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Mahamudra-Unterweisungen NEUNTER KARMAPA Marig Münsel Mahamudra – Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Teil Vier Unterweisungen von Lama Tilmann (Lhündrup) Möhra 2015

Marig Münsel Mahamudra Das Auflösen des Dunkels mangelnden ...€¦ · Raum hier; da ist heilige Stille während des ganzen Kurses. – Mit Ausnahme der Mahakala-Puja. – Aber

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Mahamudra-Unterweisungen

NEUNTER KARMAPA

Marig Münsel

„Mahamudra –

Das Auflösen des Dunkels

mangelnden Gewahrseins“

Teil Vier

Unterweisungen von

Lama Tilmann (Lhündrup)

Möhra 2015

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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INHALT

Abendmeditation: Mahamudragebet ............................................................................................ 4

Einführung ....................................................................................................................................... 7

Fragen .......................................................................................................................................... 9

Meditation .................................................................................................................................. 11

Wiederholung ................................................................................................................................. 12

Erster Teil: Die Vorbereitungen ..................................................................................................... 12

B. Intuitive Einsicht ........................................................................................................................... 16

5. Das Aufzeigen der Natur des ruhenden Geistes ......................................................................... 16

Meditation: Spüren – Sein.......................................................................................................... 16

Übung: Schauen ......................................................................................................................... 17

Übung: Hören ............................................................................................................................. 20

Übung: Sein................................................................................................................................ 21

Erfahrungen der Teilnehmer ...................................................................................................... 22

Übung: Wie ist das ruhige Erleben? .......................................................................................... 26

Meditation: Guru-Yoga .............................................................................................................. 33

Wiederholung II ............................................................................................................................. 43

Fragen ........................................................................................................................................ 49

Meditation .................................................................................................................................. 51

6. Gründliches Erforschen des Geistes .......................................................................................... 51

6a. Das Aufzeigen des stillen, nicht denkenden Geistes. ............................................................... 51

Fragen ........................................................................................................................................ 52

6b. Das Aufzeigen des aktiven, denkenden Geistes....................................................................... 52

Übung: Entstehen, Vergehen und Verweilen – ein Gedanke? ................................................... 53

Erfahrungen der Teilnehmer ...................................................................................................... 53

Übung: Gedanken festhalten ...................................................................................................... 62

Erfahrungen der Teilnehmer ...................................................................................................... 62

Einfangen und Loslassen von Gedanken ................................................................................... 66

Leerheit – Gewahrsein – Prozesshaftigkeit ................................................................................ 72

Struktur: Lhaktong – Intuitive Einsicht ......................................................................................... 81

Die vier Schritte des Erkennens ................................................................................................. 84

Fragen ........................................................................................................................................ 87

7. Das Aufzeigen der Natur von Erscheinungen. ........................................................................... 92

Übung: Hören ............................................................................................................................. 96

Meditation ................................................................................................................................ 106

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Erfahrungen der Teilnehmer .................................................................................................... 107

8. Die Aufklärung, ob Ruhe und Bewegung eins oder verschieden sind ..................................... 115

Meditation ................................................................................................................................ 120

Meditation: Ruhen im natürlichen Sein ................................................................................... 131

Bemerkungen zum Aufbau der Erklärungen ............................................................................... 140

Dritter Teil: Schlussbemerkungen zum Vertiefen der Übung ......................................................... 141

1. Von ganzem Herzen auf diese Weise weiterpraktizieren ........................................................ 141

Fragen der Teilnehmer ............................................................................................................ 144

Aktivität – Handlungsweisen des Mahamudra ........................................................................ 146

Der Nutzen dieser Praxis.......................................................................................................... 149

Meditation: Herzensatem ......................................................................................................... 150

Anhang ......................................................................................................................................... 152

Erklärungen zur Zuflucht ......................................................................................................... 152

Buchvorstellung: Mahamudra & Vipassana ............................................................................ 153

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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In den Abend-Meditationen werden wir das Mahamudra-Gebet des 3. Karmapa Rangjung Dorje als Grund-

lage verwenden. Dabei werden wir lernen, mit einem inspirierenden Text kontemplierend zu meditieren, so

wie Gendün Rinpoche das auch gemacht hat, wenn er sich Texte erarbeitet hat, sie durchmeditiert hat. Dabei

liest man jeweils eine Passage, nimmt sie sich ins Herz, liest sie nochmal: „Wenn ich das jetzt auf mich

anwende, wie fühlt sich das jetzt an?“ Man geht auf diese Weise mit der Passage mehrfach hin und her, bis

man merkt: „Ach, jetzt löst sich das in mir, jetzt versteh' ich, ich fühl' es!“ Dann verweilt man, ohne

begrifflich darüber nachzudenken, in der Nachwirkung dieser Kontemplation. Diese Nachwirkung nennt man dann Meditation.

Das Gebet habe ich vor vier Jahren hier in Möhra ausführlich erklärt. Es gibt dazu eine Abschrift, die man

von meiner Webseite herunterladen kann.

Ich gehe die Kontemplation jetzt mit euch ansatzweise durch – ich weiß noch nicht, wie es sich entwickeln

wird. Für die anderen Abende stelle ich mir vor, dass jeder sein eigenes Tempo findet, sodass wir diese Art,

mit einem Text zu meditieren, wirklich lernen können. Jeder liest und spürt in seinem Tempo. Es gibt Passa-

gen, die uns mehr ansprechen, und andere, die uns vielleicht weniger ansprechen.

Abendmeditation: Mahamudragebet

Das Mahamudra-Gebet des Wahren Sinnes – es geht um das Eigentliche – vom vollendeten Meister

Rangjung Dorje, dem dritten Karmapa.

Namo Guru!

Lamas und Yidam-Gottheiten der Mandalas,

Siegreiche und Bodhisattvas der zehn Richtungen und drei Zeiten,

bitte denkt liebevoll an mich und gewährt Euren Segen,

dass sich meine Wunschgebete genauso erfüllen, wie sie gesprochen werden.

Das ist der Moment, wo man ein bisschen innehält und spürt: "Ach, und meine Zuflucht? Wo ist die? Ist die

damit schon ausgedrückt? Wie ist das für mich? Wie spür' ich meine Zuflucht jetzt?" Es geht darum, jetzt

selber die Verbindung zu den Buddhas aufzunehmen, vielleicht die Zeilen noch einmal zu lesen, sodass diese

Bitte ganz von Herzen kommt.

Und das tun wir jetzt auch ganz speziell zu Anfang des Kurses und natürlich während des ganzen Kurses:

Wir bitten die Erwachten, dass sie uns begleiten mögen. –

Und das findet in unserer eigenen Sprache statt, wir finden unsere eigenen Worte und Gedanken dafür. –

Wir entwickeln unsere Motivation mit dem nächsten Vers:

Mögen aus den schneeweißen Bergen der reinen Absichten

von mir und all den zahllosen Lebewesen

Ströme des Heilsamen entspringen und ungetrübt von den drei Fixierungen

in den Ozean der vier Körper der Siegreichen münden.

Die drei Fixierungen sind das Denken in Subjekt, Objekt und Handlung, dass es etwas zwischen den beiden

gibt; drei nicht zutreffende Fixierungen. Wir machen den Wunsch, dass unser heilsames Handeln sich auch daraus befreit. –

Und jetzt können wir ruhig und still weiterlesen. Im dritten Vers geht es darum, gute Bedingungen für die Praxis zu finden. –

Im vierten Vers geht es spezifischer noch darum, was denn eigentlich gute Bedingungen eines kostbaren

Menschendaseins sind. –

Wir spüren hin, ob diese Bedingungen jetzt schon gegeben sind und entwickeln tiefe Wertschätzung für

dieses Leben, das uns jetzt schon so viel von dem ermöglicht. –

Lasst eure Augen über die Zeilen gleiten, und jeder liest auf seine eigene Art immer wieder mal eine Passage und kontempliert, … dann nicht-begriffliches Verweilen. –

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Und nach Möglichkeit direkt anwenden; das, was jetzt als Verständnis entsteht, direkt umsetzen und gar

nicht festhalten an dem, was wir jetzt nicht verstehen, sondern das, was uns berührt, direkt hineinnehmen in die Praxis. –

Ich lade euch ein, auf Seite 6 zu schauen. Dort stehen die wesentlichen Unterweisungen für die Meditation.

Speziell die Verse 15, 16 und 17 sind genau das, was wir nehmen können, um dann hinüberzugleiten in das nicht-begriffliche Praktizieren. –

Allein ein Sätzchen schon kann uns die ganze Meditationssitzung beschäftigen. Wie geht denn das: Unver-

dorben durch absichtsvolles, mit dem Verstand erzeugtes Meditieren? Wie fühlt sich das an, gar nichts

zu erzeugen, nichts mit dem Verstand zu erzeugen, zu wollen? Ganz und gar natürlich, jetzt zu sein? –

Da spüren wir vielleicht, dass sich doch noch in unserem Körper, in unserer Geisteshaltung ein Wollen

ausdrückt; ein Wollen, es besonders gut zu machen. –

Und immer wieder schauen wir, überprüfen wir, ob unsere Erfahrung auch so ist oder anders: Kommen die

Wellen der groben und feinen Gedanken wirklich von selbst zur Ruhe? Wann ist das der Fall? Und wie fühlt sich das an? –

Wir werden jetzt gleich schon abschließen mit der Meditation. Die Verse 22 und 23 sind sehr geeignet, um

zum Abschluss noch einmal in die Metta-Meditation zu gehen, die Meditation der liebevollen Güte, des Mitgefühls; auf einer ganz tiefen Ebene:

Die Natur der Lebewesen ist immer schon Buddha – eigentlich sind sie alle Erwachte –,

doch weil sie dies nicht erkennen, irren sie endlos in Samsara.

Möge für das grenzenlose Leid der Lebewesen – dieses so unnötige Leid – überwältigendes Mitgefühl in uns entstehen.

Lasst euer Bewusstsein, den Geist, ein wenig darin ruhen und spürt mal hin, ob ihr diese tiefe Dimension des

Mitgefühls erahnen könnt. Wie einfach doch alles sein könnte! –

Da überwältigendes Mitgefühl stark und unbehindert ist,

zeigt sich in Momenten solcher Liebe unverhüllt die Wahrheit der leeren Natur. – Die wahre Natur des

Seins, dieses nicht fassbare, vollkommen offene Sein. –

Mögen wir uns Tag und Nacht in diesem unfehlbaren höchsten Weg der Einheit – von Mitgefühl und

Weisheit – üben,

ohne uns je von ihm zu trennen.

Karmapas eigener Abschluss geht noch zwei Verse weiter. Und der Vers 25 ist die eigentliche Bitte, dass diese Wunschgebete zum Wohle aller in Erfüllung gehen mögen. –

Dann verweilen wir noch mal in diesem Erleben, dass eigentlich gar niemand meditiert hat. –

* * *

Wir befinden uns bereits im vierten Jahr der Übertragung eines Mahamudra-Textes des 3. Karmapa Rang-

jung Dorje. Es geht um „Das Klären der Dunkelheit mangelnden Gewahrseins“– marig münsel auf Tibetisch.

Zusammen mit Frank übersetze ich diesen Text Stück für Stück und stelle ihn euch zur Verfügung, damit ihr mitmachen könnt.

Die Abschriften der ersten drei Kurse stehen auf meiner Homepage zum Herunterladen zur Verfügung. Ihr

habt vielleicht jetzt den Impuls, schnell noch nachzuholen, was da die letzten Jahre war, aber lasst das erst mal sein und macht einfach nur mit. Ich versuche so zu erklären, dass es für jeden verständlich ist.

Ich versuche es, aber wir gehen in ein sehr anspruchsvolles Kapitel hinein. Wir werden uns mit intuitiver

Einsicht und dem Vertiefen der Praxis beschäftigen. Die Kapitel zu den Vorbereitenden Übungen und zur

Geistesruhe haben wir schon durchgenommen und deswegen wird es sehr, sehr anspruchsvoll. Da braucht es

einen freien Geist und das ist wichtiger als das korrekte Verständnis der vorherigen Jahre. – Ich werde dafür sorgen, dass ihr das so ungefähr mitkriegt.

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Es sind also Bedingungen erforderlich, dass ihr möglichst unbelastet da sein könnt. Und dieses unbelastete

Sein wollen wir irgendwie garantieren; unter anderem, indem wir den größten Teil des Tages schweigen. Wir

müssen nicht den ganzen Tag schweigen. Bis zum Mittagessen werden alle schweigen, das ganze Haus, alle!

Aber beim Mittagessen kann geredet werden. Wir haben zum Essen zwei Orte, sodass diejenigen, die den

ganzen Tag schweigen möchten, auch die Möglichkeit dazu haben. Diejenigen, die sich beim Essen unter-

halten möchten, essen im vorderen Teil. Es ist auch schön, andere kennenzulernen. Und ihr könnt jederzeit

Spaziergänge machen, euch mit jemandem verabreden und auf euren Spaziergängen miteinander sprechen.

Es ist auf allen meinen Kursen so, dass das Haus auf diese Weise geschützt wird und vor allen Dingen dieser

Raum hier; da ist heilige Stille während des ganzen Kurses. – Mit Ausnahme der Mahakala-Puja. – Aber

sonst herrscht hier Stille, sodass man sich jederzeit hierher in die Stille zurückziehen kann. Es ist also ganz

wichtig, hier die Stille zu wahren für Teilnehmer, die vielleicht das Bedürfnis haben, länger oder zwischen-durch zu meditieren.

Und es gibt die Möglichkeit, einen Button zu tragen: „Enjoying Silence“ oder „Ich schweige“. Damit

entscheidet man für sich selbst, komplett ins Schweige-Retreat zu gehen. Dann wird man nicht aus Versehen

einfach angesprochen. Nehmt euch also einen Button, es kann ja sein, dass einige von euch so die Nase voll

haben vom Reden, dass sie sagen: „Bloß nicht reden, fünf Tage Schweigen ist das beste Geschenk, das ich

mir geben kann und das möchte ich auch.“ Dazu braucht es den Button und auch die Abmachung, dass in

den Schlafräumen, auf den Fluren und in diesem Teil des Hauses hier nicht gesprochen wird.

Vorne beim Organisationsteam kann immer gesprochen werden. Ihr vom Hausteam sprecht sowieso, da wo

ihr lebt und arbeitet. Und wenn ihr die Leute ansprechen müsst, zum Erklären der Arbeiten und so, kann auch natürlich gesprochen werden.

Wir haben also eigentlich ein Schweige-Retreat, bloß im Essraum ab 13:00 Uhr und auf Spaziergängen,

wenn ihr es selber möchtet, kann geredet werden. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?

Teilnehmer: Und ab wann schweigen wir nach dem Essen wieder?

Eigentlich wäre es schön, wenn wir nur in den Mittagspausen diese Redezeiten hätten und dann wieder alle

ins Schweigen gehen würden. Es wäre toll, wenn das auch für den vorderen Essraum gelten würde. Können

wir das so machen? Da nicken jetzt ganz viele. Ist das für das Hausteam okay? Ja? Dann machen wir das so.

Dann ist von 13:00 bis 15:00 Uhr da vorne Redezeit. Und bitte achtet darauf, dass ihr eure Gespräche

beendet, wenn ihr von eurem Spaziergang auf das Haus zukommt. Hört bitte in Hörweite auf zu sprechen,

weil sonst eure Gespräche in Bereichen zu hören sind, wo Leute still sitzen. Bei den Retreats ist es ganz

wichtig, dass man daran denkt. Andere hören uns von sehr weit – die Stille kann man nicht hören, aber unser

Gespräch kann man hören –, sodass wir besser rechtzeitig aufhören.

Meditation

Lasst den Geist jetzt mal ganz auf Urlaub gehen, gar nichts mehr wollen von ihm. Er hat schon viel gemacht

heute. –

* * *

Wir werden also jetzt ins Schweigen gehen. Natürlich ist es mit dem Einrichten in den Zimmern sicher

nochmal notwendig, ein bisschen was zu sagen. Aber schaut, dass es jetzt nicht noch zu Unterhaltungen kommt, die in den Abend hinein reichen; redet nur so viel was es braucht, um sich zurechtzufinden.

Ich möchte euch auch nochmal Lama Heiko vorstellen. Lama Heiko und ich sind schon lange verbunden

miteinander, viele, viele Jahre inzwischen. Lama Heiko wohnt in Frankreich, in der Nähe von Croizet.

Inzwischen begleitet er mich auf den verschiedenen Retreats, assistiert mir und macht mir das Laben etwas

leichter, indem er mir hier und da Unterricht abnimmt und auch Einzelgespräche gibt. Ihr könnt euch mit Fragen an ihn wenden.

Ich selber beginne mit Einzelgesprächen erst frühestens am Sonntag, weil ich noch nicht ganz gesund bin. Wir wissen noch nicht ganz, wie wir uns das hier aufteilen, denn ich werde ja die Hauptübertragung geben.

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Einführung

Das ausführliche Werk „Mahamudra, der Ozean des wahren Sinnes“ des 9. Karmapa enthält alles, was man

für die Mahamudra-Praxis braucht – in über 100 Lektionen mit über 50 konkreten Übungen. Wir nehmen

hier die Kurz-Version davon durch. Das haben wir auch im Dreijahresretreat als Übertragung bekommen.

„Marig münsel“ ist das Rückgrat der Meditationspraxis als Kurz-Version für den Nachttisch.

Zu Anfang unserer gemeinsamen fünf Tage möchte ich euch einen kleinen Überblick geben. Ich bin nach

den letzten Retreats gebeten worden, doch etwas stärker die Struktur zu veranschaulichen. Ich komme dieser

Bitte gerne nach und werde euch ein wenig darin unterstützen, die Struktur von dem zu verstehen, was wir

hier eigentlich machen. Dazu werde ich eine Flipchart verwenden, die sich in den Kursen der Ausbildung in

Essentieller Psychotherapie sehr bewährt hat, das Erfassen der Struktur hinter einer Unterweisung zu

erleichtern. Ich werde euch also eine Art Inhaltsverzeichnis des Dharma geben – was früher die Aufgabe des Abhidharma war.

Der Abhidharma ist sozusagen die wissenschaftliche Zusammenfassung dessen, was Dharma ist. Er hat sich

nach dem Leben Buddhas entwickelt und ist eine strukturierte Zusammenfassung der Unterweisungen. So

werde ich einmal am Tag ein wenig Strukturarbeit machen, ohne euch den Abhidharma zu verklickern, aber

eben aufzeigen, wie sich diese Unterweisungen einbetten. Als Erstes brauchen wir eine Idee: Wo geht's

überhaupt hin? Worum geht es? Und da erzähle ich euch jetzt nichts Neues, es geht um dieses berühmte

Erwachen.

Als der Buddha diese befreiende Erfah-

rung gemacht hat, hat er davon als bodhi

gesprochen. Das ist die Erfahrung des

Erwachens, die er unter dem Bodhibaum

gemacht hat. Er hat seine Askese nicht weiter fortgesetzt, sondern ein wenig ge-

gessen und getrunken, sich gewaschen und gesagt, dass der Weg der Askese vorbei ist. Er hat sich einen relativ be-

quemem Sitz aus Kusha-Gras gemacht und den Entschluss gefasst, einfach zu verweilen und die Natur des Seins zu be-

betrachten, in Erinnerung an diese ent-

spannte Erfahrung, die er in der Kindheit gemacht hatte.

Ihr kennt die Geschichte vielleicht: Der Buddha hat sich daran erinnert, als er mit sechs oder sieben Jahren – ich hoffe ich

erinnere mich richtig – unter einem Ro-

senapfelbaum ganz spontan in so einen offenen Geisteszustand eingetreten war,

als sein Vater gerade dabei war, das

Frühjahrsritual mit dem ersten Pflügen der Felder auszuführen.

Um dieses Erwachen geht es bei allen

Unterweisungen, die wir miteinander

teilen. Alle Dharma-Unterweisungen

dienen dem Erwachen. Wir haben uns in

früheren Kursen schon dem gewidmet,

wie wir uns persönlich das Erwachen

vorstellen können, welche Qualitäten wir innerlich damit verbinden. Der eine Teil dessen, was Erwachen

ausmacht, ist, die innewohnenden Qualitäten freizusetzen. Es geht beim Erwachen nicht darum, etwas

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Neues zu erzeugen, sondern darum, nur das, was schon in uns ist, freizusetzen. Das, was in uns ist, sind diese

Qualitäten von Liebe, Mitgefühl, Weisheit, Dankbarkeit, Güte, Freigebigkeit, Ausdauer, Freude und so

weiter. Das sind die natürlichen Qualitäten, die sich bei allen von uns zeigen, wenn unser Geist sich befreit

aus seinen Verstrickungen. Und das ist der zweite Aspekt des Erwachens. Der Buddha nannte es Erwachen

in Anlehnung an die Erfahrung, aus dem Schlaf zu erwachen. Auf Sanskrit und Pali ist es dasselbe Wort, das

bedeutet 'aus dem Schlaf zu erwachen'. Und zu diesem Erwachen gehört, dass wir den Schlaf abschütteln;

das heißt, da ist etwas aufgelöst, das uns beengt hat, uns in unserer Wahrnehmung eingeschränkt hat. Wir werden wach und erwachen zu dem, wie die Dinge sind.

Diesen Teil von dem, was sich auflöst, nennen wir die begrenzenden Schleier. Es geht also um ein Frei-

setzen und ein Auflösen. Das ist die Erklärung des tibetischen Wortes Sang-gyä für Buddha. Das bedeutet ja

genau das. Wir haben es vorhin beim Zuflucht-Nehmen als erstes Wort gesungen: „Sang-gyä tschö dang..."

Sang bedeutet reinigen, auflösen und gyä bedeutet entfalten, freisetzen. So haben die Tibeter das Wort

„Buddha“ übersetzt. Wenn die innewohnenden Qualitäten freigesetzt werden und keinerlei Schleier mehr be-

stehen, die diese innewohnenden Qualitäten einschränken, nennt man dieses Wesen einen Buddha, einen

vollkommen Erwachten.

In unserer Praxis kümmern wir uns darum, dass wir die beiden hauptsächlichen Schleier auflösen, die emo-

tionalen Schleier und die kognitiven Schleier. Die emotionalen Schleier sind das, was wir Kleshas nennen,

die verstrickenden und belastenden Emotionen. Ganz viele Unterweisungen dienen dem Auflösen dieser

emotionalen Schleier. Sie werden beruhigt durch die Praxis der Geistesruhe und sie werden aufgelöst durch

das Durchschauen der Muster und der wahren Natur der Emotionen. Über die kognitiven Schleier wird

weniger oft gesprochen, aber das ist das Zentrum hier in unserem Kurs.

Wir werden uns jetzt mit intuitiver Einsicht befassen. Intuitive Einsicht löst die kognitiven Schleier auf, d.h.

die Annahmen über die Wirklichkeit. Kognitive Schleier – das müssen wir uns klar machen – sind unbe-

wusste Annahmen über die Wirklichkeit, mit denen wir leben, ohne es zu merken. Wenn wir nicht in diese

Unterweisung gekommen wären – hier oder anderswo – hätten wir doch nicht angefangen, unser Ich-Gefühl

in Frage zu stellen; die Subjekt-Objekt-Beziehung; dass die Dinge getrennt von uns existieren – von mir und

jedem anderen. Das ist ein Gefühl, mit dem wir durch die Welt gehen.

Man nennt das einen kognitiven Schleier: unwillkürlich das Gefühl zu haben, die Dinge existieren so, wie

ich sie wahrnehme, und nicht zu merken, dass das eine mentale Konstruktion ist. Es ist eine Gehirn- oder

Geistesleistung, die Welt immer genau so erscheinen zu lassen, wie man es gewohnt ist. Dass aber andere

Lebewesen sie total anders wahrnehmen und man selbst sie natürlich emotional auch ganz anders wahr-nehmen könnte, wird einem nicht bewusst – im Normalfall.

Wir werden uns also in diesem Kurs mit kognitiven Schleiern befassen. Mit der Zeit merkt ihr, dass da noch

was fehlt; wir arbeiten gar nicht direkt mit den Emotionen, wir arbeiten mit den Wahrnehmungsprozessen;

wie die Welt wahrgenommen wird, was die Mechanismen sind. Wir versuchen den Geist zu verstehen, wie

der Geist in Ruhe ist, wie er in Bewegung ist, wie wir uns mit Sinneserfahrungen in Beziehung setzten, ob

diese Beziehung eigentlich eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist oder ob das von anderer Natur ist. Das Erwachen besteht darin, sowohl die emotionalen als auch die kognitiven Schleier aufgelöst zu haben.

Der Buddha war nicht mehr in einer Illusion der Trennung, sondern in einem tiefen Erleben davon, dass die

Welt sich immer wieder neu formt, sich immer wieder neu gestaltet aufgrund der Kräfte, die in einem Geist

aktiv sind. Und da – durch unser Einwirken auf die Kräfte, die da aktiv sind – liegt auch ein Schlüssel zur

Befreiung. Wir können das bewusste Gestalten unseres Wahrnehmens, Denkens, Fühlens usw. nutzen, um in ein freieres Sein einzutreten.

Dieser Aspekt des Arbeitens an den kognitiven Schleiern ist das Entwickeln von dem, was wir so landläufig

Weisheit nennen, und zwar tiefste Weisheit (Sanskrit: prajna). Die eine Wurzel, aus der diese innewohnen-

den Qualitäten, wie Liebe, Güte, Freude, Mitgefühl, Dankbarkeit usw. entstammen, ist das In-Resonanz-Sein

mit der Welt. Und dieses grundlegende In-Resonanz-Sein mit der Welt, aus dem all die Qualitäten entstehen,

sich liebevoll in Beziehung zu setzen, wird als Mitgefühl (Sanskrit: karuna) zusammengefasst. Mitgefühl ist die Wurzel aller erwachten Qualitäten und meint Selbst-Mitgefühl und Mitgefühl für andere.

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Dieses In-Schwingung-Sein ist die grundlegende Qualität und ermöglicht auch das Verstehen. Sich selbst zu

verstehen, andere zu verstehen geht nur, wenn wir in Resonanz miteinander sind. Wenn wir in Resonanz

treten, dann bemerken wir, was eigentlich ist; dann bemerken wir, wie wir anderen helfen können. Mitgefühl

ist also nicht nur einfach Mitgefühl mit dem Schwierigen, mit dem Schmerzhaften, sondern ist z.B. auch

aktiv, wenn wir Freude in jemand anderem wahrnehmen; wir können in der Freude mitschwingen. Wir

erleben, wie jemand anderes wohl die Welt sieht und wie das jemand anderen beeinflusst und wir mit ihm

mitschwingen. Wir können uns einstellen darauf, wie für jemand anderen die Welt aussieht.

Das sind die vielen Übungen des Lodjong-Geistestrainings. Da wird ganz viel mit dem Herzensatem, dem

Tonglen gearbeitet. Das ist der Bereich, in dem ganz stark die Resonanz-Schulung in Mitgefühl stattfindet.

Ihr werdet es vielleicht bedauerlich erleben, dass wir in diesem Kurs hier gar nicht viel über Mitgefühl

sprechen. Das ist nicht Thema. Wir arbeiten hier gezielt am Auflösen der kognitiven Schleier, und wenn die

wegfallen, werden offene Geistesräume ermöglicht, in denen dann tatsächlich Liebe und Mitgefühl spontan

vorhanden sind. Aber das ist nicht Hauptpunkt in diesem Kurs.

Mitgefühl und Weisheit sind die beiden Qualitäten, um die es im ganzen Dharma geht. Diese beiden Begriffe

sind einfach eine andere Art, das Freisetzen von Qualitäten und das Auflösen der Schleier auszudrücken.

Weisheit ist die stärkste Kraft um Schleier aufzulösen und Mitgefühl ist die stärkste Kraft um Qualitäten

freizusetzen. Man sagt, im Dharma geht es darum, mit zwei Beinen zu gehen. Wir brauchen mindestens zwei

Beine, um gehen zu können, und wir gehen mit Mitgefühl und Weisheit. Eine der großen Fragen, die euch

manchmal bewegt, ist sicher: „Ist meine Praxis ausgewogen? Ist sie so, wie sie zu sein hat? Wird sie wirklich

zum Erwachen beitragen?“ Stellt euch doch als Erstes die Frage: „Sind ausreichend Aspekte dabei, die in mir

Mitgefühl freisetzen und ermöglichen, und sind ausreichend Aspekte dabei, die Weisheit entstehen lassen?“ Jeder von uns braucht ein ausreichendes Gleichgewicht in seiner Praxis von Mitgefühl und Weisheit.

Mitgefühl und Weisheit sind nicht wirklich getrennt. Es gibt einen Begriff, der die Einheit der beiden zeigt.

Es wird ja immer von der Einheit der beiden gesprochen, auch im Mahamudra-Gebet – Vers 23.

Im Verstehen ist alles zusammengefasst, das ist die Einheit von Mitgefühl und Weisheit. Das Mitgefühl

versteht sich als mitfühlendes Mitschwingen, was zu einem Verstehen von einem selbst und anderen führt,

und die Weisheit ist ebenfalls ein Verstehen durch ein Mitschwingen, ein totales Sich-Einlassen mit dem

Sein, das versteht, wie das Sein ist, wie es funktioniert, wie Ursache und Wirkung funktionieren, wie Emo-

tionen entstehen und sich auflösen. Auch das ist Verstehen.

Dieses Wort „Verstehen“ ist die beste Übersetzung des Begriffes Bodhicitta. Was ist eigentlich Bodhicitta?

Bodhicitta ist Verstehen. Das sogenannte relative Bodhicitta, der relative Erleuchtungsgeist, ist stärker im

Mitgefühl angesiedelt und der letztendliche Erleuchtungsgeist stärker in der Weisheit. Aber es ist ein Geist

des Erwachens, ein Bodhicitta. Das, worum es dabei geht, ist, mit dem Herzen zu verstehen, intuitiv zu ver-

stehen.

In diesem Kurs wird es sehr stark darum gehen, diese intuitive Einsicht zu schulen, die uns hilft, die Schleier

aufzulösen; speziell die kognitiven Schleier, was aber auch direkte Auswirkung auf die emotionalen Schleier

hat, weil wir dann unseren eigenen Emotionen nicht mehr so glauben. Wir können diesem Gaukelspiel

unserer Emotionen nicht mehr glauben, weil wir sie durchschauen als das, was sie wirklich sind: Produktio-

nen des Geistes, die sich gleich wieder auflösen, wenn sie nicht weiter genährt werden.

Fragen

Teilnehmer: Du hast gesagt, die grundlegende Resonanz wird als Mitgefühl bezeichnet. In der Neuro-

Wissenschaft wurde festgestellt, dass Mitgefühl und Empathie zwei unterschiedliche Dinge sind. Das heißt,

die Resonanz wäre eher die Empathie und das Mitgefühl eher die Handlung?

