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MAGDEBURGER WISSENSCHAFTSJOURNAL 2/2004 VORTRAG 55 „Eine Bibliothek ist mehr als eine Summe von Büchern, sie ist ein lebendiger Organismus mit einem autonomen Leben.“ Der Autor, der hier den auf den ersten Blick para- doxen Vergleich zwischen den unbeweglich in ihren Regalen stehenden Büchermassen mit einer lebendigen Einheit zieht, für die sonst die Biolo- gie oder Medizin zuständig ist, versteht etwas von der Sache, von der er spricht. Der italienische Schriftsteller Umberto Eco hat in seinem Welterfolg Im Namen der Rose einen der spannendsten Bibliothekskrimis geschrieben, er ist selbst ein bibliophiler Sammler, dessen Essays immer wieder um Bücher und Lektüre kreisen. Das Zitat befindet sich in seinen unlängst erschie- nenen Riflessioni sulla bibliofilia. „Reflexionen über die Leidenschaft für Bücher“ könnte man den Titel übersetzen. Wenn Eco eine Bibliothek einen vitalen Organis- mus nennt, der ein eigenständiges und unabhän- giges Leben führt, so spricht er das dynamische Element an, das aufgrund der historischen Ent- wicklung in jeder Bibliothek eingeschrieben ist. Eine Büchersammlung, die den Namen Biblio- thek verdient, ist immer mehr als eine zufällige Anhäufung von Büchern. In der Regel entsteht eine Bibliothek über einen langen Zeitraum von Jahrzehnten und Jahrhunderten, wie im Falle der großen Büchersammlungen im Vatikan, in der Bibliothèque Nationale in Paris oder, wenn wir in der Nähe bleiben, in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Die Anlage einer Büchersammlung, ihre themati- schen Schwerpunkte, der Anteil fremdsprachiger Bücher sowie die Ordnung, nach der die Bände aufgestellt werden, erlauben Rückschlüsse auf das System des Wissens einer vergangenen Epoche; selbst Geschmacksvorlieben und Wertvorstellun- gen einer Gesellschaft lassen sich an dem Inhalt und der Hierarchie der Sammelgebiete ablesen. Bibliotheken können so zu Seismographen für kulturhistorische Entwicklungen werden. Sie sind Teil des kulturellen Gedächtnisses einer Gesell- schaft. Neben den Museen und Archiven gehören die Bibliotheken zu den wichtigsten Speicherin- stitutionen, die sich eine Gemeinschaft für das Konservieren ihrer Erinnerungs-Kultur leistet. In diesem Prozess der Memoria-Bildung überneh- men je nach Bibliothekstyp die Stadt-, Landes- und Universitätsbibliotheken unterschiedliche Funktionen. Wichtigste Aufgabe einer Hoch- schulbibliothek ist die Literaturversorgung der Universität bezogen auf Forschung und Lehre. Um diesen Auftrag optimal zu erfüllen, haben sich Bibliothekare von Hochschulbibliotheken schon immer um die Bestandserweiterung über den Weg des Ankaufs von Büchernachlässen oder das Einwerben von Stiftungen bemüht. Diese Praxis ist sehr alt und hat mit der Geschichte der Institution Universitätsbibliothek zu tun. Im 17. und 18. Jahrhundert übertrafen die Privatbiblio- theken der Gelehrten nach Umfang und Qualität bei weitem die Bestände der offiziellen Hoch- schulbibliotheken. Die Größe der Privatbibliothek war ein wichtiges Kriterium bei der Berufung eines Professors, und nicht nur in Reval wurde ein neubestallter Kol- lege aufgefordert, mindestens ein Buch der Insti- tutsbibliothek zu spenden! Diese spezielle Form der Bestandserweiterung wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts bei der Gründung der Otto-von-Guericke-Universität BIBLIOTHEK ALS ORGANISMUS DIE KILLY -BIBLIOTHEK UND DIE UTE UND WOLFRAM NEUMANN-STIFTUNG IN DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK MAGDEBURG *) Wolfgang Adam *) Vortrag gehalten vor den Mit- gliedern der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Otto- von-Guericke-Universität Mag- deburg am 13. Mai 2004 in der Universitätsbibliothek. Eine Bibliothek ist nach Umberto Eco immer mehr als nur eine Ansammlung von Büchern, sie bildet auf- grund ihrer Geschichte und ihrer Bestände einen eigenständigen Organismus. Die Magdeburger Univer- sitätsbibliothek besitzt mit der Büchersammlung des Germanisten Walther Killy (1917-1995) eine der bedeutendsten deutschen Gelehrtenbibliotheken, die 1996 antiquarisch erworben wurde. Zu den herausra- genden Schätzen gehören Widmungsexemplare von Peter Szondi und Paul Celan. Mit den mehr als 230 Buchreihen der Ute und Wolfram Neumann-Stiftung verfügt die Magdeburger Universitätsbibliothek über einen weiteren bemerkenswerten Schwerpunkt. Anhand der circa 10 000 Titel (darunter die Bändchen der Insel-Bücherei und der Schocken-Bücherei) lässt sich ein Panorama der deut- schen Bildungsgeschichte im 20. Jahrhundert entwerfen.

MAGDEBURGER W 2/2004 VORTRAG BIBLIOTHEK ALS … · thek verdient, ist immer mehr als eine zufällige Anhäufung von Büchern. In der Regel entsteht eine Bibliothek über einen langen

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„Eine Bibliothek ist mehr als eine Summe vonBüchern, sie ist ein lebendiger Organismus miteinem autonomen Leben.“

Der Autor, der hier den auf den ersten Blick para-doxen Vergleich zwischen den unbeweglich inihren Regalen stehenden Büchermassen mit einerlebendigen Einheit zieht, für die sonst die Biolo-gie oder Medizin zuständig ist, versteht etwas vonder Sache, von der er spricht.

Der italienische Schriftsteller Umberto Eco hat inseinem Welterfolg Im Namen der Rose einen derspannendsten Bibliothekskrimis geschrieben, erist selbst ein bibliophiler Sammler, dessen Essaysimmer wieder um Bücher und Lektüre kreisen.Das Zitat befindet sich in seinen unlängst erschie-nenen Riflessioni sulla bibliofilia. „Reflexionenüber die Leidenschaft für Bücher“ könnte manden Titel übersetzen.

Wenn Eco eine Bibliothek einen vitalen Organis-mus nennt, der ein eigenständiges und unabhän-giges Leben führt, so spricht er das dynamischeElement an, das aufgrund der historischen Ent-wicklung in jeder Bibliothek eingeschrieben ist.Eine Büchersammlung, die den Namen Biblio-thek verdient, ist immer mehr als eine zufälligeAnhäufung von Büchern. In der Regel entstehteine Bibliothek über einen langen Zeitraum vonJahrzehnten und Jahrhunderten, wie im Falle dergroßen Büchersammlungen im Vatikan, in derBibliothèque Nationale in Paris oder, wenn wir inder Nähe bleiben, in der Herzog August Bibliothekin Wolfenbüttel.

Die Anlage einer Büchersammlung, ihre themati-schen Schwerpunkte, der Anteil fremdsprachigerBücher sowie die Ordnung, nach der die Bändeaufgestellt werden, erlauben Rückschlüsse auf das

System des Wissens einer vergangenen Epoche;selbst Geschmacksvorlieben und Wertvorstellun-gen einer Gesellschaft lassen sich an dem Inhaltund der Hierarchie der Sammelgebiete ablesen.

Bibliotheken können so zu Seismographen fürkulturhistorische Entwicklungen werden. Sie sindTeil des kulturellen Gedächtnisses einer Gesell-schaft. Neben den Museen und Archiven gehörendie Bibliotheken zu den wichtigsten Speicherin-stitutionen, die sich eine Gemeinschaft für dasKonservieren ihrer Erinnerungs-Kultur leistet. Indiesem Prozess der Memoria-Bildung überneh-men je nach Bibliothekstyp die Stadt-, Landes-und Universitätsbibliotheken unterschiedlicheFunktionen. Wichtigste Aufgabe einer Hoch-schulbibliothek ist die Literaturversorgung derUniversität bezogen auf Forschung und Lehre.

