwer auszusprechen!“

„Ja, das ist nicht einfach für Nichtnorweger! Aber Sie dürfen ru-hig Senta sagen. Na, dann unterhalten Sie sich gut mit dem Hünd-chen, und sollte der Besitzer auftauchen, dann denken Sie daran, daß Mord hoch bestraft wird. Also, gehen Sie nicht handgreiflich vor, beschränken Sie sich aufs Ausschimpfen!“

„Werde ich tun, soweit meine Englischkenntnisse reichen!“ Ich fand, daß ich mir jetzt eine Pause gönnen konnte. Rolf fand es auch… Wir suchten uns eine schattige Balkonecke aus und verbrach-ten eine halbe Stunde damit, uns zu überlegen, was wohl unser Sohn machte, und was für Schandtaten er im großelterlichen Haus schon vollbracht hatte. Die Möglichkeiten waren vielseitig.

Aber plötzlich rief mich die innere Stimme des Pflichtgefühls zu-rück in die Wirklichkeit. „Ach Rolf, ich habe vergessen… ich muß schnell rüber ins Restaurant, wegen der Tischbestellungen zum Lunch. Drei meiner lieben Schützlinge wollten doch in die Stadt fahren und dort essen. Ich bin gleich zurück!“

Im Restaurant war es wie ausgestorben. Ein einsamer Ober stand gelangweilt am Fenster. Ich erledigte, was ich zu erledigen hatte, und stellte zu meiner Freude fest, daß es mir keine sprachlichen Schwie-rigkeiten bereitete. Kein Zweifel, ich hatte wirklich Fortschritte im Englischen gemacht.

Eigentlich hatte ich Durst. An der kleinen Bar in der Ecke gab es eisgekühlte Fruchtsäfte. Ich könnte ja Rolf auch eine solche Dose mitbringen. Hatte ich Geld bei mir? Ein paar Münzen in der Hosen-tasche, ja, das reichte.

In meinem besten Englisch bat ich um „two tins orange juice“.

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In der Ecke von der Bar war es halbdunkel. Erst als ich ganz dicht an der Theke war, entdeckte ich, daß jemand da saß, auf einem hohen Barhocker, in der dunklen Ecke.

Es war Isabel. Und in dem Augenblick, wo ich sie erkannte, wurde vor ihr ein

Glas hingestellt. Es war ein kleines Glas, es mußte Whisky sein. Da handelte ich instinktiv, ohne Überlegen. Kaum hatte der Bar-

keeper uns den Rücken zugedreht, ergriff ich das Glas und goß den Inhalt in den großen Eiswürfelkübel, der danebenstand.

Isabel machte den Mund auf, wollte etwas sagen – blieb aber stumm.

„Isabel“, sagte ich ganz leise. „Was haben Sie mir vor einer hal-ben Stunde gesagt? Wenn ich sehe, daß jemand Hilfe braucht, dann geht es mich etwas an! Es geht denjenigen etwas an, der das Unglück entdeckt! – Kommen Sie, Isabel.“

Ich zahlte meine Saftdosen und konnte auch noch genug für Isa-bels Whisky zusammenkratzen. Dann nahm ich ihre Hand. Sie leiste-te keinen Widerstand, als ich sie zur Tür führte.

Sie blieb auf der Treppe stehen und sah mich an. Ihr Gesicht hat-te einen gepeinigten Ausdruck. „Sie wissen ja nicht wie es ist, Senta! Seit vorgestern habe ich keinen Tropfen mehr getrunken…“

„… und jetzt schreit Ihr ganzer Körper nach einem Schnaps? Verstehe ich! Und Sie wollten nur einen einzigen trinken, sozusagen zum Abgewöhnen? Und nur dieses eine Mal, bestimmt nicht wieder? Es wäre sonst eine zu große Zumutung für Ihren Körper, das Trinken so plötzlich abzubrechen. War es nicht so?“

„Genauso“, flüsterte Isabel. „Sie waren nervös und niedergeschlagen, sie brauchten ganz

dringend ein kleines Aufputschmittel, nur ein ganz kleines?“ „Ja…“ Sie sah mich an. „Sie verstehen es so gut. Haben Sie

selbst so was erlebt?“ „Ja, aber nicht mit Alkohol. Ich habe mir vor ein paar Jahren das

Rauchen abgewöhnt. Ich war nämlich auf dem besten Wege, davon abhängig zu werden. Dann dachte ich, andere Menschen haben es geschafft, dann müßte ich es auch können. Aber es war anfangs furchtbar schwer. Es ging mir so, wie es Ihnen heute ging. Ich hielt zwei Tage durch, dann kam der Augenblick, wo ich doch eine Ziga-rette nahm, mit dem festen Vorsatz, nur zwei Züge zu nehmen. Denkste! Ich rauchte die ganze Zigarette, und schämte mich nachher so sehr, daß ich mich selbst hätte ohrfeigen können. Ich hatte doch

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meinem Mann versprochen, aufzuhören! Na, ich habe es ihm ge-beichtet, und er sagte nichts. Er sah nur so furchtbar enttäuscht und unglücklich aus – oh, ich wünschte, er hätte mich lieber verhauen! Na, dann war ich wieder tapfer, ich wurde nervös, ich dachte nur ans Rauchen, ich sehnte mich so furchtbar nach ein paar Zügen – aber dann kam ein anderes Gefühl, und das war wunderbar. Wenn ich schon eine Zigarette in der Hand gehabt hatte, und sie zurücklegte, weil mein besseres Ich doch siegte – dann war ich so glücklich! Diesmal hast du es geschafft! sagte ich mir selbst. Es geht also, wenn man will! Allmählich ging es auch, und nach ein paar Wochen war der Drang auch nicht mehr so groß! Ja, und dann kam etwas dazu, was mir sehr half. Ich wurde schwanger. Und da hatte ich nicht ein-mal Lust auf Zigaretten. In den neun Monaten kostete es mich gar keine Selbstbeherrschung, das Rauchen zu lassen. Dann dachte ich, jetzt hast du die große Möglichkeit. Bloß nicht wieder anfangen! Ja, so habe ich es also geschafft.“

Isabel horchte mit großen Augen. „Aber – eigentlich hatten Sie es ja geschafft, bevor Sie schwanger wurden?“

„Ja, ich hatte es. Wie gesagt, das Gefühl, der Versuchung wider-standen zu haben – die Augenblicke, wo ich mir sagen konnte, noch einmal geschafft, Senta, die waren so schön, daß ich neuen Mut bekam. Wissen Sie, es wurde irgendwie ein Sport für mich, es wurde mir eine Ehrensache – mein besseres Ich wurde trotzig und wollte sich von dem schlechteren Ich nicht besiegen lassen!“

Wir waren wieder bei unserem Hotel. Der kleine Hund war weg. „Ja, er wurde abgeholt“, nickte Isabel. „Es war ein Kind, das ihn

abholte. Ein kleines Mädchen. Ich bezweifle, daß es mein Englisch verstand. Jedenfalls hat es begriffen, daß man einen Hund nicht in der prallen Sonne anbindet!“

„Kommen Sie mit mir rauf“, schlug ich vor. „Es ist noch eine Stunde bis zum Lunch. Mein durstiger Mann sitzt oben auf dem Balkon. Mit Hilfe von Zahnputzbechern können wir sicherlich zwei Dosen Apfelsinensaft zu dritt teilen!“

Als Rolf beim Offnen der Dosen sich überall mit Apfelsinensaft bespritzt hatte und mit ein paar nicht übersetzbaren norwegischen Kraftausdrücken ins Bad gegangen war, sagte Isabel leise: „Es war lieb von Ihnen, daß Sie mir das erzählten, von den Zigaretten. Wenn ich wieder schwach werde, und das werde ich bestimmt, dann werde ich mir selbst sagen: Senta und das Rauchen! Denk an Senta und das Rauchen! Es wird mir helfen!“

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„Sie schaffen es, Isabel. Glauben Sie mir, Sie schaffen es. Denn Sie möchten es doch gern? Es ist doch Ihr Wunsch, von diesem Fluch loszukommen?“

„Ja“, sagte Isabel leise. „Es ist mein Wunsch. Hundertprozentig!“

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Man tut was man kann! „In einem Punkt hat ‚Tellus-Touren’ noch etwas dazuzulernen“ seufzte Sonja. Sie war dabei, die Koffer zu packen, ihren eigenen und Heikos. Er hatte nur eine Flugtasche mit Schlafanzug und Toilettensachen mit nach Saskatchewan genommen. „Etwas von dir zu lernen?“ fragte ich.

„Von mir oder von Tante Helenes ,Magellan-Reisen’. Wir waren ja damals in Australien mit einer ,Magellan’-Gruppe. Und die hatten immer zwei Zimmer für den Abreisetag reservieren lassen – eins für die Damen und eins für die Herren. So hatte man eine Zuflucht, wenn man sich umziehen oder waschen wollte. Oder um sich ein bißchen auszuruhen. Jetzt müssen wir uns gleich unsere Reisekluft anziehen und damit schwitzend herumlaufen, bis wir heute abend in den Zug steigen! Oder wir müssen die Flugtasche vollpacken, damit wir irgendwo in einem Klo uns umziehen können. Das bedeutet, daß wir den lieben langen Tag diese olle Tasche mitschleppen müssen, außerdem noch die Handtasche und den Fotoapparat und die Film-kamera.“

„Du mußt es bei der ersten Gelegenheit Direktor Grünbach sa-gen“, schlug ich vor. „Er ist bestimmt froh über alle guten Tips, wo er doch in harter Konkurrenz mit all den großen und bekannten Rei-seunternehmen steht!“

„Sag es selbst, wenn du ihn das nächste Mal als Heikos Frau be-suchst! Eigentlich bist du sagenhaft frech, Senta!“

„Frech ist ein häßliches Wort. Könntest du nicht erfinderisch sa-gen? Übrigens war es Heikos Idee, daß wir die Rollen tauschen, nicht meine! Sag lieber, daß ich große Initiative besitze.“

„Na, meinetwegen. Sag mal, hast du schon wieder meine weißen Schuhe geklaut?“

„Ach ja, richtig – ich hole sie gleich!“ „Nein, ich danke. Als Strafe kannst du zusehen, daß du sie in

deinen eigenen Koffer reinpferchst. Aber im Ernst, Sentachen, der letzte Ausschlag von deiner – wie nanntest du es – ja richtig, Initiati-ve, ist wirklich lobenswert. Es ist ein neuer Ton in der Gruppe, viele haben sich gefunden, viele haben… herein!“

Es hatte geklopft. Es war Fräulein Moorstedt. „Entschuldigen Sie vielmals, Frau Brunner“, sie wandte sich an

mich, aber an solche Verwechslungen waren wir gewohnt und fan-

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den es nicht die Mühe wert, sie richtigzustellen, „können Sie mir einen norwegischen Berggipfel mit elf Buchstaben sagen – der vierte muß ein T sein, und der vorletzte ein N!“

„Glittertind“, sagten Sonja und ich gleichzeitig. „Oh, tausend Dank, ja das paßt, das G gehört in ,Wagen’“, sie

drehte sich um und rief durch die offene Tür: „Wir haben es. Frau Hacker, es wird nicht ,Karre’, sondern ,Wagen’“, und verschwand strahlend.

„Na, die haben sich ja gefunden“, lächelte Sonja. „Übrigens habe ich auch etwas geschafft. Ich habe das nette Ehepaar Scherning mit dem sauren Tesman und seiner armen Frau zusammengebracht, damit Frau Tesman sich endlich mit anderen Menschen unterhalten kann. Vielleicht kann Herr Scherning den ollen Tesman beeinflus-sen! Übrigens, Frau Scherning erzählte mir, daß ihr Mann diese Reise als Geschenk zum vierzigsten Hochzeitstag gestiftet hat.“

„Vierzig Jahre“, wiederholte ich. „Wie glaubst du, sieht es bei uns aus nach vierzigjähriger Ehe?“

„Bei Heiko und mir mit Gottes Hilfe so wie heute“, lächelte Son-ja. „Und bei dir und Rolf hoffentlich auch!“

„Eigentlich haben wir unsere Ehemänner gut gewählt, Sonnie“ meinte ich.

„Na, unsere Ehemänner haben es auch nicht schlecht getroffen“, antwortete meine Schwester mit der ihr eigenen Bescheidenheit. „Wir sind doch zwei furchtbar nette Mädchen? Aber wie dem auch sei, ich muß jetzt was tun. Das heißt, ich muß sehen, ob all unsere lieben Teilnehmer ihre Koffer vor die Zimmertüren gestellt haben. Ach, du könntest mir eigentlich helfen. Nimm du die Zimmer in Parterre, dann laufe ich nach oben. Hier, setz dich auf meinen Kof-fer, sonst bekommen wir ihn nicht zu. Paß auf, da guckt noch ein Hemdzipfel heraus… so, ja, setz dich mitten auf den Deckel… ja, siehst du – da haben wir es!“

Die Kofferschlösser schnappten ein, und wir eilten zu unseren Pflichten.

Rechnung bezahlen, Gepäckstücke zählen, Gutscheine für die Mahlzeiten im Zug verteilen, dazu tausend Fragen – davon neunhun-dertneunundneunzig ganz überflüssig. Aufpassen, daß alle ihre Zimmerschlüssel zurückgaben. O ja, es war genug zu tun für Sonja und Herrn Weiden, und ich half ihnen so gut wie ich konnte.

Rolf zeigte sich von seiner besten Seite, und half den älteren Damen tragen – Flugtaschen, Kameras, Mäntel und Jacken.

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Wir vermißten Heiko. Er konnte immer alle Sachen so schnell er-ledigen, er hatte gewissermaßen eine Autorität, die unser liebes ,Babygesicht’ nicht hatte.

Aber endlich war das Gepäck im Bauch des großen Busses ver-staut, Sonja ging durch den Bus und zählte die Teilnehmer – auf deutsch – und ich kontrollierte auf norwegisch.

Endlich konnten wir losfahren, rein in die Stadt, oder sagen wir, in das Städtchen. Dort verteilten wir uns auf die Andenkenläden. Es gab allerlei indianisches Kunstgewerbe, zum Teil kitschig, zum Teil wirklich hübsche Sachen.

Rolf und ich landeten neben Ehepaar Tesman vor einer Auslage von Taschen und pelzgefütterten Mokassins, richtig warme, mollige Hausschuhe.

„Oh, die sind aber schön!“ sagte Frau Tesman, und steckte die Hand in einen Schuh, der mit weißem Hasenfell gefüttert war. „Die hätte ich gern gehabt – wo es doch bei uns so fußkalt ist!“

„Du hast doch gute Pantoffeln“, brummte der Ehemann, betrach-tete anscheinend die Sache als erledigt und fing an, eine Sammlung indianischer Speere zu betrachten. Ich warf einen Blick auf Frau Tesman. Ihr Gesicht erinnerte mich an das eines kleinen, hilflosen, enttäuschten Kindes.

„Der Kerl ist unausstehlich!“ sagte ich auf norwegisch. „Ich weiß, daß seine Frau sehr empfindliche Füße hat. Gestern hat er sie zu einer weiten Wanderung gezwungen, heute gönnt er ihr nicht die Mokassins, die eine Wohltat für ihre Füße sein würden!“

Rolf überlegte einen Augenblick. „Versuch, ob du sie ins Ge-schäft nebenan kriegen kannst“, sagte er. „Ich werde mal sehen, was ich erreichen kann.“

Es war keine Kunst, Frau Tesman mitzulotsen. Ich ging hin zu dem Ehemann, setzte mein allerliebenswürdigstes Lächeln auf, und fragte, ob ich seine Frau für ein paar Minuten entführen dürfe, ich wollte mir nebenan indianische Blusen ansehen und brauchte ihre Hilfe.

Rolf beherrscht nicht nur die Kunst, Damen zu betören – die Kunst beherrscht er übrigens zur Vollkommenheit – sondern Männer mögen ihn auch. Ich behaupte immer, er hätte Verkäufer werden müssen, er hätte bestimmt im Dezember Abreißkalender für das noch laufende Jahr verkaufen können, oder einen Fleischwolf an einen Vegetarier!

Ich trödelte absichtlich in dem Nachbargeschäft herum, kaufte

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keine Bluse – ich war nämlich davon überzeugt, daß Frau Tesman sich keine kaufen konnte – , aber dafür zwei kleine Indianerpuppen für meine beiden Nichten, die in wenigen Wochen Geburtstag hatten. Dann nahm ich mir viel Zeit, etliche Ansichtskarten auszusuchen, und als ich gerade beim Bezahlen war, erschienen die beiden Männer – jeder mit einem Päckchen in der Hand.

Nachher gingen wir essen und landeten am gleichen Tisch. Rolf war munter und aufgekratzt, unterhielt uns glänzend und brachte sogar den brummigen Herrn Tesman zum Lächeln.

Ich kenne meinen Mann und wußte, daß er jetzt was vorhatte. Und ganz richtig: Als wir unser Essen bestellt hatten, sagte er mit verschmitztem Lächeln: „Was meinen Sie, Herr Tesman? Wollen wir nun unseren beiden Hausdrachen zeigen, was für liebe Ehemän-ner sie eigentlich haben?“

Ein Paket wurde vor mich hingelegt, und eins vor Frau Tesman. Ich meinte, beobachtet zu haben, daß die geschenküberreichende Bewegung der Hand bei meinem Angetrauten mehr Übung zeigte als die von Herrn Tesman.

Das war, was ich erwartete: Für mich ein paar Mokassins, die ich nicht so sehr dringend brauchte, und für Frau Tesman genau das Paar, das sie im Geschäft in der Hand gehabt hatte.

„O Rolf, das ist aber lieb von dir! Du kriegst nachher einen dik-ken Kuß!“

Rolf würde schon wissen, warum ich ihm den Kuß versprach. Es war nicht in erster Linie für die Mokassins!

Frau Tesman hatte das Päckchen mit zitternden Händen ausge-packt. Nicht nur die Hände zitterten. Als sie den Inhalt sah, zitterten ihre Mundwinkel noch mehr.

„O Helmut… wie freue ich mich… nein, wie freue ich mich… ich ahnte nicht, daß du… und dann hast du dir genau das Paar ge-merkt, daß ich so besonders hübsch fand… oh, wie bin ich froh…“

Sie versprach ihm allerdings keinen „dicken Kuß“, aber ich sah, daß sie, beinahe schüchtern, ihre Hand auf die ihres Mannes legte.

Ich sandte in diesem Augenblick ein Stoßgebet zum Himmel em-por. Möge es nie mit Rolf und mir soweit kommen, daß ein dritter ihn dazu mit Kunst und Diplomatie überreden mußte, mir einen Wunsch zu erfüllen!

Als unsere Wege sich nachher für ein Weilchen trennten, kam endlich die Erklärung.

„Ich habe ihn überrumpelt“, gestand Rolf. „Ich sagte ihm, so,

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Herr Tesman, jetzt ist die Gelegenheit da, kommen Sie mal schnell, ich will auch meiner Frau so ein Paar kaufen – sie sind übrigens sehr preiswert, eine solche Gelegenheit muß man ja ausnutzen. Na ja, ich quasselte los, schlimmer als du, wenn du über Gerry erzählst – und dann habe ich etwas darüber eingeflochten, daß es doch ein Glück sei, wenn eine Frau sich was Vernünftiges und Brauchbares wünscht, und nicht irgendein unnützes Stück, das nachher nur irgendwo he-rumliegt. Also, ich tat so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, daß wir beide vorhatten, unseren lieben Frauen eine Freude zu machen. Und tatsächlich, ehe er zur Besinnung kam, stand er schon an der Kasse und zahlte!“

„Rolf, du bist einmalig!“ „In Gegensatz zu dir, du bist nur eine Kopie von Sonja. Oder

vielleicht ist es umgekehrt. Aber eins sage ich dir, diese Dinger brauchst du gar nicht. Ich dachte, du könntest sie Beate als Mitbring-sel schenken!“

Ich mußte mich beherrschen, um nicht laut zu lachen. „Einver-standen, Rolf! Aber den Kuß kriegst du trotzdem!“

„Zwei“, verlangte Rolf. „Einen für jeden Pantoffel!“ „Einen pro Pantoffel“, versprach ich. „Auch wenn du Herrn

Tesman dazu bringst, für einen Tausendfüßler Pantoffeln zu kau-fen!“

Nachmittags ging es per Seilbahn in die Höhe, auf den Mount Whistler. Wir mußten aufpassen, daß Herr Balberg in die Mitte der vollbepackten Kabine kam, wo ihm viele Köpfe den Ausblick ver-sperrten! Er neigte ja zum Schwindligwerden! In dem Punkt tat er mir leid. Aber sonst erweckte er mehr Ärger als Mitgefühl in mir.