Die beiden gehören zusammen. Die Empathie ist, wie du es auch beschreibst, die grundlegende Fähigkeit

mitzuschwingen, diese Resonanz, und daraus kommt dann eine Handlung. Das ist noch eine weitere Verar-

beitung. Nur in Resonanz zu sein, ist noch kein mitfühlendes Sein in der Welt. Das kann einen sogar über-

schwemmen, es kann Störungen auslösen. Wenn das weiter verarbeitet wird in einem Geist, der nicht an

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einem Ich haftet, der nicht in „Ich will“ – „Ich will nicht“ gefangen ist, kommt es in diesem freien fließenden

Geist dann zu mitfühlendem Denken, Sprechen und Handeln.

Wir können das in unserem eigenen Erleben auch unterscheiden. Wir kriegen das manchmal ganz gut hin,

wir schwingen mit. Aber es ist noch nicht das, was wir Mitgefühl nennen würden. Da sind noch weitere

Schritte notwendig, bis das so weit vernetzt wird mit unserem persönlichen Erleben und der Erkenntnis, dass

es da etwas zu tun, zu reagieren gibt, eine Bereitschaft sich darauf auch im Handeln einzulassen. Das sind

also weitere Schritte.

Das ist so, wie auch die Weisheit nicht vom Himmel fällt. Die Weisheit braucht Voraussetzungen. So wie die

Empathie Voraussetzung für Mitgefühl ist, braucht die Weisheit Klarheit als Voraussetzung, ein klares und

ruhiges Betrachten; sonst entsteht keine Weisheit. Das klare, ruhige, wertneutrale Betrachten ist genau das

Äquivalent zur mitfühlenden Empathie. Das ist dieses neutrale, fast wissenschaftliche, forschende Dasein.

Daraus entsteht Erkenntnis. Da, wo ich verwirrt bin und nur so Husch-Husch eine Situation wahrnehme,

entsteht keine Weisheit. Da, wo ich tief präsent bin, diese wache, klare Präsenz ist es, die Weisheit,

Verstehen entstehen lässt.

Teilnehmer: Bedeutet dieses Entwickeln von Klarheit auch, dass man sich dabei auch einer begrifflichen und sehr intensiven Analyse bedient?

Das kann man zu Anfang machen. Um die groben Strukturen aufzulösen, ist eine begriffliche Analyse ganz

gut. Damit kann man sich schon so weit aushebeln, dass man dann bei einem intuitiven Hinschauen etwas weniger vorbelastet ist.

Und was sind Anzeichen, mit dieser Analyse eventuell einmal aufzuhören?

Wenn sie sich im Kreis dreht, wenn sie nichts Neues mehr bringt. Man bleibt im Analytischen gefangen und muss dann mehr ins spürende Erfassen des Seins gehen.

Teilnehmer: Ich habe festgestellt, dass es viele belastende Situationen gibt, z.B. im Beruf. Ich habe fest-

gestellt, dass ich in den letzten Jahren immer mehr versucht habe mich abzugrenzen, was ich sehr schade

finde. Aber ich kann manchmal einfach nicht mehr mitfühlen, da ist zu viel; zu viel Elend, zu viel Leid auf zu

vielen Ebenen. Im Beruf, die Flüchtlinge, ... und ich merke, wie ich zumache. Das finde ich sehr schade.

Was du tust, ist eigentlich sehr weise und ein Ausdruck für Selbstfürsorge, weil du sagst: „Nein, einfach nur

Mitschwingen, ohne etwas tun zu können, ohne hilfreich sein zu können, tut mir nicht gut. Ich schau nicht so

viele Nachrichten, will gar nicht so viel davon erfahren, weil mich das immer wieder in einer Art anregt und

ich dann in der Klemme sitze.“ Dieses Gefühl kennen sehr viele und es ist erst einmal sehr weise, sich da

mitfühlend um sich selbst zu kümmern und zu sagen: „Ich will nicht in so vielen Situationen mitschwingen,

auf die ich gar keinen Einfluss habe.“ Wenn wir mit Situationen ins Mitschwingen kommen, auf die wir

nicht einwirken können, dann ist in uns der mitfühlende Impuls, das Helfen, blockiert. Dieser Impuls kann

sich nicht ausdrücken.

Wir hören z.B. von den vielen Erdbeben in Nepal, schwingen mit und wollen was tun. Natürlich können wir

was tun, wir können spenden. Stellt euch vor, wir müssten das alles hören und könnten gar nichts tun. Das ist

sehr, sehr belastend und viele Dinge, die wir hören, bringen uns in diese Klemme. Wir werden informiert,

beginnen mitzuschwingen, können aber nicht einwirken. Da blockiert etwas in uns, und das tut uns nicht

besonders gut. Das können wir auflösen, dazu braucht es eine zusätzlich stark entwickelte Weisheit, um das,

was da schwingt, und die Gedanken und Gefühle, die dann kommen, sich in ihrer wahren Natur auflösen zu

lassen. Da muss die Weisheit, eine tiefe Form des Verstehens, stärker werden, um solch eine immer stärker

werdende Resonanz und auch mitfühlende Bestrebungen sich tatsächlich auflösen lassen zu können.

Normalerweise sage ich, dass – wenn die Empathie stärker wird – die Weisheit auch im gleichen Maße

wachsen muss. Sonst sind wir durch das Mitschwingen, Mitfühlen, auch durch das emotionale Reagieren

darauf, innerlich überfordert. Wir brauchen Möglichkeiten, uns innerlich davon befreien zu können.

Teilnehmer: Wie kann ich abchecken, dass ich wirklich Weisheit habe und nicht irgendein Konzept?

Ein Konzept wird nicht sehr wirksam sein, es hilft dir nicht. Du kannst auch schauen, ob in dem Konzept

nicht auch etwas Verdrängendes ist. Eines dieser klassischen Konzepte ist: „Das ist doch alles leer! Das hat

doch keine Substanz!“ Das ist so ein Weisheitskonzept, das wir manchmal wie einen Hammer einsetzen

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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wollen, um mit Resonanz, mit Emotionen umzugehen. Daran können wir merken – was unsere Aufgabe ist –

, dass wir dieses Konzept aus einer Spur Aggression heraus einsetzen. Dieses Konzept dient nicht dazu, uns

forschend daran zu erinnern, wie es eigentlich ist, es dient dazu, etwas wegzumachen. Da ist so eine abweh-

rende Bewegung drin. Wir müssen ehrlich mit uns selber sein. Wir benutzen Dharma-Konzepte manchmal

mit einer emotionalen inneren Haltung, in diesem Fall mit einer verdrängenden, nicht-haben-wollenden

Haltung. Da müssen wir hinspüren. Das können wir nur selber wissen.

Wir können fast sicher sein, dass jede Unterweisung, an die wir uns erinnern, einen etwas unterdrückenden

Charakter hat, wenn wir nicht mehr in einer forschenden Haltung sind. Wenn man sich nicht an die nicht-

fassbare, klare, leere Natur, die Selbstbefreiung der Gedanken und der geistigen Erscheinungen erinnert und

einfach nur sagt, „Das ist doch so, nun lass doch endlich mal los!“, so ist das ist nicht besonders hilfreich.

Die hilfreiche Haltung wäre: „Du hast doch schon erfahren, davon gehört, dass die sich eigentlich selbst

befreien. Schau doch nochmal hin! Wie ist denn das jetzige Erleben?“ Und damit kommen wir in ein

forschendes Untersuchen von dem, was wir jetzt erleben, und machen dann unter Umständen im Erleben die

Erfahrung, dass es sich tatsächlich befreit, und das ist hilfreich.

Es geht also darum, Dharma-Unterweisungen so anzuwenden, dass sie uns immer wieder in das neue Erleben

führen. Das alte Erleben und die Erinnerung zu nutzen, um dem neuen Erleben eins drüber zu geben und zu

sagen, „Soll nicht so sein, hab' ich doch schon verstanden, dass es leer ist und dass es keine Substanz hat und

so weiter.“, ist eigentlich die Über-Ich-Funktion, wie man analytisch sagen würde, die sich des Dharma

bedient, um einem selber eins auszuwischen. – „Du bist falsch, du solltest besser so sein, wie der Dharma es sagt!“ Das ist die Grundbotschaft, die wir uns selber damit geben, und die ist nicht hilfreich.

Teilnehmer: Empathie bezieht sich ja nicht nur auf Mitgefühl, Empathie bedeutet ja, dass ich mit allem

mitschwinge, d.h. ich kann durch Empathie grundsätzlich überfordert werden.

Ja genau, und es braucht einen Zugang zu der grundlegenden Qualität des Geistes, zu dem fließenden Erle-

ben, wo sich die Dinge auch selber auflösen. Im Grunde genommen sind Empathie und wache, klare Präsenz

eins und ermöglichen uns, hineinzufinden in ein fließendes Sein, in dem sich das auch wieder auflösen kann.

In einem greifenden Seins-Modus, in dem ich diese mitschwingenden Momente sehr stark erfasse, überwäl-

tigen sie mich. Da wird es dann bald zu viel, weil alles ergriffen und vergegenständlicht wird, und dann baut

sich das auf. Der Geist hält fest und hat noch nicht hineingefunden in die Möglichkeit, fließen zu lassen.

Teilnehmer: Das heißt, Empathie ist im Prinzip Information, und wenn ich damit umgehen kann, ist es die Klarheit.

Ja, Du könntest es so sagen. Über Empathie bekommen wir ganz feine Informationen. Wir bekommen ein

ganz feines Gespür dafür, wie es läuft, wie sich andere fühlen, wie es im Wald ist, wie es auf einer Wiese ist,

wie sich Tiere fühlen. Da ist dieses Mitschwingen; auch mit dem, wie es in mir selber ist. Man könnte das

Information nennen, und dann ist die Frage, wie wir damit umgehen, ob sie auftaucht, wahrgenommen wird

und weiterfließen kann, oder ob sie zu einem Problem oder einem Ding gemacht wird.

Meditation

Immer, wenn wir nach einem solchen kognitiven Input meditieren, geht es darum, genau das Gegenteil zu

tun und sich mit gar nichts mehr zu befassen; dem Geist völlige Entspannung zu gönnen. –

Schaut, ob es euch möglich ist, das Denken einfach sein zu lassen. Eine einfache Methode ist, mit dem

Ausatem alles zu lassen, wie es ist, und uns beim Einatem zu öffnen für das, wie es ist. –

Und vielleicht richtet ihr eure Aufmerksamkeit ein wenig auf dieses Phänomen der Resonanz, was gut

möglich ist, wenn wir so entspannen und beginnen feiner wahrzunehmen. –

So löst z.B. jedes Wort, das ich sage, eine Resonanz aus bei denen, die diese Worte hören. ... Aber ich bin

auch in Resonanz mit dem, was ich sehe, … was ich höre, … was zu spüren ist im Körper, ... was zu riechen ist. .... Nichts bleibt ohne Wirkung. –

* * *

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Wiederholung

Und nun wenden wir uns diesem wunderbaren Text des 9. Karmapa zu. Um diesen Text zu verstehen, ist es

gut zu wissen, dass er in einer Folge von Arbeiten steht, die in der Karma-Kagyü-Linie des tibetischen

Buddhismus allmählich zu einer Präzisierung geführt haben, was eigentlich die Praxis ist.

Zunächst war das die Übertragung des Dharma aus Indien im 11. bis 12. Jahrhundert, an erster Stelle durch

Marpa. – Davor war schon die erste Übertragungswelle im 8. Jahrhundert gewesen. – Milarepa war Schüler

von Marpa und hat die Lehren an Gampopa übertragen, der enorm geschult war. Gampopa war ein großer

Gelehrter. Er war der Erste, der die Mahamudra-Lehren strukturierend und erklärend dargelegt hat, aber

mehr in Fragen und Antworten, die auch in einigen kleinen, sehr wunderbaren Texten aufgezeichnet worden

sind. Man praktizierte einfach; es ging um das Praktizieren, die Yogis waren in ihren Höhlen und kamen zu

ihren Lehrern. So entstand die mündliche Übertragungslinie. Gleichzeitig entstanden auch andere Übertra-

gungslinien im Land. Die Nyingmapas gab es bereits. Die Sakyapas entstanden fast zeitgleich mit den

Kagyüpas und zwei Jahrhunderte später kamen noch die Gelugpas dazu, die sich mit Atisha aus der Tradition

der Kadampas entwickelt haben. So entstand eine Diskussion im Land darüber, wer denn wie praktiziert und

was die wesentlichen Punkte dieser Übertragungslinien sind. Der erste große Lehrer, von dem wir wissen, dass er sich dieser Diskussion gestellt hat, war der 3. Karmapa.

Der 3. Karmapa hatte eine ganz besondere Funktion. Er hat einige wunderbare Texte geschrieben, die die

Praxis des Mahamudra erklären und er war gleichzeitig auch zentraler Linienhalter des Dzogchen, der

Nyingma-Übertragungslinie, und vereinte in einer Person die absolute Meisterschaft von Dzogchen und

Mahamudra. Das zeichnete den 3. Karmapa aus, und er schrieb einige wesentliche Kommentare, die große

Beachtung fanden und auch zu dieser Diskussion in Tibet, wie denn ein Weg des Erwachens tatsächlich

aussieht, beitrugen. – Das kurze Mahamudra-Gebet, das wir gestern praktiziert haben, ist sein absolut

kleinstes Werk.

Der 8. Karmapa, der einige Jahrhunderte später im 15. bis 16 Jahrhundert lebte, baute darauf auf und ver-

tiefte und klärte den Ansatz der Kagyüs noch einmal. Die Aufgabe des 9. Karmapa, mit dem wir uns jetzt

beschäftigen, war, schriftlich festzuhalten, wie es denn praktisch geht. Er hat also die mündlichen Unterwei-

sungen, die bis dahin noch nie aufgeschrieben worden waren, schriftlich niedergelegt. Das hat er in drei

Werken getan, von denen das größte der „Ozean des Wahren Sinnes“ ist, das mittlere ist der Text, den wir

hier besprechen, und dann gibt es noch einen Text: „Das Aufzeigen des Dharmakaya“. Das ist der kürzeste Text in dieser Trilogie des 9. Karmapa.

Der „Ozean“ enthält ganz viele Zitate von anderen Meistern. Damit zeigt Karmapa deutlich, dass er nicht

dabei ist, etwas zu erfinden, sondern dass das gute alte Tradition ist – aus Indien kommend, in Tibet

praktiziert – und dass all die Erklärungen, die er gibt, eigentlich nur diese schon von allen akzeptierten Zitate klarer verständlich machen. Er gibt viele praktische Unterweisungen.

In dem vorliegenden Text „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ – „Marig Münsel“ – konzen-

triert sich Karmapa nur auf Erfahrungswissen; da ist keine Theorie mehr dabei. Es geht nur darum: Wie

praktizieren wir? Es ist unglaublich dicht, so dicht gepackt, dass wir für diesen kleinen Text vielleicht 27

DIN A4-Seiten brauchen werden. – Es wird im nächsten Jahr noch sechs Kapitel geben. Da ist alles drin, was

man als Mahamudra-Praktizierender so sein Leben lang praktiziert; unglaublich kondensiert. Deshalb nehmen wir uns auch fünf Jahre Zeit, um den Text zu studieren.

Für die Struktur haben wir das Inhaltsverzeichnis:

Erster Teil: Die Vorbereitungen

Den ersten Teil nennen wir Mahamudra-Vorbereitungen. Das bedeutet, dass wir uns selber darauf vorberei-

ten, in dieses natürliche, frische Sein einzutreten. Die Vorbereitungen dienen dazu, die Hindernisse zu

beseitigen, die diesem frischen, natürlichen Sein im Wege stehen. Und so hat jeder dieser ersten acht Punkte

das Ziel, eine spezifische Qualität freizusetzen, ein Hindernis aufzulösen.

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1. Eine sichere Richtung einschlagen und den Geist des Erwachens hervorbringen

Das nennen wir Zuflucht und Bodhicitta. Dabei geht es darum, eine sichere, klare Richtung einzuschlagen;

zu wissen, wo es für mich lang geht; dass meine Energien nicht mehr so zerstreut sind, sondern dass ich sie

bündle und ausrichte. Das nennen wir Zuflucht – ein ungünstiger Begriff, wir finden im Moment noch

keinen besseren. Es geht darum, sich eine klare Richtung ins Erwachen zu geben und die Energien zu

bündeln.

Als weiteren Ausdruck dieser Bündelung unserer Energien entwickeln wir Bodhicitta. Das ist zunächst

einmal die Motivation, diesen Weg nicht nur für sich alleine zu gehen, sondern für alle. Und es ist das

Verständnis, dass ein Erwachen, wo nur ich befreit bin, nicht wirkliche Befreiung bedeutet, dass es darum

geht, alle in diese Erfahrung der Befreiung hinein zu führen. Ansonsten müssten wir aus der Resonanz

aussteigen, denn wenn jemand frei ist und erwacht, sich aber nicht um andere kümmert, dann ist klar, dass er

etwas zurückhalten muss. So jemand kann dann nicht voll mitspüren und sich auf andere einlassen; er spürt

nicht, wie es anderen geht und dass sie immer noch leiden. Deswegen ist es wichtig, zusammen mit der Aus-

richtung auf das Erwachen auch die Bereitschaft zu entwickeln, sich auf die volle Resonanz und das damit verbundene Mitgefühl einzulassen und dem entsprechend auch zu wirken.

2. Meditation auf Vajrasattva

Mit der Vajrasattva-Meditation lösen wir gezielt Schleier auf. Da geht es in erster Linie um das Hindernis

einer auf Schuldgefühlen beruhenden Negativ-Identifikation: „Ich bin nicht gut! Ich bin ein Sünder! Ich bin

missraten! Ich werde nie erwachen!“ Diese Grundhaltung gilt es aufzulösen. Das Minimum in der Vajra-

sattva-Praxis als vorbereitende Übung ist, damit so weit zu kommen, dass wir mit all unseren Schuldgefühlen

aufgeräumt haben, dass wir uns nicht mehr schämen müssen vor uns selbst und anderen, dass wir soweit in

ein gesundes Selbstbewusstsein gefunden haben, damit wir uns gut fühlen mit uns, so wie es ist. – Auch

wenn wir richtig Mist gebaut haben im Leben, aber all das ist offengelegt, bekannt, und es werden die not-

wendigen inneren Prozesse eingeleitet, um nicht mehr so zu handeln. Und wir haben Vertrauen gefasst in

unser grundlegendes Buddha-Sein. Darum geht es in der Vajrasattva-Praxis.

Vajrasattva-Praxis ist das, was uns tief hinein führt ins Bodhicitta, in diesen Geist des Erwachens, mit einer

Akzeptanz all unserer Limitierungen und all dem, was wir an Mist gebaut haben. Es ist ein völliges Akzep-

tieren und Eingestehen aller emotionalen Verwirrung. Aber da ist noch was anderes und dieses andere, freie

Sein, dieses Buddha-Sein in uns, das kontaktieren wir da. Und das ist eine wesentliche Voraussetzung für

Mahamudra. Dieses Vertrauen, grundlegend schon erwacht zu sein, braucht es, um sich so öffnen und ent-spannen zu können, wie es im Mahamudra praktiziert wird.

3. Darbringen von Mandalas

Mit den Mandala-Opferungen üben wir umfassende Freigebigkeit. Mandalas zu opfern ist eine ritualisierte

Form des Gebens; ständiges Geben. Freigebigkeit, eine gebende, teilende Haltung ist Grundlage aller ande-

ren erwachten Qualitäten und wir üben damit, dort, wo wir festhalten, loszulassen. Das ist eine absolut

essentielle Vorübung, um ins Mahamudra eintreten zu können. Symbolisch nehmen wir Reis in die Hand und

lassen ihn fallen. Klarer kann man es nicht machen, worum es im Dharma geht. Der Reis wird aber nicht

weggeworfen, sondern das, was wir da loslassen, fällt auf die Mandala-Scheibe, die ein Symbol für Bodhi-

citta und ein Symbol für die Natur unseres Geistes ist und wird den Erwachten und allen Lebewesen

geopfert.

Wir üben uns im Lassen, im Loslassen und Fließenlassen als Ausdruck der Freigebigkeit, des Geschenkes,

dass alles, was in unserem Geist aufsteigt, dem Wohle aller dient und dem Erwachen. Das ist eine tiefe

Übung, die uns mit Freigebigkeit verbindet, und sie sollte tatsächlich mit sich bringen, dass wir leichter

loslassen können, dass wir Freude am freigebigen Sein erleben, dass es zu einem direkten Erleben wird, so

umfassend mit allem freigebig zu sein. Also ein Befreien auch aus vielen Ängsten, denn was der Freigebig-

keit entgegensteht, sind Ängste, Existenz-Ängste. Da ist ja ein Grund dahinter, warum ich festhalte. Und mit

dem arbeiten wir; wir arbeiten mit den Identifikationen, den dahinter liegenden Ängsten und kommen ins

Fließen damit. Es ist eine sehr freudvolle und fließende Praxis.

4. Guru-Yoga

Dabei geht es darum, in den Segen einzutreten. Guru-Yoga ist eine Verstärkung der Vajrasattva-Praxis. Wir

nehmen so innig Kontakt auf mit dem, was wir Guru, das erwachte Sein, nennen, dass wir in der Lage sind,

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den Guru – den vor oder über uns vorgestellten Buddha – mit uns zu verschmelzen und in uns zu spüren.

Dabei weitet sich unser Geist. Wir machen die Erfahrung darin – und das ist das Zentrale –, dass es möglich

ist, offen zu sein und dieses „Andere“ – den Guru und Buddha in uns – praktizieren zu lassen und nicht aus

dem Ich heraus zu praktizieren, dass wir die Kontrolle abgeben. Wie auch die anderen Praktiken arbeitet der

Guru-Yoga mit unserer Kontrollfunktion, mit dem ständigen Kontrollieren-Müssen und -Wollen aus dem Ich

heraus. Wir schwächen diesen Zugriff der Ich-Bezogenheit, der sich ja in unserem ganzen Leben zeigt, und

geben diesen Platz, an dem sonst die Ich-Kontrolle stattfindet, der Hingabe, dem Bodhicitta, dem Vertrauen

in die tieferen Qualitäten, die in uns aktiv sind. Das ist die Aufgabe des Guru-Yoga als vorbereitende Übung

für Mahamudra, und dadurch wird Mahamudra leicht. Es wird wie selbstverständlich, denn jemand, der

loslässt, sich öffnet, den Buddha in sich meditieren lässt, wird ganz von selbst in einem freien, offenen Sein ankommen.

Wangtschug Dorje, der 9. Karmapa, gibt dazu noch vier verstärkende Kontemplationen, so wie es in der

Tradition üblich ist. Das sind die Punkte 5 bis 8.

5. Tod und Unbeständigkeit

Wir kontemplieren Tod und Unbeständigkeit – unsere eigene Sterblichkeit, dass alle sterben werden, dass

nichts beständig ist, dass alles Prozess ist, dass es nichts festzuhalten gibt. Ein tiefes Verstehen der eigenen

Sterblichkeit und der Unbeständigkeit des Seins, der fließenden, prozesshaften Natur des Seins bringt mit

sich, dass wir nicht mehr so greifen. Unbeständigkeit tief zu verstehen, bedeutet zu verstehen, dass die

Dinge, wir selbst und alles, was wir erleben, nicht fassbar sind. Wenn etwas nicht fassbar ist und wir das

verstehen, dann hört das Greifen auf. Wenn etwas nicht greifbar ist und wir das verstehen, dann hört das

Greifen auf. Das ist der springende Punkt.

Eigentlich kann man mit der Praxis auf Vergänglichkeit, Unbeständigkeit bereits die Natur des Geistes ver-

stehen, denn diese nicht beständige, prozesshafte Natur des Seins ist genau das, worum es geht. Und weil

nichts beständig ist, gibt es da auch nichts zu greifen, nichts zu finden. Es hängt alles miteinander zusammen

und von daher ist das Meditieren auf den Wandel, auf diese nicht beständige Natur des Seins und allen

Erlebens, die Kernpraxis des Mahamudra-Weges oder jedes Weges des Erwachens.

6. Auswirkungen von Handlungen

Man nennt das die Kontemplation von Karma, und Karma wird oft missverstanden. Es bedeutet zu ver-

stehen, dass alles Auswirkungen hat. Das ist alles. Das ist so einfach, alles hat Auswirkungen. Und es hat

viel mehr Auswirkungen, als wir uns so vorstellen. Das ist der zusätzliche Punkt.

Wir nehmen unsere Situation von heute Morgen als Beispiel: Wir sitzen hier seit ziemlich genau einer

Stunde zusammen. Meint ihr, wir könnten die Auswirkung von dem, was jetzt gesagt, gehört, erlebt und

verstanden wurde, irgendwie begrenzen? – Nein! Die Auswirkungen sind potentiell unendlich, denn ein

Verstehen führt zu einem nächsten Verstehen, ein Aha-Erlebnis führt zu einem nächsten Aha-Erlebnis. Es

führt dazu, dass wir mit anderen darüber sprechen. Es führt dazu, dass wir uns erinnern, dass wir unsere

Schritte in eine andere Richtung lenken und die Folge von der Folge von der Folge geht immer weiter. Und

es kann größer werden, es kann intensiver werden. Es kann dadurch, dass wir es verdrängen auch wieder

abgeschwächt werden. Es ist ein dynamischer Prozess der Wechselwirkung.

Und diese Wechselwirkung von meinem Denken, Sprechen und Handeln mit allen anderen und allem ande-

ren – auch mit der Natur – setzt sich unaufhörlich fort in einem Netz wechselseitiger Bedingtheit. Wer

Karma, diese Ursache-Wirkungs-Prozesse versteht, wer versteht, wie Wirkung zu weiteren Wirkungen führt

und weitere Wirkungen darauf Einfluss nehmen, dass also alles miteinander verbunden ist in einem

ständigen Wechselwirken von Kräften, der versteht gleichzeitig auch, was mit der Unterweisung über

abhängiges Entstehen und wechselseitige Bedingtheit – Interdependenz – gemeint ist. Das ist alles in Karma

enthalten.

Die Unterweisungen zu Karma bestehen nicht nur die Listen von dem, was man nicht tun sollte und Listen

von dem, was man besser tun sollte. Diese Listen sind entstanden als ein Verständnis davon, dass das ja wohl

das Minimum ist von dem, was wir berücksichtigen sollten, wenn wir mal bewusst werden, in welcher

Wechselwirkung wir mit anderen stehen. Aber es gibt viel mehr zu verstehen. Karma ist deswegen so beein-

druckend, wenn man sich darauf einlässt, weil es die Wechselwirkung zwischen allem und jedem beschreibt

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und dass das nicht Zufall ist, sondern dass da Gesetze wirken.

Dass Verstehen z.B. weiteres Verstehen bewirkt, dass heilsame Handlungen heilsame Geisteszustände und

weitere heilsame Handlungen bewirken und dass Schädliches, Verletzendes Verletzungen und weitere ver-

letzende Geisteszustände bewirkt, ist kein Zufall. Es liegt in der Natur der Dinge, dass aus Enge geborenes

Handeln Enge bewirkt, Verkrampfung, Zurückschrecken, Angst usw. und dass daraus wieder weitere enge

Geisteshaltungen entstehen. Diese Gesetze zu verstehen, das ist Kontemplieren von Karma. Und eigentlich

geht es dabei um ein Verständnis, wie Glück entsteht und wie Leid entsteht. Bei der Kontemplation von

Karma geht es um die vier edlen Wahrheiten: Was ist Leid und wodurch entsteht es? Was ist Befreiung? Wie

finden wir in die Befreiung? Wer Karma versteht – und deshalb ist das auch Grundlage für Mahamudra, –, der versteht, wodurch weite Geisteszustände und enge Geisteszustände entstehen, Glück und Leid.

7. Nachteile von Samsara

Der nächste Teil der Vorbereitungen besteht im Kontemplieren von Verstrickung. 'Verstrickung' ist eine

treffende Übersetzung von Samsara. Samsara ist in seiner Natur Kreislauf; das Kreisen in immer wieder-

kehrenden, sich wiederholenden Mustern, die uns unfrei machen. Ob das ein Kreisen in Wiedergeburten ist

oder ein Kreisen in diesem Leben, wo wir in unseren Mustern gefangen sind, spielt gar keine Rolle. Es ist

unser Hamsterrad. Es ist das, wo wir uns ständig mit unseren emotionalen und kognitiven Schleiern

engagieren und so den Kreislauf des Leidens aufrechterhalten. Das nennt man Verstrickung; zu unserem

eigenen Leid!

Wir sind nicht verstrickt, weil wir das so toll finden, sondern weil wir keinen Ausweg finden. Wir

verstricken uns mit jeder Emotion, die daher kommt; mit den Gedanken, die auftauchen. Verstrickung ist ein

gut geeignetes Wort, um auszudrücken, dass wir wie gefesselt sind, wie mit Stricken gebunden. Natürlich

können wir auch in ein gelöstes Sein hinein finden, aber wir brauchen eine gute Analyse von Verstrickung

und ihrer Auswirkungen, um motiviert zu sein daraus auszusteigen. Das brauchen wir, daraus kommt eine

starke Motivation, und das ist die Essenz der Mahamudra-Praxis.

Die Essenz ist, in jedem Moment zu bemerken, ob Verstrickung da ist, und bereit zu sein, sie zu lockern, sie

sich lösen zu lassen. In Mahamudra-Sprache heißt das dann: Ist Haften da oder kein Haften? Ist da Spannung

oder nicht?

Wenn man die gesamte Dharma-Praxis zusammenfasst, dann geht es darum zu spüren: Ist Spannung da, ist

Samsara da? Dann die Frage: Wie los lassen? Wie in die Entspannung kommen? Und wenn dann Ent-

spannung da ist, der Geist gelöst ist: nicht eingreifen, nichts tun.

Und was die beiden verbindet, – und darum geht es in unserer Meditationspraxis – ist, ein tiefes Vertrauen zu

entwickeln, eine Gewissheit, dass Spannung sich von selber löst; dass Verknotung, Verstrickung selbst-befreiend ist, dass sie sich von selber löst.

8. Das kostbare Menschendasein

Hier geht es darum, unser kostbares Menschdasein wertzuschätzen. Was die Hindernisse angeht, ist es hier

das Auflösen von einem Hadern mit unserem eigenen Schicksal. Klar, unser Leben ist nicht optimal, es

könnte immer noch besser sein; aber nach welchen Kriterien besser? Mit Hilfe dieser Kontemplation werden

diese Kriterien zurechtgerückt. Wenn wir unser Leben mal daraufhin anschauen, ob es möglich ist, in diesem

Leben das Erwachen zu erlangen, dann haben wir alle, die wir hier zusammen sitzen, ein optimales Leben.