Um diesen Auftrag optimal zu erfüllen, habensich Bibliothekare von Hochschulbibliothekenschon immer um die Bestandserweiterung überden Weg des Ankaufs von Büchernachlässen oderdas Einwerben von Stiftungen bemüht. DiesePraxis ist sehr alt und hat mit der Geschichte derInstitution Universitätsbibliothek zu tun. Im 17.und 18. Jahrhundert übertrafen die Privatbiblio-theken der Gelehrten nach Umfang und Qualitätbei weitem die Bestände der offiziellen Hoch-schulbibliotheken.

Die Größe der Privatbibliothek war ein wichtigesKriterium bei der Berufung eines Professors, undnicht nur in Reval wurde ein neubestallter Kol-lege aufgefordert, mindestens ein Buch der Insti-tutsbibliothek zu spenden!

Diese spezielle Form der Bestandserweiterungwurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts bei derGründung der Otto-von-Guericke-Universität

BIBLIOTHEK ALS ORGANISMUSDIE KILLY-BIBLIOTHEK UND

DIE UTE UND WOLFRAM NEUMANN-STIFTUNG

IN DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK MAGDEBURG*)

Wolfgang Adam

*)Vortrag gehalten vor den Mit-gliedern der Gesellschaft derFreunde und Förderer der Otto-von-Guericke-Universität Mag-deburg am 13. Mai 2004 in derUniversitätsbibliothek.

Eine Bibliothek ist nach Umberto Eco immer mehr als nur eine Ansammlung von Büchern, sie bildet auf-grund ihrer Geschichte und ihrer Bestände einen eigenständigen Organismus. Die Magdeburger Univer-sitätsbibliothek besitzt mit der Büchersammlung des Germanisten Walther Killy (1917-1995) eine derbedeutendsten deutschen Gelehrtenbibliotheken, die 1996 antiquarisch erworben wurde. Zu den herausra-genden Schätzen gehören Widmungsexemplare von Peter Szondi und Paul Celan.

Mit den mehr als 230 Buchreihen der Ute und Wolfram Neumann-Stiftung verfügt die MagdeburgerUniversitätsbibliothek über einen weiteren bemerkenswerten Schwerpunkt. Anhand der circa 10 000 Titel(darunter die Bändchen der Insel-Bücherei und der Schocken-Bücherei) lässt sich ein Panorama der deut-schen Bildungsgeschichte im 20. Jahrhundert entwerfen.

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nicht mehr praktiziert, in beträchtlicher undhöchst sinnvoller Weise hat man aber mit denMitteln des Ankaufs bzw. der Stiftung operiert.

Die junge Universitätsbibliothek (UB) Magde-burg besitzt eine Reihe von herausragenden Spe-zialsammlungen, die sie innerhalb der deutschenBibliothekslandschaft so exponieren, dass ihrdurchaus im virtuellen Bibliotheks-Michelin zwei

Sterne „mérite undétour“ – „verdienteinen Umweg“ zu-kommen!

Durch Vermittlungmeines Kollegen Mi-chael Schilling konn-ten zwei große Gelehr-tenbibliotheken, dieSammlungen von Wal-ther Killy und des Ehe-paars Herbert Göpfertund Renate von Hey-debrandt für die Uni-versitätsbibliothek er-worben werden, undmit den Büchern derUte und Wolfram Neu-mann-Stiftung besitzenwir einen Schatz, umden uns andere Uni-versitäten nur benei-den können.

Ich werde die Biblio-thek von Walther Killyund die Neumann-Sammlung ausführli-cher vorstellen undhoffe, Ihnen demonst-rieren zu können,

welch ein vitales Innenleben unsere Bibliothekbesitzt. Wichtig ist mir dabei zu zeigen, welcheBedeutung diese Spezialsammlungen mit Blickauf Forschung und Lehre für den Wissenschafts-standort Magdeburg insgesamt haben. Ich hättediese Arbeit nicht durchführen können, ohne diegroßzügige Unterstützung von Herrn Dr. Oeh-mig und vor allem nicht ohne die sachkundigeHilfe von Frau Dr. Drischmann. Ich danke Ihnenbeiden und den Mitarbeiterinnen der Bibliothekausdrücklich dafür.

Der Vortrag ist in zwei Teile gegliedert:Ich beginne mit der Beschreibung der Biblio-thek von Walther Killy. Ich gebe Ihnen zunächstein paar Basisinformationen zur Vita des Gelehr-ten und biete anschließend eine Bestandsana-lyse. Dabei leitet mich eine doppelte Intention:Ich werde einmal anhand der Bücher einen Bei-trag zur Bildungs- und Wissenschaftsgeschichteliefern und zum andern über das Medium derPrivatbibliothek Beobachtungen zum Sozialsys-tem, in dem sich Wissenschaftler bewegen, vor-tragen.

Der zweite Teil ist für die Präsentation der Stif-tung Neumann reserviert, am Beispiel der Reihenwerde ich Ihnen ein Panaroma deutscherGeschichte, nicht nur der Bildungsgeschichte, imletzten Jahrhundert vorstellen.

DIE BIBLIOTHEK VON WALTHER KILLY

Walther Killy (1917-1995) gehört zu denbedeutendsten Germanisten der Nachkriegszeit.Mit seinen Publikationen, als Herausgeber undals Wissenschaftsorganisator, hat er das Fach mitgeprägt. Killy war ein Gelehrter von internationa-lem Format, der sich erlauben konnte, einen Rufnach Harvard abzulehnen.

Nach dem Kriegsdienst in der Wehrmacht undder amerikanischen Kriegsgefangenschaft, dieihn nach Colorado verschlagen hatte, studierteer zunächst Medizin, anschließend Germanis-tik, Philosophie und Geschichte. Zu seinenakademischen Lehrern gehörten unter anderemdie Literaturwissenschaftler Julius Petersen undder Theologe und Philosoph Romano Guar-dini. Anregungen Guardinis folgend, standHölderlin im Zentrum seiner frühen Forschun-gen. Killy wurde in Tübingen promoviert miteiner Studie zu Bild und Mythe in HölderlinsGedichten und habilitiert an der Freien Univer-sität in Berlin mit einer textkritischen Untersu-chung zu Hölderlins Hyperion.

Die glanzvolle akademische Karriere hatte als Sta-tionen Ordinariate in Berlin (FU), Göttingen,Bern und schließlich wirkte er als Direktor desForschungsprogramms an der Herzog AugustBibliothek Wolfenbüttel. Sein wissenschaftlichesWerk konzentrierte sich auf die Literatur des 18.bis 20. Jahrhunderts, er war Editor der monu-mentalen kritischen Trakl-Ausgabe und gabgemeinsam mit Richard Alewyn und Rainer Gruenter die germanistische FachzeitschriftEuphorion heraus.

Killy engagierte sich in der Hochschuldebatte dersechziger Jahre, er war 1967/68 Rektor der Uni-versität Göttingen und 1968-1970 Vorsitzenderdes Gründungsausschusses der Universität Bre-men, von der Position als Bremer Gründungsrek-tor trat er allerdings aufgrund schwerwiegenderpolitischer Meinungsverschiedenheiten zurück.Seit den fünfziger Jahren nahm er über Rund-funk- und Feuilleton-Beiträge in den großenTages- und Wochenzeitungen kontinuierlich anden bildungs- und kulturpolitischen Diskussi-onen der Bundesrepublik teil.

Es ist nun aufschlussreich zu sehen, wie diesevielfältigen Aktivitäten ihre Spuren in derBibliothek zurücklassen. Die moderne Biblio-theksforschung hat nachgewiesen, dass zwischendem privaten Buchbesitz eines Sammlers undseinem intellektuellen Profil enge Relationenbestehen: Manchmal liegen diese Verbindungenan der Oberfläche, manchmal können sie erstdurch die Autopsie, das Aufschlagen des Objek-

Die Bibliothek der Otto-von-Guericke-Universität

Magdeburg

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tes Buch, mit seinen Provenienznachweisen,Marginalien und handschriftlichen Widmungenerkannt werden. Man kann aufgrund der Privat-bibliothek durchaus das Porträt des Besitzersskizzieren. Dies ist übrigens eine Alltagserfah-rung. Sie brauchen bei einem Besuch in einemfremden Haus nur einen Blick auf die Bücher-wand zu werfen, um zu wissen, bei wem Sie ein-geladen sind!