Der Ausblick von Mount Whistler war prachtvoll. Diese enormen Wälder, die herrlichen Seen, die wunderbaren Berge! Ich setzte mich auf eine Bank und genoß die Aussicht.

Da rührte sich etwas vor meinen Füßen. Etwas ganz Kleines, Niedliches – es war ein ganz zahmes Erdhörnchen, eins von den kleinen gestreiften!

Hatte ich etwas Eßbares – ach ja, in der Jackentasche lagen noch ein paar Kekse. Das Tierchen nahm sie sehr manierlich aus meiner Hand und ließ sich durch klickende Fotoapparate nicht stören.

Wir hatten eine Stunde zur Verfügung. Man könnte einen Spa-ziersang machen. Aber als ich den steilen, steinigen Weg sah, ver-ging mir die Lust.

Der unermüdliche Herr Tesman wollte natürlich lostraben. Mein

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genialer Mann schaffte es aber spielend, daß die geplagte Frau dies-mal verschont blieb.

„Ach, das ist fein, Herr Tesman, dann habe ich Gesellschaft, sonst müßte ich meine Frau mitnehmen. Jetzt lassen wir die Damen hier, und machen eine richtige Männerwanderung. Nicht wahr, Frau Tesman, Sie leisten doch meiner Frau Gesellschaft, oder möchten Sie vielleicht…“

„Oh, ich bleibe gern hier bei Ihrer Frau“, lächelte Frau Tesman. Ich wußte genau wie gern!

Somit war die Sache in Ordnung, die Männer trabten los und wir konnten ein bißchen verschnaufen und uns über die süßen Erdhörn-chen freuen.

Als Fräulein Asmundson mit Nichte aufkreuzte, schaffte ich es, die beiden älteren Damen in ein Gespräch hereinzuziehen, ich selbst unterhielt mich mit der jungen Nichte. Sie und Isabel waren die ein-zigen Vertreter der Jugend in unserer Gruppe. Abgesehen von unse-rer allmählich ziemlich groß gewordenen Reiseleiter-Hosteß-Clique. Mit Isabel war nicht zu rechnen, sie war immer an Herrn Weidens Seite zu sehen. Also mußte ich etwas für die junge Asmundson-Nichte tun. Es schien übrigens ein recht nettes Verhältnis zwischen Tante und Nichte zu sein, aber immerhin – sie gehörten zwei ver-schiedenen Generationen an.

Ich fragte, wie sie bisher die Reise gefunden hätte. „Oh, wunderbar! Wir haben ja soviel Schönes gesehen! Aber am

meisten freue ich mich auf Alaska! Auf die Goldgräberroute und auf die Tiere im Mount-McKinley-Park!“

„So geht es mir auch! Und Ihre Tante?“ „Ach, sie ist es ja, die mich auf dieses Gleis gebracht hat! Vor

zwei Jahren war sie in Ostafrika und kam so hochbeglückt zurück, daß sie mich nächstes Jahr mitnahm. Es war unbeschreiblich schön. Dann wollte sie unbedingt auch diese Seite des Erdballs sehen und sagte: ,Weißt du, Suschen, dann kommst du gleich mit, das ist mein Geburtstagsgeschenk für dich!’“

„Sie haben aber eine einmalige Tante“, meinte ich. „Das kann man wohl sagen! Wir haben uns immer blendend ver-

standen. Schade, daß sie selbst keine Kinder hat, das heißt, für mich ist es ein Glück. Sie behauptet immer, daß ich ihre Mutterinstinkte zum Blühen bringe!“

„Was sagt denn Ihre wirkliche Mutter dazu?“ „Oh, ihr ist es schon recht“, sagte das Mädchen. Mehr nicht. In

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ihrer Stimme lag etwas, was mir ein weiteres Fragen verbot. Geschiedene Eltern, dachte ich. Mutter vielleicht wieder

verheiratet. Große Tochter lästig im neuen Eheglück! Als ich kurz vor Ende der Reise zufällig hörte, daß meine Dia-

gnose stimmte, war ich beinahe stolz auf meine eigene psychologi-sche Begabung!

„Aber manchmal fühle ich mich hier ein bißchen komisch“, ge-stand Suse. „Wie ein Kind, das durch ein Mißverständnis in eine Gesellschaft von lauter Erwachsenen geraten ist! Auf unserer Afrika-reise waren viel mehr junge Menschen dabei. Warum fährt die Ju-gend denn nicht hierher?“

„Das tut sie schon“, erklärte ich. „Aber wissen Sie, diese Reise ist ja etwas teurer als zum Beispiel eine Studentenreise. Die wenig-sten Jugendlichen können soviel Geld aufbringen. Es sei denn, sie haben verständnisvolle Tanten“, fügte ich hinzu.

„Oder eine verständnisvolle Mutter, so wie Isabel“, meinte Suse Kleefeld. „Die Isabel hat sich aber mächtig erholt in den letzten Tagen. Anfangs sah sie so elend aus. Sie war auch so verschlossen. Ich wollte so gern ins Gespräch mit ihr kommen, aber das gelang mir nicht.“

Sie stellte keine direkten Fragen, aber ihr Tonfall erwartete gleichsam eine Antwort.

„Ich glaube, Isabel ist krank gewesen“, sagte ich. „Aber sie ist jetzt über den Berg, die Reise tut ihr gut. Versuchen Sie es doch noch einmal! Es wäre ja nett, wenn die beiden jungen Mädchen der Gruppe sich finden könnten!“

Suse Kleefeld schmunzelte. „Ich glaube, Isabel und der Reiselei-ter haben sich gefunden!“

„Das glaube ich allerdings auch. Aber er hat ja ziemlich viel um die Ohren. Schließlich soll er sich ja um uns alle kümmern, nicht nur um Isabel. Und wer weiß, in den Pausen könnte Isabel Sie vielleicht brauchen!“

„Das wäre nett“, nickte das freundliche junge Mädchen. Ich sah sie an. Sie hatte ein offenes, fröhliches Gesicht, sie wirkte vernünftig und ausgeglichen. Genau einen solchen Menschen könnte Isabel brauchen. Als wir von Herrn Weiden zur Abfahrt gerufen wurden – er hatte mit Isabel eine Wanderung gemacht – fand ich, daß ich ei-gentlich auch heute meine selbstauferlegten Pflichten erfüllt hatte!

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Per Schlafwagen an die Küste „Mensch!“ rief ich.

„Meinst du mich?“ fragte Rolf. „Durchaus nicht! Ich meine den Menschen, der diese Schlafwa-

gen entworfen hat! Hier hätten die europäischen Schlafwagenkon-strukteure etwas zu lernen!“

Jede Person hatte ein kleines Abteil für sich. Eine bequeme Sitz-bank für zwei – für den Fall, daß man vor dem Zubettgehen oder nach dem Aufstehen Besuch bekam. Dann war ein Waschbecken und ein Schrank da, und ein ziemlich geräumiger, niedriger Tisch. Da waren zwei Scharniere da, also müßte man den Tisch aufklappen können – was ich natürlich auch tat. Und was kam da zum Vor-schein? Eine pieksaubere Spültoilette!

Und das war es, was mich zu dem Ausruf veranlaßt hatte. Denn das Schlangestehen vor den Schlafwagentoiletten morgens

gehört wirklich zu den weniger erfreulichen Sachen bei einer weiten Eisenbahnfahrt.

Herr Weiden machte eine Runde und zeigte uns, wie wir die Bet-ten hervorzaubern konnten. Ein Druck auf einem Knopf an der Wand, und schon fiel uns ein bequemes, fertig gemachtes Bett ent-gegen.

„Und dies ist die zweite Klasse!“ rief ich. „Also, viel lieber zwei-te Klasse hier als die erste in Europa!“

Ja, so konnte man schon die weite Reise aushalten! Da tauchte meine vielbeschäftigte Schwester auf. „Ach, Senta-

chen, geh mal zu den Damen und frage, ob sie morgen geweckt wer-den möchten und wann – hier hast du die Liste. Paß auf, daß du nicht bei einem Mann einbrichst. Notiere die Uhrzeiten neben den Abteil-nummern. Herr Weiden kümmert sich um die Männer.“

„Und was machst du?“ „Das, was Heiko hätte machen müssen – Tagesabrechnungen!

Auf dem Klodeckel!“ Schon hatte Sonja ihre Papiere ausgepackt und saß über Bons

und Quittungen gebeugt, und ich startete meine Expedition. In Frau Tesmans Abteil saß auch der Ehemann. Er hatte eine Karte vor sich, über die Strecke, die wir vor uns hatten. Er erklärte und zeigte ihr die Route, und seine Frau saß glücklich lächelnd neben ihm. An den Füßen trug sie die neuen Mokassins.

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Als ich zu Frau Lander kam, hatte ich eine besondere Freude. Sie saß in lebhaftem Gespräch vertieft mit Fräulein Asmundson. Im Abteil gegenüber hatte Isabel Besuch von Suse Kleefeld.

Daß die Damen Hacker und Moorstedt gemeinsam über ein Kreuzworträtsel gebeugt saßen, war zu erwarten.

Überall zufriedene Menschen, überall gute Stimmung. Allerdings weiß ich nicht, wie es bei unserem Schmerzenskind Herrn Balberg war, aber das ging mich eigentlich nichts an! Den hatte ich sowieso aufgegeben.

Wir gingen früh zu Bett. Ich steckte nur den Kopf rein zu meiner rechnenden und zählenden Schwester, um gute Nacht zu sagen.

„Gute Nacht, Sentachen! Schlaf gut, und steh früh auf. Denk dar-an, daß du mitten in den Rocky Mountains bist, du mußt soviel wie möglich davon mitkriegen!“

„Du hast recht, wie beinahe immer. Schlaf gut, Sonnie, träume von Heiko!“

„Darum brauchst du mich nicht zu bitten, das tue ich sowieso“, sagte Sonja.

Ich war früh wach, schob mein Bett zurück in die Wand, wusch mich und zog mich in aller Ruhe an, ging dann rüber zu meinem Mann und riß ihn unbarmherzig – wenn man einen Kuß als unbarm-herzig bezeichnen kann – aus dem Schlaf. Kurz danach saßen wir zusammen und sahen, wie die Sonne über den kanadischen Wäldern aufging. Wir schwiegen, hielten Händchen und waren glücklich. Und der Zug brachte uns immer näher an die Küste und zu neuen Erleb-nissen.

Dann mußte ich meine Aufweckrunde machen. Bei Isabel mußte ich wiederholt klopfen, sie antwortete nicht. Ich ging hinein zu ihr. Sie schlief fest.

War ein schwacher Alkoholduft in dem kleinen Raum oder täuschte ich mich?

Auf dem Waschtisch stand eine Flasche Sonnenschutzöl. Es soll-te doch nicht… Ich löste den Schraubdeckel. Ja, es war, wie ich befürchtete. Einwandfrei Whisky.

Herrgott, war sie schon wieder schwach geworden? War sie schon so abhängig, daß sie sich nicht mehr freimachen konnte?

Was sollte ich tun? Was sollte ich ihr sagen? Schimpfen würde nichts nützen. Liebevolle Nachsicht auch nicht.

Es war Isabel selbst, die das Problem löste. Sie rührte sich, drehte sich im Bett um, dann machte sie die Augen auf.

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„Oh, Senta! Wie gut, daß du da bist!“ Wie ein kleines Kind, noch halb verschlafen, streckte sie die Ar-

me aus. Ich beugte mich über sie und sie schlug die Arme um mei-nen Hals.

Sie hatte anscheinend selbst nicht gemerkt, daß sie mich duzte. Das durfte sie gern tun. Es war mir ein Beweis dafür, daß sie Ver-trauen zu mir hatte, daß sie an mich und an unser Gespräch gedacht hatte.

„Was hast du denn, Isabel? Wolltest du mir vielleicht etwas beichten? Mir etwas erzählen?“

„Nicht beichten, nur erzählen. Weißt du…“Jetzt war sie wach und wurde sich ihrer eigenen Worte bewußt. „Oh, verzeihen Sie…“

„Laß man, Isabel. Ich komme aus einem Land, wo das Duzen gang und gäbe ist. Also, was wolltest du mir erzählen?“

„Ich habe es geschafft, Senta! Ich habe es geschafft!“ „Was hast du geschafft?“ „Das Zeug auszuspucken! Weißt du, ich konnte und konnte nicht

schlafen, und ich war so allein, so furchtbar allein, und ich hatte solche Angst…“

„Wieso Angst? Warum hattest du Angst?“ „Ich weiß nicht. Nur so. Eben nur Angst. Und ich wußte, daß ein

kleiner Schluck mir helfen könnte – so, wie du es bestimmt erlebt hast, daß ein Zug von einer Zigarette dich beruhigen könnte.“

„Und dann hast du nur ein ganz kleines Schlückchen genom-men?“

„Nein! Ich habe nicht! Ich habe nicht! Ich habe etwas in das Zahnputzglas gegossen, es war zwei Uhr und ich konnte immer noch nicht schlafen, es war schrecklich. Dann habe ich getrunken, nein, nicht getrunken! Ich hatte es schon im Mund, und dann… ja, dann ging es mir durch den Kopf, wie ein Blitz, alles was du mir gesagt hattest, und ich dachte an Jochen… und dann dachte ich gar nicht mehr, ich habe das Zeug ausgespuckt! Jetzt bin ich stolz, Senta! Es war nämlich schwer, es war verdammt schwer, man muß so was erlebt haben, um zu verstehen, wie schwer es war! Aber es ging! Ich habe es geschafft!“

„Bist du denn jetzt glücklich?“ „Ja, ich bin es! Jetzt weiß ich, ich kann mich beherrschen, ich

kann den Alkohol vergessen. Heute werde ich das ganze Zeug aus-gießen.“

„Du meinst das in der Sonnenölflasche?“

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„Das hast du entdeckt? Ja, das meine ich. Das ist der Rest. Mehr habe ich nicht. Ehrenwort!“

„Soll ich es in das Waschbecken gießen?“ „Ja! Bitte schnell, bevor ich auf dumme Gedanken komme!“ Ich

ließ es mir nicht zweimal sagen. In der nächsten Sekunde blubberte der letzte Rest Whisky aus dem ‚Duty-Free-Shop’ im Hamburger Flughafen durch das Abflußrohr des Schlafwagens.

„Isabel, ich bin sehr, sehr froh!“ sagte ich. „Und ich bin stolz auf dich. Aber jetzt mußt du aufstehen! Dein Jochen ist bestimmt schon längst auf und wartet auf dich.“

„Und ich kann ihm mit gutem Gewissen in die Augen sehen!“ sagte Isabel, und ihre Augen leuchteten. „Ja, wenn du jetzt bitte verschwindest, solange du hier bist, habe ich ja keinen Platz zum Aufstehen! Und Senta – tausend Dank, daß ich dich duzen darf!“

Einen besseren Anfang des Tages hätte ich mir nicht wünschen können! Ich war so guter Laune, daß ich sogar dem Meckerer Bal-berg mit einem fröhlichen Lächeln guten Morgen wünschte.

Das Frühstück in dem hellen, sauberen Speisewagen schmeckte himmlisch. Frühstück können die Kanadier machen, soviel war mir klar. Aber von dem Mittag- und Abendessen spreche ich lieber nicht. Und von dem Kaffee erst recht nicht! Aber da machten wir es, wie Heiko es uns beigebracht hatte: Wir brachten alle unsere Gläschen Pulverkaffee mit, und vermischten das Pulver mit der Flüssigkeit, welche die Kanadier Kaffee nennen.

Nachher bekamen wir Plätze in einem schönen, frisch gelüfteten ‚Touristenwagen’ mit bequemen Sitzen und allem Komfort. Wir hatten es gut, wir hatten es direkt wunderbar!

Und da draußen flog die schöne Landschaft vorbei, die Wälder, die Berge, die Seen. Eigentlich viel zu schnell!

Ab und zu machten Sonja und ich eine kleine Runde, um zu se-hen, daß es überall gut ging, um Fragen zu beantworten und uns nach etwaigen Wünschen zu erkundigen.

„Nun?“ fragte ich nach einer solchen Runde. „Gab es was?“ „Sicher! Frau Franzen fragte, ob ich das Rezept von hot cakes

kenne. Ich mußte verneinen.“ „Aber ich kenne es. Ich habe es mir von einem netten Mädchen

in Banff geben lassen!“ „Fein! Schreib es ab! Ja, und dann brauchten die Damen Hacker

und Moorstedt dringend eine Schleichkatze mit sieben Buchstaben.“ „Genette“, schlug ich vor, stolz auf mein Wissen.

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„Das haben sie auch selbst versucht, aber das paßte nicht. Ich ha-be ihnen mit Linsang aushelfen können, dann waren sie zufrieden!“

„Weißt du, was?“ sagte ich nachdenklich. „Ich wußte wirklich nicht, wie vielseitig die Aufgaben einer Reisehosteß sind!“

„Ich auch nicht“, antwortete meine Schwester und gähnte herz-haft. „Nun störe mich nicht, ich will mir eine halbe Stunde Schlaf genehmigen!“ Was sie dann tat.

Es wurde ziemlich spät, bis wir endlich in Prince Rupert anka-men. Das wenige, was wir vom Bus aus von der Stadt sehen konn-ten, wirkte ziemlich trostlos. Unser Hotel ebenso. Aber Jochen Wei-den versicherte, es sei das beste in der Stadt. Es lag direkt am Hafen. Sehr praktisch für uns, da wir doch am folgenden Tag in aller Herr-gottsfrühe an Bord gehen sollten.

Sonja guckte rechts und links. Nein, kein Heiko war zu sehen. Sie hatte bestimmt die Hoffnung gehabt, daß er vor der Gruppe da sein würde.

Ich kenne meine Schwester, und ich las ihre Unruhe aus ihrem Gesicht. Kein Wunder, bei dem risikoreichen Leben, das Heiko führ-te! Andauernd mit den verschiedensten Flugzeugen unterwegs, oder mit Autos in einsamen Gegenden, auf schlechten Straßen – er hatte ja auch vor ein paar Jahren in Australien einen Unfall gehabt, der ihn um Haaresbreite das Leben gekostet hätte.

„Wenn wir zusammen sind, habe ich keine Angst“, hatte Sonja mir einmal anvertraut. „Aber wenn Heiko allein unterwegs ist, emp-finde ich es immer wie ein Geschenk Gottes, wenn er heil zurück-kommt.“

Sie mußte sich gewaltig zusammennehmen, um mit Herrn Wei-den das Notwendigste zu erledigen: Zimmer verteilen, die Schlüssel-ausgabe, Bescheid sagen wegen des Essens und so weiter.

Ich stand neben ihr, als der Empfangschef sagte: „Ach ja, die Tel-lus-Gruppe! Da ist doch ein Telegramm – an eine Mrs. Brunner.“

Sonja öffnete es mit zitternden Händen. Ich las über ihre Schulter: „Unavoidable delay stop arrival at sunrise stop love heiko.“

Soviel Englisch verstand ich: „Unvermeidbare Verspätung, An-kunft bei Sonnenaufgang, in Liebe Heiko.“

Als die Gruppe sich in die Zimmer verteilt hatte, und Herr Wei-den sich um das Verteilen der Koffer kümmerte, gingen Rolf und ich mit Sonja in ihr Zimmer.

„Daß man eine Verspätung haben kann, verstehe ich“, sagte Son-ja. „Aber warum telegrafiert er ,Ankunft bei Sonnenaufgang’? War-

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um nicht eine Uhrzeit? Ich kann mir nur eins denken, er wird von seinem Biberexperten da oben per Sportflugzeug direkt hergebracht und sie wollen nicht bei Dunkelheit fliegen. Das ist auch eine tolle Entfernung für eine solch kleine Mücke.“

Sie holte die Kanada-Karte aus der Reisetasche und studierte sie mit gerunzelter Stirn. Sonja kennt sich aus mit kleinen Sportmaschi-nen und deren Aktionsradius. Sie ist ja mit Heiko sehr viel geflogen.