Wir haben alles, was wir brauchen. Das ist unglaublich kostbar! In unserem Leben kommen die Freiheiten

zusammen, die es braucht. Wir sind frei von beengenden Lebensumständen, die uns die Dharma-Praxis nicht

möglich machen würden. All diese Faktoren sind abwesend, denn wir sitzen hier und wir können prakti-

zieren.

Und wir haben viele günstige Bedingungen: Der Dharma wurde gelehrt, er wurde übertragen, er wird

heutzutage noch praktiziert, wir haben Unterstützung dafür, wir haben auch das nötige Vertrauen in uns, wir

haben das nötige Interesse. Das ist schon unglaublich, da kommen so viele günstige Bedingungen zusammen

und dadurch entsteht Dankbarkeit. Die wesentliche Qualität als Vorbereitung für Mahamudra ist hier, in

tiefer Dankbarkeit und Zufriedenheit sein zu können. In dankbarem, zufriedenem Sein öffnet sich der Geist

ganz leicht. In einem unzufriedenen Sein, wo wir mit unserem Schicksal hadern und wie in einer Ablehnung

unserer eigenen Geburt gegenüber stehen, ist es schwer, dass sich der Geist wirklich öffnet und Mahamudra

erfahren werden kann.

Deswegen ist es eine wichtige Vorbereitung für Mahamudra, grundlegend dankbar zu sein, dass wir zwar

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dieses sehr beschränkte Sein bekommen haben, aber immer noch genug an wunderbaren Qualitäten, um

erwachen zu können. Klar, man könnte immer noch ein bisschen intelligenter, schöner, stärker, gesünder,

reicher, geliebter und was noch alles dazu gehört sein, aber genau diese begrenzten Erfahrungen unseres

jetzigen Seins sind durchdrungen mit Gewahrsein. Wir haben ausreichend Vertrauen. Wir haben den

Dharma. Wir haben ausreichend Zeit, ihn anzuwenden und die Situationen, die wir für schwierig halten, sind

der beste Nährboden für unsere Praxis. Und daran erinnern wir uns.

Diejenigen, die die Dharma-Unterweisungen schon sehr gut kennen, werden bemerkt haben, dass Karmapa

hier die Reihenfolge umgestellt hat. Sie ist anders als im Ngöndro-Text, der ja auch von ihm stammt, anders

als im „Ozean des wahren Sinnes“. Das hat aber auch seine Logik. Meine Vermutung ist, dass er das einfach

mal gemacht hat, um die Fixierung aufzulösen, die Dinge müssten in der Reihenfolge praktiziert werden, wie sie sonst in den Büchern stehen.

Diese Qualitäten, diese acht Praktiken, von denen wir jetzt gesprochen haben, sind ein verwobenes Ganzes,

die kann man gar nicht voneinander trennen. Denn Mahamudra braucht

eine klare Ausrichtung und eine Offenheit für das Wohl aller, eine Bereitschaft, sich dafür einzu-

setzen,

das Freisein von Schuldgefühlen und Vertrauen in die eigene Buddha-Natur, in die eigenen erwach-

ten Qualitäten,

grundlegende Freigebigkeit, die Fähigkeit alles lassen und herschenken zu können,

Vertrauen in die Lehre, in unser eigenes wahres Sein, in den Buddha, den Guru in uns,

ein Verständnis des vergänglichen, nicht-beständigen, prozesshaften Seins,

ein Verständnis, wie sich alles gegenseitig bedingt, wie Ursache-Wirkungs-Beziehung überall wirkt,

ein Verständnis, was Verstrickung bewirkt, wie Festhalten immer mit Leid verbunden ist,

Dankbarkeit, praktizieren zu können, die Bedingungen dafür zu haben.

Das ist ein Ganzes, das alles gehört zusammen.

Das war ein Überblick über die acht vorbereitenden Übungen – Kontemplationen, Praktiken, von denen jede

in sich bereits Mahamudra trägt –, um euch alle noch einmal ins Boot zu holen. Mahamudra ist bereits da

drin, das kommt nicht danach. Wenn all diese Punkte zusammen kommen, dann ist Mahamudra automatisch da, dann brauchen wir nicht noch irgendwo anders zu suchen.

Jetzt wenden wir uns dem Neuen zu. Den Rest der Wiederholungen machen wir später.

B. Intuitive Einsicht

5. Das Aufzeigen der Natur des ruhenden Geistes

Wir sind als Praktizierende unterwegs und stellen uns mal vor, wir hätten tiefe Geistesruhe und wären in der

Lage, den Geist nach Belieben anzuschauen. Das ist prinzipiell möglich und wir werden während unseres

kleinen Retreats sicherlich auch immer wieder solche Erfahrungen machen.

Meditation: Spüren – Sein

Spürt ihr euch jetzt gerade? Spürt ihr euer eigenes Sein jetzt gerade? Wie ist es – ich brauche jetzt keine

begriffliche Antwort – wie ist es zu sein? – Wie ist es zu sein? –

Wie ist dieses Sein, wenn ich nicht mehr Mann bin, nicht mehr Frau, wenn ich keine Rolle lebe, wenn ich

nicht mehr mit Gedanken und Emotionen identifiziert bin? Wie ist es? Wie ist es, einfach so zu sein? Spürt

mal hin. –

Ihr bemerkt vielleicht: in diesem einfachen So-sein tauchen Sinneswahrnehmungen auf; Hören, Sehen,

Spüren, Riechen, Schmecken. Und natürlich tauchen da auch Denken auf und Fühlen. – Lasst mal alles ganz

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zur Ruhe kommen. –

Das sind wechselnde Wahrnehmungen, mal hören wir etwas, dann spüren wir vielleicht den Atem, dann viel-

leicht die Knie oder den Rücken oder was auch immer. Dann ist unsere Aufmerksamkeit vielleicht wieder

mehr im Sehen. Und meistens tauchen auch Gedanken auf, wir fühlen etwas, denken etwas in Verbindung

mit dem, was wir sonst so wahrnehmen. –

Und manchmal ist da Denken, was gar keinen äußeren Anlass hat. –

Und jetzt schaut einmal hin. Was ist eigentlich in diesen Phasen, Momenten zwischen den wahrnehmbaren

Gedanken? Ist da was? Was ist da los? –

Wenn der letzte Gedanke gerade vorbei ist und der nächste noch nicht gekommen ist, was ist da? –

Wenn das letzte wahrgenommene Geräusch vorbei ist und bevor eine neue Sinneswahrnehmung da ist, was

ist da? –

Wie ist es, einfach zu sein? –

* * *

Ein paar Erklärungen dazu: Es geht in dieser Praxis von Vipassana – intuitive Einsicht oder helles, klares

Sehen – um eine bestimmte Form von Sehen. Ihr seht alle, dass ich etwas in der Hand halte [Klangschale

erhoben in der Hand]. In diesem Prozess des Sehens, da ist ein klares Sehen und Wissen schon bevor das

Benennen kommt, ja? Ihr seht – und jetzt begrenzen wir uns mal nur auf diesen oberen Teil –, da ist eine

sogenannte Farbe. Die Farbe wird wahrgenommen und braucht, um wahrgenommen zu werden, nicht noch

benannt zu werden. Wir brauchen nicht zu sagen, dass sie schwarz ist, damit sie als schwarz wahrgenommen

wird. Merkt ihr? Wir können all die Farben sehen – von Tschenresi hinter mir oder von der Wand oder was

auch immer vor euren Augen ist. Schaut mal rum hier im Saal.

Die Farbwahrnehmungen brauchen kein Benennen, um wahrgenommen zu werden. Wir sind nicht dabei,

hellblau, grau, silbrig, schwarz und so weiter zu sagen während wir uns umschauen. Wir nehmen die Farben

sehr gut wahr, wir können sogar ein inneres Foto schießen von einem Ausschnitt, an den wir uns erinnern

wollen, ohne irgendetwas zu benennen. Ich sehe gerade Lodrö, mache ein inneres Foto und kann mir Lodrö

sogar an einer anderen Stelle vorstellen als da, wo er jetzt sitzt. Das alles hat stattgefunden, ohne dass ich

irgendwas benennen musste, ich brauche ihn auch gar nicht Lodrö zu nennen. Wir haben die Fähigkeit wahrzunehmen und sogar zu reproduzieren, ohne dass irgendein Benennen stattfindet.

Das Wahrnehmen wird durch das Benennen nicht besser, es wird nur stärker ins Bewusstsein gerufen und es

kann kommuniziert werden. Das ist wichtig, denn bei intuitiver Einsicht geht es auf jeden Fall schon darum

wahrzunehmen, zu verstehen, zu fühlen und zu erkennen ohne zu benennen. Wenn ich euch frage, „Wie ist

es zu sein?“, dann kommen zumindest bei einigen von euch begriffliche Antworten: „Es ist schön zu sein.“,

„Es ist anstrengend.“, „Oh, schon wieder diese Fragen. Der nervt!“ oder was auch immer. Wir sind im

Begrifflichen. Darum geht es nicht. Es geht um ein Wahrnehmen, ein Fühlen, ein Spüren, wie es ist zu sein,

ohne ins Benennen zu rutschen; ohne z.B. beim visuellen Sinn Farben zu nennen. Genauso ist es beim

Fühlen, wie es ist zu sein: Da geht es nicht darum, „angenehm, unangenehm, eng, schmerzhaft usw.“ zu

sagen. Das alles sind schon Beschreibungen, darum geht's nicht. Wir verlassen diese Etage. Wir gehen in

eine tiefere, einfachere und direktere Form des Wahrnehmens.

Was ist denn vor den Benennungen? Vor den Benennungen findet ein Prozess statt, der zwar vorbegrifflich

ist, aber da wird bereits fokalisiert und identifiziert. Merkt ihr das? Wenn wir uns so umschauen, dann findet

fokalisierende Wahrnehmung statt, z.B. Nicole als Einheit wahrzunehmen. Einheiten wahrzunehmen,

Vordergrund und Hintergrund zu unterscheiden, das alles findet nicht-begrifflich statt. Das ist vorbegriffliche

geistige Aktivität, das sind Geistesbewegungen. Das ist etwas, was wir machen. Das ist sinnvolles Tun, auch

das Benennen ist sinnvolles Tun, darum geht es jetzt nicht. Es ist eine Art des Seins.

Übung: Schauen

Stellt euch vor, wir verlassen auch noch diese Etage des vorbegrifflichen Identifizierens und wir schauen

einfach mal nur. Zoom rein – Zoom raus, Objekt hier – Objekt dort, ohne diese Mechanismen zu füttern;

einfach mal nur schauen. … Der leichteste Zugang, den ich bis jetzt gefunden habe, ist zu sagen: Seht jetzt

das ganze Gesichtsfeld auf einmal! Macht die Augen weit auf und betrachtet das ganze Gesichtsfeld auf

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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einmal; alles, was sichtbar ist gleichzeitig sehen. –

Merkt ihr, was da passiert? Löst es nochmal und versucht es dann wieder. … … Und nochmal lösen, dass ihr

euch nicht überanstrengt. Und nochmal das ganze Gesichtsfeld wahrnehmen … … Und noch mal lösen. Und

wenn ihr das nächste Mal das ganze Gesichtsfeld wahrnehmt, fragt euch: Wie ist es zu sehen? –

Merkt ihr was? Ich beschreibe es mal mit meinen Worten. Wir können das jetzt kaum dialogisch machen.

Dadurch, dass wir das ganze Gesichtsfeld nehmen, sind wir nicht mehr im Sehen von etwas. Wir sind nicht

mehr im Sehen von einzelnen Objekten. Habt ihr das gemerkt? Der Fokus löst sich, aber doch ist gleichzeitig

irgendwie das Gefühl, dass wir geradeaus schauen, aber ohne das, was direkt vor uns liegt, mit mehr Auf-

merksamkeit zu versehen als das, was peripherer liegt. Wir nehmen wahr bis zu den Grenzen unseres

Gesichtsfeldes, alles. Und weil wir nicht auf etwas Spezifisches konzentriert sind, erschließt sich uns die

Erfahrung des Sehens; einfach nur sehen. Die erschließt sich uns auf neue Art. Macht es nochmal. … Wie ist

es einfach nur zusehen, wenn alles Sehen geöffnet wird, sehen des gesamten Gesichtsfeldes? – Ich danke euch. –

Es ist gut, diese Übung nicht zu lange zu machen, weil ihr nicht vertraut seid damit. Wenn ihr damit vertraut

seid, werdet ihr merken, dass Mahamudra-Praxis genau das ist. Der Blick fällt irgendwo hin, alles offen, das

Sehen ist völlig offen, nichts wird mehr ergriffen. So ist es auch mit dem Hören, mit dem Körpergefühl, dem

Riechen, Schmecken und genau so auch mit dem Geist.

Bleiben wir mal beim Sehen. Wie Sehen eigentlich wirklich ist, habt ihr vielleicht gemerkt. Wenn man das

Sehen nachher mit Begriffen beschreibt, dann ist es wie Licht wahrnehmen. Es werden unterschiedliche

Farb- und Lichtintensitäten wahrgenommen, nicht? Das ist, was Sehen auf der einfachsten Ebene ist; egal

wo. Ihr schaut jetzt wahrscheinlich alle zu mir.

Schauen mit und ohne Fokus

Schaut einfach mal ganz weit zu mir und nehmt nicht mehr das Männeken in der Mitte wahr, sondern das

ganze Gesichtsfeld. –

Während ich mich jetzt bewege, nehmt ihr zwar meine Bewegungen wahr, aber gleichzeitig finden diese

Bewegungen in einem Raum statt, einem weiten Raum. … … Merkt ihr? Es ist anders. Jetzt fokussiert mal

auf mich, nehmt mich unter die Lupe. –

Das ist ein anderes Schauen, nicht? Dann seid ihr konzentriert, fokussiert und das ist ideal, um ganz präzise

wahrzunehmen. Ihr merkt aber sicherlich, wie gleichzeitig die Qualität des raumhaften Wahrnehmens verlo-

ren geht, wenn ihr so präzise wahrnehmt. … … Holt euch die Qualität des raumhaften Wahrnehmens wieder;

dieses weite Wahrnehmen, in dem trotzdem die Bewegungen eurer Vorderleute wahrnehmbar sind. … …

Was sich bewegt, wird wahrgenommen, die Farben werden weiterhin wahrgenommen. Aber es ist eine

raumhafte Qualität dabei. –

Da ihr das nicht gewohnt seid und jetzt so stark übt, ist es vielleicht etwas anstrengend. Lasst diese Anstren-

gung weg. Einfach nach Möglichkeit völlig entspannt, wie ein Kind, das raus geht: „Ooooh, ich kann weit,

weit sehen!“ Mal so spielerisch, ganz weite Wahrnehmung, und da drin bewegt sich was. … … Ja genau,

ganz entspannt. Jetzt kommen wir dem schon näher. – Wieder Pause. –

Wenn in diesem offenen, sehenden Wahrnehmen die Frage gestellt wird, „Wie ist es zu sehen?“, merken wir,

dass wir intuitiv anders mit dem Leben verbunden sind, als wenn wir noch im fixierenden Sehen sind. Wenn

wir fixieren, wenn wir jemanden oder etwas anschauen, dann sind wir so stark mit dem Inhalt unseres Sehens

verbunden, dass es schwer fällt, sich selber mitzubekommen und das Erleben selber; wie es ist, sehend zu

erleben. Es ist dann schwierig, zu spüren, weil wir in einer Objekt-Fixierung sind.

Schauen mit Objekt

Wir könnten diese Übung, die wir mit dem ganzen Gesichtsfeld gemacht haben, auch mit einem Objekt

machen. Ihr nehmt sicher an, die Frage würde lauten: Wie ist es die Klangschale zu sehen? Nein, sie lautet:

Wie ist Sehen, während der Blick auf der Klangschale ruht? … … Das ist anders. Versteht ihr? –

Und dann: Wie ist es zu sehen? –

Das hat dann denselben Geschmack wie vorher mit dem weiten Blick, aber tatsächlich haben wir ein Objekt

im Fokus, nur ist dieses Objekt nicht mehr Fokus unter Ausschluss von allem anderen Erleben, sondern wir

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sehen, ja. Wir sind nicht im Untersuchen der Klangschale. Da ist Sehen von Klangschale und: „Wie ist es zu

sehen?“ … Aaah! Das ist derselbe weite, fließende Prozess des Sehens von Lichteindrücken, Farben wie vorher. –

Jetzt machen wir erst mal Pause und wenn ihr wieder entspannt seid, nehmt euch die Klangschale oder

irgendein Objekt, auf das ihr schaut.

Präzision und Weite

Ich mach es am Beispiel der Klangschale. Wir schauen die Klangschale an und gehen in das Erleben, wie es

ist zu sehen, während der Blick auf der Klangschale ruht. Dann gehen wir hinein in die Erfahrung, wie es ist,

die Klangschale und den gesamten umgebenden Raum des Sehens gleichzeitig zu erfahren. –

Diese Gruppe von Lichtpunkten, umgeben von allem anderen, was das Sehfeld hergibt, alles wird gleich-

zeitig gesehen, und in der Mitte ist ein Objekt. Das Gesichtsfeld in seiner ganzen Weite und das Objekt in

der Mitte, ohne Fixierung. – Okay, das wir ein bisschen anstrengend. –

Versteht ihr, worauf ich hinaus möchte? Es geht um diese grundlegenden beiden Fähigkeiten von Präzision

und Weite. Objekt-Bezug – wahrnehmen von etwas – und Qualität des Wahrnehmens. Für die meisten ist das

ein Dilemma: Wie kann ich Präzision und Weite zusammen bekommen? Aber vielleicht habt ihr eine

Ahnung davon bekommen, dass es möglich ist, gleichzeitig auf die Klangschale zu schauen und auch mit dem Rest des Gesichtsfeldes und der Erfahrung des Sehens selber verbunden zu sein.

Schauen auf ein vorgestelltes Objekt

Ich halte jetzt wieder die Klangschale, seht ihr sie? [Mit leerer, erhobener Hand] Ist nicht ganz so substantiell

wie vorher, aber könnte man sich doch da oben vorstellen, oder? Stellt sie euch doch bitte mal in meiner

leeren Hand vor, so wie sie vorher war. –

Okay, danke. –

Das war eine Vorstellung. Habt ihr sie gesehen? Ja, ein inneres Bild? Da war also ein inneres Bild, das sich

sogar mit dem äußeren vermischt hat und es wurde zu einer Gesamtwahrnehmung. Das nennt man einen

stabilisierten Gedanken. Wir haben ein Bild, die Vorstellung einer Klangschale, ein visuelles Nachbild von

dem, was wir vorher gerade gesehen haben, innerhalb eines äußerlich wahrnehmbaren visuellen Raumes stabilisiert. Interessant! –

* * *

Welche von den beiden Klangschalen war wirklicher, die visualisierte oder die mit den Augen tatsächlich

gesehene? Wollen wir nochmal eben schauen? Hier ist die eine wirkliche; die ist schön wirklich, gell? Und jetzt die andere wirkliche, seht ihr sie?

Wie ist das? Jetzt seid ihr an der Reihe. Ich bin mal gespannt, was ihr erfahren habt, was ihr auf diese

provokative Frage antwortet. Welche ist wirklicher? Was sagt euch eure innere Weisheit?

Teilnehmer: Beide sind gleich wirklich.

Ja! Erzähl doch mal, warum die beiden gleich wirklich sein könnten.

Weil die Vorstellung von etwas, das nicht da ist, genauso stark sein kann oder ist, wie etwas, das wirklich da ist.

Damit hast du die Antwort schon gegeben. Alles, was wir wahrnehmen, ist Vorstellung. Wir nehmen da

diese Lichtpunkte über die Retina wahr. – Die Retina ist lichtempfindlich und nimmt Farben und Licht wahr,

und da entsteht innerlich durch das Zusammenspiel von zwei Augen, Kleinhirnstruktur, Cortex usw. das

Abbild einer Klangschale. – Das findet in demselben Cortex statt, wo auch das Abbild der Klangschale

infolge von Erinnerungen hervorgerufen werden kann. Das ist vom Erleben her gar nicht so anders, bloß

haben wir da weniger Mühe, weil es andere Prozesse sind, die zu diesem Bild führen, wenn wir ein Objekt

visuell äußerlich sehen können, als die Prozesse, die jetzt zu der Klangschale führen, die wir nicht mehr

äußerlich sehen können. Aber das Bild ist wie ein Traumbild. Merkt ihr? Im Traum, da sehen wir Sachen,

und alles in größter Präzision! Da sehen, hören, schmecken, fühlen wir, und wir denken. Das ist total präzise.

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Und das findet mit demselben Grad an Wirklichkeitsempfinden statt wie unser normales, alltägliches Leben.

Das hängt mit diesen Prozessen zusammen.

Ich möchte jetzt nur noch kurz nachbauen, dass es auch mit Klängen so ist. Danach könnt ihr das auf alle anderen Sinneswahrnehmungen selber übertragen.

Übung: Hören

Ihr hört dieses Geräusch. [Schnippt wiederholt mit den Fingern] –

Jetzt machen wir dieselben Sequenzen wie vorhin beim Sehen: Wir gehen ins Hören und hören alles zu

Hörende gleichzeitig. … … Wir merken, wie unser Bewusstsein immer so einzoomt und etwas Spezifisches

hören möchte. Das entspannen wir … … bis wir quasi die Stille hören können, in der alle Geräusche

stattfinden. – Danke.

Das entspricht dem Raum, den man auch nicht sehen kann, genauso wenig wie man die Stille hören kann. Es entspricht dem Sehen des Raumes, in dem alle visuellen Erscheinungen auftauchen.

Noch einmal: Hören. – Ihr könnt die Augen schließen, das ist vielleicht einfacher. – Wie ist es, zu hören? …

… Wie ist es, hörend gewahr zu sein? .... .... Ganz entspanntes, weites Hören. .... .... [Schnipp] … … Bleibt

ganz entspannt. … [Schnipp] … Und jetzt hört das Fingerschnippen, wenn niemand schnippt. … … Hört es

nochmal ... [Schnipp] … Wiederholt es innerlich. … [Schnipp] … … Und jetzt stellt euch einfach mal vor,

dass jemand innerlich ganz laut etwas sagt … oder lasst eine Melodie erklingen. … Danke, das war's auch schon.

* * *

Das geht mit allen Sinneswahrnehmungen, und wir brauchen es, um ruhenden Geist und bewegten Geist, die

Natur der Gedanken, die Natur des Geistes zu untersuchen. So läuft es in allen Sinnesfeldern.

Es gibt sechs Sinnesfelder, und wir sind jetzt gerade dabei, die kognitiven Schleier zu bearbeiten. Wir

denken z.B.: „Es gibt da eine Klangschale." Dabei haben wir es, egal wie wir es anstellen, mit inneren

Bildern und Vorstellungen zu tun. Da draußen ist etwas, unbestritten; aber das, was wir innerlich erleben, ist

individuell verschieden. Jeder erlebt eine etwas andere Klangschale, jeder hört ein etwas anderes

Fingerschnippen. Und jeder reproduziert das auch noch anders. Für den einen ist das Vogelzwitschern

aggressiv, für den anderen ist es sehr beruhigend einschläfernd oder erheiternd ermunternd. Die Reaktionen

darauf sind unglaublich verschieden. Manche möchten bei diesem entsetzlichen Vogelgezwitscher einfach

die Fenster schließen, andere möchten sie weit aufreißen.

Da merkt ihr, wie ein grundlegendes Wahrnehmen sich dann mit den eigenen Vorstellungen, den eigenen

Erfahrungen und dem eigenen inneren Sein verbindet und zu emotionalen Reaktionen führt. Und wir denken, da wäre was, was uns quasi zwingt, in einer bestimmten Weise zu reagieren.

Deswegen ist es so wichtig, den Prozess des Wahrnehmens zu untersuchen, denn das Verständnis dessen,

wie Wahrnehmung funktioniert und was die Natur des Geistes ist, ist grundlegend, damit wir innere Freiheit

finden können. Solange ich glaube, die Dinge sind wie sie sind und zwingen mich, so zu reagieren, wie ich

halt immer reagiere, bin ich in meinem Hamsterrad. Und wenn ich merke, dass in den verschiedenen Stufen

des Wahrnehmens und des Verarbeitens von Wahrnehmungen Freiraum ist, ich mitgestalten kann oder auch gar nicht zu gestalten brauche sondern einfach lassen kann, da gibt es dann neue Möglichkeiten.

Teilnehmer: Geist erforschen ist was anderes als Geist erleben, also muss ich zuerst die Aufgabe so weit

zurück drängen, dass die Aufgabe als solche nicht wichtig ist.

Ja, das ist richtig, ein zu starkes Erforschen ist schon wieder ein Hindernis, den Geist wirklich zu erleben.

Immer wenn ich das mache, kann ich die Klangschale sehen, ich kann räumlich sehen, hören, riechen; alles

beinahe gleichzeitig, weil der Wechsel so extrem schnell ist. Es geschieht alles zugleich. Das war gar keine

Frage, sondern eigentlich nur ein Verstehen.

Aber vielleicht willst du einfach nur Bestätigung. Genauso ist es. Eigentlich geht es darum, bei diesem Er-

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forschen total spielerisch vorzugehen, mit einer ganz leichten Hand. Das Schwierigste sind Bewertungen.

Bewertungen schließen unseren Geist so fest ein in eine bestimmte Art des Wahrnehmens, dass wir die als

Erstes entspannen müssen, damit wir überhaupt sehen, erleben, spüren können. Darum sind viele Medita-

tions-Übungen damit verbunden, auszusteigen aus dem Bewerten von angenehm oder unangenehm und in

ein gleichmütiges Wahrnehmen hineinzufinden. Wir haben viele von diesen Übungen in den letzten Jahren gemacht, als ich euch die ersten Kapitel unterrichtet habe.

Hier schreibt Karmapa:

Indem man so auf die Essenz – das wahre Wesen schaut – und sich an die Schlüsselunterweisung zum

Geist hält, ist eine Aufklärung – darüber wie es ist – meistens nicht notwendig, denn das Verständnis

entsteht von selbst im Inneren.

Ich hoffe, ich konnte bei diesen paar Übungen hier und da ein Aha-Erlebnis in euch auslösen. Ich wäre sehr

froh, wenn das passiert wäre. Diese Aha-Erlebnisse sind einfach dadurch entstanden, dass ihr die Übung

mitgemacht habt. Und schon ist ein Verstehen entstanden, so wie das dann auch jemand ausgedrückt hat. Da

braucht es dann eigentlich keine weiteren Erklärungen. Das ist, was Karmapa hier sagt. Wenn man sich an

die Schlüsselunterweisungen zum Erforschen des Geistes hält, dann kommt es zu einem Verstehen und eigentlich braucht es dann keine weiteren Erklärungen.

Bei einigen Praktizierenden entsteht es, ohne dass sie es bemerken.

Viel von unserem Verstehen entsteht, ohne dass wir es bemerken. Was wir dann bemerken, ist, dass wir

eines Tages feststellen: „Hey, das verstehe ich ja! Wie ist denn das entstanden? Vorher habe ich da nichts

verstanden, diese Texte, diese Zeilen waren für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und jetzt verstehe ich.

Wie ist es denn dazu gekommen?“ Wir haben nicht gemerkt, dass wir verstehen. Das ist auch nicht wichtig.

Wir brauchen es gar nicht zu merken, es reicht, dass wir verstehen. Und es ist wichtig auch im Dharma, dass

wir nicht meinen, jemand müsste von sich sagen, er habe verstanden, damit er verstanden hat. Es gibt

Praktizierende, die verstehen, ohne es zu bemerken, ohne es ausdrücken zu können, aber es ist ein intuitives

Verstehen von innen heraus. Es ist einfach entstanden durch das Betrachten, durch das Sein; durch das

offene, interessierte Sein.

Andere wiederum haben nur ein trockenes Verständnis – aus Worten, aus intellektuellem Verstehen –,

das vom Verstand oder Hörensagen stammt;

Sie haben etwas aufgenommen, gelesen, etwas intellektuell verstanden, aber es ist nicht das Eigentliche.

… sie haben also nicht die Erfahrung, sehnen sich aber danach, schnell zu guten Erfahrungen und

Erkenntnissen zu kommen, und können sich fehlerlos in der Dharmasprache ausdrücken. Dies muss

ein Lehrer unterscheiden können und die Schüler müssen in ihrer Praxis auf den Punkt kommen.

Auf den Punkt kommen bedeutet hier das, was wir zu Anfang gemacht haben. Wenn ihr sicher gehen wollt,

dass euer Erkennen ein intuitives Erkennen ist, dann müsst ihr aus diesen beiden Etagen aussteigen. Die erste

Etage war das Benennen. Das Benennen ist nicht das wirkliche Spüren und Erkennen. Und wir steigen auch aus diesem vorbegrifflichen Überlegen aus und kommen in ein direktes Erleben von dem, wie es ist.

Jetzt frage ich euch einmal nicht mit dem visuellen Sinn und auch nicht mit dem Hörsinn:

Übung: Sein

Wie ist es denn, jenseits dieser äußeren Sinne zu sein? Wie ist es zu sein, ganz unabhängig von den Sinnes-

wahrnehmungen? –

Okay, wieder eine kleine Pause. –

Wenn wir so fragen, dann fragen wir nach der Natur des Gewahrseins selbst. Da sind die sechs Sinne so wie

die Objekte: Mal geht unser Gewahrsein ins Sehen, mal geht es ins Körper-Spüren, mal geht es ins Hören,

mal geht es ins Riechen und Schmecken, mal geht es ins Denken und in die Vorstellung, in die emotionalen

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Gefühle. Aber wie ist es denn, einfach nur zu sein, ohne diese Objektbezüge? Versuchen wir's noch einmal.

Wie ist es zu sein? –

* * *

Mehr noch zu forschen hilft auch nichts. Mag jemand eine Antwort wagen? Es ist klar, dass es eine begriff-

liche Antwort sein wird, anders können wir nicht kommunizieren. Wie ist es denn, so zu sein, gewahr zu sein

auf der grundlegendsten Ebene. Wie ist es denn?

Erfahrungen der Teilnehmer

Teilnehmer: Es findet halt was statt. Ich könnte es nur ausschließen, indem ich zumache. Es findet etwas statt und indem ich nicht bewerte, findet es eben statt.

Okay, es ist ein ständiges Stattfinden von etwas, und solange du nicht zumachst, findet ständig was statt.

Das kann ich nicht verhindern.

Kann zu diesem „Es findet etwas statt“ noch jemand andere Worte liefern? Wir hören mal was die anderen,

die KollegInnen sagen.

Teilnehmer: Eine Art von Energie.

Du spürst Energie. Wo spürst du die?

Unsicher.

Sie ist also einfach. Du spürst Energie.

Teilnehmer: Ich finde, es ist so eine Fülle. Es ist ständig und unglaublich viel, was da ist.

Fülle, Energie ...

Was ganz anderes, ich nehme jetzt die Punkte zwischen den Wahrnehmungen.

Und was ist da zwischen den Wahrnehmungen?