Die Killy-Sammlung umfasst 6 085 Titel, und sieist geschlossen in unserer UB aufgestellt. Es istnun nicht überraschend, dass sich in der Biblio-thek eines Literaturwissenschaftlers, der über dieGoethe-Zeit, Hölderlin und Trakl ein Leben langgearbeitet hat, sich die Werke dieser Autorenbefinden. Über seine Spezialgebiete hinaus hatKilly aber auch barocke Literatur gesammelt. Wieexquisit diese Bestände sind, kann ich an einerAnekdote zeigen: Als ich in der Herzog AugustBibliothek in Wolfenbüttel, dem Arkadien fürjeden Barockforscher, die Gedichtsammlung Poe-tische Wälder von Christian Gryphius, dem Sohndes berühmten Dichters, in der Erstausgabe von1698 einsehen wollte, wurde mir empfohlen, die-ses Exemplar, das in Wolfenbüttel fehlt, doch inder Magdeburger Universitätsbibliothek einzuse-hen!

Ein Kennzeichen für die Individualität einerbedeutenden Privatbibliothek ist die Integrationvon Büchern aus den durch Versteigerung oderVerkauf aufgelösten Beständen berühmter Vor-besitzer, zu denen sich in Laufe einer gelehrtenBiographie Affinitäten herausgebildet haben.Über die Auswertung von Exlibris und Besitzver-merke kann der Bibliothekshistoriker diesesInnenleben einer Bibliothek in der Bibliothekoffen legen, das erneut Hinweise auf Vorliebenund Einstellungen des letzten Besitzers erkennenlässt.

In Killys Büchersammlung finden sich Werke ausder Bibliothek seines Berliner Lehrers JuliusPetersen und – dokumentiert durch das Auto-graph des Vorbesitzers – von Jakob Burckhardt.Killy sammelte gezielt die Publikationen des Bas-ler Historikers, dessen skeptische Sicht auf dieGeschichte und pessimistische Prognose über dieBelehrbarkeit des Menschen durch die Historie eruneingeschränkt teilte.

Welche überraschenden Ergebnisse die genaueUntersuchung eines Bibliothekskörpers bringenkann, zeigt ein Exemplar von Johann HeinrichVoß’ Idylle Luise: Das Werkchen ist nämlich1996 nach langer Irrfahrt wieder nach Magde-burg, seinem alten Standort, zurückgekehrt. DasBuch, erschienen 1820, trägt den BesitzvermerkLesebibliothek des Domgymnasiums zu Magdeburg.Die Zerstörung und Zerstreuung von histori-schen Buchbeständen infolge des II. Weltkriegs –und bestimmter Nachkriegsentwicklungen – istnach wie vor eine große Forschungsaufgabe; inunserer UB haben wir ein Hoffnung gebendes

Mosaiksteinchen in einer Geschichte, die sichhäufig mit dem Registrieren der Verluste begnü-gen muss.

Das Buch gehört für Walther Killy seit seiner Ber-liner Gymnasialzeit in den dreißiger Jahren zuden Lebenssubstanzen. In seiner autobiographi-schen Notiz Warum ich Literaturwissenschaftler

wurde beschreibt er rückblickend 1972 welchenStellenwert die nichtkonforme Lektüre schon fürden Schüler während der NS-Zeit einnahm. DasLesen der griechischen und lateinischen Klassikerin ihrer Originalsprache wurde zu einem Refu-gium in der Flut des völkischen Schrifttums. Beidieser lebenslangen Begeisterung für die Antikeist es nicht verwunderlich, dass ein Kernstück derKilly-Bibliothek die griechischen und lateini-schen Autoren bilden, die er häufig in mehrerenEditionen besaß.

Noch aufschlussreicher als diese thematischenSchwerpunkte, welche die Vorlieben des Samm-lers widerspiegeln, ist das, was ich den Mikro-organismus der Bibliothek nennen möchte. Ichmeine die Bücher mit den handschriftlichenAnstreichungen, eingelegten Briefen sowie Zei-tungsausschnitten, Kommentare zu dem Gelese-nen und vor allem die Widmungsexemplare, diedem Gelehrten über Jahrzehnte zugeeignet wur-den. Um in der Organismus-Metapher zu blei-ben, kann man sagen, dass mehrere Rhizome,einem Wurzelwerk gleich, diese Büchersamm-lung durchziehen. Wir können drei Straten derBibliothek unterscheiden:1. die autobiographische Dimension,2. die Widerspiegelung der Lebenswelt eines

renommierten Gelehrten, seine sozialen Kon-takte, seine Stellung innerhalb der wissen-schaftlichen Gemeinschaft

3. und besonders spannend sind die Verbindun-gen zu bedeutenden zeitgenössischen Schrift-stellern.

Freihandbereich der Univer-sitätsbibliothek

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Autobiographische SpurenEs gibt in der Bibliothek zahlreiche Doku-

mente aus der Militärzeit und Gefangenschaft,welche etwas über die Sozialisation eines jungenMannes in den ersten Kriegsjahren aussagen. Wiedas Buch zu einem Begleiter während des Dienstesin der Wehrmacht wurde, belegt so ein kleinesBändchen. Im Juni 1942 schenkt ein Regiments-kamerad dem „lieben Freund Walther zur Leut-nants Ernennung“ das als passend empfundeneGeschenk Helmut von Moltkes Gedanken.

Es sind nicht mehr die Reflexionen des von kon-servativen Deutschen verehrten preußischen Ge-neralfeldmarschalls, die Walther Killy in Trini-dad in der amerikanischen Gefangenschaft faszi-nieren. Der Paradigmenwechsel, der das Jahr1945 für einen Deutschen des Jahrgangs 1917bedeutet, lässt sich an der Veränderung der Lek-türepräferenz ablesen. Nicht mehr Moltke, son-dern Rilke und Hölderlin beschäftigen nun inTrinidad den deutschen Kriegsgefangenen.

Mit dem Zensur-stempel der ameri-kanischen Lagerver-waltung befindetsich ein Exemplarvon Rilkes DuineserElegien – voll mitUnterstreichungenund handschriftli-chen Notaten –noch heute in derBibliothek, wie auchein eigenhändiges,in Colorado ver-fasstes ManuskriptKillys mit dem sobeziehungsreichenTitel Über des späte-ren Hölderlin An-

sicht von der Geschichte. Die Jahre der amerikani-schen Kriegsgefangenschaft waren Lesejahre, dieprägend wurden für den LiteraturwissenschaftlerKilly. Dankbar erinnert er sich in seiner Autobio-graphie an diese Zeit: „Mitten im Elend des Kriegeshatte man uns in der Prärie den von Stacheldrahtumgebenen Elfenbeinturm human errichtet.“

Auch die nächsten Lebensstationen Killys lassensich über handschriftliche Eintragungen inBücher weiterverfolgen. Diese Bemerkungen sindbisweilen von so intimer Art, etwa die Trennungvon seiner ersten Frau betreffend, dass ich sie ausGründen des Persönlichkeitsschutzes hier nichtzitieren will. Killy lebte mit seinen Büchern!

Die Lebenswelt eines GelehrtenDies zeigt sich natürlich besonders deutlich in

dem Arbeitsfeld, in dem ein Germanist sichbewegt: Ich komme zum zweiten Punkt, derdurch die Bücher dokumentierten Lebensweltund sozialen Vernetzung. Der Literaturwissen-schaftler liest – nicht immer zur Freude der

Bibliothekare – mit dem Bleistift. Aber in der pri-vaten Sammlung ist es erlaubt, sich mit Anstrei-chungen und Notaten Gedächtnisstützen zuschaffen. Killy benutzt seine Bibliothek alsArbeitsinstrument, die Bücher sind voll vonUnterstreichungen. Noch wichtiger als dieseMarkierungen sind ausführliche handschriftlicheUrteile über das Gelesene.