„Nun ja“, tröstete Rolf sie. „Heiko wird schon wissen, was er tut, und wenn es so ist wie du meinst, Sonja, sollst du nur froh sein, daß er oder vielmehr sein Biberfreund nicht bei stockfinsterer Nacht fliegen will!“

„Ich bin wohl ein bißchen zu ängstlich“, gab Sonja zu. „Seit ich damals in Australien den Schock hatte – als ich durch die Zeitung von dem Autounfall erfuhr, und sechs Stunden lang nicht wußte, ob Heiko am Leben war – Kinder, das waren die sechs schrecklichsten Stunden meines Lebens!“

„Dafür erlebtest du vielleicht die glücklichsten Sekunden deines Lebens, als du ihn quicklebendig vorfandest“, meinte ich.

„Das kann ich dir sagen! Ich heulte wie ein Schloßhund vor Er-leichterung! – Nun ja, wir können ja nichts machen außer Essen gehen und uns nachher zum Schlafen hinlegen. Wir müssen morgen scheußlich früh auf!“

„Sonnie, wer verteilt die Kabinen an Bord?“ „Die Liste ist schon fertig, ich habe sie hier – wieso fragst du?

Du führst wohl schon wieder was im Schilde?“ „Grade das tu ich. Das sind ja lauter Vierbettkabinen, nicht wahr?

Können wir nicht ein bißchen umbauen? Ich wollte gern, daß Isabel und Frau Lander mit Fräulein Asmundson und der Nichte zusam-menkommen.“

„Na, willst du noch mehr Freundschaften stiften? Ja, das läßt sich wohl machen… warte mal… dann müssen wir beide die Damen Hacker und Franzen zu uns nehmen… oder möchtest du lieber Frau Tesman und Fräulein Rothbaum?“

„Tesman und Rothbaum! Unbedingt. Fräulein Rothbaum ist sehr nett, und du und ich erst recht! Doch, das sind wir. Du brauchst dich nicht zu räuspern, Rolf. Und Frau Tesman soll mit netten Menschen zusammenkommen. Und du, Rolf, du sollst zu Herrn Tesman zu-sammen mit Doktor Scherning und Herrn Birkental, also drei, die Herrn Tesman beeinflussen können. Tu deine Pflicht, Rolf!“

„Du lieber Himmel, was habe ich für ein intrigantes Weib gehei-

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ratet“, seufzte Rolf. Es klopfte. Herr Weiden kam, um uns mitzuteilen, daß es in

zwanzig Minuten Essen geben würde. „Übrigens habe ich mich mit meinem lieben Zimmergenossen

verkracht“, erzählte Herr Weiden. „Zuerst hat er über das Hotel ge-meckert und ich versuchte, ihm klarzumachen, daß die Stadt seinet-wegen nicht ein neues und feineres Hotel bauen könnte. Dann war das Zimmer zu klein, dann war es zu laut, dann war das Wasser im Bad ihm nicht heiß genug. Na, das ginge ja alles noch, an so was bin ich gewohnt.“

„Und was brachte den Becher zum Überlaufen?“ fragte ich. „Der Kerl hat häßlich über Isabel gesprochen, und das dulde ich

nicht! – Und mit dem Typ soll ich ein gemeinsames Zimmer haben! Nun ja, also in zwanzig Minuten Essen, und passen Sie auf mich auf, daß ich nicht mit dem Bratenmesser auf Herrn Balberg losgehe!“

Als Rolf und ich uns in unserem Zimmer ein bißchen zurecht-machten, sagte er: „Sentachen, ich möchte etwas vorschlagen.“

„Wetten, daß du genau das sagen wirst, woran ich denke“, sagte ich.

„Was denkst du?“ „Daß Sonja dir leid tut, und du würdest vorschlagen, daß ich in

ihrem Zimmer schlafe, damit sie nicht allein ist. Und dann könnte Herr Weiden zu dir kommen.“

„Gedankenleserin“, sagte Rolf und küßte mich. „Also, dann ma-chen wir es so – Sonja ist glücklich und Herr Weiden auch. Das ist doch ein Opfer wert! Denn für mich ist es ein Opfer, das kann ich dir sagen!“

„Und was glaubst du, ist es für mich?“ flüsterte ich und legte meine Arme um seinen Hals.

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Bruchlandung

Sonja konnte nicht schlafen. Wir hatten gute Nacht gesagt und das Licht ausgemacht, aber ich hörte es ihrem Atmen an, daß sie nicht schlief. Dann machte ich kurzerhand die Nachttischlampe an und plauderte ein bißchen mit ihr. Ich versuchte, ihr klarzumachen, daß diese Verspätung gar nichts zu bedeuten hätte: „Warum sollte etwas passiert sein. Und der Sonnenaufgang… Vielleicht war ihm in der Eile beim Telegrammaufgeben nichts Besseres eingefallen, weil er die Uhrzeit nicht ganz genau sagen konnte. Oder er hat es so for-muliert, damit du weißt, daß er ganz bestimmt rechtzeitig zur Ab-fahrt des Schiffes da sein würde.“

„Du hast wahrscheinlich recht“, sagte Sonja leise. „Es ist be-stimmt nur die Angst von damals in Australien, die mir wieder einen Streich spielt. Jetzt sollst du schlafen, Sentachen.“

„Und du?“ „O ja, ich auch. Selbstverständlich.“ Ich sah sie an. Und ich war

sehr froh, daß ich bei ihr im Zimmer war. Sie brauchte jemanden, der sie verstand und sie lieb hatte.

„Sonnie“, sagte ich, „nun mal abschalten. Du… Gerry Skogstad!“ Dann lächelte sie und antwortete: „Gute Stiefel!“

„Grüne Seife!“ - „Gräfliches Schloß!“ „Gründliches Saubermachen!“ Und so ging es eine Weile weiter.

Es war ein Spiel, das ich als Kind erfunden hatte. Wenn wir zum Beispiel stundenlang mit der Eisenbahn fuhren, oder wenn wir mit Masern oder Röteln im Bett lagen, wenn wir abends aus irgendeinem Grund nicht schlafen konnten, dann sagte eine von uns irgendeinen Namen, und es ging darum, aus den Initialen vernünftige Begriffe zu bilden. Bis jetzt hatte dieses kindliche Spiel sich öfter als ein gutes Schlafmittel gezeigt.

„Giftige Skorpione!“ „Gräßlicher Störenfried!“ Sonjas Stimme wurde matter, müder.

Unser Mittel half! „Geniale Schwiegermutter“, sagte ich. „Goldige Schwester“, murmelte Sonja. Kurz danach schlief sie. Als ich aufwachte, sah ich Sonja wie ein Schattenbild am Fenster

stehen. Sie stand regungslos und starrte auf die See. Ich stand auf und ging hin zu ihr. „Die Sonne ist noch nicht zu sehen“, sagte ich. „Und warum guckst du aufs Wasser? Er kommt doch nicht mit dem

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Schiff!“ „Nein, aber vielleicht mit einem Wasserflugzeug“, sagte Sonja.

Es fiel mir ein, daß man hier weitgehend Wasserflugzeuge benutzt. Jede entlegene Gegend hat nicht einen ‚Air strip’ wie in Afrika, aber Gewässer gibt es überall. Heiko hatte auch so was erzählt.

Der Himmel hatte jetzt einen schwachen rosaroten Schimmer. Im Hafen war alles still, kein Mensch war zu sehen. Ja, doch, da kam ein Mann, der zielbewußt zu der kleinen Bucht ging, wo ein paar Motorboote und Ruderboote lagen. Er machte sich an einem Motor-boot zu schaffen, entfernte die schützende Segeltuchplane, legte sie säuberlich zusammen und ließ dann den Motor an. Lautes Geknatter füllte die morgenstille Luft. Dann verstummte es. Der Mann setzte sich im Boot zurecht, stopfte und zündete seine kurze Pfeife an, guckte hin und wieder aufs Meer. Dabei hielt er die Hand wie ein Sonnenschutz über die Augen. Denn jetzt erschien ein goldroter Bogen am Horizont.

„Jetzt geht die Sonne auf“, sagte Sonja leise. Sie streckte die Hand aus, holte sich ihre lange Hose und einen Pullover, zog sich an, ohne die Augen vom Hafen zu wenden.

„Na ja, ich werde denn auch…“ fing ich an, und klaubte meine Kleidungsstücke zusammen.

„Ssss… horch… da ist doch… ja, jetzt sehe ich es… guck, Senta, ein Flugzeug…“

Der Mann im Motorboot ließ wieder seine Knattermaschine an und löste die Vertauung. Langsam bewegte sich das Boot heraus aus der Bucht, als wolle der Mann dem Flugzeug entgegenfahren. Das Flugzeug beschrieb einen Bogen.

„Es wird landen“, sagte Sonja. „Es dreht gerade gegen den Wind. Ja, jetzt setzt es gleich zur Landung an…“

Es ging tiefer, immer tiefer, jetzt hatte es beinahe die Wasserflä-che erreicht. Dann erhob sich ein Riesenspritzer, alles verschwand im weißen Schaum. Dann sahen wir wieder das kleine Flugzeug. Die eine Tragfläche ragte hoch, die andere lag im Wasser.

Eine miserable Landung war es. Das Motorboot näherte sich mit Vollgas. Jetzt kam ein Mann aus

dem Flugzeug, sprang ins Wasser, kletterte auf die Kufe, die schräg aus dem Wasser ragte, zwang mit seinem Körpergewicht die leichte kleine Maschine in eine einigermaßen waagerechte Lage.

Da fiel ein Sonnenstrahl auf den Mann, und wir konnten deutlich erkennen, daß er einen roten Pulli trug. „Senta, es ist Heiko!“ Sonjas

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Stimme war heiser. Ja, es war Heiko. Der Pulli war leicht zu erkennen, jetzt fiel die

Sonne auch auf seine dunklen Haare. Sonja machte kehrt und rannte aus dem Zimmer. Eine Minute

später sah ich sie im Laufschritt zur Anlegestelle spurten. Jetzt war das Motorboot am Ziel. Was Heiko und der Motorboot-

führer machten, konnte ich nicht genau erkennen. Aber ich sah je-denfalls, daß Heiko zurück in die Kabine kletterte. Dann kam er wieder zum Vorschein. Er half einem zweiten Mann, einem Mann mit einem Arm in einem dicken Verband. Vorsichtig wurde er ins Motorboot verfrachtet.

Heiko verschwand zum zweitenmal in der Kabine des noch ziem-lich schräg liegenden Flugzeuges. Dann atmete ich auf. Denn jetzt hatte der Motorbootfahrer das kleine Flugzeug im Schlepptau und steuerte der Anlegestelle zu.

Dann konnte ich nicht mehr ruhig bleiben. Ich machte es wie Sonja, rannte aus dem Haus und kam zur Anlegestelle in dem Au-genblick, wo Heiko aus dem Boot kletterte und – pitschnaß wie er war – von seiner Frau umarmt wurde.

„Gott sei Dank“, waren seine ersten Worte. „Ich bin saumäßig gelandet – entschuldige, aber wenn mein Fluglehrer die Landung gesehen hätte, hätte er mir meinen Pilotenschein abgenommen. Ich schäme mich wie ein Hund!“

„Aber Heiko, warst du am Steuerknüppel?“ „Klar war ich das, und habe also eine wunderbare Bruchlandung

gebaut!“ Er wechselte schnell ein paar Worte mit dem Motorbootführer,

dann halfen sie gemeinsam dem verletzten Kameraden aus dem Boot.

„I’m awfully sorry!“ sagte Heiko. Der andere lächelte. „Don’t mind. Es ist ja alles gut gegangen. Nun lauf man schnell – ist das deine Frau? Hast du zwei davon oder sehe ich doppelt?“

„Die, die mich umarmte ist die Richtige, die andere ist nur ein Durchschlag.“

„Also, nun sorgen Sie dafür, daß ihr Mann was Trockenes an-zieht, und passen Sie gut auf ihn auf. Er ist ein feiner Kerl, wenn Sie es nicht wissen! A good fellow! Los, los, Joe kümmert sich um das Flugzeug und um mich!“

„Sure!“ versicherte Joe – das war anscheinend der Motorboot-mann. „Ich fahre dich gleich zum Krankenhaus, ich habe dich ange-

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meldet, und nachher wollen wir sehen, was mit deiner ollen Kiste los ist.“

„Die kriegen wir schon hin. Also, Heiko, danke dir für all deine Hilfe, du bist ein feiner Kamerad. Gute Fahrt weiter, und Sie, Sonja – nicht, Sie heißen doch Sonja – Sie passen schön auf Ihren Mann auf!“

„Wo willst du hin?“ fragte Sonja auf dem Korridor. „Mich irgendwo hinsetzen und aufpassen, wenn Herr Weiden

zum Vorschein kommt, so daß ich zu meinem Angetrauten rein kann!“

„Ja, das wäre noch schöner! Komm nur mit, Heiko kann sich im Bad umziehen, außerdem stirbst du nicht von dem Anblick eines Mannes in Unterhosen. Hier, Heiko, da hast du ein paar Jeans, hier ist ein Hemd, da dein blauer Pulli, da Unterwäsche – komm, ich helfe dir, die nassen Sachen auszuziehen!“

Sie verschwanden im Bad und ein paar Minuten später kamen sie wieder zum Vorschein.

„Und nun bitte erzähl alles im Zusammenhang!“ verlangte Sonja. „Wie es zu meiner miserablen Bruchlandung kam, meinst du?“ „Ja. Ich verstehe ja, daß du fliegen mußtest, weil dein Freund

verletzt war, aber…“ „Dann verstehst du ja beinahe alles. Also, ich flog hübsch und

brav mit einer Verkehrsmaschine nach Edmonton. Dort holte Jimmie mich ab und wir flogen mit seinem kleinen Floh zu dem Bibersee in Saskatchewan. Wir hatten zwei phantastische Tage dort bei seinen Bibern und in seiner primitiven kleinen Hütte, wo die Bären seine Vorräte klauen und die Hasen bis an die Wand angehopst kommen. Ja, und gestern wollte er mich dann nach Edmonton zurückbringen. Und als wir ins Flugzeug stiegen, ist der Kerl ausgerutscht und hat sich einen Arm gebrochen! Also nix wie zurück in die Hütte, und ich habe nach bestem Vermögen seinen Arm geschient und fragte ihn, wo das nächste Krankenhaus sei, denn daß der Arm geröntgt werden mußte, war mir klar. Ja, das wäre also Edmonton. Aber wie wollten wir dorthin kommen? Ich erzählte ihm dann, daß ich seit etlichen Jahren auch Kleinflugzeuge fliege, dann hätte er mich beinahe um-armt! Mit dem gesunden Arm, also! Es war eben nur ein Problem: zu Starten und zu Landen!

,Geht schon, geht schon!’ tröstete er mich. ,Ich sitze ja neben dir, ich sage dir genau, was du machen sollst. Es ist wirklich ganz leicht!’ Ich hatte ja seine Handhabungen studiert – zum Glück – und

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es schien mir auch nicht allzu kompliziert zu sein. Jimmie behaupte-te, daß das Aufsetzen auf dem Wasser viel einfacher sei als auf einer Rollbahn. Aber jetzt hatte uns dieser Armbruch soviel Zeit gekostet, daß es unmöglich gewesen wäre, den Anschluß in Edmonton zu kriegen. Also machten wir folgendes: Wir luden die Maschine voll Brennstoff, davon hatte Jimmie reichlich. Und da wir nur zu zweit flogen, und die Maschine für fünf Personen zugelassen ist, konnten wir eine ganze Menge Benzin mitnehmen. Dann flogen wir los, der Start ging erstaunlich gut, und als der Tank nach Nachfüllen schrie, gingen wir auf einen kleinen einsamen See runter. ,Da macht es nichts, wenn du ein bißchen rumplätscherst’, erklärte Jimmie. ,Da ist kein Flugverkehr.’ Also plätscherten wir rum und füllten den Tank – ach ja, das Telegramm, das hatten wir schon per Radiosender aufge-geben. Dann gab Jimmie per Radio Bescheid an Joe in Prince Ru-pert, wegen des Motorbootes und des Autos zum Krankenhaus. Ich wollte ja ungern bei Dunkelheit fliegen – das heißt, fliegen schon, aber nicht landen – oder wassern, vielmehr. Also übernachteten wir im Flugzeug und starteten in dem Augenblick, wo wir so einigerma-ßen sehen konnten, und flogen direkt hierher. Jimmie war großartig. Er muß scheußliche Schmerzen im Arm gehabt haben, aber er orga-nisierte und arrangierte und half mir bei diesem blöden Starten. Die Strecke kennt er wie seine eigenen Hosentaschen, ich brauchte nicht einmal eine Karte. Und alles ging wunderbar, bis wir also hier lande-ten. Da war ich wohl trotz allem etwas nervös, geschlafen hatte ich auch nicht, und wie es ging, habt ihr ja gesehen. Ich hatte nur die Höllenangst, daß die ganze Maschine umkippen könnte, mit dem festgeschnallten Jimmie drin. Aber es ging ja gut, ich hopste ins Wasser und schaffte es, die Kiste einigermaßen aufzurichten, und dann kam Joe und alles war plötzlich in Butter!“

Wir hatten mit aufgesperrten Augen zugehört. Heiko erzählte so munter drauflos und verlor kein Wort über die Schwierigkeiten, die mit dem Fliegen verbunden gewesen waren. Kein Wort darüber, daß er einen Verletzten zu transportieren hatte. Kein Wort über die Hilfe-leistungen des Verletzten. Alles wirkte so einfach, so selbstverständ-lich, nicht der Rede wert!

„Ich fange an, an Gedankenübertragung zu glauben“, sagte Sonja leise. „Du kannst mir gar nicht weismachen, daß du keine Angst hattest. Du hattest sie nämlich, ich habe sie gespürt, und wie! Deine Angst ist durch den Äther zu mir geflogen, dein Gehirn war der Sender und das meine war der Empfänger!“

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„Nun ja,“ meinte Heiko gelassen. „Wenn du sie gespürt hast, brauche ich sie ja nicht zu schildern!“

Er legte den Arm um Sonja und in dem Augenblick klingelte das Telefon auf dem Nachttisch. Ich ging ran. Es war Rolf.

„Zeit zum Aufstehen! In einer Stunde müssen wir an Bord sein. Ist Heiko gekommen?“

„Ja, er sitzt hier.“ „Fein. Wie geht es ihm? Was macht er?“ „Er küßt seine Frau.“ „Gut. Dann komm mal schnell her. Herr Weiden ist schon unten,

und ich möchte auch die meine küssen!“

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Glück auf hoher See „MS Malaspina“, das Schiff, das uns nach Skagway in Alaska brin-gen sollte, war groß, schön, gepflegt und gut eingerichtet. Daß jede Kabine für vier Personen war, so daß die Ehepaare unbarmherzig getrennt werden mußten, und daß die Einzelzimmer-Anwärter auf alle Alleinsein-Ansprüche verzichten mußten, wußten sie im voraus. So gab es kein Meckern und keine Beanstandungen, außer von Herrn Balberg, selbstverständlich.

„Den möchte ich in einer Hängematte auf Deck oder in einem Rettungsboot übernachten lassen“, murmelte Jochen Weiden.

Isabel und Suse waren begeistert, als es sich zeigte, daß sie in derselben Kabine untergebracht waren. Frau Tesman schien auch sehr zufrieden mit ihren drei Kabinengenossinnen zu sein. Das wür-de alles bestimmt gutgehen!

Es war sonnig, aber kühl. Wir merkten schon, daß es nordwärts ging, und daß man hier keinen freundlichen Golfstrom hatte, so wie wir in Norwegen!

Auf dem oberen Deck waren bequeme Liegestühle, und auf drei Seiten Glaswände, die uns gegen den Wind schützten. Bald war jeder Liegestuhl besetzt. In einer Ecke fand ich meine Schwester und mei-nen bruchgelandeten Schwager. Letzterer schlief fest.