Bei mir ist das ganz einfach ruhig und weich.

Ruhig, weich einfach zwischen den Wahrnehmungen. Wie ist es denn mit diesem Ruhigen, Weichen, wenn

die Wahrnehmung kommt?

Dann ist wieder eine Bewegung.

Dann ist eine Bewegung da. Und geht das Ruhige, Einfache, Energievolle oder die Fülle weg oder bleibt das? Wie ist es denn?

Das ist wie ein Schnörkel, der sich dann wieder löst. Du warst eigentlich im Zentrum. Das andere bleibt und

es entsteht ein Schnörkel und der geht wieder weg.

Also dieses Grundlegende, Einfache bleibt und der Schnörkel löst sich wieder auf und das andere geht wie weiter.

Teilnehmer: Ich habe das in einem Moment ganz wunderbar erlebt, sehr schön, solange ich nicht wieder anfange mit Bewertung oder irgendwas. Dann ist es wieder weg.

Also war da was Ruhiges, Schönes und als die Bewertung kam, war es weg. Wo ist es denn hin? … Die

Bewertung, könnte das, wie deine Nachbarin sagte, so ein Schnörkel gewesen sein?

Ja.

Könnte doch so eine Art Schnörkel gewesen sein. Jetzt wäre die Frage, ob in dem Schnörkel, ob in dem, was

immer da ist und von dem sie sprach, ob das auch in dem Schnörkel ist? Könnte in der Bewertung etwas von

dieser Qualität drin sein? Hier vorne sagt jemand nein.

Ja.

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Hm, schaut mal da rein. Forscht mal weiter. Ich hab noch nicht nach links geschaut.

Teilnehmer: Ich habe das Gefühl, dass die Tendenz immer da ist, was festzumachen, zu greifen und dass es

ganz schwer ist, dieses Greifen einfach loszulassen und überhaupt in diesen Zustand zu kommen und wieder

zu spüren, dass man etwas fixiert. Ich sage dann immer „entspannen“, aber da ist kaum was dazwischen,

weil es im nächsten Moment wieder losgeht.

Ich wundere mich. Wie kriegst du überhaupt mit, dass du greifst? … Da ist doch eine Ahnung davon, wie Nicht-Greifen sich anfühlt, sonst würdest du doch das Greifen nicht mitbekommen?

Es ist wie Spannung – Entspannung.

Ja, wie Anspannung – Entspannung. Das üben wir jetzt gleich. Wir greifen mit Absicht und dann lassen wir's mal wieder. Wollen wir mal schauen, wie sich das anfühlt?

Also, frohes Greifen! … Woher wissen wir, dass wir greifen? Was ist der andere Geisteszustand des Nicht-

Greifens? –

Das andere nehme ich dann nicht mehr wahr.

Gehen wir mal vor und zurück. Haltet mal etwas Gehörtes, Gedachtes richtig gut fest. … Greift mal was

anderes und schaut mal: Zwischendurch, wenn ihr das eine loslasst und das andere greift, was ist da

zwischendurch? … … Okay, danke.

Teilnehmer: Es geht beides. Ich war jetzt gerade einfach beim Atmen und dann hab ich geschaut: „Was

fixiere' ich da eigentlich?“ Es ist ja eine Bewegung, fließend, es gibt da kein „Das fühlt sich jetzt wie

eingeatmet an und das jetzt wie ausgeatmet.“ Es ist ein fließendes Wahrnehmen, worauf man fixiert. Aber

ich kann eigentlich im selben Moment das Atmen auch loslassen, genau wie mit dem Sehen.

Ja, das ist doch erstaunlich: Wir können wahrnehmen und zugleich loslassen. Das ist eine erstaunliche Entdeckung. Wir können nicht-fixierend präzise wahrnehmen.

Teilnehmer: Aber da passiert ja dann doch was. Wenn ich auf das zurückgehe, dann bleibt doch zumindest

so etwas wie Aufmerksamkeit und Neugierde. Und da passiert auch so was wie Staunen oder Entzücken. Das ist ja dann kein Festhalten. Oder doch?

Tja, keine Ahnung.

Wenn das Sitzen gerade mal gut geht, was ja doch manchmal passiert, und es zwitschert da was, dann ist einfach nur Entzücken da.

Und wie würdest du entscheiden, ob da Festhalten oder Nicht-Festhalten ist?

Ich weiß es nicht. Intuitiv würde ich meinen, ich halt' es nicht fest.

Was gibt dir dieses intuitive Gefühl? Welchen inneren Maßstab hast du da? Du hast da irgendetwas, was dir

sagt: „Nee, das ist jetzt nicht so ein Festhalten.“ Was ist dein innerer Maßstab?

Ein Maßstab wäre die Weite.

Ja, du erlebst eine Weite. Du sprichst von einem Maßstab. Gibt's da noch einen anderen?

Freude.

Freude könnte ein Maßstab sein, weil echte Freude ist in ihrer Natur erst einmal nicht festhaltend, sie hat so was Fließendes, Offenes.

Ich merke es erst im Nachhinein, so wie jetzt mit dem Entzücken. Ich merke dann nachher, wenn ich fest-

halten will; da weiß ich nur, da war mal was.

Das ist oft so. Etwas öffnet unseren Geist und dann finden wir diese Öffnung, die da stattfindet, so faszi-

nierend, dass wir blitzschnell im Nachhinein danach greifen. Und die Frage, ob das Greifen ist oder Offen-

heit, taucht auf, weil sich in derselben Erfahrung beides zeigt. Das Zwitschern holt dich irgendwie aus einer

anderen Fixierung heraus und ist erst einmal öffnend. Dann findest du diese Öffnung so Klasse, dass du sie

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entzückt ergreifst. – Merkt ihr das?

Das ist ein richtiger Schlüssel, um in Mahamudra hinein zu finden. Man sagt im Mahamudra, dass alle

Sinneserfahrungen wie Dakinis, wie Weisheitsbotinnen sind. Damit ist gemeint, dass jede Sinneserfahrung in

uns eine Öffnung, eine Weite bringen kann. Dann kommt aber leider das Greifen, genauso wie man sonst

auch nach den Dakinis greift. Aber sie könnten auch freigelassen werden. Das heißt also, dass die Sinneser-

fahrungen, wenn wir sie freilassen, diese öffnende Wirkung haben. Sie können uns die Natur des Geistes

zeigen. Sie können uns zeigen, wie der Geist waches, klares, frisches Erleben ist, fließend. Jede Sinneser-

fahrung kann uns das zeigen und zeigt uns das. Und das tut gut. Und weil uns das gut tut, kommt das

Greifen. Das geht so schnell, dass wir das Gefühl haben, dass wir immer gleich schon greifen, aber vorher war was anderes.

Leere – Fülle

Teilnehmer: Hier war von Fülle die Rede. Ich erlebe es mehr als eine Leere, eine warme, tief entspannte Leere.

Jetzt sag mir doch mal: Wie kann Leere warm, tief und entspannt sein?

Das kann ich nicht beantworten.

Dann erkläre mir mal „leer“? Wovon leer, kannst du das vielleicht beschreiben?

Leer vom Greifen.

Ja genau, leer von Greifen, leer vielleicht von sonstiger Turbulenz und all dem, was uns aufwühlt. Das ist

alles nicht da. Dieses Nicht-Dasein von dem Gewohnten erlebst du als Leere, die aber warm ist, tief ent-

spannt; positiv erlebt, man kann sagen; ein Freisein von etwas. Du hast tief entspannt warm wahrgenommen,

wie es ist, ohne das sonstige Zeug zu sein. Das nennt man dann Leere, aber es ist eine "volle" Leere. Ja?

Wenn die Leere wirklich leer wäre, dann könntest du uns nichts darüber sagen. Okay? Dann würde in dieser

Leere kein Gewahrsein stattfinden. Du warst aber gewahr; da war jemand, da war etwas gewahr, das

Gewahrsein ging weiter, obwohl der Rest nicht aktiviert war.

Und damit sind wir jetzt auf der Spur dieses grundlegenden Gewahrseins – im Sehen, im Hören und im

Spüren, Fühlen, zu versuchen, den Geist zu erleben. Wie ist der Geist? Das, was sich immer durchzieht, ist

Gewahrsein. Dieses Gewahrsein könnte man als Fülle betrachten oder als Leere betrachten, je nachdem

welchen Standpunkt man einnimmt. Auch die Sinneserfahrung kann man als Leere oder Fülle betrachten.

Etwas wird in diesem Sinne als leer bezeichnet, wenn es kein Gefühl von einem Ich mehr gibt, von einem

Etwas, von einem Ding. Da ist alles Dingliche weg. Und als Fülle wird es bezeichnet, weil es volles Erleben ist. Es ist volles Erleben in totaler Einfachheit.

Teilnehmer: Du hast gefragt, wie sich die Natur des Gewahrseins in dieser Übung anfühlt. Es war so, dass,

wenn das Gewahrsein nicht nur auf ein Objekt gerichtet ist, es sich in sich selbst vertieft, dass das Gewahr-

sein sich in die Qualität des Gewahrseins vertieft. Das hatte so eine Sogwirkung in einen Urgrund der Bewusstheit hinein, was Weites.

Hast du dem Sog nachgegeben?

Ja, ich fand das auch im Verlauf der kleinen Übung immer schwieriger, mich bewusst auf ein Objekt zu

beziehen, weil der Sog größer ist.

Ja, und wenn du dem Sog nachgibst, dass das Gewahrsein so in sich selber ruht, sich seiner selbst gewahr wird, was taucht da auf, wenn du dem Sog gar nicht widersteht, sondern das mal zulässt?

Ein tiefes, friedvolles Gefühl.

Ein tiefes und friedvolles Gefühl. Das wollen wirnochmal gemeinsam praktizieren. Lassen wir das noch mal

zu?

Sich in das Gewahrsein fallen lassen.

Wir sind jetzt wie ein großes Gewahrsein, wie ein großes Labor und lassen uns wie fallen in dieses

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Gewahrsein. … … Einfach nur sein. … … Danke.

Ihr seid vielleicht überrascht, dass ich immer nur so kurze Perioden mache. Aber glaubt mir, das ist

effektiver, als wenn wir lange sitzen würden.

Hast du noch etwas Zusätzliches zu berichten?

Ja, mir ist aufgefallen, und dann hat sich das Gewahrsein wieder auf den Körper gerichtet, wie ich im

Körper auch noch mal tiefer gefallen bin. Das ist wie ein Hineinsacken, als wenn der Schwerpunkt noch mal

tiefer geht.

Im Körper fühlt sich das dann so an, als wenn die Energien nach unten gehen, weil wir wirklich im Sein

ankommen. Wir sind nicht mehr im Denken über das Sein, und das fühlt sich energetisch so an, dass es tiefer sackt.

Wie ist es denn? Gibt es denn da ein Ende von der Tiefe, wenn wir uns fallen lassen? Ist da ein Aufprall oder

was ist da eigentlich? Habt ihr was entdeckt? Hast du was entdeckt?

Da ist definitiv kein Boden.

Das ist auch meine Erfahrung. Wie ist es bei euch, hat sich irgendjemand wehgetan? – Ich scherze darüber,

aber das Gefühl, sich so fallen zu lassen, kann mit richtiger Angst verbunden sein. Ich weiß, dass viele

Praktizierende in dieser Phase der Lhaktong-Praxis auch nachts durch Träume von Fallen hindurch gehen,

Absturz, große Klippen tun sich vor einem auf, man stürzt ab und hat Angst vor dem Aufprall. Tatsächlich ist es so, dass da nichts passieren kann, aber wir haben diese Sorge, weil wir ja die Kontrolle aufgeben.

Jetzt muss ich allerdings sagen, dass wir noch nicht so weit sind. Wir waren immer noch in einem leicht

kontrollierten Fallenlassen. Ihr merkt, dass da noch ein Rest Kontrolle ist, der muss auch noch schwinden.

Wenn wir diese Kontrolle ganz loslassen, dann kommt es energetisch nicht nur zu einer Bewegung nach

innen unten, wo wir uns ins Zentrum hinein fallenlassen, sondern es kommt zu einer Ausweitung. Es entsteht

ein mittelpunktloses Erleben, wo kein Zentrum mehr spürbar ist, auch keine Grenzen. Energetisch ist das

dann nicht nur, tiefer in sich selbst anzukommen, sondern in diesem sogenannten Selbst findet eine Öffnung

statt, eine Weite.

Teilnehmer: Kann man das nicht als eine Art Leichtigkeit sehen? Also ich erlebe das dann. Das ist ja nicht, dass da nichts ist. Ich erlebe, Wahrnehmung ist da, aber es ist was Leichtes.

Ja, Wahrnehmen, leichtes Sein.

Also da fällt man nicht irgendwo in so eine Offenheit, wo nichts ist, leerer Raum.

Ja, das ist richtig, wie du das erlebst; vertraue dem. Klar, wir müssen ja darüber sprechen, aber selbst wäh-

rend wir erleben und dabei bemerken, dass wir uns selber erzählen, was wir gerade erleben, dann geht es

darum, auch da hinein zu entspannen. Das ist Teil des Erlebens, und auch da hinein entspannen wir wieder. Wir nehmen das, was wir gerade erleben, als das, in das hinein wir nochmal loslassen.

Teilnehmer: So einen Moment in so einer massiven Intensität zu erleben, wie oft passiert das so üblicher-

weise in der Meditation? Ich kann für mich sagen, dass ich das einmal in einem Vipassana-Retreat hatte, das

ein bisschen strenger ablief, als es hier bei uns der Fall ist. Da hatte ich ein einziges Mal diesen Moment

richtig intensiv, und ich habe auch einen Schreck bekommen, als ich das dann wahrgenommen habe. Das

davor fühlte sich wirklich an wie Leere, was ich auch nicht gut beschreiben kann. Es ist jetzt nicht so, dass

ich dem hinterher eile und meine, ich müsste das wieder erleben. Aber ich habe das in dieser Intensität nie

wieder erlebt.

Ja, und das wird auch nie wieder kommen, weil du hast dich schon ein bisschen daran gewöhnt. Das wird so

nicht wiederkommen. Das war noch ein nyam, was wir eine Meditationserfahrung nennen. Du denkst jetzt

vielleicht, das wäre ein Moment der Erkenntnis gewesen, aber die Angst, das Zurückschrecken davor zeigt,

dass es das noch nicht ganz war. Aber es war schon so weit und so offen und da war trotzdem noch diese

beobachtende Funktion, die bewirkt hat, dass du zurückschreckst. Aber durch solche Erfahrungen kriegt man

eine tiefe Ahnung und weiß: „Hey, da ist so was ganz Weites, Offenes, das ist da!“ Und du weißt es aufgrund

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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dieser Erfahrung, und das motiviert dich. Aber sie wird nicht wieder auf ganz dieselbe Art entstehen.

Ja, aber ich bin sicher, dass ich das danach nicht wieder in so einer Art erlebt habe.

Das glaube ich dir.

Ich komme da auch nicht mehr hin, auch in der Meditation.

Doch, klar kommst du da wieder hin. – Aber nicht du, da kommt dann das Ich nie hin. Ja? Das ist etwas, wo

es um Zulassen geht, um diese Leichtigkeit, um dieses Fließen. Und irgendwann denkt du: „Hey, es war da

und ich hab's erst mal gar nicht bemerkt.“ – Ein Glück, denn das Eigentliche, um das es geht, ist ziemlich

scheu und schüchtern. Das verzieht sich, sobald das Ich auftaucht und es greifen möchte. Dann ist es schon

wieder nicht da. Das ist so selbstverständlich unsere eigene Natur, unsere Grundnatur. Es ist immer da, ent-

zieht sich aber in der Wahrnehmung dem Zugriff des Ichs. Die Suche danach verhindert die Erfahrung

davon. Aber du hast eine Ahnung. Und es ist immer da, selbst jetzt im Zuhören und Wahrnehmen; ganz weit

und offen, ganz einfach; so wie leer, aber doch voll. Ja? Stell dir vor! Und gar nichts Besonderes, es wird

auch „gewöhnlicher Geist“ genannt.

Teilnehmer: Es entsteht in dieser Offenheit, sehr viel Geborgenheit und Vertrauen; Getragen-Werden.

Wenn Vertrauen entsteht, ist das ein Zeichen, dass es in der Praxis in die richtige Richtung geht. Geh weiter

und entspanne dich auch in dieses Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen hinein, in dieses Gefühl getragen zu werden und schaue, wie sich das weiter entwickelt. Auch da hinein entspannen.

Teilnehmer: Du hast eben gesagt, auch in den inneren Kommentar hinein entspannen. Wahrscheinlich dann

auch in das Bewerten und sogar in das Ergreifen und in die Verspannung, die damit verbunden ist.

Ja, das auch. Was immer in deinem Bewusstsein auftaucht, entspanne da hinein. Das ist die grundlegende

Instruktion für alles. Und selbst das, wo wir normalerweise denken, das dürfte nicht sein und meinen, das sei

doch hinderlich: in die Hindernisse hinein entspannen und nichts mit ihnen machen; einfach hinein ent-spannen.

Karmapa schreibt hier:

Als Erstes [sei erklärt], wie während der Betrachtung der Natur des Geistes in sein Wesen eingeführt

wird. Mache es wie zuvor als du das Wesen des ruhenden Geistes untersucht hast usw.

Damit sind die ersten vier Kapitel gemeint. Mache es genauso!

Wie ist das Wesen des ruhenden Geistes im Zustand einer strahlenden, hellwachen nackten und nicht

einfach nur leeren Ruhe?

Hm, das hört sich schon ein bisschen so an, wie das, was einige hier beschrieben haben. Da wurde was

Ruhiges wahrgenommen, was wie leer war und zugleich wart ihr hellwach. Und es hatte etwas Unmittelba-

res, Nacktes, frei von Konzepten. Von strahlend hat noch niemand was gesagt, aber vielleicht habt ihr diese präzise, leuchtende Qualität auch wahrgenommen. Wie ist das Wesen dieser Erfahrung?

Ihr denkt, das wäre jetzt schon die Erfahrung, um die es geht. Das ist jetzt nur der ruhige Geist. Wie ist das Wesen dieser ruhigen Erfahrung, dieses ruhigen Erlebens?

Übung: Wie ist das ruhige Erleben?

– Stille – Wir nehmen wieder den Fahrstuhl einige Stockwerke tiefer … ins unmittelbare Erleben. … …

Immer in das gegenwärtige Erleben entspannen … genau da hinein öffnen. … … Danke.

Jetzt frage ich euch mit Karmapas Worten:

Ist es – das, was ihr jetzt gerade erlebt habt – ein nicht greifbares Bewusstsein, das strahlend, offen, klar,

transparent und entspannt ist?

Ist das eine Beschreibung, die zutrifft, eine Beschreibung aus dem 16. Jahrhundert aus Tibet? Trifft es auch

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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hier jetzt auf uns zu, was wir jetzt erleben? Klingt gut, nicht? – Nicht greifbar, … Checkt noch mal mit eurer

Erfahrung, die ist ja wie immer noch da. – Nicht greifbar, offen, transparent, das bedeutet wie durchsichtig,

so dass man merkt, es hat irgendwie keine Substanz. Es ist deutlich erlebt, aber hat keine Substanz. … …

Klar ist das Erleben ja auch und entspannt. Ja, entspannt ruhig noch ein bisschen mehr. … …

… und von dem man nicht sagen kann, es habe eine bestimmte Farbe oder Form, und das auf keine

Weise durch Worte beschreibbar ist?

Und vermutlich trifft auch zu, dass man davon nicht sagen kann, es habe eine bestimmte Farbe. Es hat auch

keine bestimmte Form. … Und wie ist das denn, kann man es durch Worte beschreiben oder kann man das

nicht?

Karmapa fragt noch:

Oder ist es eher – obwohl nicht greifbar – ein strahlendes und unbehindertes Bewusstsein, das rein

und transparent, unverhüllt, klar und hellwach ist, ohne Gedanken, es gäbe etwas zu sehen, was noch

nicht gesehen wurde, es gäbe etwas zu erfahren, was noch nicht erfahren wurde und es gäbe etwas zu

erkennen, was noch nicht erkannt wurde?

Es geht hier um den Unterschied zwischen diesen beiden Formulierungen. Es ist schwierig, aber es sind klei-

ne, wichtige Unterschiede in den beiden Formulierungen. Versucht, sie in der Mittagspause herauszufinden.

Wie ist denn nun unsere Erfahrung? Schaut immer wieder hin! Ich empfehle euch, das mal im Liegen zu

machen. Legt euch irgendwo hin, entspannt und schaut die Natur des entspannten Bewusstseins an: Wie ist

denn das?

* * *

Hat die Mittagspause euch Lösungen gebracht? Schon, gell? … Aber nicht dafür, also widmen wir uns dem noch einmal. Hat jemand eine Intuition, was diese beiden Möglichkeiten angeht?

Wie ist das Wesen des ruhenden Geistes im Zustand einer strahlenden, hellwachen, einfachen, nackten

und nicht einfach nur leeren Ruhe? – Wie ist das Wesen, das wahre Wesen, die eigentliche Natur? – Ist es

ein nicht greifbares Bewusstsein, das strahlend, offen, klar, transparent und entspannt ist und von dem

man nicht sagen kann, es habe eine bestimmte Form und das auf keine Weise beschreibbar ist?

Hm, klingt schon ganz gut?

Oder ist es eher – obwohl nicht greifbar – ein strahlendes und unbehindertes Bewusstsein, dass rein und

transparent, unverhüllt, klar und hellwach ist, ohne Gedanken, es gäbe etwas zu sehen, was noch nicht

gesehen wurde, es gäbe etwas zu erfahren, was noch nicht erfahren wurde und es gäbe etwas zu erken-

nen, was noch nicht erkannt wurde? – All das ist nicht da. – Ist es etwas, das sich nicht, obwohl es sich

zeigt, mit „Dies ist es“ beschreiben lässt? Ist es aus tiefster Sicherheit heraus klar, leer und ungreifbar,

strahlend und still verweilend?“

Du schaust, als ob du eine Antwort hättest. Was würdest du sagen?

Teilnehmer: Ich glaube, die zweite Formulierung geht noch tiefer. Die erste Formulierung beschreibt, dass

man sich das denkt und beim zweiten Mal ist es das direkte Wahrnehmen.

Ja, ich glaube, deine Intuition geht in die richtige Richtung.

Das ist mir beim Mittagessen gekommen.

Ja, jetzt sind wir gerade mit dem Intellekt unterwegs, du hast es gerade beim Mittagessen mit der Intuition

gespürt. Die erste Beschreibung ist die Beschreibung eines Shine-Zustandes, eines Zustandes geistiger Ruhe. Schauen wir noch einmal hin.

Zuerst diese Beschreibung: Es ist ein nicht greifbares Bewusstsein, das strahlend, offen, klar, transparent

und entspannt ist. Das ist das, was relativ leicht zu erfahren ist, wenn wir uns entspannen und schauen, wie

es ist, so entspannt zu sein. Und da ist klar, man kann nicht sagen, dass es eine bestimmte Farbe oder Form

hat. Aber dann wird es schwierig. Wenn wir nämlich ganz ehrlich sind, reden wir uns bei den Erfahrungen

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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von Geistesruhe manchmal ein, dass sie unbeschreibbar sind. Dabei sind wir die ganze Zeit dabei, es uns zu

beschreiben. Wir kriegen sehr wohl mit, was da ist. Das ist alles in Ordnung, aber wir müssen ganz sauber

mit uns umgehen beim Forschen und eingestehen, dass wir bei dieser Erfahrung – vielleicht haben wir sie ja

auch so gemacht – selber noch Zeugen sind.

Da ist noch eine Zeugeninstanz, diese beobachtende Instanz ist noch dabei. So, wie es die meisten vorhin bei

den Übungen erfahren haben. Das sind zwar nette Übungen, sie machen auch viel klar, aber wir müssen zu-

geben – ich denke mal die meisten von uns –, dass da noch eine gewisse beobachtende Instanz dabei ist,

oder? Wir schauen uns dabei schon auf die Finger. Und das macht den kleinen Unterschied aus. Das macht

einen Unterschied auch in der Beschreibung von dem, was wir spüren. Wenn ich hinspüre, wenn jemand

seine Erfahrung beschreibt, dann merke ich: „Ja, ja, das geht in die richtige Richtung, aber das ist es noch nicht so ganz.“

Eine wirkliche Erfahrung von Einsicht lässt uns noch etwas anders zurück. Sie schimmert zwar in dieser Er-

fahrung schon durch, aber da ist noch dieses Beobachtende dabei. Und das ist der wesentliche Unterschied.

Bei Erfahrungen des direkten, unmittelbaren Seins, was wir Mahamudra nennen oder intuitive Einsicht, ist

diese beobachtende Funktion nicht mehr aktiv. Diese beobachtende Funktion hat sich aufgelöst, weil sich in

uns eine Angst aufgelöst hat, die diese Form der Kontrolle bewirkt. Wenn diese auf Angst beruhende Kon-

trollfunktion weg ist, dann vergessen wir uns, wir sind nicht mehr selbst-beobachtend unterwegs. Wir

nehmen voll wahr, ohne uns in zwei zu teilen – in einen der erlebt und einen, der sich beim Erleben zuschaut. Das ist der kleine Unterschied und das wird sehr fein in diesen tieferen Erfahrungen von Geistesruhe.

Hier ist Geistesruhe noch nicht ganz zur Einsicht geworden. Es wäre ganz verkehrt, sich zu denken: „Wie

kann ich meine Erfahrungen noch besser ausdrücken, um sie als intuitive Einsicht zu verkaufen?“ Es geht

darum, wie ich mir selber helfen kann, wie ich mich darin unterstützen kann, eine gute Einschätzung meiner

inneren Erfahrungen zu haben. Diese gute Einschätzung kommt dadurch, dass ich merke: „Ja, dieses Element

des Beobachtens; es kommt darauf an, ob es da ist oder nicht.“ Darauf kommt es an, ob dieses leichte Kon-

trollieren da ist, ob da eine gewisse Angst ist, sich selbst zu verlieren. Diese Angst hält das Beobachten noch aufrecht.

Darauf müssen wir achten. Es kann sein, dass jemand, der sich gut ausdrücken kann, solche Worte benutzt,

wie sie im zweiten Absatz stehen. Aber es ist selten, die Worte so gut zu finden. Karmapa kann das so gut

beschreiben. – Natürlich ist es ein nicht greifbares Bewusstsein, Gewahrsein, strahlend und unbehindert,

rein und transparent, unverhüllt, klar und hellwach. Aber jetzt kommt das Entscheidende, bis dahin ist noch

kein wirklicher Unterschied: „…ohne Gedanken, es gäbe etwas zu sehen, was noch nicht gesehen wurde,

ohne den Gedanken, es gäbe etwas zu erfahren, was noch nicht erfahren wurde und ohne den Gedanken, es

gäbe etwas zu erkennen, was noch nicht erkannt wurde.“

Wenn man mit diesem Gedanken aus dieser Erfahrung heraus kommt: „Oh, ich habe da etwas erkannt!“,

dann heißt es: Aufgepasst! Dieser Gedanke ist typischer Weise nicht präsent, wenn eine wirkliche Erkenntnis

stattgefunden hat. Bei einer wirklichen, tiefen Einsicht entsteht normalerweise nicht der Gedanke: „Ich habe

etwas erkannt.“ Es ist so überraschend einfach und selbstverständlich, was dann auftaucht – ich sage euch

jetzt nicht, was es ist –, andere Formen von Einschätzungen dieses Erfahrens, Auftauchens und Erlebens,

weil es so außerordentlich einfach, selbstverständlich und normal ist.

Also kommt euch selber ein bisschen auf die Spur bei eurer Entdeckungsreise! Schaut genau hin, wenn sich

dieses Gefühl einstellt, ihr habt etwas Besonderes entdeckt. Wir denken dann, es könnte ja das sein. – Ich

habe mich da selber genug geirrt. Ich weiß genau, wie überzeugt man da sein kann, und dass man da wirklich Lehrer und Lehrerinnen braucht, um diese Erfahrungen abzugleichen und nachzufragen.

Teilnehmer: Es scheint mir doch ein Widerspruch zu sein, dass hier auf der einen Seite Mahamudra, das was

ich hier nicht fassen kann, als erstrebenswert dargestellt wird und gleichzeitig soll es nichts Besonderes

sein?

Genau! Das ist deine wahre Natur. Das ist das Tolle, weißt du? Deine Frage spiegelt genau wieder, dass wir

denken, es wäre etwas Besonderes, wenn wir denken, das erfahren zu haben. Und das heißt, dass wir es noch

nicht erfahren haben. Es ist so verrückt, dass das, was so erstrebenswert ist und die Lösung für unser ganzes

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Dilemma ist, so unglaublich einfach und selbstverständlich ist und dass wir das nicht so wahrnehmen. Deine

Frage beschreibt genau das Wesentliche, worum es geht. Wir denken, da müsste etwas Besonderes sein. Wir

werden verschiedene besondere Erfahrungen machen, und diese besonderen Erfahrungen entstehen alle noch

durch eine gewisse Form von Anstrengung, durch Anspannungen.

Diese Meditationserfahrungen nennt man nyam, und Gendün Rinpoche beschrieb sie so: Es sind durch unser

Wollen verursachte feine Knoten im Energiesystem, die diese besonderen Erfahrungen produzieren. Und die

wiederholen sich auch nicht auf genau dieselbe Art. Die sind einmalig, während das grundlegende Sein, um

das es hier geht, immer da ist. Es wird sich immer zeigen, wenn völlig losgelassen wird und es wiederholt

sich nicht nur, es ist immer da. Und diese nyams, diese Meditationserfahrungen, kommen tatsächlich nie auf

dieselbe Weise zurück, weil sie nicht Ausdruck des natürlichen Sein sind, so wie es immer ist, sondern Ausdruck des Zusammenkommens besonderer Bedingungen in unserem Energiesystem, in unserem Geist.

Teilnehmer: Ich hab bei diesem „Es gäbe etwas zu sehen, was noch nicht gesehen wurde“ das Gefühl, dass

da jemand noch am Suchen ist. Es ist nicht so, dass da jemand diese Erfahrung gerade gemacht hat und

dann behauptet „Ich hab’s jetzt!“, sondern dass das mehr so die Karotte vor der Nase ist, die projiziert wird,

aber noch nicht die Situation als solche erfährt, sondern eigentlich immer nur eine Vorstellung dieser

Situation.

Auch das trifft, also dass all diese Gedanken noch auf ein Suchen, ein Wollen hinweisen und dass all das abwesend ist. Genau, völlig richtig.

Lassen wir das ruhig einen Moment sacken. Was Karmapa uns hier durch die Blume sagt, ist, dass wir dieses

Suchen und Erzeugen-Wollen von diesem besonderen Erleben lassen müssen, dass es wirklich darum geht,

zu schauen auf diese Art des Nicht-Schauens. Das ist paradox, dieses Schauen. Versucht, euch da heranzu-

führen an ein Schauen, das nicht Ziel-orientiert ist. So wie beim Sehen, wenn wir nicht mehr fixieren und

beim Hören nur erleben, wie es ist, zu hören ohne Ziel-orientiert zu sein.