Die Eintragung in der Erstausgabe von BennsStatischen Gedichten, Zürich 1948, „negativerKlassizismus“ bedeutet eine eindeutige Positio-nierung, die der Benn-Leser Killy zeitlebens nichtrevidiert hat.

Killy schätzte – von wenigen Ausnahmen, überdie gleich zu sprechen sein wird – nicht das, wasseine germanistischen Kollegen schrieben, er sam-melte lieber Primär- als Sekundärliteratur. Wenner sich zum Kauf und zu der Lektüre von For-schungsliteratur entschloss, sparte er nicht mitkritischen Bemerkungen.

Man spürt noch heute die Enttäuschung undauch Wut, mit der er nach der Lektüre in das völ-lig vermalte Buch von Rudolf Engelsing Analpha-betentum und Lektüre auf das Titelblatt schrieb:„ein ungebildetes Buch, und dabei so teuer!“Engelsings Werk wird heute mit gutem Grund alsKlassiker der modernen sozialgeschichtlich orien-tierten Leserforschung betrachtet, eine For-schungsrichtung, zu der Killy keinen Zugangmehr fand. Das Innenleben einer Bibliothek zeigtauch die Grenzen ihres Besitzers!

Killys Wissenschaftsbegriff entspricht weitgehenddem Literaturverständnis, das sich in der Bundes-republik im Kreis um Richard Alewyn herausge-bildet hatte. Alewyn gehört in der Germanistik zuden wenigen in der NS-Zeit aus Deutschland ver-triebenen Wissenschaftlern, die über einen Ruf indie neue Bundesrepublik zurück geholt wurden.Er lehrte in Köln, Berlin (FU) und Bonn. Vorallem in Berlin sammelte er um sich einen Kreisvon jüngeren, politisch unbelasteten Literaturwis-senschaftlern, die so genannte Alewynsche ,Tafel-runde’, welche das Fach in den fünfziger undsechziger Jahren entscheidend prägte, und zu derauch Walther Killy gehörte.

Die freundschaftliche Nähe zu Alewyn und eini-gen Mitgliedern der ,Tafelrunde’ spiegelt sich inden Widmungsexemplaren wider: Die subtilenund manchmal fragilen Konstellationen in die-sem Kreis, der nicht nur einen Zirkel von schön-geistigen Ästheten darstellte, sondern in der Beru-fungspolitik der alten Bundesrepublik einenbedeutenden Machtfaktor bildete.

Alle Widmungen von Alewyn für Walther und EvaKilly, in der von ihm nur sehr sparsam verwendetenDu-Formulierung, zeigen in ihren herzlichen Wen-dungen die Nähe, die zwischen den Gelehrtenbestand, die nicht nur auf gemeinsamen Zeitschrif-ten- und Editionsprojekten beruhte.

Der LiteraturwissenschaftlerWalther Killy las mit dem Blei-stift. Er benutzte seine Biblio-

thek als Arbeitsinstrument,die Bücher sind voll von

Unterstreichungen, wie hierin Paul Celans Sprachgitter.

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Es gab einen Grundkonsens, der über das reinFachliche hinaus ging. Alewyn pflegte die heutefast vergessene gelehrte Geselligkeit, zu der dieFreude am launige Briefe Schreiben und dieFähigkeit zum geistvollem Zitatenspiel gehörte.Ein Beispiel: Alewyn schenkte dem Trakl-Her-ausgeber Killy ein Rarissimum, Trakls Prosadich-tungen Offenbarung und Untergang, illustriert mitFederzeichnungen von Alfred Kubin. Der hand-schriftlichen Widmung legte er ein den Trakl-Ton imitierendes Gelegenheitsgedicht von sichselbst bei, unterzeichnet mit „Richard Trakl“. Ichverzichte auf das Zitat des Gedichts, denn eswiderlegt nicht Thomas Manns abfälliges Urteilüber die Qualität von Professorenlyrik!

Der eigentliche theoretische Kopf in demAlewynkreis war Peter Szondi, der aus einer unga-rischen jüdischen Familie stammte und derDeportation durch die Flucht in die Schweiz ent-kam. Szondi hatte ein ausgeprägtes methodischesBewusstsein, Fragen der Hermeneutik standen imZentrum seiner Untersuchungen, er gehört zuden Entdeckern der Schriften Walter Benjamins,eines von der NS-Verfolgung in Emigration undSuizid getriebenen Gelehrten, dessen Ästhetik dieLiteraturwissenschaft nach 1968 entscheidendbeeinflusst hat.

Aufgrund seiner Erfahrungen der Flucht und desAußenseitertums des Emigranten, verfolgteSzondi aufmerksam die bisweilen restaurativenTendenzen in der jungen Bundesrepublik, erregistrierte besorgt, dass in der westdeutschenLiteraturwissenschaft die NS-Vergangenheitführender Fachvertreter nicht einmal angespro-chen, geschweige denn problematisiert wurdeund war sehr wählerisch in seinen persönlichenKontakten. Das Ehepaar Killy gehörte zu denwenigen, denen Szondi seine Freundschaftschenkte. Diese Freundschaft ist dokumentiertdurch die betont herzlichen Widmungen in sei-nen Publikationen, in der Theorie des modernenDramas und dem Versuch über das Tragische.

Welche Signalwirkung ein Buchgeschenk für diementalitätsgeschichtliche Forschung einnehmenkann, lässt sich an einem Band der Killy-Biblio-thek exemplarisch zeigen: Durch Szondi wurdeKilly auf die Bedeutung Walter Benjamins auf-merksam. In einem der wertvollsten Bücher unse-rer Universitätsbibliothek vermerkte Killy hand-schriftlich „Geschenk von P. Szondi“.

Es handelt sich um das einzige von Benjamin imExil verfasste Buch Deutsche Menschen. Eine Aus-wahl in Briefen, erschienen unter dem Pseud-onym D. Holz 1936 in Luzern. Der Text gehörtzu den gesuchtesten auf dem internationalenAntiquariatsmarkt. Dieses Buch, in dem Briefedes anderen, den Idealen der europäischen Auf-klärung verpflichteten Deutschland – von GeorgChristoph Lichtenberg, Georg Forster, JohannGottfried Seume bis David Friedrich Strauß ver-sammelt waren – hatte Benjamin bewusst als ein

Gegenprogramm zu der völkischen Ideologie desNazi-Deutschland komponiert. Der Schenkendespiegelt sich in der Wahl des Buchgeschenkes:Diese Botschaft kam bei Killy an, in seiner Auto-biographie erwähnt er ausdrücklich dieses „merk-würdige und im Original seltene Buch“ als einSignum der Freundschaft mit Peter Szondi.

Fast alle Koryphäen desFaches sind in KillysBibliothek mit Wid-mungsexemplaren vor-handen: Emil Staiger,Arthur Henkel, Bennovon Wiese, Peter Wap-newski, Paul Raabeoder Eberhard Läm-mert. Die Widmungenmit Anspielungen aufaktuelle Ereignisse inder Hochschulpolitik,die eingelegten Zei-tungsausschnitte, Dan-kesschreiben von Schü-lern und Kollegen-briefe – all diese Doku-mente lassen diese Bi-bliothek zu einem Archiv der Wissenschaftsge-schichte werden. Wer über die Geschichte der Ger-manistik und einen ihrer führenden Vertreter inden ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublikarbeitet, findet wichtige Quellen nicht nur im Deut-schen Literaturarchiv in Marbach, sondern nun auchin der Universitätsbibliothek Magdeburg!

Die Celan-Sammlung in der Universitätsbibliothek Magdeburg

Die Killy-Bibliothek besitzt noch eine weitereDimension, die weit über das rein fachgeschicht-liche Interesse hinaus geht. Killy nahm teil an derliterarischen und kulturellen Szene seiner Gegen-wart – das ist nicht bei jedem Germanistikprofes-sor eine Selbstverständlichkeit! Neben Wid-mungsexemplaren der Publikationen von Marionvon Dönhoff stehen Gedichtbände mit Eintra-gungen von Hilde Domin.