„Sonnie“, sagte ich leise, um Heiko nicht zu stören. „Du hast heute nacht kaum geschlafen. Gib mir deine Tellus-Nadel, ich mache heute Dienst.“

„Sentachen, ich bin doch an der Reihe, es ist meine Pflicht…“ „Pflicht hin, Pflicht her, gib mir die Nadel, mach die Augen zu

und schlafe!“ Mit einem müden, dankbaren, kleinen Lächeln löste Sonja die

Nadel von ihrer Jacke, und nach einer Minute schlief sie fest. Ich machte eine Runde, fragte nach Wünschen, brachte Frau

Tesman eine Decke, organisierte eine Flasche Brause für das Ehe-paar Birkental, borgte Fräulein Rothbaum einen Kugelschreiber – mehr war nicht zu tun, und ich konnte zusammen mit Rolf entspan-nen und diese schöne Fahrt genießen. Wir setzten uns auf eine Bank, achtern, da war kein Mensch.

„Sentachen“, sagte Rolf. „Ich denke an etwas.“ „An unseren Sohn?“ „Insofern ja, aber nur als Nebenperson. Eine Nebenperson, die

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nächstes Jahr für eine Woche wieder zu Oma und Opa muß.“ „Fahren wir wieder nach Kanada?“ „Kaum. Aber weißt du, was? Ja, bis jetzt habe ich es nicht er-

zählt. Am Tag hatten wir keine Ruhe und nachts waren wir todmüde – aber, also, du weißt ja, daß Professor Simmons nächstes Jahr nach Europa kommt? Da wird doch ein Kongreß in Wien stattfinden, und…“

„O Rolf, prima! Da fahren wir hin?“ „Ich denke schon. Das heißt, wir müssen hinfahren. Denn der gu-

te Simmons hat mich für ein Referat vorgesehen. Ich soll mit meiner Forschung weitermachen und meine Resultate den ehrwürdigen Kollegen mitteilen. Was sagst du dazu?“

„Rolf, ich bin wahnsinnig stolz auf dich! Du mit deinen dreißig Jahren…“

„Wenn es soweit ist, werde ich einunddreißig sein!“ „Also mit deinen einunddreißig – du sollst ehrwürdigen Professo-

ren aus tausend Ländern erzählen, was du…“ „Tausend dürfte etwas übertrieben sein, aber wundern tu ich

mich auch, wie alles gekommen ist. Was kann doch ein Zufall für Folgen haben. Wenn Sonja nicht zufällig ihr Reiseprogramm bei uns hätte liegenlassen… ja, dann wäre ich nie auf den Gedanken ge-kommen, um den halben Erdball zu fahren um an dem Kongreß teilzunehmen.“

„Und wenn der Kongreß nicht zufällig gerade in den Tagen statt-gefunden hätte, wo die lieben Tellus-Leute die Gruppe nach Van-couver schickten! Aber Rolf, damit ist es auch Schluß mit den Zufäl-len. Das Eigentliche, das Wesentliche ist kein Zufall. Nämlich deine Arbeit, dein Forschen! Und eins sage ich dir, ich schäme mich furchtbar!“

„Was?“ Rolf machte ein entsetztes Gesicht. „Warum schämst du dich? Hast du mich etwa betrogen, oder…“

„Noch nicht, du Quatschkopf. Ich schäme mich, weil ich mich vernachlässigt fühlte. Ich war auf dem besten Wege, verbittert zu werden, weil ich fand, daß du dich nur für deine Arbeit und nicht für Frau und Kind interessiertest!“

„Ja, dann verstehe ich, daß du dich schämst! Erinnere mich dar-an, daß ich dir gelegentlich den Po versohle! Im Ernst, Sentachen: Wer leichtsinnigerweise einen Forscher heiratet, muß sich darauf gefaßt machen, Opfer bringen zu müssen. Das ist klar. Und dann muß es ihr ein Trost sein, daß sie ihrem Mann unsagbar viel helfen

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kann, so wie du es getan hast – jedenfalls in den letzten Monaten.“ „Ich? Dir geholfen? Ich, die ich den Unterschied zwischen einer

Amalgamplombe und einer Goldfüllung nicht kenne?“ „Ist auch nicht nötig. Du hast mir in einer ganz anderen Weise

geholfen. Du darfst nicht vergessen, Liebling: Ein Mann, der seine Frau liebt, trägt immer die Liebe mit sich. Sie liegt sicher verankert in seinem Unterbewußtsein quer durch Arbeit und Forschung – und wenn er sich dann endlich losreißen und ein bißchen entspannen kann, dann ist es eine Wohltat zu wissen, daß er mit Liebe und Ver-ständnis empfangen wird: keine Vorwürfe, keine lästigen Fragen, eine Frau, die schweigt, wenn sie merkt, daß der Mann zu müde zum Plaudern ist, eine Frau, die interessiert horcht, wenn der Mann mit-teilsam ist, eine Frau, die ihm alle lästigen Alltagssorgen abnimmt!“

„Rolf, du meinst doch nicht, daß ich so eine Frau bin?“ „Doch, mein Schatz, das meine ich. Seit einigen Monaten bist du

genau so eine Frau. Ich konnte mich immer darauf freuen, das Labor zu verlassen und zu dir zu gehen. Du hast mich nie damit belästigt, daß der Zucker teurer geworden sei oder daß die Nachbarsfrau dir eine tolle Geschichte erzählt hat, oder daß wir nun endlich Heizöl bestellen müßten! Das Öl hast du bestellt, so wie du die Waschma-schine reparieren ließest, ohne ein Wort darüber zu verlieren! Du bringst den Wagen zur Werkstatt, wenn es nötig tut, du kaufst vor-teilhaft ein zum Tiefkühlen – all die Sachen, die eine andere Frau mit ihrem Mann besprechen würde.“

„Und das hast du alles gemerkt?“ „Na klar! Mit sehr viel Dankbarkeit gemerkt, und mit unendlich

viel Erleichterung. Du hast nie gefragt, was ich zu Mittag essen möchte, du hast einfach was Gutes gekocht, fertig! Und wenn ich dich brauche, bist du immer für mich da. Ich weiß, daß du viel allein bist, ich weiß, daß ich dich wegen meiner Arbeit vernachlässige – und du hast mir nie einen Vorwurf gemacht.“

Ich konnte einfach nicht antworten. Ich hatte keine Worte. Es war so überwältigend, was Rolf sagte – und es machte mich so glücklich – so unbeschreiblich glücklich!

Endlich fand ich die Sprache wieder. „Rolf… ich verdiene nicht all deine schönen Worte… ich bin ganz überwältigt! Siehst du, ich war eine Zeit gram und beinahe unglücklich, es war Sonja, die mich auf bessere Gedanken brachte, und Beatemutti!“

„Aber du hast jedenfalls ihre Theorien praktiziert, und wie! Und etwas hast du erreicht: Du bist mir unentbehrlicher denn je, und ich

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liebe dich mehr denn je, und ich werde nie ohne dich eine Kongreß-reise oder so was unternehmen. Ich weiß nicht wieso und warum, aber in der allerletzten Zeit ist es mir so sonnenklar geworden, in wie hohem Grade wir zusammengehören und wie wir einander unent-behrlich sind!“

Das Schiff brachte uns mit regelmäßigen Stempelschlägen gen Norden. Die Sonne spielte in dem brausenden, grünlichweißen Kiel-wasser. Rolf und ich waren allein auf dem Achterdeck. Kein Mensch sah es, als er mich lange und innig küßte. Nur die schreienden, wei-ßen Möwen waren Zeugen bei einem der glücklichsten Augenblicke meines Lebens.

Was uns endlich zurück in die Wirklichkeit brachte, war ganz einfach ein profaner Hunger. Also steuerten wir die Schritte Rich-tung Cafeteria. So was an Rationalisierung hatte ich noch nie gese-hen. In dem Betrieb hätte ich gern als Tellerwäscher gearbeitet. Es waren nämlich gar keine nötig. Wir bekamen das Essen auf Papptel-ler und aßen mit Bestecken aus ganz dünnem Kunststoff. Dazu gab es Getränke in Pappbechern und selbstverständlich Papierservietten. Wenn wir gegessen hatte, sammelten wir all das Gebrauchte auf ein Tablett, trugen das ganze zum Ausgang und kippten es in eine große Mülltonne. Nur das Tablett blieb übrig.

Das heißt – nur das Tablett sollte übrigleiben. Aber ich wette, daß unsere ganze Gruppe dasselbe machten wie wir: All die praktischen Messer, Gabeln und Löffel, die damals für uns ganz was Neues wa-ren, wanderten in unsere Taschen. Ich habe auch alle Brotreste geret-tet. Damit fütterte ich die Möwen, die zum Teil so zahm waren, daß sie die Brotstücke im Flug aus unseren Händen nahmen!

Und es wurde Abend. Ausgerechnet nach diesem so unwahr-scheinlich glücklichen Tag mußten Rolf und ich uns trennen! Wir krochen in unsere Betten und ich war so dankbar, weil das Schicksal es so unglaublich gut mit mir gemeint hatte!

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Das ungeschriebene Gesetz des Yukons

Als ich am folgenden Morgen aufs Deck kam, sah ich Isabel. Sie stand an der Reling, morgenfrisch, lächelnd, mit einem ganz neuen Gesicht. Ihre Augen strahlten, sie sah fröhlich und unternehmungslu-stig aus. Sie holte Brotbissen aus der Jackentasche und rief laut vor Freude jedesmal, wenn eine Möwe in geschicktem Sturzflug das Brot schnappte.

„Morgen, Senta!“ „Morgen, Isabel! Wie geht es?“ Sie drückte meine Hand fest.’

„Es geht blendend, Senta. Wirklich. Ich habe das Schlimmste hinter mir, und heute finde ich das Leben direkt schön!“

„Ich auch, falls es dich interessiert!“ „Und ob es mich interessiert! Ich wüßte keinen Menschen, dem

ich alles Gute so unbedingt wünsche wie dir. – Warte mal, Senta… ich wollte… ich dachte…“ Sie löste die lustige kleine Steinbockna-del vom Revers. „Du mochtest sie so gern. Weißt du, damals beim Händewaschen in Vancouver? Allerdings war ich besäuselt, aber daran erinnere ich mich noch. Darf ich sie dir schenken, Senta? Du bist ja auch ein Steinbock, sagtest du?“

Sie reichte mir die Nadel mit einem offenen, ehrlichen Lächeln. „Isabel, du sollst doch nicht…“ „Doch. Gerade das soll ich.“ Sie befestigte die Nadel an meiner

Jacke. „Dann vergißt du mich nicht so schnell.“ „Das tu ich unter keinen Umständen, Isabel. Ich werde dir auch

schreiben, wenn du mir deine Anschrift gibst. Und ich würde mich über ein Briefchen von dir sehr freuen. Tausend Dank für den klei-nen Steinbock, Isabel. Wenn ich dir sage, daß er mir immer ein lie-bes Andenken bleiben wird, ist es keine leere Redensart. Ich meine es wirklich!“

„Du hast soviel für mich getan, Senta“, flüsterte Isabel. Sie flü-sterte ganz leise, denn jetzt kamen ein paar hungrige Gruppenteil-nehmer – an der Spitze mein Göttergatte. Wir wechselten einen Blick und einen Händedruck, der mich lebhaft an einen Tag vor elf Jahren erinnerte: unsere Begegnung an einem sonnigen Morgen, als Rolf mir am Tage vorher den ersten Kuß gegeben hatte.

Kurz darauf kam Jochen Weiden, und der Blick, den er mit Isabel wechselte, hatte auch eine ausgeprägte Ähnlichkeit mit dem von Rolf damals vor elf Jahren!

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Ein Glück mit dem Wetter hatten wir! Als wir nach einem schnellen Frühstück, mit den Taschen voll Wegwerfbestecken, wie-der ins Freie kamen, glitt das Schiff gerade in den Hafen von Junau, der Hauptstadt von Alaska. Ein reger Schiffsverkehr, eine kleine, rührend altmodische Stadt mit vielen Holzhäusern. Und nicht weit von unserer Anlegestelle ein Hafen für kleine Wasserflugzeuge.

Während der halben Stunde, die wir dort verbrachten, startete ein Flugzeug und zwei landeten – ich meine wasserten – gekonnt und elegant auf dem blinkenden See.

„Guck genau hin, Heiko“, ermahnte Rolf. „So macht man es nämlich!“

„Danke für die Erläuterung, ich weiß es“, brummte Heiko, der zu uns hingekommen war und voll Neid – meine ich – die elegante „Niederkunft“ der Kleinflugzeuge beobachtete. „Wo ist unser ,Babygesicht’ eigentlich?“ fragte Sonja. „Habe ihn nicht gesehen, aber Isabel ist gerade aufs Achterdeck gegangen. Dann besteht die Möglichkeit, daß er sich auch da befindet“, meinte ich.

Das stimmte. Sonja bat ihn, jetzt, wo beinahe die ganze Gruppe oben auf dem Sonnendeck versammelt war, doch einen kleinen ori-entierenden Vortrag zu halten, über das, was uns heute und morgen erwartete.

Er hielt uns einen höchst interessanten Vortrag über die Zeit des Goldrausches, eine Zeit, die uns heute und morgen ganz naherücken würde.

So waren wir gut gerüstet, als wir am Nachmittag in der merk-würdigen kleinen Stadt Skagway ankamen. Ein Überbleibsel aus der Goldrauschzeit kurz vor der Jahrhundertwende – ein Städtchen, das damals schnell entstanden war, das in der goldenen Zeit die wichtig-ste Exportstadt war, mit zwanzigtausend Einwohnern, mit Läden und -natürlich-Vergnügungslokalen. Denn die Goldgräber, die sozusagen die Taschen voll neuerworbenem Reichtum hatten, waren auch wil-lig, viel auszugeben!

Die Häuser von damals standen zum Teil noch. Ulkige kleine Holzhäuser, deren Ornamente und Ausstattung eine deutliche Spra-che von dem Goldgräbergeschmack sprachen. Das Hotel, wo wir einquartiert wurden, war damals als Prachtstück der Stadt erbaut worden, eine solche Rarität, daß es jetzt gegen Eintrittsgeld zu be-sichtigen war. Ein sehr großes, weiß gestrichenes Holzhaus mit brei-ten Korridoren, mit großen Zimmern und mit einer Ausstattung, daß wir uns in die Jugend unserer Urgroßeltern versetzt fühlten!

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„Senta!“ rief Rolf, als wir unser Zimmer betraten. „Wenn ich dies gewußt hätte, hätten wir unsere Hochzeitsreise hierher gemacht! Stell dir vor, die Hochzeitsnacht in einem vergoldeten Himmelbett zu verbringen!“

Da waren – als Ausstellungstücke auf dem Korridor – altmodi-sche Waschtische mit schweren Kannen und Schüsseln und Nacht-töpfen aus Porzellan mit Blumenmuster. An den Wänden hingen Fotos von Männern, die sich damals verdient gemacht hatten.

Von dem Reichtum und der Abenteuerstimmung war jetzt nichts zu spüren. Die Einwohnerzahl war von zwanzigtausend auf sechs-hundert gesunken, und es war wohl der Touristenverkehr, der haupt-sächlich das kleine Städtchen am Leben hielt. Jedenfalls waren An-denkenläden in Hülle und Fülle da. Aber wenn man ein Glas Pulver-kaffee kaufen wollte – und das wollten viele von uns – gab es nur ein einziges Geschäft.

Als wir am folgenden Morgen schweren Herzens das goldene Himmelbett verlassen hatten, glaubte ich beinahe, daß der Kalender einen Hopser zurück ins vorige Jahrhundert gemacht hätte. Denn die kleine Bahn, die wir jetzt bestiegen, um nach Whitehorse zu fahren, sah wirklich aus, als wäre die Zeit spurlos über sie hinweggegangen. Es war eine ulkige, spielzeugähnliche Schmalspurbahn mit einer rührenden kleinen Lokomotive, wie man sie sonst nur in technischen Museen sieht. Die Wagen hatten keine festen Bänke, sondern Stühle, die man nach Belieben drehen konnte, je nachdem ob man rechts oder links auf die Landschaft gucken wollte. Am Ende der Wagen ein kleiner Kohleofen mit Schornstein – und dann ein Behälter für Trinkwasser.

Die Lok pustete bergauf, in eine herrliche Gebirgswelt, die uns Norwegern beinahe patriotische Gefühle gab. Die unzähligen kleinen Seen, die Zwergbirken, das Heidekraut und die grauen Berge sahen ganz so aus wie wir es aus Norwegen kannten.

Aber die geographischen Namen waren anders. Die hatten die Goldgräber von damals geschaffen, und viele von ihnen bezogen sich aus Geschehnisse in dem harten Dasein der Goldsucher. Ein Punkt an einer besonders steilen und unzugänglichen Gegend hieß einfach ‚Dead horses’ – ‚Tote Pferde’. Welche Tragödie hatte sich da wohl abgespielt?

Auf einem der höchsten Punkte hielt unsere Bimmelbahn und spuckte sozusagen all die Fahrgäste aus. Im Bahnhofsgebäude gab es Mittagessen, und unser Züglein wartete hübsch, bis wir das Essen

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intus hatten. „Ja, dies sind also auch die Vereinigten Staaten von Amerika“,

sagte Suse Kleefeld mit einem kleinen Lächeln. „Da denkt man an Wolkenkratzer und Lichtreklame, an Broadway und an Washington, an Capitol und das Weiße Haus, und vergißt ganz, daß dieses Land auch ein anderes Gesicht hat. Oder viele andere! Und daß dies hier gewissermaßen interessanter ist, das läßt sich wohl nicht leugnen.“

„Jedenfalls hätte man eine bequemere Bahn bauen können“, meckerte Herr Balberg. „Teuer bezahlenden Touristen so was anzu-bieten, das ist doch unerhört!“

„Dann erhebt sich die Frage, wem Sie die Vorwürfe machen wol-len“, mischte Heiko sich ein. „Wir sind nämlich zufällig jetzt in Kanada! Und Fräulein Kleefelds Philosophie paßt sehr gut in Skag-way, aber wie gesagt – seit ein paar Stunden sind wir nicht mehr in den USA.“

„Ach ja, richtig!“ rief Isabel. „Wir fahren ja nach Whitehorse, mitten im Yukon Territory, und das ist ja kanadisch!“

„Und ob das kanadisch ist! Das ganze, berühmte Yukongebiet spielt ja eine große Rolle in Kanadas Geschichte“, erklärte Herr Weiden.

Alle waren interessiert, alle studierten Karten und Routen. Kein Zweifel: Die Gruppe hatte sich zusammengefunden, wir hatten es unbedingt gemütlich, jeder konnte mit jedem sprechen. Nun ja, mit zwei Ausnahmen: Unser Professor machte beinahe nie den Mund auf, und der Meckerer Balberg machte es nur, um Unfreundliches zu sagen. Aber sonst hatten wir es nett! Ich meinte sogar bei Herrn Tesman eine ganz kleine Besserung zu spüren! Zweimal hatte er gestern gelächelt, und beim Abendessen hatte er nicht ganz einfach bestellt, sondern zuerst seine Frau gefragt, worauf sie Appetit hätte!

Am Nachmittag rollten wir dann in Whitehorse ein. Jochen Wei-den hatte uns schon erzählt, woher die Stadt ihren Namen hat. Es gibt im Yukonfluß eine Stromschnelle, wo das Wasser wie eine wehende Fahne hochgeschleudert wird, die Phantasie der damaligen Bevölkerung hat darin eine wehende weiße Pferdemähne gesehen, und so kam die Stadt also zu dem Namen ‚Weißpferd’. Ja, denn anders kann man ‚Whitehorse’ nicht übersetzen!

Hier fiel mir dasselbe auf wie so oft auf dieser Reise: Alles war so frei, so offen, hier war so viel Platz! Ich bin nie in Tokio gewesen, aber ich habe Filme von dort gesehen. Wenn ich an das Menschen-gedränge dort denke, an die Busse und Bahnen, wo die Menschen in

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großen Trauben dranhängen! So verschieden können Städte sein! Hier konnte man atmen, man konnte was sehen, man wurde nie ge-schubst oder auf die Zehen getreten!

Aber Whitehorse hat kaum mehr als fünftausend Einwohner auf einer Fläche, die nach europäischen Großstadtverhältnissen vielleicht fünfzigtausend fassen könnte!