Teilnehmer: Das ist vielleicht nochmal einen Schritt zurück, dieses Schauen, ob der Geist eine bestimmte

Farbe oder Form hat. Manchmal scheint er mir wirklich rot oder blau. Oder wenn ich etwas Rotes oder

Blaues sehe und mir die Frage stelle „Was ist eigentlich der Geist?“ und ich kann keinen Geist finden, dann kommt es so hoch „Ja, Rot. Diese Erscheinung Rot, das ist der Geist.“

Ja, und welchen Schluss zieht du daraus?

Also ich bin dadurch ein bisschen irritiert, dass der Geist eine Farbe oder eine Form haben soll. Das wird ja

immer so dargestellt, als ob das ein absurdes Ding ist, eine Farbe oder Form, aber da erscheint es so, dass

genau dieses Erleben einer Farbe oder Form der Geist ist.

Ja, natürlich. Dieses Erleben von der Farbe, die da gegenwärtig präsent ist, das ist Geist. Nun ist es so, welche Farbe hat dein Geist jetzt gerade?

Ziemlich bunt.

Jetzt ist er ziemlich bunt, nicht wahr? Ja, meiner auch, meiner ist ziemlich bunt, und wenn ich nach rechts

schaue, ist das Bunt ein bisschen anders, als wenn ich nach links schaue, da sind mehr goldbraune Töne drin. Der Geist hat also keine feste Farbe.

Nein, natürlich nicht.

Nein, das ist der natürliche Schluss daraus, dass er mal rot, mal blau, mal sonst was ist. Daher sagt man, der

Geist selbst hat keine Farbe, er nimmt alle Farben an. Das Erleben füllt sich, wenn man nur ins Visuelle geht,

mit all den Farben, die gegenwärtig sind. Wir können so weit gehen: Es gibt Meditationen, wo wir in die

Elemente eintauchen und uns innerlich mit einer Farbe verbinden und dann wird alles nur blau, nur rot, nur

weiß. Aber das heißt nicht, dass der Geist dauerhaft diese Farbe hat. Wenn wir jetzt aber mit dem Geist

untersuchen – wir machen keine Visualisation, wir schließen die Augen und gehen ins Hören –, hat der Geist dann eine Farbe?

Nein, dann hat er vielleicht einen Klang.

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Genau! So, da kommen wir jetzt schon näher. Jetzt hört er auf Farbe zu haben, weil wir ja mit demselben

Geist im Hören sind. Dann wird er zu allem, was wir hören. Und dann gehen wir ins Spüren, dann ist nur

noch Spüren präsent und wird zu allem, was wir als Körper erleben. Und so hat der Geist selbst, also diese

Fähigkeit wahrzunehmen, keine eigene Farbe, sie gestaltet sich zu allem, was wir erleben, hat aber keine

eigene Form. So ist diese Aussage zu verstehen, das ist damit gemeint. Und selbst unsere Wissenschaftler

verzweifeln ja, weil es ist noch kein Ort gefunden worden, an dem das Bewusstsein ist. Bewusstsein ist Netz-

werk, Netzwerkgeschehen, Prozessgeschehen und es ist auch nicht begrenzt auf das Gehirn. Das Gehirn ist

schon ein zentraler Ort dieser Vernetzung, aber es ist mit allen Sinnesorganen vernetzt durch den ganzen

Körper. Es gehört alles zusammen, und es ist ein riesiger Prozess.

Und das heißt, es muss Raum da sein?

Ja, Raum ist da, aber auch die Informationen im Gehirn müssen fließen, zirkulieren, vernetzt werden können.

Es braucht auch Raum. Ganz spannend also. In dem Sinne können wir dem Geist keine Farbe, keine Form

zuschreiben, wo uns ja klar ist, dass all unsere Wahrnehmung Geist ist. Wir haben ja dieses Wort einmal

geprägt für die Fähigkeit wahrzunehmen, zu verstehen usw. Eigentlich, und das ist sehr zutreffend, können

wir den Geist nur über seine Auswirkungen und Fähigkeiten beschreiben und nicht über ein stabiles Sein:

„Der ist so!“ Das schaffen wir nicht. Alles, was Prozess ist, kann man nicht als ein stabiles Etwas

beschreiben, das liegt in der Natur der Dinge. Wenn Wind beschrieben werden soll, dann hat Wind keinen

Ort. Er ist eben Prozess, er ist bewegte Luft. Stehende Luft ist was anderes als Wind. Strom, Elektrizität kann man an ihren Auswirkungen beschreiben, aber sie ist Prozess.

Teilnehmer: Dann muss es von allem das Gegenteil geben, sonst kann ich es nicht erkennen. Wenn ich immer

nur ruhe, muss Bewegung sein, damit ich sie erkenne. Wenn ich im wahrsten Sinne mitten in einem Fluss bin,

damit kann ich nur die Energie spüren, aber nicht die Bewegung. Nur wenn ich am Rand bin, spüre ich die Bewegung. Das heißt, wenn ich mitten in einer Energie drin bin…

…ist es zumindest sehr schwer, sie wahrzunehmen. Und wenn ich selber die Energie bin?

Ja, da brauche ich das Gegenteil um...

Normalerweise. In unserem normalen Denken stimmt das total. Jetzt ist die Frage: Können wir uns selbst

erkennen? Können wir, die wir Prozess sind, uns selbst als Prozess erkennen? Was braucht es dafür?

Veränderung.

Ja, die ist ja ständig da.

Weil durch die Veränderung kann ich das wahrnehmen.

Ja, und mal ist die Veränderung stärker, mal ist sie langsamer, mal ist relative Ruhe, aber auch in der Ruhe

ist Veränderung spürbar, erlebbar. Wir forschen da überall hinein. Die Methode besteht darin, immer wieder

mit dem Erleben eins zu werden, nicht am Ufer stehen zu bleiben und den Fluss zu beobachten, sondern eins

zu werden mit dem Fluss und die Natur dieses Prozesses wahrzunehmen. Dann nehmen wir wahr, dass dieser

Prozess in jedem Moment des Seins gleiche, identische Qualitäten hat. Diese identischen Qualitäten, die

jeden Moment des Seins ausmachen und begleiten, nennen wir die Natur des Geistes.

Diese Möglichkeit haben wir, aber wir müssen die beobachtende Distanz aufgeben. Es ist relativ leicht, den

Geist aus der beobachtenden Distanz zu beschreiben; das kriegt eigentlich jeder hin. Aber wie ist es von

innen her erlebt, wenn diese Distanz aufgegeben wird? Was für Qualitäten zeigen sich da? Und da zeigt sich

eine ganz neue innere Freiheit. Wir können uns das ungefähr so vorstellen, wie wenn ein Schwimmer endlich

eins wird mit dem Wasser, wenn er zu Wasser wird. Vorher ist noch Anstrengung da und nachher nicht

mehr.

Dann lässt es sich auch nicht mehr beschreiben, das geht nur aus der Distanz. Das Einswerden mit dem Erle-

ben ist also der Schlüssel; darum geht es: eins werden und die unnötige Distanz lassen. Ich glaube mit diesen

Worten beschreibe ich auch ganz gut, wie ich den Prozess des Meditierens erlebe. Nehmen wir mal an, es

wäre heute unsere erster Tag zum Meditieren, dann beginnen wir mit der ganz normalen dualen Spannung

des Seins, setzen uns hin und finden mal heraus, wieweit man sich da so erlauben kann zu entspannen. Was

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wir im Grunde genommen tun, ist, herauszufinden was von unserer ganzen Anstrengung überflüssig ist. Was

brauche ich jetzt alles nicht mehr, wenn ich mal so ganz einfach da bin? Und dieser Prozess geht immer

weiter: die unnötige Anspannung bemerken, ausprobieren, was noch anders geht und so in weiter entspannte

Räume finden, bis wir merken, dass wir auch ganz loslassen können, auch die letzte Sicherheitsdistanz.

Diese beobachtende Distanz ist eine Sicherheitsdistanz, eine Schutzdistanz, das müssen wir wirklich so

verstehen. Die ist aus Angst geboren und wir wissen nicht recht, was denn da passiert, wenn wir ganz

loslassen, wenn wir keinerlei Kontrolle aufrechthalten. Wir wissen es nicht so recht und trauen uns nicht so

ganz. Wir sind so gewöhnt daran, eine feine, subtile Kontrolle aufrechtzuerhalten. Diese subtile Kontrolle

auch noch los zu lassen, braucht eine Art Mut, oder anders herum ausgedrückt, es braucht Vertrauen. Das

passiert immer, wenn wir einschlafen und vertrauensvoll in den Schlaf hinein loslassen. Auch das kann bei

Menschen gestört sein. Es ist möglich, dass der Schlaf nicht als ein sicheres Zuhause erlebt wird und es

deshalb schwer ist loszulassen. Das geht so lange bis wir in unserem wachen Sein so erschöpft sind, dass wir

doch endlich loslassen und einschlafen können. Ihr wisst, dass wir beim Einschlafen niemand mehr sind, wir

sind kein 'Ich' mehr mit einer Rolle bzw. Mann oder Frau; das sind wir nicht mehr. Wenn wir einschlafen,

dann ist nur noch das, dieses Loslassen. Hier geht es um dieses Loslassen bei voller Wachheit, bei voller

Präsenz. – Verzeiht, wenn ich mich wiederhole, das habe ich schon viele Male gesagt, aber darum geht es.

Das eröffnet eine neue Form des Erlebens.

Teilnehmer: Aber das impliziert doch, dass es auch ein fortwährendes Festhalten immer wieder gibt, sonst

gäbe es ja gar nichts, was ich loslassen könnte. Also ist es auch, man könnte sagen, ein berührungsloser Wechsel zwischen diesen beiden Zuständen.

Genau, das ist es. Das ist schön ausgedrückt.

Ja, und allmählich entwickeln wir Antennen für diese unnötige Anspannung und wir ziehen die spannungs-

freieren Zustände vor und das ist es, was unsere Praxis ausmacht: in die spannungsfreieren, entspannteren

Zustände hineinzugehen. Das sind fließende Übergänge. Und was dann tatsächlich die Mahamudra-Praxis

ausmacht, ist, dass wir auch aufgeben, uns noch selber zuzuschauen, ob wir gerade im Mahamudra sind oder

nicht. Genau das ist es nämlich, was es verhindert. Wir erlauben also dieses Gleiten, rein und raus, wir kümmern uns gar nicht mehr darum und sind einfach immer so entspannt wie es geht.

Teilnehmer: Ist das, was du gerade auf die Frage zu Farbe und Klang beschrieben hast, auch eine Erklärung

für den Dharmakaya, dieses Potential, in jede Erfahrung hineinzugehen?

Ja, so kommt es zur Erfahrung von Dharmakaya. Ob ich jetzt gerade den Dharmakaya beschrieben habe? Aber so kommt es dazu.

Meine Frage ist eigentlich die: Du beschreibst, wenn man in die Erfahrung des Geistes geht, dann ist man

ganz im Prozess drin. Warum gibt es dann so starre Ausdrücke wie Dharmakaya, Sambhogakaya und Nirmanakaya? Das ist ja eigentlich …

Ah ja, diese starren Ausdrücke haben schon vielen Kopfzerbrechen bereitet. Zum einen ist das die Krux der

Sprache, die feste Ausdrücke hat für etwas, was gar nicht fest ist, und dann kommt noch hinzu, dass der

Ausdruck kāya – Körper – auf uns so statisch wirkt. Das hat aber mit etwas anderem zu tun. Hier bedeutet

kāya nicht Körper im Sinne eines festen Körpers, sondern es bedeutet Körper im Sinne einer verlässlichen,

immer wieder zu findenden Gesamtheit. Es ist eine Gesamtheit des Erlebens, so wie du von einem Lehr-

körper sprichst. Das sind die Lehrer in einem Kollegium. Das ist keine stabile Geschichte, es ist die Gesamt-

heit der Lehrer, und der ursprüngliche Ausdruck Dharmakaya war die Gesamtheit der Dharma-Lehren. Und

dann hieß es: Aber der eigentliche Dharmakaya, die eigentliche Gesamtheit der Dharma-Lehren, das sind ja

gar nicht die Worte, sondern das ist die Erfahrung, aus der heraus diese Worte gesprochen werden. Und dann

hat man begonnen, denselben Ausdruck auf den eigentlichen Dharmakaya anzuwenden, und damit ist diese

nicht beschreibbare innere Erfahrung gemeint. So ist das offenbar in der Entwicklungsgeschichte dieses Wortes gewesen.

Zunächst war es so, dass der Buddha als Dharmakaya betrachtet wurde. Kāya war einfach ein respektvolles

Wort für Körper und der Buddha war derjenige, der den Dharma verkörperte und deswegen war er der

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Dharmakaya. Ein subtileres Verständnis war: Nicht der Körper ist der Dharmakaya, die Gesamtheit des

Dharma, sondern die Gesamtheit der Lehren, das ist die eigentliche Verkörperung des Dharma, der Lehren.

Und ein noch subtileres Verständnis war: Nein, nicht die Worte, nicht die Lehren sind der eigentliche

Dharma, sondern diese Erfahrung des Erwachens, aus der heraus er gelehrt wurde, das ist der eigentliche

Dharmakaya. Und so hat sich dieses sehr solide Wort mit recht soliden Konnotationen in seiner Bedeutung gewandelt und wurde immer mehr auf die nicht-beschreibbaren Geisteszustände angewendet.

Und dann gibt es da noch ein Synonym: Dharmadhatu. Dhatu bedeutet Dimension und hat mehr diese Weite

als Konnotation. Das ist noch ein Alternativbegriff für diesen Geistesraum, der mehr mit der raumhaften

Erfahrung zu tun hat, der Raum der Phänomene. Es haben sich Synonyme gebildet, die versuchen, darauf

hinzuweisen, was sich eigentlich nicht beschreiben lässt.

Zurück zum Text:

Ist es etwas, das sich – obwohl es sich zeigt – nicht mit „Dies ist es!“ beschreiben lässt?

Ja! Ist da eine Gewissheit, eine tiefe Sicherheit, aus der heraus wir sagen können, dass es klar, leer – im Sinn

von nicht-fassbar, leer von einem Ich, ohne ein Ich – und ungreifbar, strahlend und still verweilt? – Verweilen bedeutet hier, dass es immer so ist und nicht, dass etwas irgendwo da verweilt.

Wenn das zwar so ist, wir aber nur ein theoretisches Wissen davon haben, dann reicht das wohl kaum

für das Erwachen, denn es ist unzuverlässig.

Es reicht kaum, um uns in einer schwierigen Situation, wie dem Sterben oder von einer schwierigen Emotion zuverlässig innerlich frei zu machen. Wir müssen es direkt erfahren, wir müssen unmittelbar darin aufgehen.

Doch wenn dieses Verständnis von innen her auftaucht, dann hat man intuitive Einsicht in den stillen

Geist erfahren.

Das waren weitere Erklärungen, wie wir sie schon im vergangenen Jahr in ähnlicher Form als Instruktionen

erhalten haben, wie wir den Geist erfahren können, wie es zu einem Erkennen des Geistes kommt in den

Phasen zwischen den Gedanken. Wenn Denken auftaucht, sprechen wir vom bewegten Geist. Jetzt ging es

darum, die Phasen im ruhigen, nicht bewegten Geist wahrzunehmen.

Diese Einführung sollte erst gegeben werden, wenn man das Wesen des Geistes unverhüllt, durch viel

Fleiß und Ausdauer gesehen hat. Kommt sie zu früh, dann bleibt das Verständnis theoretisch und man

bleibt unempfänglich. Es schadet einem auch später, wenn man z.B. Erklärungen von anderen

[Lehrern] bekommt. So bekommt man die Einführung nicht – nicht wirklich, sie greift nicht wirklich –,

das zwanghafte begriffliche Denken hört nicht wirklich auf und man erkennt das Wesen – des Geistes

– nicht. Ohne das Wesen gesehen zu haben, kann die Einführung nicht gegeben werden. Und ohne die

Einführung in das Wesen des Geistes [erfolgreich] erhalten zu haben, wird die Meditation nicht zum

Weg.

Nun haben alle Lehrer, mit denen wir unterwegs sind, den Weg gewählt, diese Einführung doch gelegentlich

zu geben, denn ohne eine Orientierung zu haben, worum es geht, ist es schwierig, die Meditation wirklich

nutzbringend auszurichten. Die Meditation wird noch nicht zum Weg der Befreiung, wenn wir nicht dieses

direkte Erkennen haben; das muss uns klar sein. Meditation erinnert oft eher daran, sich selbst oder den Geist

irgendwo zu parken, oder? Das ist so eine Parkspur, aber das ist nicht der Weg der Befreiung. Von daher ist

es gut, dass wir so viele kleine Übungen miteinander machen, sodass wir wirklich zu einem forschenden,

intelligenten Meditieren kommen, in dem wir immer wieder das Wesen des Erlebens betrachten und lernen,

tiefer zu entspannen. Diese Instruktionen können euch eine echte Inspiration sein, aus dem ruhigen, einfach

so geparkten Meditieren hineinzufinden in ein viel dynamischeres Meditieren, was zum Teil kürzer ist. Es

braucht gar nicht diese langen Zeiträume. Es geht darum, immer wieder zu schauen, bis wir im Schauen sehr

geübt sind. Wir haben all die Formen des künstlichen Schauens ausprobiert und abgelegt, um in dieses

natürliche Schauen hineinzufinden und damit vertraut zu werden; immer wieder. Wir verbringen nicht so viel

wertvolle Zeit mit Meditieren, das nicht sehr effektiv ist.

Als ich noch zu Lebzeiten von Gendün Rinpoche als Meditationslehrer begann und in Le Bost ein Mal pro

Monat einen Meditationstag anleitete, sagte Rinpoche mir wiederholt: „Lass die Leute nicht einfach medit-

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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ieren! Du musst viel sprechen, musst ihnen viel erklären, wie das überhaupt geht, worauf man achten muss!

Sprich! Wenn du sie einfach sitzen lässt, gehen sie zwar mit einer netten Erfahrung nach Hause, aber es

bringt sie nicht weiter.“ Damals ging es darum, Ausschnitte aus dem anderen Buch des 9. Karmapa zu

unterrichten und immer wieder hinzuweisen, dass sich das Meditieren tiefer mit einer Sicht davon verbindet,

worum es eigentlich geht.

Und jetzt, wo die Sicht gerade mal wieder so ein bisschen da ist, lasst uns jetzt wieder etwas meditieren. Ich

gebe euch noch ein paar unterstützende Worte.

Meditation: Guru-Yoga

Lasst uns diesmal den Zugang über unser Vertrauen finden, über unsere Hingabe. Vielleicht lasst ihr für

einen Moment den Meister oder die Meisterin in euren Geist entstehen, wo ihr das größte Vertrauen habt.

Vielleicht den Buddha, vielleicht aber auch andere Meister wie Milarepa oder Machikma, auch Tara oder

Tschenresi. Bittet sie innig, die Meditation zu segnen – die eigene Meditation, „meine“ Meditation: „Bitte

gewähre Deinen Segen, sodass dieser Meditierende frei wird, dass er frei von Ich-Bezogenheit praktiziert!“

Macht Gebete von dieser Art! Macht sie aus ganzem Herzen. Dabei öffnen wir uns und lassen es zu, dass der

Segen uns wirklich erreicht und durchdringt … und dass dann der Buddha, der Meister oder die Meisterin

mit uns verschmilzt. –

Und alles Weitere ergibt sich von selbst. Lasst immer wieder den Buddha in euch meditieren. –

Was auch immer auftaucht, immer den Buddha meditieren lassen. –

Und noch einmal. Wir meditieren so, wie es sich nach unserem Erwachen anfühlt. Wir lassen den Buddha in

uns meditieren; völlig sorgenfrei, wissend, offen. – Nicht, dass ihr euch anstrengt, gell!

* * *

Auch jetzt, wenn die Klangschale ertönt ist, können wir weiter so hören, so sehen, wie nach unserem Er-

wachen. Da wir das in uns tragen, haben wir tatsächlich Antennen dafür. Wir spüren, wie es ist, wie es sein könnte, wie es ist. Wir spüren das.

Wie ist es euch ergangen? Ja, einige sind ganz schön müde, das habe ich gesehen. Wofür hattet ihr eigentlich

eine Mittagspause? – Stimmt, ihr habt spülen müssen. Und dann auch noch Hausaufgaben für die Mittags-pause.

Abgesehen von der Müdigkeit, wie ist es denn, als Buddha müde zu sein? Wie war denn das?

Teilnehmer: Spielt keine Rolle.

Spielt keine Rolle, kein Problem. Wie ging es euch mit diesem kleinen Guru-Yoga, den wir gemacht haben?

Es war ein Mini-Guru-Yoga, nur die Essenz. War es schwierig für euch, war es hilfreich? Wie ging es euch

damit?

Teilnehmer: Ich finde es sehr hilfreich. Ich musste mich gar nicht anstrengen, um diese Offenheit zu ent-wickeln, weil da ist ja dieses Etwas in mir, Buddha, was das einfach macht.

Ja, so erlebe ich das auch. Wie geht es dir damit?

Teilnehmer: Mir ist es schwer gefallen. Die Übung heute Morgen hat mich viel schneller in einen Zustand

der Offenheit gebracht als der Guru-Yoga. Es war das Vertrauen.

Und diese Meditation war schwierig?

Das ist nicht neu für mich, dass es hakt.

Das ist dir nicht neu. Auch dass es hakt, ist dir nicht neu.

Dass es hakt, ist ganz besonders nicht neu. Das Vertrauen über Hingabe zu entwickeln, ist schwieriger als das andere.

Hast du eine Idee – stellevertretend für uns alle –, was es schwierig macht, da mit dem Vertrauen und der

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Hingabe zu gehen?

Ich nehme an, dass es mein Ego ist.

Ohne dass du dich jetzt selbst abwertest, was macht es denn so schwierig?

Ich glaube, ein tief verinnerlichtes Muster zu denken, dass ich das alles machen muss.

Ja, das hast du jetzt aber auf den Punkt beschrieben: dass ich das doch machen muss, das kann ich doch jetzt

nicht einfach abgeben.

Ja, diese große Verantwortung.

Ja, das ist doch ‘n Ding, oder? Ich muss das doch mal selber machen!

Teilnehmer: Das war genau der Punkt, der mich geärgert hat, dass ich für einen Moment das Gefühl hatte,

ich muss um was bitten. Da muss ich aufpassen, dass ich nicht in die Armutshaltung gehe, da ist was, das ich

gerne hätte. Ich habe das Gefühl, für mich ist die Erleichterung die, dass ich weiß, dass ich es machen kann.

Okay und dann hast du es auch einfach gemacht?

Erst hab ich mich ein bisschen geärgert – bitte nicht falsch verstehen. Wie soll ich es sagen? Ich scheine

mehr Vertrauen in meine Praxis zu haben, als ich glaube. Die Leute hier kennen mich als sehr schwer-

fälligen, unbeholfenen Menschen, und da habe ich dann Phasen, in denen ich glaube – wie wir alle – mich

anstrengen zu müssen. Aber in der Regel habe ich das Gefühl, dass ich sehr viel Vertrauen in meine Fähig-

keiten habe und dass ich es nicht leiden kann zu sagen: „Bitte hilf mir!“ Ich habe mal gesagt: „Segen

bedeutet für mich Inspiration und Zutrauen zu mir selber.“

Phantastisch, dann kannst du es ja direkt so machen. Wo wir in der Meditation Buddha, Tara oder einen Aspekt, in den wir vertrauen, anrufen, da könntest du ja sagen: „Ja, Buddha-Natur, eigenes wahres Sein …“

Noch weiter: gar nicht reden.

Gar nicht reden. Und dann? In der Suppe sitzen bleiben? Wie kommst du dann raus?

Keine Suppe.

Keine Suppe und einfach durchentspannen? Das ist in Ordnung.

So wie heute. Wo Spannung war, einfach auflösen und der Rest war weg.

Okay, dann kannst du das machen. Das sind alles verschiedene, hilfreiche Methoden. Wenn da solche Wider-

stände kommen, dann geht man einen anderen Weg. Das ist ja eine Methode, die über das Außen läuft. Wir

stellen uns vor, etwas wäre wie außen von uns, ist aber Spiegel für unser eigenes wahres Sein, verschmilzt

mit uns und stimuliert dann dieses wahre Sein in uns. Wenn wir dazu direkt Kontakt aufnehmen können, brauchen wir die Methode nicht.

Ich schaue, wo Spannung ist und es ist wurscht, was ich mache. Wo Spannung ist, da versuche ich es

aufzulösen.

Ich bin mit diesem Ansatz in meiner Praxis, mit meinem Schauen, wo die Anspannung ist und ob ich es noch

entspannen kann, selber an Grenzen gekommen. Da empfand ich es dann als sehr hilfreich, diese Momente

des Guru-Yoga zu nehmen, wo ich noch weiter entspannen konnte, was mir vorher nicht möglich war. Es hat

„Hopp“ gemacht und ich war in einem anderen Erleben drin, was aus der Anstrengungslosigkeit heraus kam.

Für mich hat diese Methode immer wieder – auch jetzt gerade – durchaus hilfreiche Bedeutung. Es gibt sie

ja, und solange es mit dem Entspannen immer tiefer geht, ist auch alles in Ordnung.

Wenn es nicht funktioniert, muss ich was anderes machen. Dann mach ich halt Guru-Yoga.

Genau. Ich war selber ganz überrascht. Ich habe euch ja vorhin mit diesen Methoden und mit Forschung

angeleitet und dabei natürlich auch meinen eigenen Geisteszustand erlebt, auch immer wieder weit offen.

Und bei dieser kleinen Anleitung zum Guru-Yoga, die ich euch gegeben habe, war ich überrascht, wie selbst-

verständlich natürlich entspannt – aber sofort – mein eigener Geist war. Es war auch für mich wieder über-

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raschend, wie kraftvoll diese Methode ist. Ich sage es euch nur; nicht um die Methode hier besonders zu

verkaufen, sondern es war wieder mal so eine Entdeckung.

Zu Anfang meines Weges hatte ich unglaubliche Mühe mit dieser Methode. Ich bin ja ein geschädigtes Kind

aus einem protestantischen Elternhaus und dieses dualistische Gottbeten usw. war für mich überhaupt nicht

drin. Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben in meinem Leben, aber gar nichts. Die Vorbehalte waren

groß. Das Beten habe ich erst durch Gendün Rinpoche wieder gelernt, eben weil ich mir auch ständig den

Kopf angerannt habe. Ich habe das letzte bisschen Anspannung aus meinen Shine-Zuständen nicht wegge-

kriegt; das ging nicht weg. Dieses letzte bisschen Beobachten wollte sich einfach nicht auflösen und ich

fühlte mich wie in einer Gummizelle, überall von abpuffernden Wänden umgeben und kein Weg führte raus.

Das Beten, mich abzugeben und das Andere in mir übernehmen zu lassen, das war mir alles nicht vertraut.

Und genau das sind die Methoden, die dann tatsächlich geholfen haben, diesen Schritt immer wieder auch

gehen zu können. Ich spreche deswegen so davon, weil ich selber auch die größten Vorbehalte dagegen

hatte; also wirklich große Vorbehalte, nicht kleine! Das fiel mir richtig schwer. Ja, aber es gibt ja noch anderer Möglichkeiten.

Teilnehmer: Für mich funktioniert das auch nicht. Wenn ich mir jetzt den Buddha so herhole, als ob der

nichts Besseres zu tun hätte, als jetzt dafür zu sorgen, dass meine Mediation funktioniert.

Okay. Du hast eine humorvolle Distanz zu dir selber. Was ist das Hindernis, wenn du es jetzt beschreibst?

Wenn du dich selber mal mit einer gewissen Distanz beschreibst, was würdest du jetzt locker analysierend

sagen, wo liegt das Hindernis?

Man könnte sagen, mangelnde Selbstwertschätzung.

Ja, ich glaube, da liegst du vollkommen richtig. Wenn der Buddha irgendwie in der Nähe wäre, meinst du,

der hätte irgendetwas Besseres zu tun, als dir zu zeigen, wie du die Natur des Geistes verwirklichst?

Keine Ahnung.

Das hat der Buddha sein ganzes Leben lang getan – 45 Jahre nach seiner Erleuchtung – und nichts anderes;

mit jedem, der daher kam. Schon spannend, oder? Ich glaube, er würde das heute auch noch tun. Ich glaube,

dass keiner von uns zu gering wäre, dass er das nicht tun würde.

Teilnehmer: Er würde sich darüber freuen.

In dieser Aussage von vorhin, die wir alle von uns selber kennen, steckt ein versteckter Zweifel an sich

selbst. Dabei geht es nicht nur um Wertschätzung sondern auch darum, ob es uns überhaupt möglich ist, ob

wir überhaupt würdig sind usw. Und da muss man einfach sagen, dass es das Besondere an dieser Unter-

weisung und auch an der Art, wie die buddhistische Lehre weiter gegeben wird, ist, dass wir niemand

Besonderes zu sein brauchen, niemand. Jeder, jedes Lebewesen hat ohnehin diese Natur des Geistes und die

Erwachten haben wirklich nichts anderes zu tun, als uns genau das zu zeigen, nichts anderes.

Ich wünsche euch sehr, dass ihr euch immer wieder in die Gegenwart von erwachten Meistern begeben könnt

und merkt, dass sie tatsächlich nichts anderes zu tun haben, als mit uns, mit euch das zu teilen und zu leben,

damit das auch eine heilende Erfahrung wird. Denn es gab bestimmt auch Erfahrungen, wo das mit anderen

Menschen, mit unseren erwachsenen Bezugspersonen nicht so war; da haben wir nicht diese Aufmerksam-

keit bekommen.

Gibt es denn noch einen, für den es funktioniert hat?

Teilnehmer: Wenn ich in schwierigen Situationen bin, dann verbinde ich mich immer mit Tschenresi und das

funktioniert total. Ich habe gerade wieder zwei Situationen, wo ich gesagt hab: „Mach! Ich weiß, es ist die

Buddha-Natur in mir und das ist mein eigener Geist.“ Aber ich war wirklich fähig, das abzugeben und hab

dann nur beobachtet. Das Ergebnis war für mich ein totales Verblüffen. Also mir ist es eine sehr, sehr große Hilfe.