Absolut singulär wird die Killy-Bibliothek aberdurch die Widmungsexemplare Paul Celans. DasEhepaar Killy war seit dem Beginn der Nach-kriegszeit mit dem damals noch relativ unbe-kannten, heute unbestrittenen Klassiker dermodernen Lyrik befreundet. Die Killy-Biblio-thek – und damit nun die UniversitätsbibliothekMagdeburg – beherbergt eine der wertvollstenCelan-Sammlungen in Europa. Der Literatur-wissenschaftler und Literaturkritiker besaß dieheute kaum bezahlbaren Erstausgaben derGedichtbände Sprachgitter und Atemwende, dieberühmte Rede aus Anlass der Verleihung desGeorg-Büchner-Preises 1960 Der Meridian undauch die bahnbrechenden ersten Studien überCelan von Peter Szondi und Jean Bollack, dieselbst schon exempla classica der Celan-Philolo-gie geworden sind.

Das Ehepaar Killy gehörte zuden wenigen, denen PeterSzondi, der eigentliche theo-retische Kopf im Alewynkreis,seine Freundschaftschenkte. Diese Freund-schaft ist dokumentiert durchdie betont herzliche Wid-mung in seinen Publikati-onen, hier in der Theorie desmodernen Dramas.

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Die handschriftlichen Eintragungen Celans, wieetwa in seiner Paul Valery-Übersetzung Die jungeParze artikulieren weit über das gesellschaftlichKonventionelle hinausgehend Anhänglichkeit undNähe.

Unter diesen Schätzen nimmt ein Exemplar unterhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Ge-sichtspunkten einen einzigartigen Rang ein. Indem Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle wirdnämlich das Lebensthema Paul Celans – undauch Peter Szondis – angesprochen: Die Rolleeines jüdischen Intellektuellen in Deutschlandnach Hitler. In der alten Bundesrepublik war die-ses Thema nicht tabuisiert, es war aber bis zu demFrankfurter Auschwitz-Prozess, der Aufführungvon Peter Weiss Ermittlung und der Sendung desHolocaust-Films in den dritten Programmen desdeutschen Fernsehens nicht wirklich präsent imkollektiven Gedächtnis. Wenn darüber gespro-chen wurde, überwog häufig anstelle der histori-schen Analyse die verschleiernde Metaphorik derGedenkreden.

Auf diesem Hintergrund frappiert die Schärfedes Eintrags Celans in das „Eva und WaltherKilly herzlich zugeeignete“ Buch: Auf dem Vor-satzblatt schreibt Celan: „Was ein auf die ein-samste, unzugänglichste Insel verschlagener Judenoch als ,Judenfrage’ anerkennt. Das einzig istsie.“

Die benutzten Anführungszeichen und der inKlammern gesetzte Zusatz „Moritz Heimann“zeigen, dass es sich um ein Zitat handelt. DieWendung geht zurück auf einen der einflussrei-chen jüdischen Schriftsteller und Journalisten derWeimarer Republik, der sich in seinen Publika-tionen um eine Synthese zwischen deutscher undjüdischer Kultur bemühte und dabei nicht diedurch die unterschiedlichen Traditionen beste-henden Widersprüche weg harmonisierte. NeuereForschungen haben gezeigt, dass das Bewusstsein

um die jüdische Existenz den Schlüssel zum lyri-schen Werk Celans bietet. Wir haben hier einDokument vor uns, das belegt, dass die Reflexionüber das Judentum Celan nie, selbst nicht im Pri-vaten, verließ.

Es wäre nun reizvoll, das Innenleben einer zwei-ten Privatbibliothek, welche die UB Magdeburgerworben hat, mit Killys Sammlung zu verglei-chen. Da ich den Blick aber noch auf einen ande-ren Sammeltyp lenken möchte, verzichte ich ausZeitgründen auf diese Analyse und halte nurwenige Fakten fest: Die 4 000 Titel umfassendeBibliothek der beiden Münchner Literaturwis-senschaftler Herbert Göpfert und Renate vonHeydebrand hat nicht ganz den Rang der Killy-schen Sammlung, sie ergänzt sie aber im Hin-blick auf Forschung und Lehre in optimalerWeise, da Göpfert und von Heydebrand syste-matisch die von Walther Killy eher verschmähtegermanistische Forschungsliteratur gesammelthaben.

Im Vergleich zu anderen Universitäts- oderGesamthochschulneugründungen der siebzigerJahre sind wir durch diese Spezialbestände – zudenen im letzten Jahr über meine Zeitenschriften-kontakte noch Teile der Bibliothek von TheodorVerweyen und des Mediävisten Harald Schollergekommen sind, hervorragend ausgestattet undkönnen unseren Studierenden gute, in einzelnenBereichen sogar exzellente Arbeitsmöglichkeitenbieten. Und diese Bedingungen werden noch ent-scheidend verbessert durch die Bücher der StiftungNeumann.

DIE STIFTUNG UTE UND WOLFRAM NEUMANN

Eine wesentliche Bereicherung der Magdebur-ger Universitätsbibliothek bildet ein weiterer,typologisch ganz anders zu klassifizierender Son-derbestand: die Bücher der Ute und WolframNeumann-Stiftung.

Während es sich bei Killy und Göpfert um dieArbeitsbibliothek von Literaturwissenschaftlernhandelt, haben wir mit der Bibliothek unseresKollegen Wolfram Neumann von der Medizini-schen Fakultät eine durch bibliophile Sammellei-denschaft entstandene Bibliothek vor uns, dienach ihrem Auswahlprinzip prägnant die indivi-duelle Handschrift ihres Besitzers trägt.

Umberto Eco unterscheidet in dem schongenannten Essay zwischen dem in erster Linie amStoff orientierten professionellen Bücherkäuferund dem Sammler und Liebhaber, den nicht nurder Inhalt eines Buches, sondern auch das ObjektBuch selbst interessiert.

Ich denke, dies ist auch der Fall bei dem Biblio-philen Wolfram Neumann, der natürlich denInhalt seiner Bücher kennt, – Sie müssen nur dasVergnügen erlebt haben, ihn in seinem Haus amSpielgarten-Privatweg von seinen Büchern

Seit 1915 tragen die Bändeder Insel-Bücherei auf dem

Rücken eine laufende Nummer, die zum Sammeln

einlädt.

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erzählen, nein schwärmen zu hören – den aberauch und vor allem die Ästhetik des Buches alsEinzelstück und im Verbund der Reihe fasziniert.Den schönsten Beleg für die ästhetische Wirkungeiner Buchreihe finden sie gleich hier, wenn Siedie Treppe hinaufgehen, wo die komplette Insel-Bücherei zusammen mit anderen Serien aufge-stellt ist.

Ute und Wolfram Neumann haben ihre mehr als230 Buchreihen – das sind insgesamt mehr als10 000 Bände im Wert von circa 200 000 Euro –,die sie selbst und zum Teil auch ihre Familienüber Jahrzehnte gesammelt haben – über eineStiftung am 1. Oktober 2003 unserer Univer-sitätsbibliothek mit der Auflage übergeben, dieSammlung einer größeren Öffentlichkeit zugäng-lich zu machen und für die wissenschaftlicheArbeit zu öffnen.

Diese noble, nicht hoch genug zu würdigende,Geste des Ehepaares Neumann gibt dem Organis-mus unserer Bibliothek – ich bewege michbewusst in Anbetracht der Profession der Stifterin der medizinischen Metaphorik – eine Sauer-stoffzufuhr, die es zu einer Freude macht, in die-ser Institution zu arbeiten.

Denn in den Büchern der Stiftung Neumann kris-tallisiert sich das kulturelle Gedächtnis des 20.Jahrhunderts. Es ist möglich, und ich werde dieshier versuchen, anhand der Bestände die politi-sche und kulturelle deutsche Geschichte vomKaiserreich über die Weimarer Republik, die NS-Diktatur bis zur Etablierung der beiden deut-schen Staaten und ihrer Vereinigung zu beschrei-ben: Die großen historischen Zäsuren der Jahre1918, 1933, 1945 und 1989 sind eingeschriebenin diese Buchreihen.