Der Busfahrer, der uns zum Hotel brachte, erzählte stolz, daß die Stadt fünfzig Bars und Restaurants hätte! Was ihn selbst anscheinend mehr interessierte als das Museum, die Radiostation und der Yukon-fluß!

Mit letzterem machten wir am folgenden Morgen Bekanntschaft. Wir bestiegen ein kleines Motorschiffchen und machten eine

Fahrt zwischen hohen Felsen, wobei eine geübte Hand am Ruder uns an den tückischen Stromschnellen heil vorbeiführte. Kein Wunder, daß das Befahren des Yukonflusses damals als eine große Leistung betrachtet wurde. Wer das geschafft hatte, wurde als würdig betrach-tet, unter die richtigen Goldgräber aufgenommen zu werden.

Wir bekamen auch das ‚Yukon-Zertifikat’ das sehr viel Lachen verursachte, als wir es mit viel Mühe übersetzt hatten. Ich habe das meine hier neben mir liegen, während ich dies schreibe, und werde versuchen, es zu übersetzen:

Hiermit wird bestätigt, daß dem Inhaber dieses Zertifikats, Senta

Skogstad, der Titel ,Anfänger erster Klasse’ zugesprochen wird,

indem er (es hätte nun ,sie’ stehen müssen) die Canyons vom Yukon-

flußdurchfahren ist, wobei er auf den Spuren des Klondike-

Goldrausches blieb. Er ist nun verpflichtet, dem ungeschriebenen

Gesetz des Yukons zu gehorchen:

1 Nichts soll abgeschlossen werden.

2 Ein frierender, hungriger Mann ist immer willkommen.

3 Wenn der Besitzer einer Hütte weggegangen ist, darf ein

Fremder reingehen und es sich bequem machen.

4 Hinterlasse immer trockne Späne, Brennholz, Streichhölzer

und eine saubere Hütte.

5 Wenn es notwendig ist, darf ein Mann sich von den Vorrä-

ten bedienen, vorausgesetzt, daß er einen Bescheid darüber

hinterläßt, was er genommen hat und wann er es zurück-

bringen wird.

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6 Wenn ein Mann deine Vorräte stiehlt, darfst du ihn erschie-

ßen.

7 Du darfst die Schürfstelle eines anderen nicht klauen.

8 Wenn du ein neues Goldvorkommen entdeckt hast, sollst du es allen erzählen.

9 Sei du zu den anderen, wie du möchtest, daß andere auch zu

dir sind. Und dann kam das zehnte Gebot, was uns furchtbar viel Kopfzerbre-chen verursachte:

� Share your klooch with your neighbour. Was in aller Welt bedeutete „klooch“? All die kleinen Reisewör-

terbücher wurden herausgeholt, in keinem stand das Wort klooch. Was würde es bedeuten? Was sollte man immer mit dem Nachbarn teilen?

„Das Essen“, schlug einer vor. „Abfallhaufen“, meinte ein ande-rer. Vorratskammer, Brennholz, Kleidung, Kautabak, Schürfwerk-zeug, Kochtöpfe, Jagdwaffen – wir dachten an alle Möglichkeiten, und niemand wußte Bescheid.

Dann kam Herr Weiden als rettender Engel. Er lachte sich schief über unsere Vorschläge und fragte, ob wir vielleicht eine Verabre-dung hätten? Sollte etwa eine Prämie für die richtige Antwort verge-ben werden?

„Ja!“ rief Herr Birkental. „Dem Gewinner schenke ich ein Pfund echten Alaska-Räucherlachs, wenn wir nach Anchorage kommen!“

„Den Lachs essen Sie lieber selbst“, schmunzelte Herr Weiden. „Klooch ist ein Wort, das aus dem Eskimoischen stammt, und es bedeutet Weib. Also: ,Teile dein Weib mit deinem Nachbarn.’“

„Was?“ rief Rolf. „Und einem solchen Gesetz soll ich gehor-chen? Ich gebe mein Zertifikat zurück!“

„Aber das kann doch nicht die Möglichkeit sein – lebten die Goldgräber danach?“ fragte Doktor Scherning.

„Anscheinend ja! Es ist eine Sitte, die auch von den Eskimos kommt. Sie sind sehr gastfreundlich und haben die Einstellung, daß für einen Gast alles getan werden soll. So gab es jedenfalls früher bei einigen Eskimostämmen diese Sitte. Wenn ein Gast kam, stellte der Gastgeber ihm seine Hütte, sein Essen und seine Frau zur Verfü-

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gung! Und in der Goldrauschzeit waren Frauen Mangelware. Da mußte man sich schon als guter Nachbar zeigen und alles, was man an Wertvollem hatte, mit den Kameraden teilen!“

Was in der nächsten halben Stunde unter den Eheleuten an Wit-zen gesagt wurde, könnte ein Buch füllen.

„Ein Gutes ist dabei“, meinte Heiko. „Wir fahren ja zum Glück schon heute Nachmittag ab, und dieses Gesetz gilt nur für das Yu-kon-Territorium! Und solange wir uns hier aufhalten, lasse ich mein ,klooch’ nicht aus den Augen, damit Sie das wissen, meine Herren!“

Wir wanderten über eine große Staubrücke und sahen uns das to-sende Wasser an, ebenso eine lange Fischleiter für die Lachse.

Dann hieß es wieder packen. Ich hatte das dauernde Kofferpak-ken allmählich satt!

„Darf ich zu euch kommen?“ fragte meine Schwester und steckte den Kopf zur Tür hinein. „In unserem Zimmer sitzen Heiko und das ,Baby’ mit all ihren Papieren. Es gibt keinen Platz für mich, und ich muß unbedingt etwas an Heikos Sportjacke nähen, da ist ihm bei seiner Bruchlandung eine Naht geplatzt.“

„Gib doch her“, sagte ich. „Ich bin mit dem Packen fertig, außer-dem nähe ich besser als du.“

„Oh, du bist ein Engel! Dann habe ich eben noch Zeit, hinunter-zulaufen und ein paar Ansichtskarten zu kaufen.“

Weg war sie, und ich machte mich ans Nähen. Als die Tür hinter mir aufgemacht wurde, dachte ich, es sei Sonja, die zurückkam und drehte mich gar nicht um. Wer kann mein Staunen beschreiben, als jemand mir zärtlich den Nacken küßte?

„Jetzt mach aber einen Punkt!“ rief Rolf, der mir gegenüber saß. „Was meiner Frau an Küssen zusteht, besorge ich, verstanden?“

„Ach so, du bist es“, kam Heikos Stimme, sehr ruhig und gelas-sen. „Nun ja, wenn auch! Denk an das zehnte Gebot! Share your klooch with your neighbour!“

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Nebel Die Zeit in Whitehorse war eigentlich viel zu kurz. Als unsere Koffer gepackt waren und wir die Zimmer verlassen mußten, hatten wir noch Zeit, den Indianerfriedhof und das historische Schiff „S.S. Klondike“, zu besichtigen. Der Indianerfriedhof war etwas Merk-würdiges: Da standen überall kleine ‚Geisterhäuschen’, in denen ursprünglich Essen, Tabak, Pfeifen und andere Dinge für die Geister parat gestanden hatten. Nun ja, die alten Ägypter gaben ja auch den Toten allerlei mit, sogar kostbaren Schmuck.

Mehr lebensnahe war das Schiff Klondike. Es war jetzt an Land aufgeslipt. Hier waren besonders Herr Felber und Fräulein Roth-baum Feuer und Flamme! Dieses Schiff hatte Jack London gesteuert, hier waren ihm die Ideen für viele seiner Bücher gekommen! Viel-leicht empfanden die beiden so was Ähnliches wie wir Norweger, wenn wir in Oslo die Wikingerschiffe sehen, oder Fritjof Nansens ‚Fram’ und Thor Heyerdahls ‚Kontiki’!

Dann hieß es wieder Abschied zu nehmen, und es ging per Flug-zeug zurück nach Alaska, nach Fairbanks.

Am folgenden Tag teilte sich die Gruppe. Ungefähr die Hälfte hatte einen Flug nach Point Barrow gebucht, die andere Hälfte würde eine Flußfahrt mit einem romantischen alten Schaufelrad-Dampfer machen.

Rolf und ich hatten den Flug nach Point Barrow gebucht und ver-sprachen uns viel davon. Dort würden wir die nördlichste Eskimo-siedlung von Amerika zu sehen bekommen. Wir würden am Ufer des Eismeeres stehen, mit schwimmenden Eisschollen. Wir würden richtige Schlittenhunde in Aktion sehen, und eskimoische Volkstän-ze. Wir waren riesig gespannt!

Jochen Weiden blieb, wie schon abgemacht, bei der Fairbanks-Gruppe, und Heiko übernahm die Führung in Point Barrow.

„Kommen Sie nun auch zurecht ohne Reisehosteß?“ fragte Sonja. „Isabel springt ein, falls es nötig tut“, tröstete Jochen mit einem strahlenden Lächeln. „Fahren Sie nur ruhig los!“

Also waren wir beruhigt und bestiegen das Flugzeug, das uns über den Polarkreis bringen sollte.

Wie komisch eigentlich, wie die Entfernungen zusammen-schrumpften! Auf der Karte fand ich, daß die Strecke Fairbanks-Point Barrow ungefähr so weit war wie der Abstand Hamburg –

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Basel. Wer würde wohl morgens von Hamburg nach Basel fliegen, und am gleichen Nachmittag zurück? Hier war es aber eine ganz natürliche Sache, nur ein Tagesausflug ohne Gepäck, als ob man aus Hamburg einen kleinen Sonntagsausflug nach Blankenese machen würde!

Unter uns lagen Berge und blaue Seen, aber bald änderte sich die Landschaft. Die Häuser wurden seltener, die Wege verschwanden. Die Berge erhoben sich spärlicher. Zuletzt war nur die öde, einsame Tundra zu sehen. Keine Spur von Menschen, von Siedlungen. Nur Tundra, so weit wie wir blicken konnten.

Eine Stunde flogen wir über dieser – ich hätte beinahe gesagt: beängstigend einsamen – Landschaft. Dann sahen wir die Küste, da tauchten Häuser auf, wir schnallten uns an, und kurz danach landeten wir auf dem kleinen Flugplatz von Point Barrow.

Ein eisiger Wind schlug uns entgegen. Ich band mein wollenes Halstuch fester und zog die Handschuhe an. Herr Weiden hatte uns genau informiert: bloß warme Sachen mitnehmen, eine extra Woll-jacke in der Flugtasche parat haben! Handschuhe nicht vergessen, und irgendeine Kopfbedeckung!

Neben dem kleinen Flughafengebäude wartete ein Bus auf uns. Er brauchte nicht lange zu warten, alle flohen hinein, bloß um Schutz gegen den Polarwind zu finden.

Ein junger Mann begrüßte uns und stellte sich als unser lokaler Führer vor. Er war munter und lustig und das tat not. Sonst sahen wir kaum ein lächelndes, kaum ein freundliches Gesicht.

Unsere erste Fahrt führte uns zu einer Ausgabestelle für lange, pelzgefütterte Anoraks mit gewaltigen Kapuzen. Die meisten der Teilnehmer benutzten die Gelegenheit, ein warmes Kleidungsstück zu kriegen, wenn auch leihweise und zum Teil mit deutlichen Spuren von Tragen und Abnutzung. Warm waren sie, und das war das wich-tigste.

Dann ging es weiter durch einen niederschmetternd traurigen Ort. Die Eskimos wohnten in einer Art Hütten, mehrere von ihnen not-dürftig aus alten Brettern zusammengebastelt, mit unbeschreiblich aussehenden Stoff-Fetzen als Abdichtung in den vielen Rissen. Das Müllabfuhrproblem war in einfachster, wenn auch nicht gerade in einer hygienischen Weise gelöst: Alle Abfälle wurden vor die Tür geschmissen, und da bleiben sie! Alte Kartons, Holzstücke, Blechdo-sen, Fetzen von Sackleinen – alles häufte sich vor den Hütten. Nur Essensreste sahen wir nicht. Daß die beseitigt wurden, dafür sorgten

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die Hunde. Ja, die Hunde! Nie hat mein tierliebendes Herz so geblutet! Na-

türlich weiß ich, daß die Eskimohunde hart und widerstandsfähig sind, nicht mit den europäischen oder amerikanischen gepflegten, gekämmten, getrimmten, gebadeten Haushunden zu vergleichen. Aber trotzdem! Die, die frei herumliefen, waren am besten dran. Sie suchten die Abfallhaufen nach Eßbarem ab. Aber die angeketteten! Am liebsten wäre ich aus dem Bus gesprungen und hätte alle losge-lassen, oder ich hätte das Touristen-Eßlokal geplündert und all die angeketteten Hunde gefüttert. Hundehütten gab es nicht. Die Tiere hatten selbst Höhlen gegraben, wo sie gegen Regen, Wind und eisige Winterkälte Schutz suchten.

Ich wechselte einen Blick mit Sonja. Ich glaube, wir dachten bei-de an ihren Hasso mit seinem gepflegten Fell, mit seinem molligen Körbchen, mit den regelmäßigen Mahlzeiten und dem stets gefüllten Wassernapf. Und vor allem: mit all der Liebe, die ihm entgegenge-bracht wurde! Ob diese Eskimohunde wohl jemals gestreichelt wur-den? Ob sie jemals ein liebes Wort zu hören bekamen?

Es wurde uns eine Schule und ein Krankenhaus gezeigt, zwei gut erhaltene, hell gestrichene Holzgebäude. Das Krankenhaus hatte vierzehn Betten, erzählte unser Führer. In regelmäßigen Zeitabstän-den kam ein Arzt aus Fairbanks und blieb zwei Wochen. Also mußte man seine Wehwehchen aufheben bis der Arzt da war. Nun ja, in ganz schlimmen Fällen mußte man den Patient nach Fairbanks flie-gen, da war ja ein regelmäßiger Flugverkehr.

„Bevor wir den Flugplatz bekamen, waren wir allerdings sehr isoliert“, erzählte der Führer. „Damals waren die Schiffe unsere einzige Verbindung mit der Außenwelt, und der Hafen ist nur zwei Monate im Jahr eisfrei! Wenn damals ein Schiff kam, mit Post und Waren, und vielleicht sogar Besuch, dann waren Festtage im Dorf!“

Er erzählte weiter, daß man vor einigen Jahren angefangen hatte, in und um Point Barrow nach Öl zu suchen. Aber es ging wie es in einem alten norwegischen Spruch heißt: „Wer sucht, der findet, aber nicht immer das, was er sucht.“ Was man fand, war nämlich Erdgas. Was an sich ein Segen war, denn jetzt wurde jedes Haus mit Erdgas geheizt und alles mit Erdgas gekocht. Nur hatte man die Gasleitun-gen in einer Weise gelegt, die beileibe nicht zur Verschönerung des Ortes beitrug: Überall waren etwa einen halben Meter hohe Holz-pflöcke in der Erde befestigt, und die Gasrohre an diesen anmontiert. So streckten sich die Metallrohre in einem halben Meter Höhe von

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Holzpflock zu Holzpflock und bildeten eine Art übergroßes Spin-nennetz zwischen Häusern und Hütten.

Ein Hotel war auch da! Ein rührendes kleines weißes Holzhaus mit dem Namen „Arctic“ – wie könnte es anders heißen? – auf einem blauen Schild. „Gott sei Dank, daß wir da nicht übernachten wer-den“, flüsterte ich Rolf zu.

Dann erzählte man uns, daß Süßwasser das größte Problem sei. In ganz Point Barrow gab es keine Dusche und keine Spültoilette. Dann war ich noch mehr erleichtert bei dem Gedanken, daß wir in wenigen Stunden zurückfliegen würden – ich freute mich schon auf die Dusche in unserem Hotelzimmer in Fairbanks.

Geschweige denn auf die Spültoilette! Aber war auch Süßwasser rar, gab es um so reichlicher Salzwas-

ser. Dicht am Ufer des Eismeeres wurden wir aus dem Bus herausge-lassen. Gesegnet seien die Anoraks und die Parkas, denn die Kälte hier am Ufer war nicht von Pappe!

Große, dicke Eisschollen trieben im Wasser, zum Teil ganz dicht am Ufer. Weiter weg war das Dauereis, das ‚ewige Eis’, wie eine zusammenhängende, grünlich weiße Kette zu sehen.

Wir wanderten am Ufer entlang. Das Laufen war anstrengend, denn bei jedem Schritt sanken die Füße in den groben, dunklen, lockeren Sand, der beinahe kein Sand, sondern eher eine Art schwar-zer Schutt war. Unaufhörlich mußten wir die Schuhe ausziehen, und auf einem Bein stehend, all die kleinen Steine ausschütten.

Dann ging es zum Mittagessen. Für die Touristen war ein Restau-rant errichtet worden, auch ein Holzhaus. Das Lokal war recht or-dentlich, mit langen Tischen, einem kleinen Andenkenladen in einer Ecke und vor allem mit einer molligen Wärme aus einem großen Gaskamin. Das Essen war sättigend, wenn auch nichts für verwöhnte Gaumen. Daß überall Brotkörbe herumstanden, notierte ich mit Freude. Ich sammelte alles, was an Brotresten liegenblieb – Sonja tat dasselbe. Damit wollten wir so viele Hunde wie möglich glücklich machen!

Die Gelegenheit dazu kam gleich nach dem Essen. Jetzt sollten uns echte eskimoische Schlittenhunde vorgeführt werden. Wie man auf diesem Schutt Schlitten fahren wollte, war mir allerdings ein Rätsel.

Nun, die Vorführung fand auf einem schuttfreien Weg statt, und an den Schlitten hatte man alte Autoräder anmontiert. Das ganze wurde von acht lustlosen Hunden gezogen, einmal hin, einmal zu-

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rück, dann dasselbe noch einmal, fertig. Es war das einzige Hunde-gespann des Ortes und wurde nur für die Touristen gehalten.

Als ich mit meinem Brot zu dem Gespann ging, entstand ein heil-loses Durcheinander. Nicht, daß etwa alle Hunde auf einmal sich auf das Brot stürzten. Das Tohuwabohu lag daran, wie ich nachher hörte, daß ich nichtsahnend einem x-beliebigen Hund etwas zu Fressen gegeben hatte und nicht dem Leithund, dem immer die ersten Bissen zustanden!

Sonja filmte aus Leibeskräften, es wurde eine unsagbar komische Aufnahme daraus, von mir mitten in dem Gespann, dessen Geschirre einen gordischen Knoten bildeten!

Der Wind hatte etwas nachgelassen. Aber von Sonne keine Spur. Der Himmel war grau, nur eine zusammenhängende Wolkendecke zu sehen. Wer weiß – bei strahlender Sonne wäre alles vielleicht anders gewesen. Sonne über dem Meer, Sonne auf den Eisschollen und auf dem ewigen Eis weit da draußen? Vielleicht hätte die Sonne auch hin und wieder ein Lächeln auf die Gesichter gezaubert.

Die einzigen lächelnden Gesichter, die wir sahen, waren die der Kinder. Süß sahen sie aus mit ihren schwarzen Haarzotteln, ihren breiten Backenknochen und ihren großen, braunen Augen. Daß die meisten von ihnen durch den Mangel an Waschwasser gezeichnet waren, störte uns beim Knipsen und Filmen nicht – im Gegenteil!

Das Programm ging weiter. Jetzt war die Tanzvorführung an der Reihe. Sie fand auf einem Podium in einer Art Versammlungshaus statt und wurde von ein paar älteren Frauen mit vollkommen aus-druckslosen Gesichtern absolviert. Daß man weder Ballett noch feurige Folkloretänze hier zu sehen bekommen würde, war uns klar. Aber dies! Ein bißchen Hin-und-Her-Trippeln, ohne Freude, ohne Temperament – es mußte eben wegen der Touristen erledigt werden. Genauso wie die Vorführung der Schlittenhunde!

Als dann zuletzt ein Jüngling ein paar Sprünge auf einem See-hundhaut-Trampolin gemacht hatte, war das vorgesehene Programm zu Ende, und die Zeit für den Abflug rückte zur allgemeinen Erleich-terung näher.

Aber die graue Wolkendecke war tiefer gesunken. Nebelfetzen trieben durch die Luft. Als wir zum Flugplatz kamen, hatten die Fetzen sich verdichtet und bildeten eine kalte, graue, undurchsichtige Einheit.