Schön, dass du das so sagst. Was wir mit Guru-Yoga und Yidam-Praxis – das ist dasselbe – praktizieren, ist

eigentlich das, was in der Interaktion zwischen dem Buddha und all seinen Schülerinnen und Schülern statt-

gefunden hat. Die grundlegende Aussage des Buddha war immer: „Du bist genauso wie ich, es gibt keinen

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Unterschied zwischen dir und mir. Zwischen deinem Geist und meinem Geist gibt es keinen Unterschied!“

Im Pali-Kanon sind die Dialoge zwischen dem Buddha und den verschiedenen Menschen, die zu ihm kamen,

aufgezeichnet, und der Grundtenor ist immer: „Du kannst es genauso wie ich, in deinem Geist funktioniert es

genauso wie in meinem. Mach es genauso, wie ich es gemacht habe.“

Man könnte heutzutage sagen: „Okay, aufgrund der Aktivität der Spiegel-Neuronen war es den Schülern in

Gegenwart des Buddha relativ schnell und leicht möglich, zu erahnen, zu erspüren, wie es ist, so frei zu

sein.“ Wir nutzen dieses Wissen in uns, weil wir kennen es ja. Wir kennen es vom Einschlafen, wir kennen

es auch von anderen Situationen. Wir haben tief aus unserem Unbewussten heraus eine Ahnung, wie es ist

frei zu sein und wir nutzen diese Ahnung. Wir nutzen sie in Form des Guru-Yoga, wo dann der Guru mit uns

verschmilzt. Yidam-Praxis ist nur, weiterhin in diesem erwachten Sein zu bleiben und sich weiterhin immer

als Buddha zu betrachten; weiter in diesem Bewusstsein zu leben, dass wir genau diese Qualitäten in uns tragen, dass sie natürlicherweise in uns sind.

Aus dieser grundlegenden Haltung aller Meisterinnen und Meister – „Du bist so wie ich, da gibt es keinen

Unterschied!“ – haben sich Guru-Yoga und Yidam-Praxis entwickelt. Und genau diese Gewissheit stellt sich

ein, wenn man die Natur des Geistes erfährt. Da entsteht eine unumstößliche Gewissheit, dass es genauso ist,

dass es auch gar nie anders sein kann. Und es bewährt sich auch überall auf der Welt, auf jedem Kontinent,

in jedem Land, egal welche Sprache die Menschen sprechen, immer ist es so. Es hängt nicht von Bedingun-

gen ab, weil es einfach die Natur des Geistes ist, die Natur des Gewahrseins. Und darum spielt es auch keine

Rolle, wie alt die Texte sind. Und da hinein können wir uns entspannen: Es ist so und wir lassen alles weg, was uns davon trennt.

Karmapa fährt fort:

Untersuche [den Geist] bei angenehmen Erfahrungen und lenke den Geist auch immer wieder auf

schwierige Erfahrungen.

Das heißt, es geht darum, nicht nur Ruhe und Bewegung zu untersuchen – ob es sich dabei um dasselbe

Wesen des Geistes handelt oder nicht –, sondern auch darum, Angenehmes und Unangenehmes zu ver-

gleichen in der aufgewühlten Erfahrung einer schwierigen Situation. Ändert sich das Wesen des Geistes, oder ist es immer noch dasselbe, und zwar erlebbar und nicht nur theoretisch.

Das sind Instruktionen, die uns unser Leben lang begleiten werden. Es geht darum, immer wieder, in jeder

Situation, egal was wir erleben, immer wieder zu schauen: „Wie ist es? Was ist die Natur, das Wesen der

jetzigen Erfahrung?“

Als Instruktionen (Tib.: khrid) bezeichnet man Belehrungen, wie man die Praxis aufrechterhält. Wenn

man verstanden hat, wie man üben soll, sagt man, „die Instruktionen sind abgeschlossen“.

Man könnte auch sagen, sie sind angekommen. Vielleicht habt ihr davon gehört, dass im Vajrayana eine

vollständige Übertragung aus Wang, Lung und Tri besteht. – Nicht, dass ihr euch wundert, es wird khrid geschrieben, aber Tri gesprochen.

Wang im Vajrayana wird als Ermächtigung übersetzt, auch manchmal als Initiation. Das Wesen von Ermäch-

tigung hier ist diese Vertrauensübertragung. Also wenn wir z.B. eine Ermächtigung in Vajrasattva bekom-

men, dann heißt das, dass wir in Gegenwart eines Meisters oder einer Meisterin praktizieren. Dabei geht die

Person, die die Ermächtigung überträgt, in das volle Gewahrsein des Erwachens und überträgt dann die Ge-

wissheit, dass der Geist aller Anwesenden genau dieselbe Natur hat. Wir werden ermächtigt, wir bekommen

ein Vertrauen ausgesprochen, Buddha zu sein. Wang bedeutet eigentlich Kraft oder Macht und diese

Übertragung ist eine Vertrauensübertragung. Man kann sogar sagen, sie ist eine Übertragung von

Gewissheit, aber wenn sie bei uns ankommt, ist es erstmal ein Vertrauen. Bis es zur Gewissheit wird, braucht es den Weg der Praxis.

Eine echte Ermächtigung findet also dann statt, wenn dieses Vertrauen bei mir ankommt: „Tatsächlich, in der

Tiefe bin ich Buddha!“ Ich bin mir dessen oft nicht bewusst, aber in der Tiefe entsteht ein aufkeimendes

Vertrauen. Und mich immer wieder damit zu verbinden, ist meine tägliche Praxis, bis das dann realisiert

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wird, ganz da ist.

Lung bedeutet Atem, Energie, Wind und erwachte Rede als Ausdruck dieser Energie. Es ist die Übertragung

der Worte des Erwachens; der Worte, die das Erwachen kommunizieren. Mit der Vertrauensübertragung geht eine Übertragung der erwachten Rede einher.

Tri – worauf sich auf Karmapa hier bezieht – sind die Instruktionen, wie man die Praxis dann aufrechterhält.

Das sind aus der Erfahrung der Meister gewachsene Instruktionen, die immer mit den Praktiken weiterge-

geben werden, wie man das denn nun tatsächlich macht. Sie geben den Saft aus der persönlichen Erfahrung

hinein. Diese Erklärungen und Instruktionen sind noch nicht abgeschlossen, wenn bei den Schülern immer

noch die großen Fragezeichen sind. Das heißt, als Schüler aus dem Raum zu gehen und immer noch nicht zu

wissen, wie ich denn zu praktizieren habe, ist nicht angebracht. Es ist gut, die Lehrer zu piesacken, bis ich

verstehe, wie ich denn nun zu praktizieren habe. Wenn das klar geworden ist, dann ist für den Moment die

Meditationsinstruktion abgeschlossen. Das fügt Karmapa hier ein, weil dieser Text ja geschrieben ist, um

klar zu machen, wie wir meditieren sollen und dass Lehrer auch noch mehr Material in der Hand haben, um

zu wissen, wie sie das formulieren können, wie sie im Unterrichten vorgehen können. Wenn die Instruktio-

nen klar angekommen sind und ihr jetzt wisst, wie ihr zu praktizieren habt, dann geht ihr und praktiziert! Das

ist, was hier mit dem nächsten Satz gemeint ist:

Indem du das Verständnis, wie man praktiziert, unzerstreut aufrechterhältst, kommt es ohne Schwie-

rigkeiten zu Erfahrungen und Erkenntnissen, und du siehst das Wesen [des Geistes].

Spätestens zum Ende dieses Kurses möchte ich, dass alle von euch diese Sicherheit haben, zu wissen, wie es

denn zu praktizieren gilt; jeder an seinem Ort, in seinem Prozess in der Praxis. Das Ziel ist also, dass jeder

Schritte gemacht hat und zugleich auch weiß, wie er dann zu Hause weiter praktiziert. Dafür müsst ihr Sorge

tragen, denn ich bin nicht hellsichtig, kein Stück. Ich werde nur an euren Fragen erkennen, wo es noch etwas

zu klären gibt. Es geht darum, dass ihr mit einer Sicherheit nach Hause geht, was die nächsten Schritte sind.

Um dann Sicherheit zu erlangen – in dem, was man da an Verständnis erlangt hat – und die Zweifel

auszumerzen, wird nun die Einführung gegeben. – Es werden zusätzliche Erklärungen gegeben. – Das

funktioniert so:

Allgemein gesagt, besteht Meditation aus Geistesruhe und Einsicht. Zunächst zur Geistesruhe:

Lässt du den Geist natürlich entspannt verweilen und kommt dann alles begriffliche Denken von

selbst zur Ruhe, dann verweilt der Geist klar und still, wie er von Natur aus ist.

Wenn der Geist nicht aufgewühlt wird, verweilt er ruhig. Das ist er von Natur aus.

Der Geist gerät nicht in die Ablenkungen dieser Welt und dieses Lebens, er ist glücklich und geschmei-

dig – fließend –, alle Störgefühle werden fein und beruhigen sich und du verweilst einsgerichtet – also

ganz gesammelt – im Wesen des Heilsamen. – Also dessen, was gut tut. Geistesruhe ist zutiefst heilsam.

Du kannst so lange wie du wünschst so verweilen und spürst nicht mehr das Kommen und Gehen des

Atems. Verhält es sich so?

Frage an jeden Einzelnen von uns: Können wir das bestätigen?

Teilnehmer: Ich dachte gerade, dass der Geist ja auch so eine ganz große Lust hat, kreativ zu sein. Gar nicht mal nur, in sich zu verweilen, sondern auch …

Hat er. Aber wie hat er denn Lust? Wenn du damit jetzt einfach entspannt umgehst, was passiert mit dieser

Lust?

Die kommt auf und legt sich wieder, setzt sich wieder.

Genau. Es ist so eine Welle, die durchrauscht. Du kannst mit ihr gehen, du kannst das tun, was da so an

Ideen kommt, du kannst sie auch durchrauschen lassen. Und dann beruhigt sich der Geist wieder. Und du

kannst sogar Geistesruhe in dieser Welle erfahren. Es ist nicht so, dass Geistesruhe nur im Nichtstun oder der

Ruhe erfahrbar ist, sondern sogar auch in der Welle.

Aber tatsächlich – darauf muss ich auch hinweisen – wird die Geistesruhe, von der hier die Rede ist, dann

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erfahren, wenn wir eine Welle nach der anderen lassen können, ihr nicht aufsitzen, sondern sie einfach mal

auslaufen lassen. Dann erfahren wir eine Geistesruhe, die tiefer ist als alles, als wir vorher je erfahren haben,

weil wir mit nichts mehr verwickelt sind. Die Kreativität des Geistes ist weiterhin da, zeigt sich aber als

dieses dynamische, strahlend leuchtende Gewahrsein der Geistesruhe und braucht keine Gedankenketten,

Ideen usw. Die braucht es nicht, es geht auch ohne. Da treten wir dann in tiefere Geistesruhe ein.

Wenn wir es sein lassen, der Kreativität zu folgen, also sie in konkrete Projekte umzusetzen mit Denken und

Ausmalen – wir können ja innerlich ganze Symphonien komponieren; der Mensch hat ja eine unglaubliche

Vorstellungskraft –, dann merken wir, dass diese zielgerichtete Kreativität zu einer Dynamik wird. Sie bleibt

dynamisch, braucht aber keine Projekte, keine Gedankenketten usw. Und darin finden wir tiefere Ruhe. Das

ist von Vorteil, weil der Geist dadurch klarer wird, er nimmt besser wahr, wie das Erleben in seiner Tiefe ist.

Immer wenn wir uns auf ein Projekt, eine Idee, etwas Kreatives einlassen, sind wir schon wieder im Tun und

nehmen nicht mehr so gut dieses Panoramische wahr und die Qualitäten des Erlebens. Deswegen ist es gut, solche Geistesruhe zu kultivieren.

Vermutlich ist es nicht so, dass die Geistesruhe, in der man die Atembewegung nicht mehr spürt, mal gerade

so um die Ecke ist, oder?

Karmapa möchte hier darauf aufmerksam machen, dass es das gibt und sagt:

Dann ist das besondere Geistesruhe.

Besondere Geitesruhe bedeutet, dass es nicht nur die gewöhnliche Geistesruhe ist – mal ein bisschen ruhig –,

sondern man erfährt dann tiefe Geistesruhe, wenn die Atembewegung nicht mehr spürbar ist. Das ist dann tiefe Geistesruhe. Karmapa fügt an:

[Doch] hierbei handelt es sich hauptsächlich um Erfahrung; – eine Meditationserfahrung, Tibetisch nyam

– wirkliche Erkenntnis wird dadurch nicht erlangt und doch ist diese Geistesruhe unentbehrlich.

Karmapa nimmt hier Bezug auf diesen Parkplatz, wo wir den Geist parken können. Wenn wir den Geist so

ganz zur Ruhe kommen lassen, dann hat das schon viele heilsame Auswirkungen, unser Energiesystem wird

wie gereinigt. Wir erleben, dass die Organe besser funktionieren und kommen tatsächlich in eine bessere

körperliche und geistige Gesundheit hinein. Wir erleben, dass die emotionale Verstrickung keine Nahrung

mehr bekommt, dass es ganz weich, offen und geschmeidig im Geist wird. Das ist natürlich total angenehm,

tiefer Frieden. Der Geist wird ganz klar und wir nehmen präzise wahr. Jede Geistesbewegung wird wahr-

genommen – die Gedanken, die dann auftauchen, und auch, wie sich diese Gedanken wieder auflösen. Wir

können sehr genau sehen, wie wir funktionieren, wie wir sind. Und diese Klarheit, dieses genaue Sehen und Mitbekommen, brauchen wir und das ist unentbehrlich.

Wir brauchen dieses klare Wahrnehmen von dem, wie es ist. Aber in sich ist diese Ruhe keine Befreiung, sie

ist vorübergehend. Kaum gehen wir wieder in die Aktivität, in die Kreativität und in die zwischenmensch-

liche Begegnung, sind die Muster wieder aktiv. Die Muster, die in der Praxis zur Ruhe gekommen sind, sind

wieder aktiv und wir neigen dazu, uns erneut zu verstricken und haben dann den Wunsch, schnell wieder zur

Geistesruhe zurückzukommen. Das ist ein Zeichen, dass wir noch nicht ganz „gar“ sind, die Muster haben

sich noch nicht aufgelöst und wir neigen dazu, schnell wieder auf die Parkspur zu gehen und wieder innezu-

halten, einfach um wieder ein bisschen Pause zu haben. Aber das ist ja keine Lösung!

Es geht darum, frei in der Aktivität sein zu können, frei im Handeln, in der Interaktion, in der Kommunika-

tion, und das ist eine hohe Herausforderung. Um die Prozesse auslösen zu können, die es braucht, dass in

diesen Mustern Lösung stattfindet, braucht es dieses klare, ruhige Gewahrsein. Es braucht die Klarheit. So

wie wir mit einem verschmierten Mikroskop nichts sehen können, so müssen wir auch unsere eigene Brille

putzen, um klar sehen zu können, wie es zu einer Emotion kommt, was die Auslöser sind, wo die Identifika-

tionen stecken, um dahin unser Gewahrsein bringen zu können, dahin entspannen zu können. Das ist die

Notwendigkeit von Geistesruhe. Geistesruhe ermöglicht uns, mit einem ganz wachen, klaren Geist unser Erleben anzuschauen, in den Geist zu schauen.

Und mit dieser Geistesruhe arbeiten wir dann weiter. Wenn sie sich einstellt, nutzen wir sie, um zu forschen.

Das heißt, die Geistesruhe ist dann Werkzeug, unser Geist wird dann zu einem viel geschmeidigeren, klare-

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ren Werkzeug. Man kann sagen, zu einem echten Präzisionswerkzeug. Er wird so präzise, und weil er durch

diese Entspannung auch so geschmeidig geworden ist, können wir ihn lenken, wohin wir wollen und ver-

schiedene Aspekte des Seins untersuchen bzw. sie werden auch, wenn es uns interessiert, wie von selbst klar,

wenn wir offen sind dafür, Neues zu entdecken.

Indem man dies – diese geschmeidige Geistesruhe – ohne Anhaften aufrechterhält, …

Das ist der springende Punkt: Die Geistesruhe zu leben und sich dabei weiter vom Anhaften zu befreien, ist

der springende Punkt, denn in dem normalen ruhigen Sein, das uns so gut gefällt, kommt dieses Bewahren-

Wollen, dieses Wiederhaben-Wollen hinein. Das nennen wir Anhaften und es geht darum, in der Geistesruhe

noch weiter zu entspannen, noch weiter in gelöstes Sein hinein zu finden.

… verweilt das Bewusstsein in diesem Zustand wie es ist, gelöst und absichtslos, ohne in Wildheit,

Dumpfheit, Unbestimmtheit oder Gleichgültigkeit zurückzubleiben. Über dieses Bewusstsein lässt sich

nicht sagen: „Das Wesen des Geistes ist so und so...“. Es hat keine Farbe oder Form und ist jenseits

von Worten und Vorstellungen. Es ist zwar erkennbar und erfahrbar, da es dem eigenen Geist auf

diese Weise erscheint, doch kann es – wie die Freude der Jugend – nicht beschrieben werden.

Es gibt auch noch andere Bespiele. Versucht, den Geschmack von Zucker zu beschreiben. – Tja, wer ihn

nicht geschmeckt hat?!? … kann nichts darüber erzählen. Das ist hier mit Freude der Jugend gemeint. Die

jugendliche Frische wird ganz klar und lebendig mit ganzem Körper und ganzem Geist erfahren, aber ver-

sucht es jemandem zu erzählen oder zu kommunizieren, wie das genau ist. – Erleben kann total klar und

präzise sein und entzieht sich doch letzten Endes einer befriedigenden Beschreibung. Und das gilt eigentlich

für alles Erleben; das hier ist nur ein Beispiel. Ein anderes berühmtes Beispiel ist, den Geschmack von Honig

oder Zucker zu beschreiben. Ihr könnt an dieser Stelle irgendetwas einsetzen. Beschreibt den Geschmack

einer Birne jemandem, der noch nie eine gegessen hat. Tja, merkt ihr? Ich kann den Geschmack einer Birne

jetzt gerade richtig wahrnehmen; aber beschreiben? Nein. So können wir auch die Natur des Geistes ganz

klar, direkt erfahren, aber wir merken, dass ein Beschreiben nicht möglich ist. Das, was wir da beschreiben

wollen:

Es ist die Einheit von Erscheinungen und Leerheit, nicht greifbar, frei von allen begrenzenden Vor-

stellungen, unverfälscht durch jegliches Denken über den Dharma, unverschmutzt durch jegliches

weltliches Denken, unerreichbar durch bloße Geistesruhe und bloßes Nichtdenken. Man nennt es

„Wurzel aller Qualitäten“, „gewöhnliches Bewusstsein“ oder „Geist“.

Karmapa ist gerade dabei, diese Erfahrung des gewöhnlichen Seins zu umschreiben und benutzt Worte, die

uns vielleicht vertraut sind. Ich werde noch ein paar Worte mehr benutzen, um es verständlicher zu machen.

Wir sind dabei, gemeinsam die Unterweisung zu studieren.

Die Einheit von Erscheinungen und Leerheit: Erscheinungen sind Wahrnehmungen, alles Erleben wird hier

Erscheinung genannt; alles, was im Geist aufscheint. – Tibetisch nangwa – Dieses, was als Erleben erfahrbar

wird; diese Erscheinung; das, was da aufscheint, hat so eine Qualität von Licht, weil es ja deutlich erfahrbar

wird; es ist so klar, wie am helllichten Tag. Und dieses klare Erleben ist zugleich nicht fassbar. Versucht

doch bitte mal den Moment jetzt zu fassen oder vielleicht den jetzt …. …. Nur nichts machen, damit er nicht

verloren geht? Merkt ihr, was mit „leer“ gemeint ist? Eine Annäherung; es ist nicht fassbar, nicht greifbar, das Erleben ist aber so deutlich!

Jetzt, wenn ich aufhöre zu reden. … … … Da ist ein ganz deutliches Erleben dieser sogenannten Pause. Weil

Pause ist, ist das Erleben …. …. noch deutlicher. Aber festhalten können wir es deshalb trotzdem nicht. Wir

können das Erleben nicht deshalb besser festhalten, weil es noch deutlicher wird, und auch diffuses Erleben

lässt sich nicht festhalten. Erleben lässt sich nicht festhalten, das ist einfach in der Natur der Dinge. Das

nennt man „leere Natur“. Wenn da etwas wäre, wenn es da einen Wesenskern gäbe, irgendetwas in dem

Erleben, das man fassen könnte, dann würden wir es nicht „leer“ nennen. Dann wäre es fassbar. Aber dieses

Sein ist nicht greifbar, das ist gemeint mit „erscheinend und leer“. Diese Wortwahl ist in meinen Augen auch

besser: „erscheinend und leer zugleich“, es ist einfacher zu verstehen als „die Einheit von Erscheinung und Leerheit“, das sind ziemlich heftige Substantive.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Gehen wir mal weiter. „Nicht greifbar“ haben wir jetzt gut erklärt.

Frei von allen begrenzenden Vorstellungen bezieht sich auf die extremen Vorstellungen. Das ist der

Terminus technicus für

existiert

existiert nicht

sowohl als auch, also existierend und nicht existierend

weder existierend noch nicht existierend

Es umfasst also all unser Bemühen, das Erleben irgendwie zu definieren und einzugrenzen. Das ist hier mit

begrenzenden Vorstellungen gemeint; alles, was irgendwie versucht, das Erleben festzulegen. Das muss

natürlich erklärt werden.

In diesem Erleben, das Karmapa gerade erklärt und umschreibt, sind keine Versuche mehr, es irgendwie

definieren zu wollen. Darum geht es. Wir entwickeln keine Vorstellung mehr darüber, wie es ist, wie es sein

sollte. Dieser Drang, diese Sucht, immer alles definieren zu wollen, ist verschwunden; das kennzeichnet die-

ses Erleben.

Das duale Erleben ist charakterisiert dadurch, dass wir uns als Subjekt mit etwas Erlebtem in Beziehung

setzen und daraus ergeben sich all diese Beschreibungen. Hier ist diese Sucht, immer alles aus der Distanz

beschreiben zu wollen, definieren zu wollen, verschwunden. Es ist Erleben ohne definierende, begrenzende, einengende Vorstellungen. Das Bedürfnis festzulegen hat sich aufgelöst.

Und die gute Nachricht: Dieses Erleben ist unverfälscht durch jegliches Denken über den Dharma. – Ich

sage mit einer gewissen Ironie „gute Nachricht“, weil Dharma dazu dient, uns von allen Sichtweisen zu

befreien. Dharma dient dazu, uns frei zu machen für ein unmittelbares Erleben und ist nicht dafür gedacht,

dass wir unser Erleben mit Dharma-Denken erneut verfälschen. – „Das ist jetzt die Leerheit“, schreit es

innerlich. Das wäre so ein Dharma-Denken. „Das ist das Erwachen“, wieder ein anderes Dharma-Denken;

oder auch: „Nur nicht das! So hat der Lehrer das doch nicht gemeint!“

Das sind neue Komplikationen, die eventuell durch unser Dharma-Studium hinzugekommen sind. Die lassen

wir sein! Wenn wir praktizieren, dient das Dharma-Denken nur dazu, uns auszurichten, uns hineinzubringen

in die Praxis; so, wie wir mit dem Mahamudra-Gebet kontemplieren. Das sind nur Anstöße, um den Geist zu

öffnen, und dann lassen wir alles los; kein Dharma-Vokabular mehr, keine Bezeichnungen, keine Benennun-gen, nur noch sein.

Unverschmutzt durch jegliches weltliches Denken: Das ist dieses duale Denken, da sind auch die weltlichen

Dharmas im Hintergrund gemeint, die verschiedenen Anliegen, wie glücklich zu sein, Leid zu vermeiden,

obenauf zu sein statt unten drunter usw. Der Ausdruck „unverschmutzt“ ist ziemlich heftig, aber so steht’s

im Tibetischen. Der tibetische Ausdruck ist wie Schlamm, weil diese Art, uns in Beziehung zu setzen, unsere

Brille wie mit Schlamm trübt. Wir sehen nicht mehr klar. Wir sind so zielorientiert, gut da zu stehen, zu

gewinnen, nicht zu verlieren, nicht getadelt zu werden. All die Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen trüben unsere Sicht als hätten wir Schlamm auf der Brille.

Unerreichbar durch bloße Geistesruhe: Bloße Geistesruhe ist das – wie vorhin beschrieben wurde –, wenn

der Geist einfach ruhig und friedlich ist. Es ist wichtig, aus der Ruhe und dem Frieden in ein tieferes Los-

lassen zu kommen, noch tiefer loszulassen, auch noch dieses letzte Anhaften zu lösen und wieder die

Dynamik des Geistes zu bejahen; also nicht in der bloßen Ruhe zu bleiben, sondern darüber hinaus in eine

Ruhe in der Bewegung zu gehen; Ruhe in der Dynamik. Bei dem, was jetzt beschrieben wird, ist der Geist

noch nicht in einer großen Aktivität, aber es ist klar, dass da eine innere Vitalität ist. Da ist ein vitales, lebendiges Gewahrsein zu spüren. Es ist nicht einfach Ruhe, Abwesenheit von Gedanken.

Teilnehmer: Das scheint mir schwierig. Ich hab' die letzten Monate beobachtet, dass es ganz leicht für mich

ist, in dieses Sein einzutauchen, still zu sein. Ich nehme aber so einen Geschmack von Trägheit wahr, wo ich

nicht weiß, wie ich damit umgehe. Es ist nicht so, dass ich einschlafe oder müde bin; ich bin wach aber

träge.

Hast du schon eine Ahnung, was hinter dieser Trägheit steckt? Spürst du, welche Neigungen in dir zu dieser Trägheit beitragen?

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Ein Ansatz wäre, dass ich verweilen möchte, weil es ganz nett ist. Aber ich nehme nicht wirklich Anhaftung

wahr, ich habe keinen Impuls.

Bleib mal dabei, du warst schon ganz gut auf der Spur. Geh dem mal nach und fühl hinein, wenn du denkst,

es ist ganz nett und du möchtest verweilen. Daher kommt die Trägheit. Spür aber weiter hinein. Das ist der

Aspekt, wo du den Wunsch hast, so ganz nett und ruhig zu verweilen, aber da ist auch eine Angst. Was ist es

denn, dem du da ausweichst? Du kannst vielleicht die Angst nicht spüren, aber vielleicht hilft es dir, hin-

zuspüren vor was du ausweichst. Dann wirst du fündig, vielleicht schon in ein, zwei Tagen.

Das sind die beiden Fragen, die wir uns da jeweils stellen können: Was ist das Bedürfnis, die Hoffnung? Und

was ist die Befürchtung, die Angst; das, wovor wir ausweichen? Wenn wir diese Muster in uns anschauen –

Hoffnung und Furcht, Anhaften und Ablehnen –, da kommen wir den Hindernissen auf die Spur; dem, was

dazu führt, dass unsere Praxis wieder irgendwo stecken bleibt.

Was daran so schwierig ist, ist, dass wir so vertraut sind mit diesen Bedürfnissen und Ängsten unterwegs zu

sein, dass wir sie eigentlich nicht mitbekommen, weil sie wie zu uns gehören; wir sind das. Es ist schwer,

darauf aufmerksam zu werden, aber es gelingt; tatsächlich ist es möglich.

Ich würde dir empfehlen, erst einmal zu schauen, was es denn eigentlich ist, aber dann in dieser Ruhe, zu der

du jetzt offenbar Zugang findest, deinen Geist ein wenig zu stimulieren, indem du dir Fragen stellst, wie in

diesem Kapitel über Lhaktong. Das ist es eigentlich, was wir nicht so gern haben: in dieser Ruhe durch

solche Fragen aufgewühlt zu werden. Aber es geht darum, mehr ins Forschen zu kommen, wacher zu

werden, diese Ruhe zu nutzen um hinzuschauen; eben nicht träge, sondern so ein bisschen vorwärts.

Diese Unterweisungen, die wir die nächsten Tage miteinander durchgehen werden, haben etwas extrem

Irritierendes. Das merkt ihr vielleicht schon. Da mag mancher denken: „So viele Worte und Fragen! Geht das

nicht auch einfacher?“

Ja, genau, es geht einfacher. Aber das Risiko ist, dass wir dann in einer Einfachheit landen, die nicht die

Einfachheit des Erwachens ist, sondern die Einfachheit einer trägen, ruhigen, schönen, klaren Geisteshaltung.

Da können wir es uns dann gut einrichten, bis die nächste Herausforderung kommt.

Was Karmapa hier beschreibt, ist durch bloße Geistesruhe nicht zu erreichen, auch nicht durch bloßes Nicht-

denken. Also Nichtdenken, frei zu sein von Denken ist eines der Merkmale von Geistesruhe und wird oft für

sehr erstrebenswert gehalten. Es ist ja auch ganz nett, weil sehr erholsam, aber führt nicht ins Erwachen.

Das nennt man also „Wurzel aller Qualitäten“, „gewöhnliches Bewusstsein“ oder „Geist“: Gewöhnliches

Bewusstsein – Tibetisch thamal-gyi shepa – ist ein anderer Ausdruck für Mahamudra-Bewusstsein. Dieser

natürliche, offene Geist ist auch die Wurzel aller Qualitäten; klar, oder er ist halt einfach Geist. Er ist, wie er

ist. Wir brauchen dem eigentlich gar keinen anderen Namen zu geben. Es reicht, den üblichen Namen zu verwenden. So ist er halt. Es ist kein anderer Geist.

Jetzt das Pendant dazu, der nächste Abschnitt:

Das nicht zu verstehen ist „mangelndes Gewahrsein“ – marig-pa – und „Samsara“. Versteht man es,

dann ist es „Bewusstheit“, „zeitloses Gewahrsein“, „Nirvāna“, das „zugleich entstehende ursprüng-

liche Gewahrsein“, das „Natürliche“, „erhellende Klarheit“ oder „Einsicht“.

Nirvāna wird verschieden übersetzt: als Frieden, manchmal im Sinne von Nirodha als Verlöschen aller

Impulse des Haftens, von Identifikation. Zugleich entstehend oder zugleich entstanden – beides sind korrekte

Übersetzungen – bedeutet, dass es immer zugleich da ist, mit aller Verwirrung und was auch immer wir an

Emotionen erleben, an dualen Projektionen, Subjekt – Objekt usw., dieses zeitlose Gewahrsein ist immer die

Natur dessen, was da gerade geschieht und was wir gerade erleben. Und deswegen wird es „zugleich

entstehend“ genannt. Es wird auch das „Natürliche“ genannt, das ist ein Begriff, den Gampopa oft benutzt

hat – Tibetisch nyugma –. Einfach das Natürliche, wie es natürlicherweise ist. Es wird auch „erhellende

Klarheit“ oder Klares Licht genannt, weil diese Klarheit des Geistes zu einem totalen Verstehen führt, es

erhellt alles, so als würde Licht ins Dunkel kommen. Deswegen „erhellende Klarheit“. Und es wird auch

„Einsicht“ genannt.

Hiermit sind die Erkennungsmerkmale von Samsara und Nirvāna unterschieden.