Ich beginne mit dem Glanzstück der Sammlung,den Insel-Büchern, und werde dann den Analyse-Fokus bei den anderen Reihen auf die Sammlungder Schocken-Bücherei richten, einem ebenso be-eindruckenden wie erschütternden Dokumentjüdischen Lebens im Deutschen Reich währendder NS-Herrschaft: Deutsche Geschichte imSpiegel des Buches!

Das kulturelle Gedächtnis des 20. Jahrhundertsim Spiegel der Insel-Bücherei

Die Insel-Bücherei bedeutet in mehrfacherHinsicht ein kulturelles Monument: Einmal hatsich das Verlegerehepaar Anton und KatharinaKippenberg ein Denkmal gesetzt und zumandern ist die Reihe Zeugnis der besten Traditionaufgeklärten deutschen Bürgertums.

Anton Kippenberg hat, Anregungen vor allemvon Stefan Zweig aufnehmend, mit der Grün-dung der Insel-Bücherei 1912 eine Marktlücke inder kulturellen Szene am Ende der wilhelmini-schen Epoche entdeckt. Die Idee war, wie beiallen genialen Einfällen, von bestechender Ein-fachheit: Die Insel-Reihe bietet Weltliteratur inpreiswerten und schön gemachten Ausgaben. Der

Preis betrug 50 Pfennig, das waren 30 Pfennigmehr als die große Konkurrenzreihe Reclams Uni-versal-Bibliothek forderte, die aber keinen Wertauf die besondere Ausstattung des Objektes Buchlegte.

In der Anzeige vom 23. Mai 1912 formuliertKippenberg präzise die Intentionen, die er mitder Etablierung dieser Reihe verfolgte. Der Pro-spekt beginnt mit der Abgrenzung von verwand-ten Unternehmungen: „Was wir nicht damitbezwecken, mag vorausgeschickt werden: wirwollen nicht mit bestehenden verdienstvollenSammlungen in Wettbewerb tre-ten und nicht zum hundertstenMale den Faust, den Tell, Iphige-nie, Hermann und Dorothea oderMinna von Barnhelm drucken.“

Die Ankündigung enthält mehrals nur eine verkaufstrategischeÜberlegung, sie setzt – und diesaus dem Munde Kippenbergs,einer der bedeutendsten Goethe-Sammler – ein Distanzierungs-signal zur steril gewordenenRezeption der Weimarer Klassik,die in Massenproduktionen aufden Markt kam und auf dasZitat geflügelter Worte in Fest-reden verkürzt wurde. Die Insel-Reihe schloss die Klassik nichtaus, suchte aber nach bisherübersehenen Schätzen und warvor allem aber von Beginn anoffen für die zeitgenössischeLiteratur.

Garant für den Erfolg der Insel-Bücherei war dieKompromisslosigkeit in punkto Qualität, diesowohl den Inhalt als auch die Ausstattung derBände betraf.

Die ersten 12 Bände waren von Hand in ausge-suchten Schrifttypen gesetzt und auf holzfreiemPapier gedruckt. Sie waren – sensationell bei demniedrigen Preis – solide in Pappe gebunden undmit gemusterten Einbandpapieren geschmückt.Seit 1915 trugen sie auf dem Rücken eine lau-fende Nummer, die zum Sammeln anregte. DieBücher waren einerseits individuell gestaltet unddifferenziert nach Farbton und Ornamentierung,auf der anderen Seite kam ihre Schönheit abererst bei der Reihenaufstellung als Teil des Kollek-tivs optisch besonders gut zur Wirkung. DieBändchen luden geradezu ein zum Verschenkenoder Sammeln.

Die Beliebtheit der Insel-Bücher gründet sichneben Preis und Buchschmuck vor allem auf dieinhaltliche Auswahl. Kippenberg hatte eine aus-gesprochen glückliche Hand, als er die Reihe mitRainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Todedes Cornets Christoph Rilke eröffnete. Der Prosa-text mit dem berühmten Beginn „Reiten, reiten,reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch

Anton Kippenberg eröffnetedie Insel-Bücherei mit RainerMaria Rilkes Die Weise vonLiebe und Tode des CornetsChristoph Rilke. Bis heute istdas Inselbändchen, das dieNummer 1 trägt, das meist-verkaufteste.

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den Tag. Reiten, reiten, reiten.“ avancierte durchdie Aufnahme in die Insel-Bücherei innerhalbweniger Wochen zum Kultbuch des Fin de siècle.Die Bestellungen des Buchhandels überschlugensich: Im Juli waren schon 65 000 Exemplare ver-kauft, im August 100 000 und im Frühjahr 1913375 000, so dass Rilke anerkennend dem Verle-ger schreibt: „Was haben Sie den guten ChristophRilke beritten gemacht. Wer hätte das gedacht.“Der Cornet ist bis heute das meistverkauftesteInselbändchen.

Die Auswahl der ersten Serie von zwölf Bändenbedeutet ein geschmackgeschichtliches Doku-ment ersten Ranges: Zeitgenössische Literatur(Hugo von Hofmannsthal, Der Tod des Tizian)steht neben nicht kanonisierten Texten des 18.Jahrhunderts (Gottfried August Bürger, Münch-hausen). Leitfiguren der Kaiserzeit – Otto vonBismarck und Friedrich der Große – sind mitihren Reden und Schriften vertreten; danebenbeeindruckt die Öffnung zur Weltliteratur allerEpochen: Die Namen der Autoren – Platon, Cer-vantes, Flaubert, Tolstoi, Jens Peter Jacobsen –sprechen für die Urbanität des Verlegers.

Die geistige Mobilmachung im August 1914ging auch am Programm der Insel-Bücherei nichtspurlos vorbei. Die allgemeine Kriegsbegeisterungzeigte sich in der Titelwahl des Jahres 1914: DieSammlungen Deutscher Kriegs- und Vaterlandslie-der wurden rechtzeitig auf den Markt gebracht,Heinrich von Kleists chauvinistisches Drama DieHermannsschlacht erlebte neue Auflagen zusam-men mit Ernst Moritz Arndts Katechismus für dendeutschen Kriegs- und Wehrmann, einem Werk,das schon im Titel die fatale pseudoreligiöse Prä-gung des deutschen Nationalismus verriet.

Nach 1918 wird der Insel-Verlag durch die Aus-wirkungen der Inflation in gleicher Weise wieandere Wirtschaftsunternehmen betroffen und inseiner Existenz bedroht. Die beliebte Insel-Büche-rei wird in diesen schwierigen Jahren dank derkontinuierlich hohen Auflagen zum Rückgrat desVerlags. Das Programm der Reihe mit seinemFesthalten an bewährten Autoren – Rilke, Hof-mannsthal, Stefan Zweig und Hans Carossa –sowie der gleichzeitigen Erweiterung um neueNamen – Theodor Däubler und Alfred Mombert– und neue Themenschwerpunkte, wie die ost-asiatische Literatur, spiegelt die kulturelle Vita-lität der zwanziger Jahre eindrucksvoll wider.

Die zwanziger Jahre sind für den Verlag auchJahre des Experiments: So wird neben der Insel-Bücherei – in vergleichbarer Ausstattung – dieReihe Pandora begründet, eine exquisite Samm-lung von Texten der Weltliteratur in den Ori-ginalsprachen. Die Stiftung Neumann besitztbeginnend mit der Nr. 1 der Ausgabe von Shake-speares Sonnets über Petrarcas Trionfi bis zuDostojewskis Großinquisitor dieses faszinierendeSpektrum der Weltliteratur, das typisch ist für dieOffenheit der intellektuellen Szene in der Wei-marer Republik.

Eine Szene, die brutal durch den MachtantrittHitlers zerstört wurde.