In dem Augenblick stieg wohl in uns allen die Angst auf: Kann denn das Flugzeug jetzt landen – das gesegnete Flugzeug, das uns

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abholen sollte? Die Stimmung in dem kleinen Warteraum des Flughafens war

etwas gedämpft. Die Blicke gingen immer durchs Fenster. Draußen war es grau, trostlos grau und undurchsichtig.

Die junge, uniformierte Dame in einer Art Büro im Hintergrund sprach in ein Mikrofon und ein heiserer Lautsprecher gab es wieder: „Das Flugzeug aus Fairbanks hat leider etwas Verspätung wegen ungünstiger Wetterverhältnisse. Es wird voraussichtlich gegen sieb-zehn Uhr dreißig landen.“

Denkste! Gegen halb sechs hörten wir ein heiß ersehntes Ge-räusch. Ein Flugzeug nahte! Alles lief raus, alles guckte nach oben. Nichts zu sehen. Das Geräusch wurde schwächer, entfernte sich, dann kam es wieder, entfernte sich noch einmal…

„Es kreist da oben und wartet auf ein Loch in der Wolkendecke“, erklärte mein flugkundiger Schwager.

Wieder wurde das Geräusch schwächer, entfernte sich – und ver-schwand dann endgültig.

Im Warteraum knarrte es wieder im Lautsprecher. Die Dame be-dauerte, das Flugzeug konnte nicht landen und mußte zurück nach Fairbanks fliegen.

Wir sahen alle unseren Führer an, fragend und hilflos. „Alles nur halb so schlimm“, tröstete er. „Dann werden Sie morgen früh abge-holt. Nun fahren wir erst mal zum Hotel, nachher werden wir im Restaurant eine kleine Stärkung kriegen.“

Glück im Unglück! Das Flugzeug hätte eine neue Ladung Touri-sten bringen sollen. Für diese waren Betten im Hotel bereit. Nun durften wir sie benutzen!

„Na, Gott sei Dank“, äußerte Frau Hacker. „Ich dachte, wir müß-ten die Nacht im Restaurant verbringen und im Sitzen schlafen.“

Das Hotel hatte Zimmer genug. Klein waren sie und denkbar primitiv, und Einzelzimmer waren hier ein Fremdwort. Frau Hacker zog sich mit ihrer Kreuzwortfreundin, Fräulein Moorstedt, zurück. Die Ehepaare bekamen je ein Zimmerchen und der Professor wurde zusammen mit Herrn Balberg untergebracht. Und der Nebel wurde immer dichter.

„Wenn ich bloß eine Zahnbürste mitgebracht hätte!“ seufzte ich. Mein Mann guckte mich verschmitzt an. „Du bringst mich dazu, an einen ganz alten Film zu denken“, sagte er. „Da kam ein junges Mädchen vor, das seiner Tante anvertraute, daß es einen jungen Mann liebte. ,Liebst du ihn auch wirklich?’ fragte die Tante. Ja,

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Tante, bestimmt!’ ,Könntest du seine Zahnbürste benutzen?’ fragte Tantchen. Ja, Tante, das könnte ich!’ ,Gut’, sagte die Tante, ,dann liebst du ihn!’“

„Warum erzählst du mir ausgerechnet jetzt die Geschichte,“ frag-te ich.

„Weil ich meine Zahnbürste bei mir habe!“ antwortete mein Mann, der Zahnarzt.

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Ein Tag im Warteraum

„Mit dem Unvermeidbaren versöhnt man sich immer“, ist bei uns ein Familienspruch, der meines Wissens von meinem klugen Vater stammt. Der Spruch schien stichhaltig zu sein. Denn am Abendbrot-tisch, wo uns das serviert wurde, was die nicht angekommene neue Gruppe hätte essen sollen, war die Stimmung wenn auch nicht über-mütig, so doch ruhig und beherrscht. Sogar ein paar Witze wurden gemacht.

Heiko kam mit etwas Verspätung zum Essen. Er hatte mit Jochen Weiden telefoniert. Das Telefon war unsere einzige Verbindung mit der Außenwelt! Unser armes ,Baby’, es war gar nicht so einfach für ihn. Er mußte zusehen, was mit unseren Zimmern in Fairbanks wur-de. Sie waren alle voll ausgepackter Sachen, wir hätten ja morgen früh packen wollen, die Zimmer sollten bis zehn Uhr geräumt sein. Aber bis zehn würden wir wohl nicht da sein.

Nun ja, wir konnten jedenfalls nichts unternehmen. Man mußte sich eben mit der Situation abfinden.

Heiko machte uns auch darauf aufmerksam, daß wir diese unvor-hergesehene Übernachtung selbst zahlen mußten. Sie gehörte zum Kleingedruckten auf der Rückseite der Reiseanmeldung! Und zwar fiel sie unter den Begriff „höhere Gewalt oder Naturkatastrophen“.

Da wurden Brieftaschen und Portemonnaies herausgeholt und Scheinchen gezählt. Ein paar Scheine wechselten vorübergehend und leihweise den Besitzer.

„Es hätte viel schlimmer sein können“, sagte Fräulein Moorstedt. „Wir haben Telefonverbindung mit der Außenwelt, wir kriegen ge-nug zu essen, und wir haben Betten! Denken wir nun einen Augen-blick an die Millionen Menschen auf dieser Erde, die so was nicht haben!“

Wie hatte sie recht! Dies war unangenehm, aber auch nicht mehr. Keine Lebensgefahr, kein Grund zur Panik!

Dann zogen wir uns zurück zu unseren Zimmerchen. Das unsere war nach den hiesigen Verhältnissen beinahe luxuriös! Da waren zwei Häkchen an der Wand, ein etwas wackeliger Stuhl und sogar ein Gegenstand, der mit gutem Willen als Tisch oder jedenfalls als ein Mini-Regal betrachtet werden konnte.

Dazu ein Doppelbett – und nicht zu vergessen, ein Fenster! Son-jas und Heikos Zimmer hatte keins, es war eine „Innenkabine“, wie

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Rolf es nannte. Durch das Fenster hätten wir, falls kein Nebel gewe-sen wäre, einen schönen Blick aufs Eismeer gehabt.

Wir hatten nichts zu lesen, keine Möglichkeit, uns zu beschäfti-gen. Also gingen wir zu Bett – ich in Unterwäsche und Bluse, Rolf im Sporthemd.

„Es ist ja beinahe gemütlich hier“, stellte ich fest, als ich mich zurechtkuschelte.

„Klar!“ sagte Rolf. „Überhaupt, dies ist ja endlich ein Erlebnis, woran wir später mit einem Schmunzeln zurückdenken werden. Denk bloß daran, wie es gewesen wäre, wenn nur einer von uns diese Fahrt mitgemacht hätte, und der andere säße in Fairbanks…“

„… außer sich vor Angst!“ ergänzte ich. „Ach Rolf, alles ist gut, alles kann ich aushalten, wenn wir bloß zusammen sind, du und ich!“

Rolf machte die kleine Lampe – eine schiefhängende Birne ohne Schirm – aus. Um uns war es still. Nur die Wellen des Eismeeres gegen das Ufer waren zu hören.

Und Rolf und ich waren zusammen. Wir beide, die wir vielleicht stärker denn je empfanden, in wie hohem Grade wir zusammenge-hörten!

Nach einer Katzenwäsche im gemeinsamen Waschraum – es gab deren zwei, für ‚Ladies’ und ‚Gentlemen’ – gingen wir am folgenden Morgen hinüber zum Frühstück. Heiko war nicht da. Er war zum Flugplatz gegangen. Es sah nicht rosig aus. Noch war ganz Point Barrow im grauen Nebel gehüllt. Ein furchtbarer Gedanke rumorte in meinem Kopf: Wenn so ein Nebel tagelang dauerte? Womöglich wochenlang? Was dann? Endlich erschien Heiko.

„Wir fahren nach dem Frühstück gleich zum Flugplatz“, verkün-dete er. „Die Wettervorhersage verspricht Besserung. Das Flugzeug soll nach Plan um zehn hier sein und um elf zurückfliegen.“

„Wird es auch landen können?“ fragten fünf Stimmen gleichzei-tig.

„Wir wissen es nicht, aber hoffen dürfen wir!“ Also rein in den Bus und los zum Flugplatz. Das Wartezimmer

war inzwischen saubergemacht, es war mollig drin – gesegnet sei die Erdgasheizung! – und wir warteten.

Es wurde halb elf, es wurde elf. Kein Motorengeräusch. Kein Flugzeug.

Endlich die Stimme im Lautsprecher: „Wir bedauern, Ihnen mit-teilen zu müssen, daß der Vormittagsflug eingestellt ist. Die Meteo-rologen meinen aber, daß das Wetter sich in den nächsten Stunden

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bessern wird, so daß die Maschine heute nachmittag um siebzehn Uhr von Fairbanks fliegen kann und planmäßig um 19 Uhr zum Rückflug startet.“

Heiliger Bimbam! Ankunft in Fairbanks frühestens um 20 Uhr! Und unsere Zimmer! Unser Gepäck! Und unsere Weiterfahrt! Um 20 Uhr sollten wir ja nach dem Programm längst im Mount-McKinley-Nationalpark sein!

Heiko ging wieder telefonieren. Wir guckten uns an. Was sollten wir machen?

Herr Balberg stand auf, guckte sich um mit großen Augen, Au-gen, die einen so merkwürdigen, unheimlich starren Blick hatten.

„Aber hier kann ich nicht bleiben! Hier will ich nicht bleiben! Ich will doch zurück! Ich bleibe nicht hier!“

„Wir wollen alle zurück, Herr Balberg“, sagte Sonja. „Und wir kommen auch zurück, wir müssen nur Geduld haben.“

„Geduld, Geduld! Ich will weg von hier! Ich bleibe nicht hier!“ Da begriff ich: Dieser Mann war ein Nervenwrack. Den konnte man nicht als normalen Menschen betrachten.

„Wir warten ja nur auf weiteren Bescheid, Herr Balberg“, ver-suchte ich, ihn zu beruhigen. „Wissen Sie was? Sie fotografieren doch so gern. Haben Sie die Eskimokinder hier draußen gesehen? Da haben Sie eine Gelegenheit, die Sie vielleicht nie wieder haben wer-den, Sie können phantastische Kinderporträts machen!“

Bevor Herr Balberg antworten konnte, ging die Tür auf und eine ganze Horde kleiner Eskimokinder füllte den Warteraum. Zum Fres-sen süß sahen sie aus in ihren dicken, unförmigen Anoraks, mit ihren dreckigen Händchen, ihren strubbeligen Haarzottteln und ihren pfif-figen kleinen Gesichtern.

Ein paar Bonbons wanderten aus unseren Taschen in kleine, gie-rige Eskimohändchen, die Kinder verteilten die Schätze unter sich – ein außerordentlich lautstarkes Unternehmen! – und die Photoappa-rate klickten um die Wette. Die, die keinen Blitz hatten, gingen vor das Haus, wo noch etliche der kleinen, zottigen Knäuel rumtobten. Ich habe auch selbst Aufnahmen gemacht, und die sind so gut ge-worden, daß ich nachher für diese Stunden beinahe dankbar bin!

Der Warteraum wurde recht bald von der Kinderinvasion ge-prägt. Überall zerknüllte Bonbonpapiere, leere Saftdosen und was Kinder so alles verstreuen. Der Fußboden war bald so dreckig, daß man darauf Kartoffeln hätte pflanzen können, wie mein Angetrauter sich ausdrückte. Kein Mensch jagte die Kleinen weg. Sie betrachte-

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ten anscheinend den Warteraum als ihren privaten Kindergarten. Heiko kam wieder.

„Die restliche Gruppe wartet auf uns in Fairbanks. Leider müssen die Zimmer geräumt werden, Herr Weiden kümmert sich um die Zimmer der Herren, Fräulein Lander packt für die Damen…“

Herr Balberg sprang auf, wie von einer Tarantel gestochen. „Das verbitte ich mir! Mein Zimmer bleibt so, bis ich zurück bin! Ich will nicht, daß jemand in meinem Koffer herumwühlt!“

„Das tut niemand“, tröstete Heiko. „Ihr Koffer bleibt zu, nur was Sie an Toilettensachen und so was auf Tischen und im Bad haben, wird in einem Beutel gesammelt und mit Ihrem Namen versehen. Das ist der einzige Ausweg, Herr Balberg. So wird es auch mit mei-nem Gepäck gemacht.“

„Das ist eine Unverschämtheit. Ich will nicht, daß jemand in meinen Sachen herumschnüffelt. Überhaupt, ich will jetzt zurück. Wenn wir nicht fliegen können, soll man uns gefälligst einen Bus verschaffen.“

„Herr Balberg! Sie wissen genau, daß keine Straße von hier nach Fairbanks führt. Da ist nur Tundra, unwegsame, öde Tundra. Wir sind vom Flugzeug abhängig, damit müssen wir uns abfinden, Sie müssen es auch, genau wie wir alle.“

Ich weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn die Stimme im Lautsprecher nicht unterbrochen hätte: „Meine Damen und Herren! Man hat in Fairbanks den Flugplan geändert. In wenigen Minuten startet die Maschine und wird voraussichtlich in etwa anderthalb Stunden hier sein und nach dem Auftanken sofort zurückfliegen. Wir bitten Sie, falls Sie das Flughafengebäude verlassen, spätestens in einer Stunde zurück zu sein!“

Erleichtertes Lächeln auf müden Gesichtern. Die Schweigsamen fingen an zu plaudern, die Schläfrigen wurden wach. Anderthalb Stunden! Um zwei Uhr! Dann konnten wir vor sechzehn Uhr in Fairbanks sein.

„Wer macht jetzt einen Spaziergang?“ fragte Rolf. „Wollen wir uns nicht die Beine etwas vertreten?“

Die meisten wollten es. Sonja und ich hatten außerdem etwas Be-stimmtes vor: Wir wanderten im Ort umher und überall, wo wir einen angeketteten Hund sahen, gaben wir ihm etwas von den Brot-resten, die wir nach dem Frühstück zusammengeklaubt hatten.

Nie habe ich Tiere gesehen, die sich so auf Eßbares gestürzt ha-ben.

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Es war heute Sonntag, jede Arbeit ruhte. Wir sahen viele dahin-schlendernde Eskimos, meist Jugendliche. Was ungeheuer deprimie-rend wirkte, war der Anblick der vielen angetrunkenen Menschen. Ein paar junge Männer torkelten lallend umher, da waren auch Mäd-chen, denen man deutlich ansah, daß sie etwas zuviel intus hatten.

Schöner war es, die Mütter mit Babys zu sehen. Hier hatten sie eine neue Variante von Baby verfrachten. In Afrika hatte ich ja un-zählige Male Babys in einem Tuch auf dem Rücken der Mutter ge-sehen. Hier aber wurden die kleinen, dick eingepummelten Knäuel ganz einfach in die tiefe, pelzgefütterte Anorakkapuze der Mutter gesetzt.

Wenn die Leute nur nicht so freudlos ausgesehen hätten! „Und wenn sie nicht so scheußliche Zähne hätten!“ sagte Rolf.

„Weißt du, hier möchte ich ein paar Monate praktizieren und lauter Plomben, Kronen, Brücken und Prothesen machen!“

„Um Gottes willen!“ rief ich. „Mein Bedarf an Point Barrow ist für den Rest meines Lebens gedeckt! Wenn du im afrikanischen Urwald eine Praxis aufmachst, komme ich mit, oder meinetwegen in der sibirischen Tundra oder auf einer Südseeinsel. Dann komme ich auch mit! Aber hierher nicht!“

„Hierher läßt du mich dann allein fahren?“ schmunzelte Rolf. „Allein? Nein, das auch nicht. Dann also in Gottes Namen, prak-

tiziere wo du willst, ich komme mit. Wo du bist, will ich auch sein!“ „Auch in Point Barrow?“ „Ja, Rolf. Lieber mit dir in Point Barrow als ohne dich in einem

Luxushotel an der Riviera!“ Als das Flugzeug ankam und über das Flugfeld rollte, hätte ich es

streicheln können. Und als wir an Bord gingen, mußte ich mich be-herrschen, sonst hätte ich die Stewardeß umarmt und den Piloten geküßt.

Anderthalb Stunden später rollten wir über das Flugfeld in Fair-banks.

Es war zu schön um wahr zu sein.

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Tiere und Berge Herr Weiden und die restliche Gruppe warteten vor dem Flughafen-gebäude.

„Das ganze Gepäck ist im Bus“, verkündete er. „Ebenso Freßpa-kete, Sie müssen unterwegs etwas essen, wir müssen sofort los. Hän-dewaschen und alles andere Notwendige bitte hier erledigen, damit wir direkt zum McKinley-Park fahren können.“

Es gab einen Ansturm auf ‚Ladies’ und ‚Gentlemen’. Eine Du-sche wäre jetzt himmlisch gewesen, und herrlich wäre es, sich umzu-ziehen. Aber was nicht ging, das ging eben nicht. Also traten wir die weite Fahrt in unserer allzu warmen Point-Barrow-Kleidung an.

Jetzt wurde uns klar, wie die Gruppe sich als Einheit fühlte, wie groß das Gefühl der Zusammengehörigkeit war. Alle fragten und hatten sich Sorgen um uns gemacht. Sie hatten Angst gehabt, daß der Nebel tagelang bleiben und den ganzen Luftverkehr lahmlegen könn-te.

„Jetzt, wo alles vorüber ist, können wir es ja zugeben“, sagte Rolf. „Mir kam auch dieser Gedanke, das läßt sich nicht leugnen. Aber ich wollte ja die anderen nicht in Panik versetzen, deshalb habe ich meinen Mund gehalten.“

„So ging es mir auch“, rief Frau Hacker. „Allerdings haben Fräu-lein Moorstedt und ich darüber gesprochen, aber es blieb unter uns.“

Der eine und der andere gab zu, dieselbe Angst gehabt zu haben und alle endeten mit: „Gott sei Dank, daß wir wieder hier sind!“ Nur Herr Balberg zeigte kein Zeichen der Freude.

„Es ist unverantwortlich, einen Ausflug zu einem solchen Nebel-nest zu arrangieren!“ brauste er auf. „Man muß doch etwas über die Wetterlage an den Orten wissen, wenn man eine ganze Reisegruppe hinschickt!“

Da machte Herr Weiden den Mund auf, und plötzlich sprach er mit Autorität, mit der überzeugenden Stimme des Menschen, der Bescheid weiß.

„Das weiß Tellus-Touren auch, Herr Balberg. Zu dieser Jahres-zeit ist Nebel in Point Barrow eine ganz große Seltenheit. Ich war selbst voriges Jahr da, bei strahlender Sonne, es war auch kein Wind und Nebel erst recht nicht. Es war so schön wie man es sich nur wünschen kann. Aber nennen Sie mir einen Ort auf der Welt in dem niemals Nebel herrscht. Wenn Sie einen solchen Ort kennen, schlage

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ich Ihnen vor, dorthin Ihre nächste Reise zu buchen.“ Bevor Herr Balberg zum Antworten kam, rief Fräulein Moorstedt

lächelnd: „Das ist ja großartig! Dann haben wir eine ganz große Seltenheit erlebt. Point Barrow im Nebel, das erlebt nicht jeder.“

„Und ohne den Nebel hätten wir nicht soviel Zeit zum Fotogra-fieren gehabt“, sagte Dr. Scherning. „Ich bin rasend gespannt auf meine Kinderporträts!“

Isabel stand auf und wanderte ganz nach hinten im Bus. „Nanu, Isabel, willst du schlafen?“ neckte ich. „Du kannst es ruhig tun, du bist im richtigen Bus.“

Sie lächelte. „Nein, ich will ganz was anderes tun. Ich will euch etwas zum Essen bringen. Wir haben schon zu Mittag gegessen…“

„Aber wir nicht!“ rief ich. „Ich glaube, wir haben alle einen Mordshunger.“

Isabel holte aus ein paar großen Kartons hübsche, appetitlich zu-rechtgemachte Freßpakete, die sie unter uns ‚Barrowleute’ verteilte. „Leider sind es nur Schnitten“, sagte sie. „Aber sie sind alle gut belegt, vor allem auch mit Räucherlachs.“

„Ich esse keinen Fisch“, kam es in beleidigtem Ton von Herrn Balberg.