Besser gesagt: Dies sind die Erkennungsmerkmale, die Samsara und Nirvāna unterscheiden. Samsara ist

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mangelndes Gewahrsein, Nirvāna ist Gewahrsein und zwar dieses zeitlose mittelpunktlose Gewahrsein mit

all den Merkmalen, die vorher beschrieben wurden.

Dadurch, dass der Lehrer [in die Natur des Geistes] einführt – und diese Einführung auch tatsächlich beim Schüler ankommt –, erkennt sie der Schüler so als träfe er einen alten Bekannten.

Die Natur des eigenen Geistes wird erkannt, so als hätte man sie immer schon gekannt. Es ist gar nichts

Neues, was einem da aufgeht.

Dieses Erkennen ist die sogenannte „Erkenntnis der Natur des Geistes“. Ein weiser Schüler weiß, dass

dies nicht von dem Lehrer, der sich mit den Kernunterweisungen auskennt, erzeugt worden ist; der

Geist war schon immer so, aber sein Wesen war bislang von emotionaler Verwirrung und begriff-

lichem Denken verdeckt, sodass er es nicht erkennen konnte. Doch nun hat das zwanghafte Denken

aufgehört, er ist in [das Wesen des Geistes] eingeführt worden und hat es dadurch erkannt.

Es war einfach verdeckt. Es ist in uns und ist lange Strecken verdeckt. Manchmal erleben wir es, ohne es zu

bemerken, und wenn es dann zum ersten Mal bewusst erlebt wird, das ist dann der Moment des Erkennens. Wir erleben nichts Neues, wir erleben etwas Vertrautes.

Ja, dieses Erkennen, so als träfen wir einen alten Bekannten, geht damit einher, dass nun das zwanghafte Denken aufgehört hat, wir sind in das Wesen des Geistes eingeführt worden und haben es erkannt.

Jene strahlende Klarheit, in der es keinen Geist zu greifen gibt, erscheint deutlich, obwohl es da keine

Natur des Geistes gibt.

Ihr staunt schon gar nicht mehr. Wir reden die ganze Zeit über die Natur des Geistes und jetzt sagt Karmapa:

„Es gibt überhaupt keine Natur des Geistes.“ Nach all den Paradoxen, durch die wir uns schon durchgehievt

haben, ist auch das nicht mehr tragisch.

Wenn es keinen Geist gibt, den wir irgendwie fassen können, dann ist es auch klar, dass es keine Natur des

Geistes gibt, die wir irgendwie fassen können. Und wenn wir sagen, „Es gibt etwas“, dann muss das irgend-

wie fassbar sein, beschreibbar: Farbe, Form, Lokalisation usw. Aber all das trifft nicht zu, weder auf den

Geist, noch auf sein wahres Wesen, seine Natur.

Jenes vibrierende, ununterbrochene, klare Gewahrsein mit den Geisteseigenschaften Leerheit, Klar-

heit und Bewusstheit ist sein Wesen. Wenn du dieses nackte Erkennen aufrechterhältst, indem du dich

niemals daraus hinausbewegst, dann ist der Nutzen unvorstellbar und intuitive Einsicht ist im ruhen-

den Zustand erschienen.

All die Erklärungen, die hier gegeben wurden, haben die Erfahrung des ruhigen Geistes, der gerade nicht im

Denken ist, der gerade nicht in der Aktivität ist, als Ausgangspunkt genommen. Der Geist wird als leer, klar

und bewusst beschrieben. Ich hoffe, ihr habt euch inzwischen mit dem Wort „leer“ angefreundet. Ich sag es nochmal, weil wir am Anfang des Kurses sind:

Leer bedeutet „ohne Wesenskern“, „nicht fassbar“

Klar bedeutet, dass ein deutliches Erleben stattfindet

Bewusstheit bedeutet, dass immer die Qualität „gewahr zu sein“ präsent ist

Das ist ein Hauptpunkt der Aufklärung. Diesen Kernpunkt konzentriert zu praktizieren und stets

aufrecht zu erhalten ist sehr wichtig. Daher ist der fünfte Punkt, das Wesen des Geistes so zu erkennen

und diese Erkenntnis zu wahren.

Wir befinden uns hier in einem Abschnitt der Übertragung dieses Textes, wo sicherlich viele von euch das

Gefühl haben: „Ups, das geht jetzt etwas weit. Ich bin noch nicht an dem Punkt mit meiner Praxis. Ich habe

noch nicht die Geistesruhe entwickelt, von der hier gesprochen wird und auch, was da für Einsichten

beschrieben werden. Also ganz kann ich das noch nicht nachvollziehen.“ Ich möchte euch nur sagen, dass

mir dieses Gefühl auch sehr vertraut ist. Genauso ging es mir, als ich verschiedene Male diese Erklärungen

bekommen habe.

Ich war noch Student, als Tenga Rinpoche den „Ozean des wahren Sinnes“ in Montchardon übertrug. Wir

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zelteten für einen Monat in Montchardon, und Tenga Rinpoche erklärte uns all diese Dinge. So gut wir

konnten, haben wir alle mitpraktiziert so gut wir verstanden. Später hat es Gendün Rinpoche erklärt, Henrik

und Walli haben es mir und Irene erklärt; immer wieder. Im zweiten Retreat habe ich noch einmal die Erklä-

rungen bekommen und immer so ein bisschen mehr verstanden. Und ich hatte auch mit dem Tod von

Gendün Rinpoche das Gefühl, nicht alles verstanden zu haben – einiges schon. Das Verstehen geht immer

weiter. Das ist unglaublich. Das vertieft sich, weitet sich und geht immer weiter.

Ich beginne jetzt etwas zu verstehen, was Gendün Rinpoche immer wieder gesagt hat und euch sicherlich

vertraut ist: Diese Übertragungen sindso etwas wie Samen setzen; Samen in unseren Bewusstseinsstrom

setzen. Unsere Praxis ist dann wie das Gießen dieser Samen.

Wir praktizieren weiter, wir erinnern uns an diese Erklärungen und sind manchmal ganz überrascht, wenn

wir uns eine Weile gar nicht speziell an sie erinnern, dass etwas reift in uns, ein Verstehen reift. Und wenn

wir intensiv dranbleiben, reift es relativ schnell – in unserer eigenen Geschwindigkeit, wie es uns eben

möglich ist. Es reift heran und das geht offenbar ständig weiter. Ich selber habe noch kein Ende dieses

Prozesses erlebt, das dürfte wahrscheinlich dann sein, wenn man richtig erwacht ist. Aber es geht immer weiter und es ist ein total beglückender Prozess.

Ich wünsche mir sehr, dass ihr aus diesen sehr anspruchsvollen Unterweisungen, die ich jetzt mit euch teile,

mit dem Gefühl heraus geht: „Okay, sehr interessant!“ Und dass ihr das, was ihr verstanden habt, in den

Vordergrund stellt und glücklich darüber seid, was heute wieder an Verstehen entstanden ist und nicht un-

glücklich darüber, was alles noch nicht verstanden wurde. Diese Wahl, wie ihr damit umgeht, habt ihr in

eurem eigenen Geist. Ich bin sicher, jeder hat heute seine Aha-Erlebnisse gehabt, da dürfte doch das eine

oder andere gewesen sein, und das sind die wichtigen Erlebnisse. Der Rest sind die Samen, die gesetzt

werden. Da entstehen so Ahnungen, aber da sind auch Zweifel: „So ganz kapier‘ ich das ja nicht. Okay,

einfach ruhen lassen, mit dem Verstehen weitergehen, was sich jetzt eingestellt hat.“ Dieses Verständnis

leitet uns, und für den Rest vertrauen wir einfach, dass der Geist ja ohnehin so ist. Es heißt ja immer, dass er

ohnehin so ist. Er wird sich sicher eines Tages zeigen, wenn wir dem nicht im Wege stehen. Es wäre schade,

wenn wir dem mit einem zu starken Wollen, alles gleich verstehen zu wollen, im Wege stehen würden.

Meditation

Und jetzt meditieren wir noch ein bisschen … besser gesagt, wir meditieren jetzt nicht, sondern vertrauen

darauf, dass unser Geist sich von selbst entknotet und befreit, dass unser Bewusstsein den Weg ins gelöste

Sein von selber kennt. –

* * *

Ich ermutige euch, die Zeit von jetzt bis zum Schlafengehen als eure Praxiszeit zu nutzen. Zwischendurch

muss man mal essen, das ist unvermeidbar, aber es ist eine lange Zeit von jetzt bis zum Abendessen, und es

gibt auch die Möglichkeit, mit dem Mahamudra-Gebet zu praktizieren. Aber der Sinn ist nur, sich an das

Wesentliche zu erinnern und immer am Wesentlichen zu bleiben. Um mehr geht’s nicht; auch jetzt, wenn ihr

euch ausruht oder vielleicht in Stille spazieren geht. Setzt euch auch einfach in die Mahakala-Praxis, wie es

für euch gut ist, aber bleibt am Wesentlichen. Da das ein Seminar ist, wo wir wenig miteinander meditieren,

ist es wichtig, dass ihr diese großen Zeiträume vor und nach den Unterweisungen nutzt, um selber das umzu-

setzen und anzuwenden, was ihr verstanden habt und euch auf feine Art zu erinnern daran, was denn

eigentlich wichtig ist und worum es jetzt geht. Also streckt euch aus, geht spazieren, aber bleibt verbunden damit.

Wiederholung II

Heute Morgen möchte ich euch im ersten Teil der Unterweisung wieder ein wenig strukturierten Input

geben. Gestern haben wir die Wiederholung der essentiellen Punkte der „Vorbereitenden Übungen“

gemacht, die hier vom 9. Karmapa in einer etwas anderen Reihenfolge stehen, als ihr es vielleicht gewohnt

seid. Um es visuell ein wenig klarer zu machen, könnten wir ja mal die Qualitäten aufschreiben, die in diesen Übungen entwickelt werden. Ihr ruft sie mir vielleicht zu, eine zentrale Qualität pro vorbereitende Übung. –

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Wenn wir das kostbare Menschendasein praktizieren, was ist eurem gewachsenen Verständnis nach die

zentrale Qualität? Dankbarkeit – Ja. Dankbarkeit, schreiben wir das mal auf.

Wenn wir über Vergänglichkeit, Sterblichkeit kontemplieren, was ist das Zentrale? Worum geht es da?

Dringlichkeit – Dringlichkeit, genau. Da merkt man, hier wurde schon praktiziert!

Worum geht es bei Karma, Ursache und Wirkung, was ist da die zentrale Qualität? Hier habt ihr mehrere

Möglichkeiten.

Gestaltungsmöglichkeit, Freiheit, Verantwortung, freies Gestalten.

Verantwortung für das eigene Handeln und ein Erkennen der eigenen Möglichkeiten des freien Gestaltens.

Ja, darum geht es. Die eigene Möglichkeit des freien Gestaltens wahrnehmen. – „Wahrnehmen“ ist ja toll

im Deutschen: Ich nehme wahr, dass es so ist, und ich nehme es wahr und tue es.

Was ist bei der Kontemplation über die Nachteile

von Verstrickung und Samsara der springende

Punkt? Um welche Qualität geht es denn da?

Erkennen, was wirklich zum Erwachen führt.

Ja, klar darüber werden, was wirklich zum Er-

wachen führt.

Wachsamkeit, Achtsamkeit, Wachheit, Weisheit,

Entsagung, Motivation für die Praxis.

Da haben wir also auch mehrere Möglichkei-

ten. Erst einmal ein Entsagen, eine Form der

Weisheit, die weiß, was zu Leid führt. Da geht

es nicht lang! Wir nennen das mit einem etwas

anderen Ausdruck Abkehr; Abkehr von dem,

was nicht gut tut. Und da ist eine Weisheit; die

weiß, wo es langgeht, eine Weisheit über die

wahren Quellen von Glück.

Soweit die Kontemplation.

Worum ging es bei der Zufluchtpraxis?

Was ist da der springende Punkt?

Ausrichtung

Ja, darum geht es bei der Zuflucht. Klare Ausrichtung auf das Erwachen aller.

Worum geht es beim Bodhicitta?

Verstehen, Mitgefühl

Was ist der springende, zentrale Punkt bei der

Vajrasattva-Praxis?

Reinigung

Reinigung denkt ihr. Reinigung ist gut, und

was taucht auf, wenn die Reinigung sich voll-

zieht? Was ist dann die Qualität, die zum Vor-

schein kommt?

Klarheit

Ja, es taucht Klarheit auf, aber ich suche noch

nach etwas anderem, nach einer Qualität, die ganz wichtig ist.

Erkennen von negativen Dingen

Ja, die negativen Dinge werden erkannt, bereinigt, durchschaut. Sie werden auch durchschaut in ihrer

substanzlosen Natur, das ist auch Teil der Vajrasattva-Praxis.

Bereuen

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Ja, Bereuen findet statt. Das Erkennen ist eine Qualität, das Bereuen ist in diesem Zusammenhang nur

Methode. Was kommt nach dem Bereuen?

Loslassen

Da kommt ein Loslassen, wir werden freier. Aber wonach ich gesucht habe, ist, dass diese Vajrasattva-Praxis

uns mit unserem eigenen wahren Sein verbindet. Wir finden ein tieferes Vertrauen in unsere eigene reine

Natur. Darum geht es, um das Vertrauen in die eigene Reinheit. Das ist der springende Punkt, und da bleiben

manche mit ihrer Praxis kleben; sie bleiben in dem Bekennen, Bereuen und Bereinigen. Darum geht es gar

nicht. Das ist nur das, was die Schleier wegräumt. Mit dem langen Mantra, dem 100 Silben- Mantra, machen

wir die Reinigungspraxis. Dann schließen wir die Poren, der Nektar sammelt sich an, und mit dem kurzen

Mantra, dem 6 Silben-Mantra, lassen wir den Nektar aufsteigen. Er berührt den Fuß von Vajrasattva, fließt

an uns hinunterer und dann sitzen wir in der völligen Reinheit des Seins, in dem Vertrauen, dass alles okay

ist. Es ist der springende Punkt der Praxis, da anzukommen und nicht, bei der Reinigung zu bleiben. Es geht darum, wirklich von der Reinigung in die Reinheit zu finden. Also: Vertrauen in die eigene Reinheit.

Was ist der springende Punkt bei Mandala-Praxis?

Großzügigkeit

Ja, Großzügigkeit. Darf ich stattdessen einfach das Wort Freigebigkeit benutzen? Man spricht beim Mandala

vom Vermehren aller Ansammlungen. Mandala-Praxis ist die Praxis der Sechs Paramitas in einem, also

Freigebigkeit, heilsames Handeln, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit in einem.

Diese Qualitäten werden in der Mandala-Praxis gefördert und nicht nur Freigebigkeit. Freigebigkeit ist die

Basis für die anderen Qualitäten. Es ist einfach eine positive Energie, die da aufgebaut wird. Das ist eine sehr bejahende, lebensbejahende Praxis.

Was ist beim Guru-Yoga das Wesentliche?

Hingabe

Klar, Hingabe. Und was beinhaltet Hingabe? Es ist ja keine blinde Hingabe, was beinhaltet diese Form der

Hingabe?

Verstehen und Vertrauen

Ebenfalls geht es um Verstehen und Vertrauen. Um was für ein Vertrauen geht es?

Dass ich die eigene Buddhanatur in mir habe, und ich kann aber trotzdem, wenn ich in einer Notsituation

bin, extern behandeln.

Ja, du kannst extern in die Behandlung gehen, hast aber das Vertrauen in die eigene Buddhanatur. Ja genau.

Vertrauen, zunächst Vertrauen in die Hilfe, die uns zuteil wird – das ist die ganze Übertragungslinie, der

Dharma usw. – und Vertrauen in die eigene Buddhanatur.

Teilnehmer: Verbindet man sich an der Stelle auch mit der Aktivität der Buddhas?

Tut man. Man tritt mit einem echten Guru-Yoga in den Strom des Segens ein. Man wird selber zum Guru,

und wenn du auf Bodhisattvas und Buddhas meditierst und dich mit ihnen verbindest, dann spürst du in dir

die Bereitschaft, genau so zu handeln wie sie. Du trittst in denselben Aktivitätsstrom ein; es ist die Bereit-

schaft, in die Bodhisattva-Aktivität einzutreten.

Das sind die VORBEREITUNGEN. Wenn wir die richtig praktizieren! Stellt euch vor, diese Qualitäten

würden tatsächlich alle in unserem Bewusstseinsstrom wach werden. Brauchen wir dann noch eine extra

Mahamudra-Praxis? – Nicht wirklich. Deswegen heißt es, die Vorbereitungen sind die eigentliche Praxis.

Der Pfeil in meiner Skizze soll veranschaulichen, dass die Vorbereitungen ins MAHAMUDRA führen. Es sind die MAHAMUDRA-VORBEREITUNGEN.

Das eigentliche Mahamudra ist ein Ruhen in diesen Qualitäten. Es ist die natürliche Präsenz dieser Quali-

täten in was immer wir tun; in Ruhe, in Bewegung, im Denken, im Handeln, im Sprechen. Diese Qualitäten

heißen Vorbereitungen für Mahamudra, sind aber bereits die Essenz von Mahamudra. Sie erschließen sich

uns durch verschiedene Methoden, die wir nach und nach durchlaufen. Wir kontaktieren schon einen Ge-

schmack von Mahamudra und dann beginnt die so genannte Hauptpraxis. Das hier waren die Vorbereitungen.

Das ist enorm. Es ist sehr hilfreich, sich auch visuell klar zu machen, was da eigentlich stattfindet. Leider

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werden die Vorbereitungen nicht mehr intensiv genug praktiziert. Gendün Rinpoche hat das geschickt gelöst.

Er hat befürwortet, den Leuten Unterweisungen über Shine und Lhaktong zu geben, dass praktizieren können

und ihre Grenzen erreichen, wo sie nicht weiterkommen. Dann merken sie, wie wichtig die Vorbereitungen

sind und fangen an, die Vorbereitungen nachzuarbeiten. Es ist also nie zu spät, wenn ihr jetzt merkt: „Hoppla, das macht alles ziemlich Sinn!“ Ihr könnt auch noch nachbessern.

Soweit zu den Vorbereitungen als Ergänzung zu den Unterweisungen von gestern. Jetzt kommen wir zur so-genannten Hauptpraxis.

Wohl gemerkt, die HAUPTPRAXIS ist dann die Meditation. Aber wenn ihr bei Gampopa im „Kostbaren

Schmuck der Befreiung“ nachschaut oder in irgendeinem Buch, in dem Meditation mit Hilfe von Zitaten der

alten indischen Meister definiert wird, dann wird die Meditation, das fünfte Paramita – Verweilen in medita-

tiver Stabilität – definiert als das unabgelenkte Verweilen im Heilsamen. Das ist die echte Definition, die

ihr in allen Texten findet. Da steht nichts von Ruhe und Sitzkissen usw. Wir können jederzeit unabgelenkt im

Heilsamen verweilen. Handeln kann zur Meditation werden, Sprechen kann zur Meditation werden, In-Bewegung-sein kann zur Meditation werden.

Das Heilsame, worauf hier Bezug

genommen wird, sind die Qualitä-

ten, die auf der Seite mit den Vorbe-

reitungen stehen. Es ist das Verwei-

len in den Qualitäten, die das Erwa-

chen ausmachen. In diesen Qualitä-

ten zu verweilen – in dem, was so

heilsam ist, dass es zum Erwachen

beiträgt und Ausdruck des Erwa-

chens ist – ist die Definition von

meditativer Stabilität, von tiefer

meditativer Präsenz – Tibetisch

samten. Das ist es, woraus Weisheit

entsteht.

Die Basis wird durch heilsames Verhalten gelegt. Heilsames Verhalten erleichtert die Meditation, die

meditative Präsenz, und die führt dazu, dass Weisheit entsteht.

Kennt jemand den technischen Begriff für diese drei? Wisst ihr, wovon ich da gerade spreche?

Die drei Schulungen: Shila – Samadhi – Prajna

Die gesamte Dharmapraxis, alles was der Buddha je gelehrt hat, lässt sich in diesen drei Schulungen zusam-

menfassen. Der Buddha selbst hat diesen Begriff verwendet. Shila, samadhi und prajna auf Sanskrit – heilsames Verhalten, Meditation und Weisheit.

Heilsames Verhalten ist ganz essentieller Teil der Vorbereitungen, wir räumen auf mit unserem Leben, mit

unserem Verhalten. Spätestens bei der Zufluchts- und Vajrasattva-Praxis wird heilsames Verhalten zentral;

da nehmen wir auch Verpflichtungen heilsam zu handeln, und darauf baut die Meditation auf. Wenn der

Geist von allen möglichen nicht-heilsamen Verstrickungen aufgewühlt ist, führt das zu immer mehr

Emotionen, man ist dabei, sich selbst und anderen was vorzumachen, sich vor anderen zu verstecken, sich vor sich selbst zu verstecken, was zu ständigem Aufgewühltsein führt. So kann Meditation nicht entstehen.

Wenn das Leben klar und durchgearbeitet ist, dann ist Meditation relativ leicht. Dann kann man gut mit den

inneren Geistesinhalten arbeiten, und dann kommt es zur Meditation. Die Hauptpraxis beinhaltet nicht nur

das, was wir Meditation nennen, sondern es geht um eine Entwicklung von Weisheit. Pädagogen im Dharma

haben es dann sortiert in Shine und Lhaktong, in Shamatha und Vipassana, Geistesruhe und Einsichts-

meditation. Geistesruhe stärkt das 5. Paramita, bis es zu völliger Unabgelenktheit im Heilsamen kommt; zu

völliger Tiefe, wie ein glatter See in der Mittagssonne. Aus der Geistesruhe schauen wir immer wieder

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hinein in die Natur des Erlebens mithilfe dieses geschärften Mikroskops. Das ist dann Einsicht, tiefe

Einsicht.

Diese Weisheit hat auch eine Definition, das ist das tiefe Verstehen davon, wie die Dinge erscheinen und

was ihre wahre Natur ist. Das ist die zweifache Erkenntnis.

Wenn im tibetischen Buddhismus vor allen Dingen von Allbewusstheit – dumm übersetzt Allwissenheit –

gesprochen wird, so ist damit nicht gemeint, dass ein Buddha z.B. weiß, wie man ein Auto repariert oder eine

Rakete startet oder chemische Formeln löst. Mit Allbewusstsheit sind diese beiden Formen der Erkenntnis

gemeint. Buddhas sind sich in jedem Moment ihres Erlebens bewusst, wie die Dinge erscheinen; sie wissen

über die vielfältigen Ursache-Wirkungsketten, die dazu führen wie die Dinge erscheinen, das, was wir

relative Wirklichkeit nennen. Sie sind sich bewusst, wie sich Täuschungen manifestieren, aus welchen Be-

dingungen sich das Erleben zusammensetzt. Das ist der erste Aspekt der Bewusstheit eines vollkommen

Erwachten. Der zweite Aspekt ist, dass ein Erwachter in jedem Moment seines Erlebens gewahr ist, was die

wahre, nicht-fassbare, leere, substanzlose Natur der Erfahrung ist. Deswegen entsteht kein Moment von

Täuschung mehr im Geist eines vollkommen Erwachten. Das ist die Definition von Weisheit.

Dabei ist man – ihr habt meine kleinen Vorbehalte schon gemerkt – in der Kagyü-Linie überhaupt und

speziell als Schüler von Gendün Rinpoche nicht so geneigt, Geistesruhe und Einsichtsmeditation voneinan-

der zu trennen. Sie sind eigentlich nicht zu trennen. In der Kagyü-Linie wird die Einheit von Geistesruhe und

Einsichtsmeditation praktiziert, aber auch der Karmapa hat seinen Lehrtext unterteilt in Geistesruhe und

Intuitive Einsicht, weil das pädagogische Vorteile hat.

Man muss sich zunächst bei den meisten Schülern um Geistesruhe kümmern, damit der Geist ein bisschen

klarer wird und besser untersuchen kann. Das ist vergleichbar damit, dass man ein Labor sauber macht,

bevor man diffizile Experimente macht, oder dass man ein Mikroskop erst putzt, bevor man es verwendet.

Das hat eine gewisse Logik.

Die Geistesruhe ist also nicht bloß eine Ruhe des Geistes sondern ein unabgelenktes Verweilen in dem, was

gut tut, was wirklich zum Erwachen beiträgt. Daran müssen wir immer denken. Wir praktizieren nicht ein-

fach nur Wohlfühl-Entspannung, sondern eine Entspannung, die uns so weit für die inneren Qualitäten

öffnet, dass wir das direkt schon als heilsam erfahren. Geistesruhe wird subjektiv als öffnend erfahren, als

wach machend, erfrischend, harmonisierend usw. Sie hat ganz viele heilsame Auswirkungen. Deshalb kann

man auch z.B. mit dem, was als Meta-Meditation oder Tonglen-Praxis bekannt wurde, Geistesruhe

praktizieren, wir verweilen in den Qualitäten von Liebe und Mitgefühl. Wir verweilen gezielt in Qualitäten.

Man kann in Qualitäten wie Dankbarkeit, Freude – nehmt was ihr wollt – so tief aufgehen, dass der Samadhi,

die Geistesruhe im Erleben dieser Qualität entsteht. Und darum spricht man von unzähligen Samadhis, weil es unzählige heilsame Geisteszustände gibt, in denen man aufgehen kann.

Es ist kein x-beliebiges Verweilen. Bei einem Videospiel ist man auch total unabgelenkt, aber es ist nicht

heilsam in dem Sinne, dass es zum Erwachen beiträgt. So kann man auch ganz leicht die Unterscheidung

treffen zwischen Meditation im Sinne von unabgelenktem Verweilen in Heilsamem und so genannter

Meditation bei diversen Aktivitäten. Viele Berufe brauchen eine unabgelenkte Aufmerksamkeit, z.B. Flug-

lotsen. Sie brauchen nach einer Dreiviertelstunde eine Pause, weil sie so völlig unabgelenkt sein müssen.

Oder stellt euch einen Rennfahrer vor, der darf sich keinen Moment des Abgelenktseins erlauben, aber das

führt nicht zum Erwachen. Diese Art des Unabgelenktseins wird ihre inneren Qualitäten nicht freisetzen und ihre Schleier nicht auflösen.

Der Weisheitsaspekt wäre also die Einsichtsmeditation. Geistesruhe und Einsicht, die beiden versuchen wir

in unserer Praxis miteinander zu verbinden.

Es gibt auch eine logische innere Struktur, wie Unterweisungen in Geistesruhe gegeben werden. Diese Struktur entspricht ungefähr den Überschriften hier in unserem Text.

In den klassischen Texten zur GEISTESRUHE finden sich zuerst immer die grundlegenden Instruktionen

zur Körperhaltung. Die Praxis von Geistesruhe findet zunächst meistens mit Hilfe der Körperempfindun-

gen statt. Da kann man natürlich den Body-Scan machen usw. Eigentlich schaut der Praktizierende, ob er gut

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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sitzt und ob er aufrecht sitzt, sodass der Geist klar werden kann und versucht, da wo es noch möglich ist

weiter zu entspannen.

Dann werden sukzessive die Sinneswahrnehmungen dran genommen. Hier fängt Karmapa mit dem Visuellen

an, visuelle, akustische usw. Sinnesempfindungen. Das nennen wir das Ausweiten der Geistesruhe in die

Wahrnehmungen der zunächst fünf äußeren Sinne und dann kommt der sechste Sinn dran, das Denken. Da wird ein Zwischenschritt eingebaut.

Die Titel im Text sind:

1) Schlüsselunterweisungen zur Haltung

von Körper und Geist

2) Den Geist mit einem visuellen

Objekt stabilisieren

Da geht Karmapa auch schon in die Mög-

lichkeit, ein visuelles Objekt zu visualisie-

ren. Es muss nicht äußerlich sein; es kann

visuelle Wahrnehmung als Visualisation sein, als Vorstellung.

3) Die Sammlung mit anderen Sinnes-

wahrnehmungen vertiefen

4) Dumpfheit und Aufgewühltheit zu

beseitigen und den Geist sammeln

5) Den Geist ohne Stütze ausrichten

Was hier als Praxis ohne Stütze genannt wird, ist der sogenannte mentale Sinn. Da gibt es, was die Arbeit mit dem Praktizieren ohne Stütze angeht, zwei Definitionen.

Im Vipassana, in der Theravada-Tradition, versteht man unter Praktizieren ohne Stütze das Praktizieren mit

mentalen Sinnesempfindungen – Gedanken, Gefühle, Bilder usw., die daherkommen. Egal was kommt, es

wird als Stütze für das wache, unabgelenkte Gewahrsein genommen. Die Sinnesempfindungen werden

daraufhin angeschaut, dass sie vergänglich und substanzlos sind – anicca und anatta. Das nennt man im

Theravada „Praktizieren ohne Stütze“, weil es keine feste Stütze gibt. Aber die auftauchenden Geistesbewe-

gungen werden – aus unserer Sicht – doch als Stütze für die Praxis genommen. So drückt es Karmapa auch

aus, ihr werdet das in den Unterweisungen dann wieder finden. Man nimmt die Gedanken, die geistige

Aktivität als Stütze der Praxis.

Und dann gibt es ein zweites Praktizieren ohne Stütze. Das erste habe ich gerade erklärt, es ist mit Gedanken,

und beim anderen ruht das Gewahrsein in sich selbst. Das ist noch nicht Mahamudra. Es ist auch euch zu-

gänglich; wir haben es gestern miteinander praktiziert. Das Gewahrsein ruht in sich selbst und man nimmt

wahr, dass ständiges Gewahrsein da ist. Man nimmt das selber wahr, die ganze Zeit nehmen wir wahr, „Ja,

ich bin bewusst“, und manchmal kommt auch ein Kommentar: „Ja, da ist doch Bewusstsein.“ Wir erleben so

ein vibrierendes, frisches, dynamisches Sein, aber wir nehmen es mit einer beobachtenden Funktion wahr.

Das ist ein dualer Geisteszustand. Deswegen gehört das noch zu Geistesruhe. Das ist das eigentliche Prakti-

zieren ohne Stütze, weil nicht mehr irgendeine Sinneserfahrung, eine Bewegung als Stütze des unabgelenk-

ten Seins genommen wird, sondern der Geist beginnt, in sich selber zu ruhen, mit einer leichten Beobachter-

funktion, die noch da ist, weil wir noch nicht ganz die Kontrolle loslassen. Und dieses Praktizieren ohne

Stütze, wo das Gewahrsein in sich selber ruht, ist der Übergang in die Mahamudra-Praxis. Von da geht es dann in das ganz natürliche Verweilen.