Im Vergleich zu anderen Häusern hat sich derInsel-Verlag, repräsentiert durch den politischintegeren Anton Kippenberg, um Distanz zu denneuen Machthabern bemüht. Freilich gibt esauch hier Fehleinschätzungen und Kompromisse,und den Satz, den der Hauschronist des Verlags1962 über die Insel-Bücherei geschrieben hat: „Eszeigt sich auch, daß kein Titel aus den Jahrennach 1933 heute verleugnet werden muß“, würdeich heute so nicht stehen lassen.

Am empfindlichsten traf den Verlag das Verbotder Verbreitung der Schriften seines ErfolgsautorsStefan Zweig, dem das Ehepaar Kippenberg seitJahrzehnten freundschaftlich verbunden war.Von der Reinigung des deutschen Schrifttums, wiedie zynische Formulierung der NS-Zensoren lau-tete, blieb auch die Insel-Bücherei nicht ausge-nommen. In dem aus Anlass des 25-jährigenJubiläums erstellten Verzeichnis der lieferbarenBände der Reihe fehlen unter anderem dieNamen von Heinrich Heine, Maxim Gorki, PaulClaudel, Heinrich und Thomas Mann.

Das Programm in den Jahren 1933 bis 1945 wirdprovinzieller, die Perspektive der Weltliteratur,welche von Beginn an das Profil der Reihe prägte,wird weitgehend aufgegeben, die großen westeu-ropäischen Autoren werden ersetzt durch medio-kre Schreiber wie Karl-Heinrich Waggerl oderHans Friedrich Blunck. Zur Ehre Kippenbergsmuss gesagt werden, dass er – wenn man von demMachwerk von Werner Kortwich, Friesennot,absieht – die Inselreihe weitgehend freigehaltenhat von völkischer Literatur.

Kippenbergs Verhalten in den Jahren 1933 bis1945 kann als ein Lehrstück für die Rolle einesliberal denkenden Verlegers in einem totalitärenRegime betrachtet werden. Durch die denMachthabern vorgespielte Loyalität werdenFreiräume geschaffen, die aber – wie im Falle derAufnahme der Werke des NS-Barden und hohenKulturfunktionärs Hans Friedrich Blunck in dieInsel-Bücherei – immer wieder durch problemati-sche Kompromisse stabilisiert werden mussten.

Es ist bekannt, dass in Zeiten von Diktaturen, diedas politische und kulturelle Leben kontrollierenwollen, es doch immer Rückzugsmöglichkeitenins Unpolitische gibt, eine Haltung, die durchausals Form der Distanzierung zu verstehen ist. DerKult des schönen Insel-Buchs während der NS-Zeit scheint mit diesem Phänomen verbunden zusein. In dieser Periode erscheinen exzellent gestal-tete und zum Teil opulent farbig illustrierteKunstdruckbände. Den Anfang macht das Insel-bändchen 495 Der Bordesholmer Altar MeisterBrüggemanns mit den ersten Schwarzweiß-Photo-graphien der Reihe, es folgt die mit 44 Bildtafelnausgestattete Publikation der Bildwerke desNaumburger Doms. Beliebt waren die prachtvoll

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illustrierten Blumen-, Kräuter-, Garten- und Pilz-bücher. Ausgesprochene ,Renner’ des Geschäftswaren die mehrfarbigen Editionen mittelalterli-cher Handschriften wie des Sachsenspiegels undder Manesse-Handschrift.

Es gehört zu den Schizophrenien der Geschichte,dass im Januar 1945 während die deutschenStädte im Bombenhagel untergingen und die alli-ierten Truppen die Reichsgrenzen überschritten,im Insel-Verlag an der Fortsetzung der Heraus-gabe der Manesse-Handschrift gearbeitet wurde,deren Teil 2 Die Minnesinger erst im Oktober1945 noch mit dem Nachwort des NS-Germanis-ten Hans Naumann als erster Nachkriegsbanderscheinen konnte. Auch diese Rarität gibt es inder Sammlung Neumann.

Der Ausbruch des II. Weltkriegs führte für denInsel-Verlag zu gravierenden Einschränkungenbei der Papierzuteilung. Seit 1942 gab es dieFeldpostausgaben der Insel-Bücherei: Exemplare

davon finden sich auch in der Killy-Bibliothek,auf arkane Weise sind so beide Sammlungeninnerhalb des Organismus unserer UB verbun-den.

Das Ende für den Verlag in der alten Form kamam 4. Dezember 1943 als beim Angriff auf Leip-zig das Verlagshaus völlig zerstört wurde. Mehrals eine Million Bände verbrannten, die Druck-vorlagen von vielen Werken wurden zerstört.

Die Bibliophilie hat ihre eigene, nicht immerleicht nachvollziehbare Logik. Vollständig ver-nichtet wurde auch Insel-Band 313, die vonWolfgang Kayser herausgegebenen Gedichte desdeutschen Barock. Nur wenige Exemplare wurdenvor dem Bombardement an den Herausgebergeschickt. Dieses Bändchen gehört heute zu dengesuchtesten Objekten, es wird auf dem interna-tionalen Antiquariatsmarkt zu astronomischenPreisen gehandelt.

Die Geschichte des Verlags und der Insel-Büchereinach 1945 ist juristisch so kompliziert, wie es diedeutsch-deutschen Beziehungen bis 1989 waren.Auch die Insel-Bücherei wird geteilt, es gibt ingewisser Weise – so wurden sie offiziell nicht

genannt – eine Reihe West, zunächst in Wiesba-den und dann in Frankfurt erscheinend, und eineReihe Ost, die weiterhin von Leipzig aus betreutwird.

Kippenberg bekam schon im September 1945von den Amerikanern für Wiesbaden eine Ver-lagslizenz, er selbst betrachtet eigentlich bis ansein Lebensende Leipzig als das Stammhaus desVerlags und Wiesbaden eher als provisorischeZweigstelle. Auch hier gab es Illusionen, wie inder gesamten Deutschlandpolitik unmittelbarnach 1945 bis zur Gründung der beiden Staaten,die von der Rasanz der politischen und wirt-schaftlichen Entwicklung, die bekanntlich eineAuseinanderentwicklung war, zur Seite gescho-ben wurden.

An den Insel-Büchern der Stiftung Neumann kannman die inhaltlichen Folgen der Verlagstrennungablesen: Das Programm der Leipziger Reiheunterschied sich beträchtlich von dem der in der

Bundesrepublik edierten, auch wenn es die Über-nahme gemeinsamer Titel gab. Dies ist nichtüberraschend: Es existierten unterschiedlicheKanones in der Literatur der DDR und der Bun-desrepublik sowie politisch gewollte Öffnungenfür die Literatur und Kultur der jeweiligen Besat-zungsmächte und späteren Verbündeten. Sozeichnet die Leipziger Reihe die exquisite Präsen-tation klassischer russischer und sozialistisch aus-gerichteter Autoren aus, während die Reihe Wies-baden sich auf die moderne amerikanische (z. B.William Faukner) und westeuropäische Dichtungspezialisierte.

Es ist eine höchst spannende Aufgabe für eine ver-gleichende Kanonforschung zu sehen, welchezeitgenössischen Autoren in beiden deutschenStaaten – auf der einen Seite Carossa und Böll aufder anderen Hermlin und Seghers – aufgelegtund welche ausgespart wurden.

Am Institut für Germanistik beschäftigen wir unsmit solchen Fragen der geteilten Literaturge-schichte und der Rezeptionsforschung, unsereStudierenden werden für ihre Magisterarbeitenund Promotionen reiches Material in der StiftungNeumann finden, denn das Ehepaar sammelte

Die Bände der Insel-Büche-rei waren individuell gestaltetund differenziert nach Farb-ton und Ornamentierung.Aber erst bei der Reihenauf-stellung als Teil des Kollektivskam ihre Schönheit optischbesonders gut zur Wirkung.

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nicht nur die Insel-Bücher, sondern weitere, mehrals zweihundert vergleichbare Reihen.