„Dann können Sie einem ja leid tun“, sagte Dr. Scherning trok-ken. „Schade, man hätte natürlich nach Point Barrow anrufen sollen, um zu fragen, was Sie zu speisen wünschen.“

Aua, aua, dies könnte ungemütlich werden. Ich konnte schon ver-stehen, daß Dr. Scherning platzte, aber es ging darum, eine friedliche Stimmung aufrechtzuerhalten. Also mischte ich mich schnell ein: „Wir können tauschen, Herr Balberg. Geben Sie mir Ihre Lachsbrote, und Sie kriegen meine Wurst- und Käsebrote.“

Die Pakete waren wirklich erstklassig. So hübsch sauber und ap-petitlich verpackt, dann in einer Extratüte eine Tomate, eine Banane, eine Orange und noch dazu ein Stück Kuchen. Außerdem Salz, Pfef-fer und eine Papierserviette.

Herr Weiden zauberte gekühlte Obstsaftdosen aus einer großen Kühltasche.

„Aber wo in aller Welt haben Sie so was Delikates erstanden?“ fragte Frau Hacker. „In unserem Selbstbedienungshotel haben sie wohl nicht…“

„Isabel hat die Brote gemacht“, erzählte Jochen Weiden. „Sie stand den ganzen Vormittag in der Miniküche ihres Appartements und arbeitete unter Hochdruck!“

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„Mutti hat mir geholfen!“ sagte Isabel. „Wir bekamen Brot und Butter aus dem Restaurant und dann lief Jochen los und kaufte Auf-schnitt und Obst. Ja, und die kleinen Flugzeugpackungen Salz und Pfeffer hatte Jochen unterwegs gesammelt.“

Isabel mußte den ganzen Tag hart gearbeitet haben. Zuerst das Räumen der Zimmer, dann all die Arbeit mit den delikaten Schnitten. „Du bist ein Goldstück, Isabel!“ sagte ich und biß ein großes Stück von meiner letzten Räucherlachsschnitte ab.

Es ging pausenlos weiter. Oh, wie freute ich mich auf ein Bad und auf saubere Unterwäsche.

Aber man darf sich nicht zu früh freuen. Wir wußten im voraus, daß wir diesmal in einem ‚sehr einfachen’

Hotel übernachten würden, aus gutem Grund: Das Hotel, das eigent-lich geplant war, konnten wir nicht bewohnen, weil es vor kurzem abgebrannt war. Wir hatten von Tellus-Touren Bescheid und eine entsprechende Preisermäßigung bekommen.

Aber als es sich zeigte, daß das Hotel keine Badezimmer hatte und kein fließendes Wasser in den Zimmern, war doch die Enttäu-schung groß. Die einzige Möglichkeit, sich zu waschen, war ein kleiner Waschraum mit zwei Waschbecken, einer Brause und einem einzigen Klöchen – und das für all die weiblichen Teilnehmer unse-rer Gruppe, plus zwölf Damen einer anderen Reisegruppe!

Zwei Stunden liefen die Brause, die Wasserhähne und die Klo-spülung ununterbrochen. Anders war es auch nicht im Waschraum der Herren!

Und wie es morgen früh werden würde, daran wagte ich nicht zu denken! Wir mußten um halb vier auf, um vier sollten wir auf unsere große Fahrt in den Mount-McKinley-Nationalpark starten.

„Nun ja. Es ist ja für uns nicht schlimmer als für die anderen“, philosophierte ich, schlüpfte in einen sauberen Schlafanzug, kroch ins Bett und überließ es Rolf, das Licht auszumachen. Das mußte mit dem Schalter neben der Tür besorgt werden, denn Nachttischlampen gab es nicht. Rolf mußte bei Dunkelheit den Weg zurück zum Bett finden.

„Du hast dich verlaufen, Rolf! Dies ist mein Bett, hier liege ich!“ protestierte ich, als er auf meine Bettkante niedersank.

„Daß du da liegst, betrachte ich als ein Plus“, antwortete mein Mann und machte überhaupt keinen Versuch, das andere Bett bei der Dunkelheit zu finden.

Das Aufstehen war hart! Als der Wecker uns um drei Uhr nachts

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aus dem Schlaf riß, hätte ich ihn am liebsten an die Wand geschmis-sen. Aber der Gedanke, daß der Waschraum vielleicht noch frei war, brachte mich zum Aufstehen, und das war gut. Denn zehn Minuten später strömten meine Mitreisenden mit Waschlappen, Seife, Hand-tüchern und Zahnbürsten in den Waschraum.

Um vier Uhr fuhren wir zu einem ‚Rund-um-die-Uhr-Lokal’, und mit Hilfe unserer mitgebrachten Kaffeegläser bekamen wir einen anständigen Morgenkaffee und außerdem ‚hot cakes’ in Hülle und Fülle.

Als die ersten Sonnenstrahlen hinter den Bergen rausguckten, waren wir schon im Park. Um uns die märchenhafte Bergwelt, und dann Wälder – herrliche, dunkelgrüne Wälder, von einer Ausdeh-nung, die man wohl kaum in Europa sieht!

Was lebte wohl alles in diesen geheimnisvollen Wäldern? Da trotteten große, zottige Bären, da spielten kleine mollige Bärenkin-der, da huschten Wiesel und Erdhörnchen auf dem Waldboden, da turnten Eichhörnchen in den Bäumen. Mächtige Elche wanderten an den moorigen Stellen, und oben auf den Bergen lebten die weißen Schneeziegen, da pfiffen die Murmeltiere und weiter unten wander-ten die schönen Karibus.

Würden wir wohl etwas von diesem wunderbaren Tierleben zu sehen bekommen? Es war hier nicht wie in Ostafrika, wo die Tiere ganz dicht an die Autos kamen, nicht wie in Yellowstone, wo die Bären die Pranken bettelnd nach Süßigkeiten ausstreckten. Hier war es so geblieben wie es immer war, die Tiere lebten ihr eigenes, von Menschen unabhängiges Leben, und hatten das Betteln nicht gelernt. Wir durften die einzige Straße, die durch den Park führte, nicht ver-lassen. Also hieß es nur hoffen, daß ein paar Vierbeiner zufällig ihren Morgenspaziergang Richtung Straße legten.

Vor uns tauchte ein atemberaubendes Bergmassiv auf. Ein mäch-tiger Gipfel mit einer schneeweißen Haube, die in der Sonne strahlte und glitzerte. Es war der Mount McKinley – der höchste Berg in Nordamerika, höher als sämtliche Alpengipfel.

„Halt!“ rief Heiko, und der Fahrer brachte den Bus zum Stehen. „Dort, rechts – rechts von dem großen Stein – vor dem grünen

Hügel – sehen Sie?“ Wir sahen! Zwei große, mächtige Bären – das eine Tier war eine

Bärin, denn dicht hinter ihr trotteten zwei kleine Bärchen. So was Wonniges!

Die, die ganz starke Teleobjektive hatten, filmten und fotogra-

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fierten. Wir anderen ließen die Ferngläser von Hand zu Hand gehen. Durchs Glas konnte man die Tiere ganz deutlich sehen.

„Grizzlybären“, erklärte Heiko. „Ich glaube, wir sollten froh sein, daß sie nicht näher sind, die Grizzlys können nämlich gefährlich sein. Ich behaupte nicht, daß sie es immer sind, nur daß sie es sein können!“

„Und die Braunbären? Die gibt es doch auch hier?“ wollte Fräu-lein Rothbaum wissen.

„Und ob! Ja, die sind friedlich, solange sie sich nicht bedroht füh-len. Ich weiß, daß zum Beispiel Beerenpflücker hier in Alaska oder in Kanada manchmal Bären im Wald treffen. Sie zeigen kein beson-deres Interesse für die Zweibeiner. Die Menschen halten eine gewis-se Entfernung, dann läuft alles friedlich ab.“

„Solange sie sich nicht als Bärenpflücker betätigen!“ sagte ich. Ich hatte in der Schule einmal diesen Fehler in einer deutschen Ar-beit gemacht, ich hatte von einem Jungen geschrieben, der im Wald Bären pflückte!

Das erzählte ich natürlich und es gab ein großes Schmunzeln. Sonja konnte mit einem anderen Schnitzer beitragen. Als sie jung verheiratet war und noch nicht so sicher in der deutschen Sprache, hatte sie im Lebensmittelgeschäft Reisflocken kaufen wollen. Da Reis in Norwegen Ris heißt, war das Resultat, daß sie nach „Riesen-flecken“ fragte.

„Dann haben Sie beide aber Erhebliches dazugelernt!“ sagte Fräulein Franzen. „Man kann doch kaum hören, daß Sie keine Deut-schen sind!“

„Kunststück“, lächelte Sonja. „Ich bin mit einem Deutschen ver-heiratet, und meine Schwester hat ihre Ausbildung in Deutschland gehabt!“

Inzwischen hatten die Bären sich etwas weiter bewegt, und wir setzten unsere Fahrt fort. Allzulange dauerte es nicht, dann tauchte eine kleine Herde Karibus auf, diese bildschönen Rentiere mit ihrem herrlichen Geweih. Sie waren viel näher als die Bären, wir konnten sie wunderbar fotografieren!

„Horch!“ rief ich. „Das Pfeifen – das ist ja genau wie in den Al-pen – hier müssen Murmeltiere sein.“

Eine hohe Felswand neben der Straße wurde mit Ferngläsern ab-gesucht – und ganz richtig: Auf einem Vorsprung saß ein großes, hellgraues Murmeltier aufrecht, in der Stellung, die ich bei den Al-penmurmeltieren so oft gesehen hatte. Es war der „Wächter vom

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Dienst“, der Ausschau hielt und gellende Warnpfiffe von sich gab, wenn ein Raubvogel oder eine andere Gefahr zu sehen war.

Wir warteten und schwiegen. Das große Tier beruhigte sich und fing an zu äsen. Jetzt rührte sich etwas unterhalb des Vorsprunges. Aus einer Höhle kamen drei kleine mollige Murmelkinder und fin-gen an zu spielen. Sie waren so munter, so sorglos ausgelassen in der hellen Morgensonne! Die längsten Teleobjektive traten in Funktion. Unsere Schmalfilmamateure waren Feuer und Flamme.

Diese Tiere waren viel größer, viel kräftiger und auffallend heller in der Färbung als ihre grauen Verwandten in den Alpen.

Wir konnten uns einfach nicht losreißen von dem Anblick der drei entzückenden kleinen Kobolde. Aber das Spiel bekam ein jähes Ende, als der Wächter ein paar ganz schrille Pfiffe von sich gab und wie ein Blitz in seine Höhle verschwand. Dasselbe machten die drei kleinen, und jetzt sahen wir den Grund: Ein großer Raubvogel segel-te durch die Luft, in beängstigender Nähe der Murmelkolonie.

Oh, was war heute für ein schöner Tag. Das Wetter war himm-lisch, nicht zu fassen, daß wir vor 24 Stunden im Nebel am Eismeer gesessen hatten.

Bevor wir zum Endpunkt der Autostraße kamen, erlebten wir noch eine Herde Schneeziegen. Sie waren allerdings sehr scheu und befanden sich ganz weit oben an einer Felswand. Aber durchs Fern-glas konnten wir sie gut sehen. Das war für uns alle neu. Heiko konnte uns aus seinem unerschöpflichen Wissen erzählen, daß die Schneeziegen nur in Nordamerika leben, ihre nächsten europäischen Verwandten sind die Gemsen. Man sah es an den Kletterkünsten. Als wir lange gewartet hatten, wurde endlich unsere Geduld belohnt: Eins der Tiere hatte vielleicht auf einem winzigen höherliegenden Vorsprung etwas Appetitliches entdeckt, denn plötzlich machte es einen Riesensprung, und stand im nächsten Augenblick sicher auf seinen vier geschickten Beinen auf einer Fläche, die so klein war, daß zwei Menschenfüße bestimmt nicht Platz genug gehabt hätten!

Wir hatten jetzt die Wälder hinter uns. Um uns nur Berge mit Rentiermoos und Hochgebirgsflora. Wir sahen noch eine Murmel-tierkolonie – hier waren die Tiere beinahe weiß – und etliche kleine Hörnchen, die rumhuschten und gar keine Angst vor den Menschen hatten.

Und immer im Blickfeld der herrliche Gipfel, der Mount McKin-ley mit seinen mehr als sechstausend Meter Höhe!

Auf der Rückfahrt meldete sich die Müdigkeit. Wir waren ja mit-

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ten in der Nacht aufgestanden, und der gestrige aufregende Tag hatte uns auch arg zugesetzt.

Es war schade, etwas von dieser einmalig schönen Fahrt zu ver-schlafen, aber es waren schon etliche nickende, hängende Köpfe zu sehen. Selbst war ich auch nicht taufrisch, beileibe nicht. „Sprich mit mir, Rolf“, sagte ich. „Sonst schlafe ich ein.“

„Schlafen kannst du nachher“, meinte Rolf. „Jetzt sollst du ge-nießen, daß du in dieser herrlichen Gegend bist. Außerdem wollen wir Ausschau nach Elchen halten. Die haben wir bis jetzt nicht gese-hen.“

Ich raffte mich zusammen, hielt Ausschau – aber wie war ich müde! Nur einen Augenblick die Augen zumachen…

Dann merkte ich einen Schubs an den Arm. „Sentachen! Sei nun brav und bleibe wach, dann kaufe ich dir

was Schönes in Anchorage.“ Wenn etwas eine Frau wach und hellhörig machen kann, dann ist

es wohl die Aussicht, ‚was Schönes’ zu kriegen! Also sperrte ich die Augen auf und wurde dafür belohnt. Denn

ich war es, die den Elch entdeckte! Einen Bullen, ein Riesentier mit einem enormen Schaufelgeweih. Es stand wenige Meter von der Straße, mucksmäuschenstill und guckte unseren Bus ziemlich unin-teressiert an. Schläfrige Augen wurden wach gerieben, müde Hände streckten sich nach Fotoapparaten und Filmkameras, der Bus blieb stehen, der Elch zum Glück auch. Ich möchte mal wissen, wieviel Meter Film er uns sozusagen ‚aufgefressen’ hat.

Es war aber ein sehr schöner Abschluß eines herrlichen Ausflugs. Aber als wir zu unserem Hotel zurückkamen, konnte ich eben nur

irgend etwas essen, das tat ich im Halbschlaf, ohne zu ahnen was ich aß. Dann fiel ich ins Bett und schlief vierzehn Stunden ununterbro-chen!

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Briefe und Andenken Zum letztenmal saßen wir im Bus auf einer weiten Fahrt. Es ging nach Anchorage, wo wir die letzten zwei Tage unserer Reise verbringen würden. Anchorage, die Stadt, die durch furchtbare Erd-beben im Jahre 1964 zum Teil zerstört wurde. Unterwegs erzählte uns Jochen Weiden darüber. Das Erdbeben hatte ganz merkwürdige Veränderungen mit sich geführt: Der Erdboden war in der Höhe versetzt worden, es bildeten sich sozusagen große Stufen in dem felsigen Grund der Stadt. Auf einer dieser Stufen war das große, ganz moderne Hotel, wo wir wohnen würden, vor wenigen Jahren gebaut worden.

„Ich habe immer geglaubt, daß Anchorage die Hauptstadt Alas-kas ist“, gestand ich. „Erst auf dieser Reise habe ich erfahren, daß die komische kleine Stadt Junau es ist!“

„Dafür ist aber Anchorage die größte Stadt“, belehrte mich Jo-chen Weiden. „44.000 Einwohner, nach den hiesigen Verhältnissen beinahe eine Großstadt. Es sind Museen und eine Universität da, ein sehr großer Hafen, und ein ganz imposanter Wasserflughafen, der größte der Welt!“

„Hör, hör, Heiko, Wasserflugzeuge!“ flüsterte ich meinem Schwager ins Ohr.

„Außerdem ein sehr großer internationaler Flughafen“, fuhr Jo-chen Weiden fort. „Und als besondere Merkwürdigkeit ein Glet-schersee, nicht viel höher gelegen als der Meeresspiegel. Verstehe es, wer kann. Wenn man es verstehen könnte, wäre es vielleicht keine Merkwürdigkeit! Ja, und dann gibt es Andenkengeschäfte an jeder Ecke, und wer einen Räucherlachs mit nach Hause nehmen will, kann in Anchorage jede Menge kaufen!“

Na, unsere zwei Tage dort würden nach dieser Beschreibung ausgefüllt sein!

Das Hotel auf der „Felsstufe“ war das weitläufigste, das ich je gesehen hatte. Das Haus hatte nur zwei Stockwerke, die Gästezim-mer waren in einer Etage, und wir fühlten uns wie Langstreckenläu-fer, wenn wir z.B. im Speisesaal saßen und entdeckten, daß wir das Taschentuch oder das Portemonnaie im Zimmer hatten liegenlassen. Ich habe die Schritte gezählt: Es waren deren 278 vom Speisesaal zu unserer Zimmertür!

Aber sonst haben wir alles genossen! Zehn Minuten nach der

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Ankunft strömte schon das Wasser in sämtliche Badewannen! Morgen hatten wir ein Programm, diesen Nachmittag waren wir

frei. Das bedeutete, daß alles loswanderte und von den unzähligen Andenkenläden geschluckt wurde.

Ich beobachtete zu meiner Freude, daß niemand allein ging. Jeder sprach mit jedem, sie wanderten in Gruppen, fragten und zeigten einander ihre Einkäufe.

Isabel und Suse tuschelten und lachten und hatten etwas ganz Geheimnisvolles vor. Jochen Weiden verschwand zusammen mit Heiko. Rolf hatte anscheinend auch etwas vor, denn er löste sich plötzlich in Luft auf. Dann gingen Sonja und ich los, um Mitbringsel für unsere Eltern und Geschwister zu kaufen.

Es waren reizende Sachen aus Alaska-Jade und entzückende Schmuckstücke mit den aparten, schwarzgrauen Hämatitsteinen, die ich offen gesagt bis zu dem Augenblick nicht kannte.

Da waren Broschen, Ohrringe, Armbänder, Anhänger – so eine ganze Garnitur wäre sehr apart, wirklich ‚mal was anderes’.

„Weißt du“, sagte Sonja nachdenklich, „wenn wir nun Beatemutti je einen Ohrring schenkten? Zum Geburtstag? Und dann das Arm-band und die Brosche kauften, dann könnte Papa das Armband über-nehmen und es ihr zu Weihnachten schenken, und von uns bekäme sie dann – also erst zu Weihnachten – die Brosche?“

Wir mußten unser Geld zählen, denn eigentlich waren Einkäufe für Papa nicht mit einkalkuliert. Als wir in dieser interessanten Be-schäftigung vertieft waren, hörten wir eine Stimme hinter uns:

„Nun, Sie haben wohl vor, groß einzukaufen?“ Ich drehte mich um. Es war Herr Tesman.

„Ja, wissen Sie, das haben wir! Für unsere Mutter!“ Und Sonja erklärte, daß wir auf lange Sicht kaufen wollten.

„Das wäre vielleicht auch etwas für Sie, Herr Tesman!“ sagte ich und versuchte, ganz unbefangen zu reden. „Ein Stück zum Geburts-tag Ihrer Gattin, eins zu Weihnachten…“

„Und das dritte Stück zum Hochzeitstag!“ rief Sonja. „Sehen Sie sich bloß diese Fassung an, die feine Silberfiligranarbeit! Teuer ist es auch nicht, wir müssen eben diese Gelegenheit nutzen.“

Herr Tesman zögerte ein bißchen, dann sagte er: „Ein Mann ver-steht vielleicht zuwenig von solchen Sachen – glauben Sie, daß mei-ne Frau diese Steine gern tragen möchte?“

„Bestimmt!“ rief Sonja. „Sie passen ja zu allen Farben, man kann sie zu jedem Kleidungsstück tragen! Wenn Sie wollen, können wir

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Ihnen ja beim Aussuchen helfen, wir sind ja schließlich zwei Frau-en.“

Herr Tesmans Schicksal war nun besiegelt. Was sollte er auch machen? Wenn Sonja sagte: „Denken Sie sich bloß diese Brosche an dem schönen grünen Kleid Ihrer Gattin“, oder als ich einen Ring aufsteckte und ihm klarmachte, daß gerade diese Fassung an der schmalen Hand seiner Frau reizend aussehen würde?

Er verließ das Geschäft mit Brosche, Ring und Armband. Nur gegen die Ohrringe hatte er sich gewehrt. „So was trägt meine Frau doch nicht!“ behauptete er.

„Werden Sie nun nicht schwach, Herr Tesman!“ lächelte Sonja. „Wieso schwach?“ „Oh, ich denke an unseren Vater. Er hatte einmal unserer Mutter

eine reizende Goldkette zu Weihnachten gekauft, und dann schaffte er es nicht, so lange zu warten, sondern hängte ihr schon im Novem-ber die Kette um den Hals!“

„Männer sind eben wie große Jungen“, stellte ich fest. Herr Tes-man lächelte ein bißchen, bedankte sich für die Hilfe und ging. Sonja blickte ihm nach.

„So“, sagte sie. „Jetzt habe ich das meine getan. Hoffentlich geht er schnurstracks zum Hotel und steckt seiner Frau die ganze Besche-rung in die Hand!“

Wir fanden ein paar nette Kleinigkeiten für Papa und die Ge-schwister, dann hatten wir keinen Cent mehr übrig.

Im Hotel fanden wir unsere Ehemänner. Sie hockten zusammen in Rolfs und meinem Zimmer.

„Briefe für euch!“ verkündete Heiko und reichte uns je ein Ku-vert. Meins hatte norwegische Marken, Sonjas englische.

Mein liebes Sentachen, schnell einen Gruß, bevor ihr die Heimreise antretet. Bei uns geht

alles gut. Dein Sohn hat versucht, in die Waschmaschine reinzukrie-chen, gottlob war die Öffnung zu klein. Es interessierte ihn ungeheu-er, daß unsere Waschmaschine ein rundes Fenster hat und nicht nur einen Deckel so wie Mamis. Übrigens kann ich ihn verstehen, er sah nach einem Vormittag im Sandkasten so aus, daß er eigentlich in die Waschmaschine gehörte. Sonst hat er keinen groben Unfug getrie-ben. Ich übersehe natürlich, daß er aus dem neuen Fernsehprogramm alle Bilder ausgeschnitten hat, ohne Rücksicht auf das, was auf der anderen Seite gedruckt war. Wir lassen uns jetzt beim Fernsehen

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überraschen, wir ahnen nicht, was uns geboten wird. Daß sein blauer Pulli mit Teerflecken übersät und jetzt mülleimerreif geworden ist, erwähne ich nur nebenbei. Sonst ist er zum Fressen süß und sehr brav und lieb. Ach, Sentalein, falls es möglich ist, bringst Du ein Stück Alaska-Räucherlachs mit? Du weißt, wie gern Papa das ißt. Wir sahen gestern einen Fernsehfilm über die lachsfangenden Kodi-akbären in Alaska. Nachher behauptete Annettchen, daß Alaska ein Druckfehler sein muß. Sie verkündet jetzt weit und breit, daß ihre großen Schwestern in Alaksa sind!

Nun grüße meine beiden Schwiegersöhne herzlichst, umarme Sonnie inniglich, und laß Dich selbst umarmen von Papa, den Ge-schwistern und

Ich reichte Sonja den Brief und sie gab mir den ihren. Er war von Xenia, die von dem Gedeihen und dem Wohlbefinden der Zwillinge erzählte.

„Abgesehen davon, daß Beate die Puppe von Helene restlos ka-

puttgemacht hat, und daß Helenchen sich im Hundekörbchen schla-fen legte, so daß der arme Hasso auf dem nackten Fußboden schlafen mußte, geht alles wunderbar! Hasso sehnt sich furchtbar nach Euch, er guckt immer ganz aufgeregt raus, wenn er ein Auto hört. Die Zwillinge scheinen offen gesagt weder schlaf- noch appetitlos vor Sehnsucht zu sein! Mylady grüßt Euch vielmals, sie freut sich auf Eure Rückkehr! - Mir geht es wunderbar, Bill besucht mich minde-stens dreimal in der Woche! Alles Gute, Dir und Heiko die herzlich-sten Grüße von Euren Töchtern und Eurer Xenia.“

„Wie haben wir es gut“, sagte Heiko, als er und Rolf auch die

Briefe gelesen hatten. „Daß wir unsere Kinder so gut aufgehoben wissen! Ich habe übrigens Xenia ein Mitbringsel gekauft, was sagt ihr zu diesem hier?“

„Dies“ war ein Stück ungeschliffene Jade, an einer Kordel mon-tiert. Ich hatte solche in unserem Geschäft gesehen und sehnsuchts-volle Blicke daraufgeworfen. Aber mein Geld war ja, wie gesagt, alle.

„Ich bin neidisch“, gab ich zu. „Es ist entzückend!“

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„Und ganz wunderbar zu Xenias roten Haaren!“ rief Sonja. „Das hast du fein gemacht, Heiko. Aber nun komm, wir müssen uns zum Abendessen umziehen und dann den anstrengenden Fußmarsch zum Speisesaal antreten!“

Als wir allein waren, guckte Rolf mich verschmitzt an. Dann zog er mich auf seine Knie. „Sentalein, weißt du noch, was ich dir ge-stern versprach?“

„Und ob! Du wolltest mir was Schönes in Anchorage kaufen!“ „Eben. Na, dann guck hier. Läßt du das als was Schönes gelten?“

Ich machte die Schachtel auf. Es war so ein Kordel-Schmuckanhänger wie Xenias. Aber viel,

viel feiner! Das Jadestück war größer und wunderbar geschliffen, in der Form eines kleinen Lachses! Ich bin kein Kenner, aber trotzdem sah ich, daß dieser Stein wirklich ein selten schönes Stück war.

„O Rolf! Du bist… du bist ja ein Gedankenleser… und der lieb-ste Ehemann auf der Welt… nein, so was Hübsches! Wenn du wüß-test, wie ich mich freue! Und gerade, daß es so geschliffen ist, ein typisches Andenken von dieser Reise!“

„Und warum wolltest du so gern ein Andenken ausgerechnet von dieser Reise haben?“ Rolfs Stimme war leise und warm.

Ich blieb auf seinen Knien sitzen, sein Arm lag fest um mich. Ich zupfte an sein Jackenrevers, ich wollte ihm etwas sagen, aber es war nicht leicht, das was ich empfand, in Worte zu kleiden. „Ich… ich… ich möchte nicht sentimental sein, Rolf…“

„Diesmal darfst du es“, sagte Rolf. Seine Augen leuchteten mit einem warmen, dunklen Glanz.

„Ja… wie soll ich es denn sagen… du weißt, daß ich dich immer geliebt habe, Rolf… und wir waren immer glücklich zusammen. Aber diesmal… während dieser Reise ist es mir, als ob wir… ja, als ob wir uns noch nähergekommen sind. Wir haben alle kleinen All-tagssorgen hinter uns gelegt, wir haben nur einander gehabt, keine Patienten und keine Haushaltsprobleme, und keinen quirllebendigen Sohn, der uns in Anspruch nimmt. Und wir haben miteinander spre-chen können wie seit Jahren nicht mehr. Alles, was du mir sagtest an Bord, weißt du noch“, Rolf nickte, „das alles hat mich so maßlos glücklich gemacht. Ich habe das Gefühl, daß wir uns nie so nahe waren wie jetzt. Und ich habe auch so unbedingt das Gefühl, daß es so bleiben wird. O Rolf, hier sitze ich und quassele und quassele, dabei könnte ich alles so viel einfacher ausdrücken. Du hast mir erlaubt, diesmal sentimental zu sein. Vielleicht klingt es auch so,

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aber es ist keine Sentimentalität, Rolf, es ist die Wahrheit, eine ein-fache, selbstverständliche, und so unbeschreiblich beglückende Wahrheit: Ich liebe dich!“

Rolf nahm mich fester an sich, er küßte mich, so zärtlich, so lie-bevoll, so – ja, wie soll ich es sagen – so vorbehaltslos – eine Lieb-kosung, die direkt vom Herzen kam. „Meine Frau“, flüsterte er. „Meine geliebte kleine Frau!“

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Mitternachtssonne Wir waren früh auf am nächsten Tag. Sonja hatte ‚Dienst’ – übri-gens, das mit unseren freien Tagen und unserem Dienst war so ziem-lich durcheinandergeraten. Die Gruppe betrachtete uns beide als zuständig, bald gab es für Sonja etwas zu tun oder zu beantworten, bald wandten sie sich an mich. Es kam natürlich nie vor, daß die eine oder die andere von uns antwortete: „Wenden Sie sich bitte an meine Schwester.“ Übrigens gab es in der letzten Zeit gar nicht soviel für uns zu tun. Die Gruppe hatte so gut zusammengefunden. Man stellte sich gegenseitig Fragen, statt sich an Reiseleiter und Hostessen zu wenden. So konnten wir uns einigermaßen als freie Menschen füh-len.

An diesem Tag fuhren wir von der einen Sehenswürdigkeit zur anderen. Wir sahen den Hafen, wir waren in einer Gegend, wo wir besonders gut die Folgen des Erdbebens damals beobachten konnten.

Dann besuchten wir den größten Wasserflugzeughafen der Welt. In dieser Gegend wurde Privatfliegen ganz großgeschrieben, es wa-ren unzählige nette kleine Sportmaschinen hier versammelt.

„Denk dir, Heiko, all diese Flugzeugbesitzer wissen, wie man aufs Wasser runtergeht!“ neckte Rolf.

„Ich werde dafür sorgen, daß du bald runtergehst!“ brummte Heiko. „Oder ich nehme dich mal mit auf einen Flug und überlasse dir den Steuerknüppel, dann werden wir mal sehen, wo wir landen!“

„Das kommt ganz darauf an, wie wir uns hier auf Erden benom-men haben“, meinte Rolf. „Bestenfalls kommen wir in den Him-mel!“

„Nein, bestenfalls nur in eine chirurgische Klinik“, meinte ich. Es ging weiter – eine schöne Fahrt an dem berühmten Cook-

Fjord entlang, bis zu dem genauso berühmten Portage-Gletscher. Das Wetter war denkbar schön, sehr warm – beinahe heiß. Wie in aller Welt kam es, daß dieser Gletscher seine Ausläufer bis in die liebliche Sommerlandschaft ausstreckte, und seine „Eisbergkälber“ in den kleinen, grün umkränzten See absetzte?

Am Nachmittag ganz schnell die letzten Einkäufe, vor allem den Räucherlachs für Papa! Als Rolf und Heiko unsere Geschenke für Beatemutti gesehen hatten, wanderten sie in bestem Einverständnis los und kauften das einzige was noch fehlte: einen Ring mit einem schönen Hämatit. „Wenn man eine solche Schwiegermutter hat wie

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wir, muß man auch etwas für sie tun!“ war die Begründung. Dann ging es zum letztenmal zu einer der viel zu fetten, viel zu

schweren Abendmahlzeiten. Zu meiner freudigen Überraschung fand ich auf der Speisekarte: „Kapitänsteller: Krabben, Krebs, Langusten-schwänze, Muscheln“. Endlich! Endlich was Leichtes, Gekochtes. Wir bestellten es alle vier, und vier neugierige Augenpaare waren auf jede neue Platte gerichtet, die hereingebracht wurde, vier hungri-gen Menschen lief das Wasser im Munde zusammen!

Und was kam? Vier Teller voll brauner, fetter Klumpen. Auf je-dem Teller außerdem eine überdimensionale gebackene Kartoffel.

Sogar Heiko, der nach der Aussage seiner Frau sonst „Allesfres-ser“ ist, konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

„Ob dies hier einmal eine Auster war, oder ein Gummiball, ver-mag ich nicht zu sagen“, seufzte er und kaute angestrengt an einem der braunen Klumpen rum.

„Ich tippe auf Radiergummi“, sagte Rolf. „Und ich weiß nur eins“, seufzte Sonja. „Falls ich mich einmal in

Alaska niederlassen sollte, tu ich es bestimmt nicht wegen des Es-sens!“ Aber ich hatte in diesem Augenblick etwas beobachtet, das mich so freute, daß ich gar nicht merkte, ob ich Radiergummi oder Langustenschwänze aß. Schon am Frühstückstisch hatte ich gesehen, daß Frau Birkental und Frau Scherning ein paar kleine Alaska-schmuckstücke trugen. Jetzt saß Ehepaar Tesman am Tisch neben uns. Auf Frau Tesmans nettem grünen Kleid strahlte ein filigrange-faßter Hämatit, auf der Hand, die gerade die Gabel zum Mund führte, glitzerte der Ring und um das Handgelenk klirrte ganz dezent das Armband!

Ich flüsterte Sonja ein paar Worte auf norwegisch zu. Sie warf schnell einen Blick zum Nachbartisch.

„Siehst du“, sagte sie in unserer Muttersprache. „Dann habe ich gerade das erreicht, was ich erreichen wollte!“

Wir waren auf dem Heimweg. Das Flugzeug war nur halb besetzt. Wir konnten rumwandern

wie wir wollten, uns hinsetzen wo wir wollten. Also konnten wir Schwestern mitsamt Ehemännern wieder vier Sitze nebeneinander aussuchen.

Es ging nordwärts. Dann verließen wir doch unsere Sitzreihe und suchten uns Fensterplätze aus. Und da blieben wir.

Da, ganz deutlich zu sehen: Mount McKinley, von oben gesehen – weiß, mächtig, unbeschreiblich schön! Ringsum, tief da unten die

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Wälder. Aber dann verschwand allmählich das Grüne. Es kamen graue Berge mit weißen Häuptern – immer mehr weiß, bis alles da unten blendend weiß war.

Wir flogen die Nordpolroute. Direkt über den Pol würden wir leider nicht kommen, aber jedenfalls hatten wir die richtige, echte Polarlandschaft unter uns.

Diese unendliche Weite, diese blendendweißen Eisformationen – und am Himmel die rotgoldene Sonne. Das Licht wurde immer rötli-cher, wir fuhren ja gen Osten. Stunde um Stunde wurde uns vom Tag etwas ‚abgeknabbert’. Es wurde Abend, bevor der Nachmittag rich-tig angefangen hatte!

Wir bekamen unser Essen – zum Glück nicht nach Alaskage-schmack gekocht. Obwohl wir hungrig waren, hatten wir kaum Zeit, es zu genießen. Diese Landschaft, all das Weiße, Weite, Menschen-leere, all das Ursprüngliche, Unberührte da unten. Alles, von der jetzt ganz roten Sonne bestrahlt, war so märchenhaft, daß wir uns um nichts anderes kümmern konnten.

Wir flogen der sinkenden Sonne entgegen, es wurde Mitternacht – und noch war die Sonne da, eine blutrote Sichel über dem Hori-zont. Ja, dies war die Mitternachtssonne, die ich zum erstenmal in meinem Leben sah!

Wie lange dauerte es, ich glaube, nur Minuten, dann wurde die Sichel größer, sie stieg höher, da wurde eine Scheibenhälfte daraus, noch höher und dann war die ganze Morgensonne da und leuchtete über die weiße Fläche und die grünschimmernden Eisberge.

Erst als wir über dem Meer waren, und die Eisschollen spärlicher wurden, kehrten wir zu unserer kleinen fliegenden Welt zurück.

Heiko ging zu Jochen Weiden, der den Arm von Isabels Schul-tern löste. Sie stand auf, sie hatte anscheinend irgend etwas vor. Heiko nahm ihren Platz ein. Er hatte etliches mit Jochen Weiden zu besprechen, bevor er in London aussteigen würde.

Isabel wanderte zu Suse Kleefeld. Sie tuschelten ein bißchen mit-einander. Dann kamen sie beide zielbewußt zu Sonja und mir.

„Wir wollen… wir haben…“ Suse stotterte anfangs ein wenig, dann kam es aber fließend: „Die Gruppe hat uns gebeten, euch bei-den dies zu überreichen. Es ist von uns allen, und wir danken für die gute Betreuung. Und wir alle wünschen, daß wir bei anderen Reisen auch zwei so reizende Hostessen kriegen werden!“

Jeder von uns wurde ein kleines Päckchen in die Hand gesteckt. „Du hast etwas vergessen, Suse“, sagte Isabel. „Dies haben wir euch

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gekauft, damit wir das nächste Mal immer wissen, wer Sonja ist und wer Senta!“

Es waren zwei Anhänger mit entzückenden „Kostproben“ von Alaska-Halbedelsteinen: für Sonja ein Heliotrop, für mich ein Olivin.

Natürlich brachen wir in Begeisterungsrufe aus. Und dann bega-ben wir uns auf Danksagungsrunde. Dort stießen wir mit Heiko und Jochen Weiden zusammen. Sie hatten den Dank in direkter Form bekommen: je ein Kuvert mit übriggebliebenen US- und Kanadadol-lars, beide mit ein paar lustigen gereimten Zeilen, von allen Grup-penteilnehmern unterschrieben.

Alle hatten liebe Worte für uns – eine Bemerkung machte mich besonders froh.

„Ich habe viele Gruppenreisen mitgemacht“, sagte Frau Scher-ning. „Aber nie ist es so nett gewesen wie diesmal. Nie habe ich ein solches Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Gruppe gehabt!“

„Ich wußte nicht, daß man sich so wenig allein fühlen kann, wenn man allein reist“, sagte Fräulein Rothbaum. „Ich habe jeden Tag dieser Reise richtig genossen!“

Frau Lander guckte uns beide an und lächelte. „Nun muß ich wieder raten“, sagte sie. Sie sah uns an, dann blieb ihr Blick an mir hängen. „Ich habe so das Gefühl, daß Sie Senta sind – stimmt es?“

„Ja, Frau Lander“, lächelte ich. „Das stimmt.“ Sie nahm meine Hand zwischen die ihre. „Ich danke Ihnen, Sen-

ta. Ich brauche nicht zu erklären, wofür.“ Sie senkte die Stimme, sie flüsterte ganz leise: „Es ist eine glückliche Mutter, die Ihnen dankt. Gott segne Sie!“

Nur noch eine Stunde, dann würden wir in London landen. Rolf und ich wollten zwei Tage bei Sonja und Heiko bleiben und dann direkt nach Hause fliegen. Isabel kam zu mir, diesmal allein. „Ich wollte dir nur sagen, Senta… daß ich… daß ich… ich meine… ach nein, ich schreibe dir lieber, wenn ich nach Hause komme!“

„Bist du jetzt glücklich, Isabel?“ fragte ich. „Ja, Senta. Gerade das wollte ich dir ja schreiben. Ich ahnte nicht,

daß das ganze Leben sich in drei Wochen so ändern kann. Und wenn du mich jetzt fragen würdest – du weißt, wonach – , dann kann ich dir sagen: Es ist Schluß, Senta! Ich kriege keine schwachen Augen-blicke mehr! Der letzte war damals im Zug. Einmal habe ich mich selbst überwunden, einmal schaffte ich es – und dann wußte ich, daß es möglich war, daß ich es von mir aus, ganz allein, schaffen konnte. Jetzt weiß ich es, jetzt bin ich sicher. Und weißt du, ich glaube, daß

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ich mit ganzer Überzeugung sagen kann: Ich habe einfach keine Lust auf das Zeug mehr!“

„Dann hast du sehr viel Glück gehabt, Isabel“, meinte ich. „Daß du so schnell aus dem Unglück rauskamst!“

„Ich hatte Glück – und ich hatte dich!“ sagte Isabel. „Wohl nicht nur mich“, lächelte ich und warf einen schnellen

Blick in Richtung Jochen Weiden, der über seinem Reisebericht gebeugt saß. Isabel folgte der Richtung meines Blickes.

„Das stimmt. Nicht nur dich“, flüsterte sie. „Trotz allem bist du Nummer zwei!“

Die Buchstaben vor uns leuchteten auf. Wir mußten uns für die Landung anschnallen.

Ich setzte mich wieder neben Rolf, schnallte den Gurt an und leg-te meine Hand auf die seine.

„Dann sind wir also soweit, Rolf. Gleich ist die ganze Reise und alles Schöne vorüber!“

„Du irrst dich, Liebling“, sagte Rolf leise. „All das Schöne – das fängt erst an!“