Deutsche Kulturgeschichte im Spiegel von Buchreihen

Hier ist ein Kosmos deutscher Literatur- undKulturgeschichte vereint. Seriöses steht nebenBizarrem, ideologisch Borniertes neben intellektu-ell Anregendem. Da Ute und Wolfram Neumannauch die Konkurrenz-Reihen der Insel-Bücherei,die ja gern kopiert wurde, sammelten – die ReihePiper, die Weberschiffchen, Seemanns Bibliothek derKunstgeschichte oder den Eisernen Hammer – bietetsich hier ein großes Forschungsfeld für literaturso-ziologische Untersuchungen: Welche Zielgruppenbeispielsweise wurden mit den einzelnen Reihenangesprochen, wie veränderte sich das Programmunter den unterschiedlichen Popularisierungsten-denzen? Selbst Fragen der Zensur können an demMaterial bearbeitet werden.

Nicht nur die hohe Literatur oder wissenschaftli-che Themen sind in diesen Reihen vertreten, siebieten auch ein abwechslungsreiches Kaleidoskopdes Alltagslebens: Moden und Tendenzen der Zeitschlagen sich in den Serien- und Einzeltiteln nie-der, so wie in der in den zwanziger Jahren heraus-gegebenen Reihe Die Frau mit den das Käufer-interesse weckenden Bändchen Marie Antoinette,Marquise de Pompadour oder Vom ernüchterndenZauber der Frau. Hier harrt noch ein Archiv dervie quotidienne der systematischen Auswertung.

Erneut wird an den unterschiedlichen Reihen derStiftung Neumann sichtbar, in welch hohemMaße die literarische Produktion einer Gesell-schaft abhängig ist von ideologischen Leitvorstel-lungen, besonders bedrückend abzulesen an denvölkisch geprägten Reihen – wie Ährenlese oderSoldaten und Kameraden – der NS-Zeit. Währenddes II. Weltkriegs bis 1944 erschienen viele dieserReihen als Feldpostausgaben, an ihrem Pro-gramm lässt sich die Gratwanderung erkennen,die einige Verlage zwischen nationalistischerAnfeuerung und dem Festhalten an als klassischempfundener deutscher Tradition auch in Zeitendes Krieges und der Barbarei versuchten.

Die Bücherei des Schocken-Verlags: ein „Gebäude jüdischer Bildung“

Ich möchte schließen mit einem Blick auf eineder wertvollsten Sammlungen der Stiftung Neu-mann, der Bücherei des Schocken-Verlags, einemeinzigartigen Dokument jüdischer Kultur inDeutschland.

Der Verlag des jüdischen Kaufhausbesitzers undMäzens Salman Schocken bestand nur acht Jahre,er wurde 1931 begründet und 1938 verboten. Mitden Beginn der NS-Herrschaft wurde der Verlagnach seinem Selbstverständnis zu einem geistigenZentrum des Judentums im Deutschen Reich.

Der Verleger verfolgte drei Ziele mit dem Pro-gramm der Schocken-Bücherei, die sich nach Auf-

machung und typographischer Sorgfalt an denInsel-Büchern orientierte. Der Verlag wollte ein-mal in der Phase der Verfolgung, in „kritischenZeiten“, wie es euphemisch in einem Verlagspro-spekt heißt, Schlüsseltexte jüdischer Identität –liturgische Schriften, Sabbath-Gebete, jüdischeVolkslieder, chassidische Erzählungen – einemjüdischen Publikum anbieten.

Der zweite Schwerpunkt hatte als Zielgruppechristlich-liberale Leser, denen die reiche Traditionjüdischer Kultur in Deutschland – Moses Men-delssohn, Heinrich Heine, Hermann Cohen – ver-mittelt werden sollte.

Als drittes wollte die Schocken-Bücherei modernenjüdischen Dichtern ein Forum bieten. Eine Gele-genheit, die Schriftsteller wie Alfred Mombert, alsder Insel-Verlag zögerte, weiter seine Werk zu ver-legen, dankbar annahmen. Zu den Autoren derSchocken-Bücherei gehörten so berühmte Namenwie Martin Buber, Franz Kafka, Gershem Scho-lem, Karl Wolfskehl und Leo Baeck.

Der Verlag errichtete in der Tat ein „Gebäudejüdischer Bildung“ – das Zitat stammt aus derAnzeige in der Jüdischen Rundschau vom 17.April 1935 – das wie ein erratischer Block in derNS-Kulturszene zunächst weiter bestehenkonnte. Die pervertierte Rechtsauffassung impolykratischen NS-Regime lässt sich an demUmgang mit dem Schocken-Verlag demonstrie-ren. Zunächst wurde er im Herbst 1933 als Mit-glied in die Reichsschrifttumskammer aufgenom-men, ähnlich wie im Verhalten dem Kulturbunddeutscher Juden gegenüber, folgte bald einePhase immer stärkerer Drangsalierung undSchikanierung; ab 1937 musste der Zusatz„jüdischer Verlag“ geführt und im gleichen Jahrwurde die Publikation des Bandes 68, derJudenbuche von Annette von Droste-Hülshoff,vom Präsidenten der Reichsschrifttumskammerverboten mit der Begründung: „Es geht nichtan, daß das Buch dieser deutschen Dichterin inihrem Verlag erscheint, und ich ersuche Sie, esinnerhalb von drei Tagen aus dem Verkehr zuziehen und jede weitere Verbreitung zu unter-lassen.“

Wolfram Neumann besitzt nicht den äußerst sel-tenen Band 68 der Schocken-Reihe, dessen Auf-lage von 3 300 Exemplare vernichtet wurde, son-dern den Ersatzband Fischel Schneersohns: DieGeschichte des von Chajim Grawitzer.

Geradezu wie ein Menetekel liest sich in der1937 erschienenen Ausgabe der Briefe des dreiJahre vorher verstorbenen Max Liebermann daserschütternde Lebensresümee, das der Maler am28. Februar 1934 in seiner Wohnung am PariserPlatz zieht: „Aus dem schönen Traum der Assi-milation sind wir leider, leider nur zu jäh aufge-weckt. Für die jüdische Jugend sehe ich keineRettung als die Auswanderung nach Paläs-tina, ...“

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Prof. Dr. Wolfgang Adam,geb.1949, Studium der Germanistik, Geschichte und Klassischen Archäologie in Mannheim undHeidelberg. Promotion 1977 und Habilitation 1985 in Wuppertal. 1986-1988 Professur für Deut-sche Philologie an der Bergischen Universität Wuppertal, 1988-1998 an der Universität Osna-brück, seit 1998 Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur der Otto-von-Guericke-UniversitätMagdeburg. Seit 2000 DFG-Fachgutachter, seit 2004 Präsident der Deutschen Gesellschaft fürdie Erforschung des 18. Jahrhunderts, Herausgeber der Zeitschrift Euphorion. Veröffent-lichungen zur Literatur- und Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, zur Antikenrezepti-on, zur Bibliotheks-und Wissenschaftsgeschichte.

Am 17. Dezember 1938 wurde der Verlaggeschlossen. Die letzten Bändchen der 92 Num-mern umfassenden Schocken-Bücherei erschienen1939, nachdem der Verlag schon aufgehört hatte,zu existieren. Für die noch immer nicht abge-schlossene Detailerforschung jüdischer Kulturwährend der NS-Zeit stellen diese Bände der Stif-tung Neumann ein unschätzbares Quellenmate-rial dar.

Sie sehen, die Spezialsammlungen der Magde-burger Universitätsbibliothek bieten für Studie-rende und Lehrende für die nächsten Jahr-zehnte Forschungsaufgaben in Hülle und Fülle.

Gerade mit Blick auf die neu einzurichtendeninterdisziplinären Studiengänge finden Litera-turwissenschaftler, Philosophen, Soziologenund Historiker hier ein einmaliges Wissensre-servoir.

Als Goethe 1801 die Göttinger Universitätsbi-bliothek besuchte, fühlte er sich „in der Gegen-wart eines großen Capitals, das geräuschlos unbe-rechenbare Zinsen spendet.“ Auch der lebendigeOrganismus unserer UB verfügt über ein solchreiches, symbolisches Kapital, hoffen wir, dass wires noch lange an der Universität Magdeburg nut-zen können!