Dann wird auf dem Weg immer noch von allen Lehrern die Atemmeditation eingeschoben. Die Meditation

mit dem Atem hat sich als Passepartout erwiesen. Das ist für die meisten Menschen die am leichtesten

zugängliche Praxis. Sie ist zwar Körperempfindung, spiegelt aber die gesamte emotionale Befindlichkeit

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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wieder. Im Atem ist so ein subtiles Wahrnehmen von Lebendigkeit, von emotionaler Befindlichkeit, von

verschiedenen Stufen der Geistesruhe, von Entspannung; all das lässt sich am Atem erleben, und der Atem

ist ein wunderbares Beispiel für die prozesshafte Natur des Seins. Man kann den Wandel daran

kontemplieren, man stirbt bei jedem Ausatmen und beginnt zu leben mit jedem Einatmen. Mit dem Atem

sind so viele symbolische Bedeutungen verknüpft, er ist so vielseitig anwendbar, dass er ein Renner unter den Meditationspraktiken geworden ist – Atem als Passepartout.

Das geht zurück auf eine Unterweisung des Buddha, das Anapanasati Sutta, die Lehrrede über ana, pana

und sati – ana bedeutet einatmen, pana ausatmen und sati gewahr sein – gewahr sein mit dem Ein- und

Ausatmen. Das ist die einzige Lehrrede im Pali-Kanon, die mir bekannt ist, wo der Buddha einen Monat

vorher angekündigt hat, dass er eine besondere Unterweisung geben wird und damit allen Leuten Gelegen-

heit gegeben hat, sich zu versammeln. Es war am Ende der Regenzeit und die Boten gingen zu allen anderen

Teilen der Sangha, die sehr groß geworden war, um alle zu informieren: „Der Buddha wird am nächsten

Vollmond eine besondere Unterweisung geben und wünscht sich, dass ihr alle da seid.“ Damals hat der

Buddha diese Meditation mit dem Atem erklärt. Er hat gesagt, dass er das und das und das schon erklärt

habe, dass man aber alles auch mit einer Methode praktizieren kann, und er gab diese kurze Unterweisung

über die 16 Schritte der Anapanasati-Meditation. Das Vierfache Kultivieren des Gewahrseins (körperliche

Gestaltung, geistige Gestaltung, Geist und Dharmas) mit dem Atem.

Das ist auch in der tibetischen Tradition angekommen, im Zen, in allen Traditionen wird mit dem Atem

praktiziert. Schon zu Zeiten Buddhas hat diese Praxis starke Unterstützung erfahren; und alle erleben ja auch

am eigenen Körper, wie gut das tut. Deswegen versucht man, all die anderen Punkte in der Atemmeditation

zu vereinen. Das heißt, man arbeitet z.B. mit Körperempfindungen und hält ein gewisses Atembewusstsein;

man praktiziert gelöstes Sein mit akustischen Empfindungen, visuellen Empfindungen usw., mit Gedanken,

Gefühlszuständen; alles wird in die Atempraxis mit rein genommen. Als Spezialität im Mahayana- Buddhi-

smus nimmt man die Qualitäten von Mitgefühl und Liebe und all die anderen Qualitäten, die wir als Vor-bereitungen kennengelernt haben, in die Atempraxis mit rein.

Dafür habe ich in den letzten Jahren einen Ausdruck geprägt, der vom Tonglen kommt: Herzensatem. Der

Herzensatem ist nicht mehr nur Atem, er ist verbunden mit all den Qualitäten. Wir sitzen in den Qualitäten,

wir können als Buddhas meditieren, wir können uns spüren als diese potenziell Erwachten. Wir können in

diesen Qualitäten aufgehen und atmen, während diese Qualitäten aus unserem Herzen wie ein- und aus-

strömen. Darum geht es dabei, und um das tiefer zu verstehen, wäre gut, sich ganz intensiv mit der Tonglen-Praxis aus der Lodjong-Tradition zu befassen.

Morgen mache ich mit euch die Struktur der Lhaktong-Praxis. Für heute soll es erst einmal reichen als

Struktur-Input. Gibt es dazu noch Fragen?

Fragen

Teilnehmer: Fmir ist nicht ganz klar, was genau der Unterschied zwischen Anapanasati und Satipatthana ist.

Bevor der Buddha das Anapanasati Sutta gelehrt hat, hat er offenbar zwei Mal über das Vierfache

Kultivieren von Gewahrsein gesprochen. Die erste Lehrrede ist sehr bekannt geworden als Satipatthana

Sutta. Das ist die Lehrrede par excellence, die die Grundlage für alle Meditationsunterweisungen in allen

buddhistischen Traditionen darstellt. Sie steht in der Mittleren Sammlung. Da geht es nicht um eine spezielle

Meditationsmethode – anders als beim Anapanasati, wo es um den Atem geht. Im Satipatthana wird der

Atem nie erwähnt, sondern der Buddha gibt Beispiele dafür, wie man mit Körper und den

Sinnesempfindungen praktiziert, in der zweiten Stufe wie man mit den geistigen Gestaltungen praktiziert,

mit der emotionalen Befindlichkeit. In der dritten Stufe geht es um den Geist selber, ob der Geist z.B. eng

oder weit ist, und die vierte Stufe ist das Untersuchen der Dharmas. Er gibt also die Struktur dessen, was bei

der Gewahrseinspraxis eigentlich zu berücksichtigen ist, dass es um vier Aspekte geht, wobei die drei ersten

hinführen zu einem Untersuchen der Dharmas. Dabei geht es um das Verstehen der Vier Edlen Wahrheiten –

was zum Erwachen beiträgt, was in Verstrickungen führt. Das zählt der Buddha dann kurz im Satipatthana

Sutta auf. Das Maha-Satipatthana Sutta ist doppelt so lang, darin wird der ganze erste Teil des Satipatthana

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Sutta noch einmal wiederholt und dann gibt er eine weitere Ausführung zu den Vier Edlen Wahrheiten. Das

Maha-Satipatthana Sutta findet sich im Digha-Nikaya, in der Sammlung der längeren Lehrreden.

Das kommt aber im Prinzip alles beim Anapanasati auch mit der Kombination mit dem Atem.

Das kommt alles durch und ist im Anapanasati so kurz dargestellt, weil vorausgesetzt wird, dass man das

Satipatthana, also die grundlegende Struktur, schon kennt. Nachdem der Buddha im Anapanasati die 16

Punkte dargestellt hat, erklärt er, wie die 16 Schritte den vier Schritten des Satipatthana entsprechen. Ich

weiß nicht wie viel davon in den Jahren danach pädagogisch aufgearbeitet wurde, aber es ist ganz offen-

kundig, dass diese Unterweisung die praktische Anwendung des Satipatthana ist für diejenigen, die gerne mit

dem Atem praktizieren.

Jetzt ist so oft der Begriff sati gefallen. Sati steht an der Basis der Mindfulness-Bewegung. Es wurde als

Achtsamkeit übersetzt, aber inzwischen schwenken alle Meditationslehrer in den USA und auch in Europa

auf das Wort Gewahrsein um. Wenn man sati mit Achtsamkeit übersetzt, sind die Lehrreden Buddhas nicht

wirklich verständlich. Ich habe es erst auch als Achtsamkeit übersetzt, habe aber Achtsamkeit in all meinen

Übersetzungen der Sutras durch Gewahrsein ersetzt und plötzlich macht alles viel mehr Sinn. Im Englischen

schwenkt man auf awareness um und im Deutschen auf Gewahrsein, weil das die Einsichtskomponente

hervorruft. Dem Buddha geht es nicht um ein bloßes Achten auf, sondern sati bedeutet eigentlich sich

erinnern; sich erinnern an das Wesentliche. Das Wesentliche ist zum Beispiel nicht, sich zu erinnern ein-

und auszuatmen, sondern sich beim Ein- und Ausatmen an das Wesentliche zu erinnern: an die prozesshafte

Natur der Dinge, an die Substanzlosigkeit oder an Mitgefühl, oder, oder, oder. Das, was wesentlich ist,

ändert sich im Laufe der Praxis, obwohl die äußere Methode gleich bleibt. Das heißt sati, diese Fähigkeit

sich zu erinnern, gewahr zu sein, richtet sich immer darauf, was in unserer Praxis gerade das Wesentliche ist.

Das ist der eigentliche Punkt von sati.

Das ist genau mit drenpa gemeint – drenpa ist die eins zu eins Übersetzung von sati; drenpa bedeutet auch

erinnern. Wir haben von Gendün Rinpoche mal eine Erklärung zu drenpa bekommen. Er sagte, dass das auch

heißt, damit zu beginnen, gut aufzupassen wie man sich die Zähne putzt, wie man dies und jenes macht, und

sati entwickelt sich, es wird immer feiner, und die höchste Form von sati ist das Mahamudra-Gewahrsein.

Das kann aber nicht einfach nur Achtsamkeit sein. Für ihn war klar, dass drenpa sich immer weiter ent-

wickelt, dass drenpa selber im Laufe der Reife des Praktizierens eine weitere Ausgestaltung erfährt und das

höchste drenpa ist Mahamudra-drenpa. Dazwischen gibt es drenpa-Stufen, z.B. Bodhicitta-drenpa, Bodhi-

citta-sati, wo sich unser ganzes Gewahrsein, unsere Achtsamkeit, unsere Bewusstheit ausrichtet auf die

Qualitäten des Bodhicitta, von Mitgefühl und Liebe und dergleichen. Das sind die verschiedenen möglichen

Objekte – man nennt sie Objekte, aber es ist besser von Ausrichtungen unseres Gewahrseins, unserer

Bewusstheit zu sprechen. Damit arbeiten wir. Und hier im Unterricht in dieser Woche richten wir unser sati

ständig auf ein Erforschen dessen, wie die Dinge erscheinen und was ihre wahre Natur ist. Das ist der Focus

unseres Retreats.

Teilnehmer: Die Tibeter benutzen für Gewahrsein noch ein anderes Wort, glaube ich.

Ja, genau! Es gibt noch rigpa, yeshe. Es ist wirklich interessant, denn in manchen Kontexten muss man sati

als „Achtsamkeit“ übersetzen, in anderen als „sich erinnern“, und manchmal ist dann tatsächlich „Gewahr-

sein“ gemeint. Es wäre gut, wenn der Übersetzer in einer Fußnote vermerken würde, um welches Wort es

sich handelt. Das ist wie im Pali: man kann sati nicht einfach überall als „Gewahrsein“ übersetzen, denn

manchmal bedeutet es einfach „sich erinnern“. Es gibt andere Stellen in den Lehrreden, wo dies in einem

anderen Kontext gebracht wird, aber eine bloße Achtsamkeit, wie wir das Wort im Deutschen verstehen,

führt nicht zum Erwachen. Das ist ja eigentlich, sich selber ein bisschen dabei zuzuschauen, was man tut,

was man gerade denkt; so, wie wenn man in einem Laden Inventur macht. Dann nimmt man wahr, was ist.

Aber das bloße Wahrnehmen, was ist, führt nicht zum Erwachen: wir müssen wahrnehmen, wie es ist – wie

es dazu gekommen ist und wie es sich befreit. Das ist eine Form der Achtsamkeit, die man besser mit

Bewusstheit und dann mit Gewahrsein übersetzt, da finden Entwicklungen statt. Der Buddha macht ganz

klar, dass es bei sati letzten Endes um das tiefe Verstehen der Vier Edlen Wahrheiten geht. Und das ist im

Deutschen mit Achtsamkeit nicht gut wiedergegeben. Es geht um ein Gewahrsein dessen, was wahr ist, um

ein Bewusstwerden.

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Teilnehmer: Wir haben doch gestern über die Qualitäten des Geistes gesprochen, wie wir sie erfahren. Es

sind ja nicht nur Gedanken und Emotionen, wir haben auch von Klarheit und Offenheit, Raum, Energie und

Vertrauen gesprochen. Geht es – wenn wir im Gewahrsein sind – auch darum, zu erkennen, dass das nur

sozusagen leer ist, da auch im Gewahrsein zu bleiben und zu sehen, dass es nur ein Konzept von uns ist?

Ja, das ist nicht nur ein Konzept, du erlebst es ja. Das heißt, wenn du das erlebst, dann könnte dein nächster

Schritt darin bestehen, dieses Erleben wiederum auf seine Qualität hin anzuschauen; dass auch dieses ver-

trauensvolle Erleben keine Substanz hat. Das gilt entsprechend für alles, was du gerade aufgezählt hast; auch

die Leerheit, die Klarheit, oder was du da erlebst, hat keine Substanz.

Teilnehmer: Da ist ja immer die Vorstellung, dass bei drenpa immer ein Subjekt und ein Objekt vorhanden sind, und so kann es kein Mahamudra sein.

Ja, das ist nicht der Fall. Tatsächlich habe ich es nicht nur von Gendün Rinpoche gehört sondern auch in

Kommentaren wiedergefunden. Die letzte Quelle, wo ich das ganz bewusst gelesen habe, sind diese zusätz-

lichen Erklärungen zu Mahamudra – „Dawa'i Öser“, „Die Lichtstrahlen des Mondes“ – von Dhagpo Tashi

Namgyal. Darin ist ganz, ganz gut beschrieben, wie drenpa sich entwickelt.

Meditation

Alle Gedanken lassen, ziehen lassen; und ich schlage euch vor, den Geist so weit zu machen wie der

Himmelsraum von Natur aus ist. –

Der Geist ist weit und zugleich nehmen wir ganz präzise wahr; wir spüren, sehen hören usw., und das alles in

dieser Weite, die wir am besten mit dem Himmelsraum vergleichen können. –

* * *

6. Gründliches Erforschen des Geistes

Die zweite Untersuchungsweise ist das gründliche Erforschen. – Wir könnten fast von Untersuchungs-serie sprechen. Hier gehen wir noch mal ein Stückchen tiefer mit dem, was wir uns bereits angeschaut haben.

Es hat zwei Aspekte: das Aufzeigen der Natur des Geistes beim Nichtdenken und das Aufzeigen beim

aktiven Geist oder begrifflichem Denken, d.h. wenn Gedanken auftauchen oder hervorgerufen wer-

den. Von diesen beiden Formen des Aufzeigens geht es nun um die erste:

6a. Das Aufzeigen des stillen, nicht denkenden Geistes.

Untersuche das Bewusstsein, wenn kein Denken aktiv ist und es still, klar und transparent ruht, frei

von Wildheit und Dumpfheit.

Gleiche Startvoraussetzungen wie gestern. Wenn wir das zu Hause praktizieren oder in einem Retreat, wo

wir in längerer persönlicher Praxis sind, dann lassen wir den Geist ruhig werden, über längere Zeit. Wir üben

das nicht nur so wie hier, wo wir nur einen kurzen Moment ruhig sind und dann z.B. schauen, was zwischen

den Gedanken ist, was in dem Moment ist, wenn ich gerade nicht denke, sondern wir lassen den Geist sich so

weit beruhigen, dass tatsächlich über längere Phasen kein Denken stattfindet. Dann schauen wir. Und wir

sehen, wie der Geist ruht, wir sind in einer Geistesruhe, die es uns ermöglicht, das Gewahrsein in sich selbst ruhen zu lassen. Wir sind nicht mit irgendwelchen Sinneserfahrungen beschäftigt.

Und dieses ruhende Gewahrsein erfahren wir als still, klar, wie transparent, ganz hell, wie durchscheinend. Wildheit und Dumpfheit sind nicht mehr zu finden.

Wenn dann da kein Gedanke ist, wie „Er keine Farbe, keine Form“, „Weder entsteht noch vergeht

er“, und dennoch ein Bewusstsein vorhanden ist, dass der Geist weder anfängt noch aufhört, dann hat

man, in einer Erfahrung frei von begrifflichem Denken, intuitive Einsicht erfahren.

Das ist ein Erleben, wo völlige Gewissheit entsteht, dass der Geist weder Anfang noch Ende hat, dass der

Geist nicht sterben kann; und man weiß gar nicht recht woher diese Einsicht kommt. Da ist eine völlig

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unerschütterliche Gewissheit entstanden, dass all dieses Denken darüber, wie der Geist wohl angefangen hat,

wie er aufhören könnte, irrelevant ist. Das alles wird so tief von innen her als widersinnig erlebt; es wider-

spricht der Natur des Geistes, die da erfahren wird. Darauf nimmt Karmapa hier Bezug, es ist eine sehr kurze

Beschreibung.

Fragen

Teilnehmer: Wenn man das erfährt, hat sich die Angst vor dem Sterben dann aufgelöst?

Die hat sich dann aufgelöst. Das ist tatsächlich so. Das hast du total richtig erspürt: Wenn man die Unsterb-

lichkeit des Geistes, das Nicht-Geborensein des Geistes mit dieser Gewissheit erfährt, dann ist die Angst vor dem Tod vorbei.

Teilnehmer: Wo ist denn dann der Unterschied zu dieser letzten Shine-Erfahrung?

Der Unterschied ist, dass bei der Shine-Erfahrung noch eine beobachtende Funktion aktiv ist. Dieser feine

beobachtende Schleier ist der Unterschied. Im vorherigen Kapitel steht: „… dass man jenes vibrierende,

ununterbrochene, klare Gewahrsein als leer, klar und bewusst erkennt, usw.“ Man geht in völlige Geistes-

ruhe und aus dieser heraus kann dieses Erkennen stattfinden. Wenn der Beobachter wegtritt und es zu einem

wirklichen Einswerden mit dieser Erfahrung kommt, dann entsteht diese Gewissheit. Sie entsteht nicht über

das Denken oder über das intellektuelle Verstehen. Sie kommt aus dem Einswerden mit der Natur des

Geistes, mit dem wie der Geist ist. Geist wird aus sich selbst heraus erfahren. Da entsteht diese Gewissheit.

6b. Das Aufzeigen des aktiven, denkenden Geistes

Sagt er – der Schüler –, „Gedanken und geistige Bewegungen sind alle leer, ohne Entstehen und Ver-

gehen“, dann ist das hohles Geschwätz.

Wie kann der Karmapa das einfach so sagen? Das ist doch eine super Aussage, oder? Was ist denn da? Ihr

müsst an das Tibet des 16. Jahrhunderts denken; der Dharma ist total verbreitet; alle hören irgendwie was

über die Leerheit aller Erscheinungen und der Gedanken; das ist schon fast Volkswissen. Und dieser Satz

klingt doch dharmisch, nicht wahr? Aber irgendwas stimmt da nicht. – Wir könnten ihn ja noch ein bisschen feilen, damit er besser klingt...

Der Satz kommt rüber wie ein Stempel, mit dem man alle Gedanken und geistigen Bewegungen abstempelt.

Wir wissen doch, dass Gedanken entstehen, dass sie auftauchen. Wie kann man einfach sagen, sie sind ohne

Entstehen und Vergehen, so ein Quatsch! Gedanken vergehen doch, oder? Sie tauchen auf und vergehen,

also irgendwie klingt das Ganze ein bisschen platt. Es gibt eine Ebene, auf der man das Ganze zurecht biegen

könnte und sagen könnte, „Doch, die Aussage stimmt!“, aber das ist hier nicht meine Aufgabe. Der Satz

kommt rüber wie von jemandem, der sich rausreden will, Gedanken ernst zu nehmen, indem er einfach sagt:

„Es ist sowieso alles leer und ich brauch mich nicht darum zu kümmern. Auch um meine Emotionen brauche

ich mich nicht kümmern. Was auch immer auftaucht – auch wenn du jetzt ärgerlich bist – schau doch mal, ist

doch alles leer. Ich tu dir doch nur einen Gefallen, wenn ich dich ärgere! Sei froh, so kannst du die Leerheit

besser erkennen.“

So kommt das rüber. Wir kennen ähnlich platte Aussagen, es macht z.B. jemand gerade etwas Schweres

durch und wir sagen: „Ist doch Karma!“ Das ist ähnlich platt und unhöflich; es mangelt an wirklichem Ver-

ständnis. Leider gibt es solche Aussagen noch immer zu hören. Das hier ist so eine und das ist einfach hohles

Geschwätz, es ist nicht durchdrungen von Mitgefühl und nicht durchdrungen von Weisheit. Die Alternative wird direkt aufgezeigt:

Beschreibt er, die Gedanken verschwänden spurlos, ohne dass Entstehen, Vergehen und Verweilen,

Form und Farbe usw. greifbar wären, dann hat er ein bisschen erfahren.

Der Schüler sagt also, Gedanken tauchen zwar auf, verschwinden dann aber spurlos, ohne dass man ihr Ent-

stehen, Vergehen und Verweilen erfassen könnte; keine Farbe und keine Form ist wahrzunehmen. Das ist

nahe dran an der Erfahrung, dann hat der Schüler ein bisschen erfahren. Das ist noch nicht intuitive Einsicht,

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aber der Schüler, die Schülerin beschreibt ziemlich exakt, was so in der Geistesruhe wahrnehmbar ist.

Schaut noch mal hin! Gedanken tauchen auf, okay. Sie verschwinden spurlos. Kennt ihr das spurlose Ver-

schwinden von Gedanken? Ist euch das vertraut? Ja, nicht? Nicht alle Gedanken, bei den emotionalen Ge-

danken haben wir manchmal das Gefühl, sie lassen eine Spur. Aber – ehrlich gesagt – bei vielem von dem,

was wir denken, wären wir sofort bereit zu sagen, das geht doch ziemlich spurlos vorbei; es löst sich wieder

auf. Was wir haben – da werden jetzt auch Einwände kommen –: wir haben manchmal eine Erinnerungsspur.

Nicht, dass der Gedanke eine Spur macht, aber es besteht die Möglichkeit, sich an Gedanken zu erinnern.

Das erleben wir fast so wie eine Spur. Aber auch diese Erinnerungsspur verlöscht wieder. Die Erinnerung

taucht mal auf und ist dann auch wieder vorbei. Wir sind nicht ständig mit unseren Erinnerungen. Stellt euch

vor, all das, was Erinnerungsspuren in uns hinterlassen hat, würde uns als ständige Spur begleiten. Nein, das

ist ja nicht der Fall. Die Aber-Billiarden von Gedanken, die wir in diesem Leben schon gehabt haben, haben

keine Spur hinterlassen im Sinne wie eine Beeinträchtigung für das Nächste, was auftaucht. Das ist hier

gemeint. Wenn etwas spurlos verschwindet, dann ist hier gemeint, dass das Nächste auftauchen kann und nicht mehr behindert ist vom Vorhergehenden.

Und dann denken wir, dass das Nächste doch behindert ist, sobald Greifen stattfindet. Da müssen wir ge-

nauer hinschauen. Wenn Greifen stattfindet, dann ist es gar nicht mehr der Gedanke, der vorher da war, son-

dern im Greifen verändert sich das Erleben schon. Im Greifen findet ein neues Erleben statt, es ist ein sich

ständig neu gestaltendes Erleben. Das trifft auch für Erinnerungen zu. Erinnerung ist gar nicht, dass das Alte

bleibt und immer wieder auftaucht. Erinnerung ist ein sich ständig neu gestaltendes Erleben, das dem alten

ähnelt. In der Psychotherapie nutzen wir das, da wird viel mit erinnertem Material gearbeitet. Das kommt

aber in der Sitzung frisch zur Sprache. Es wird wieder frisch erlebt. Und weil es frisches Erleben ist, kann es

einer Bearbeitung zugeführt werden und verändert sich, entwickelt sich in dieser Bearbeitung bis hin zu einer

Lösung, die stattfinden kann. Wir können damit in ein gelöstes Sein kommen, dann haben wir etwas durch-gearbeitet.

Dasselbe machen wir in der Meditation. Es tauchen Erinnerungen auf, jede Menge Bilder, die vielleicht nicht

Erinnerung sind, aber durch die Erinnerung geprägt sind aufgrund unserer emotionalen Muster. Da tauchen

ganz typische Inhalte auf und natürlich auch klare Erinnerungen. Es taucht auch auf, was uns wichtig er-

scheint, weil es uns besonders anzieht oder starke Abneigung auslöst, Ärger auslöst. All das taucht auf und

wir gehen mit Gewahrsein dort hinein, nehmen es in Gewahrsein an, und dadurch kann es sich weiter ent-

wickeln; es löst sich. Es findet ein Prozess statt. Das sind die Prozesse der karmischen Reinigung, das Auf-lösen der aufsteigenden Geistesinhalte durch ein annehmendes, wohlwollendes, verstehendes Gewahrsein.

Dieses spurlose Verschwinden ist etwas, das wir kennen. Und jetzt geht es schon ein bisschen tiefer. Dazu

müssten wir eine Übung machen:

Übung: Entstehen, Vergehen und Verweilen – ein Gedanke?

Zunächst mal entspannen wir den Geist wieder. … Wir fühlen uns so entspannt, so gelöst wie möglich …

mit dem Ausatmen können wir ganz bewusst noch irgendwelches Denken, das jetzt noch da ist, loslassen, …

auch die Erwartung, was ich jetzt wohl sagen werde; auch die Übung, alles einfach loslassen. –

Und jetzt lasst mal ganz plötzlich einen Gedanken entstehen. Irgendwas, denkt an irgendwas. –

Lasst ihn auch gleich wieder los. –

Und noch einmal, einen x-beliebigen Gedanken. –

Ich helfe euch mal im Anschauen der Gedanken und sage x-beliebige Worte, die vermutlich einen Gedanken

bei euch auslösen, weil ihr sie ja versteht. Schaut mal, wie es sich mit dem Denken verhält:

Sonne … Wasser … Baum … nichts … Luft … Bauch … ich … du … Feuer … Nacht … Liebe …

Trauer. –

* * *

Erfahrungen der Teilnehmer

Jetzt bin ich gespannt, was ihr bei den verschiedenen Worten bemerkt habt. Es ist klar, dass es sich hier um

begriffliches Denken handelt, denn, wenn ich etwas sage, wird erst einmal über das Verstehen von Begriffen

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was ausgelöst. Wir können noch subtilere Formen des Denkens betrachten, die gar nicht mit Begriffen ein-

hergehen, aber um das gemeinsam miteinander zu teilen, braucht es diese Form. Beim anderen müsst ihr selber schauen; die nicht-begrifflichen Bewegungen sind noch flüchtiger.

Wie lange dauert ein Gedanke? Wie lange verweilt ein Gedanke? Was ist so eure Einschätzung?

Teilnehmer: Solange, wie damit Assoziationen verbunden sind, die das hervorrufen.

Super, solange da Assoziationen sind. Man könnte auch sagen, solange da noch ein Interesse ist.

Solange ist das Bild komplett.

Wie ist es denn, bis das Bild komplett ist? Das ist interessant, das heißt, dass sich das Bild verändert; es ist

gar nicht derselbe Gedanke, der verweilt. Da wird also etwas ausgelöst und dann findet eine Ausformung des inneren Abbildes statt.

Am Beispiel Feuer : Wärme, Leuchtkraft, der Geruch von dem Holz, das verbrennt,

Das heißt, das Wort hat bei dir einen Prozess ausgelöst. Wollen wir mal schauen, wie es den anderen gegan-gen ist. Wie lange dauert ein Gedanke?

Teilnehmer: Ich habe versucht, das immer wieder gehen zu lassen, aber je stärker die Emotion war, die sich

mit diesem Begriff verbunden hat, und auch die Assoziationen, die dann kamen, desto schwieriger war es, es wieder gehen zu lassen.

Genau, wir können das, was da ausgelöst wird, nicht so leicht gehen lassen, je mehr Emotion dabei ist.

Völlig richtig, das geht allen so. Dann kann es schon sehr lange gehen. Dann kann es auch sein, dass wir

noch gar nicht bereit sind für den nächsten Begriff, der kommt. Der kommt dann zu schnell, da ist noch so

viel. Würdest du dem zustimmen? Die Frage ist ja, wie lange dauert ein Gedanke? Handelt es sich dabei um

einen Gedanken oder was ist da eigentlich?

Das ist eine Kette.

Es ist die Kette, da ist auch wieder ein Prozess beobachtbar. Aber wie lange dauert denn ein Gedanke?

Teilnehmer: Einen Augenblick, bei mir waren es drei verschiedene Optionen. Das eine war ein Wort. Mit

dem Wort war gleichzeitig ein Bild, das da aufgetaucht ist. Das Wort ist mir geblieben mit dem Bild. Das

Zweite war eine Assoziationskette, wo dann weitere Gedanken dazu aufgetaucht sind und andere Wörter.

So ähnlich wie die beiden das schon beschrieben haben.

Das Dritte war dann, als du gesagt hast „Trauer“ und „Liebe“. Das war ein Raum von Erfahrungen.

Ja, das öffnet einen ganzen Erfahrungsraum. Bleiben wir mal bei deiner ersten Version. Da ist ein Wort, und

dann sagst du, sofort oder gleichzeitig taucht ein Bild auf. Mit Bild meinst du, da taucht eine visuelle Vor-stellung auf, ein inneres Bild. Wie lange braucht das, um zu entstehen?

Millisekunden.

Das ist eine Schätzung, so ganz überzeugt wirkst du nicht.

Ich kann es nicht in Worte fassen, es erscheint einfach.

Es erscheint einfach, und wie lange bleibt es?

Bis der nächste Gedanke kommt. Ich halte den Begriff fest und mit dem Begriff halte ich das Bild fest.

Sehr gute Beobachtung, solange du das festhältst und nährst, bleibt es. Wenn du es jetzt nicht festhalten

würdest?

Dann ist es gleich wieder weg.

Interessant. – Weitere Beobachtungen.

Teilnehmer: Ich habe auch diese Beobachtung gemacht. Sobald ich mich damit nicht mehr so beschäftige,

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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entspannt sich alles im Körper und im Geist und verschwindet.

Teilnehmer: Ich war in einem sehr entspannten Zustand und bei mir waren das nur bildliche Blitze, ganz

kurz. Die kamen manchmal direkt beim Wort und manchmal auch erst drei Sekunden danach.

Da kann man vermuten, dass es eine Verzögerung gab, vielleicht bis die Dekodierung und die innere Reak-

tion dazu ausgelöst wurde. War denn direkt beim Wort schon ein Verstehen? Du hast das Wort verstanden,

oder?

Ja sofort, da war kein Unterschied.

Interessant, nicht wahr? Das Verstehen eines Wortes ist bereits eine komplizierte Geistesbewegung, das sind

mehrere Gedanken. Das Verstehen des Wortes! Jedes Mal habt ihr das Wort verstanden. Stellt euch das mal

vor, was da schon an Denken passiert. Ihr denkt immer, der Gedanke wäre das, was durch das Wort

ausgelöst wurde, aber das Verstehen des Wortes ist schon Denken, und zwar recht anspruchsvoll. Das sind unglaubliche Prozesse, die wir beobachten.

Teilnehmer: Ich hatte das Gefühl, dass manchmal schon was da war, bevor das Wort überhaupt da war. Da

war was, aber dann ist das überlagert worden von dem von dir Gesprochenen. Manchmal waren Buchstaben

da, etwas wie ein Hörenwollen, Verstehenwollen, und dann kam was, es hat sich verändert und dann war es das Wort.

Interessant, du warst also keine leere Flipchart, auf die man einfach so ein Wort schreiben konnte, sondern

da war schon was. Das hat dann dazu geführt, dass das, was kam, sich irgendwie integrieren musste. So ver-stehe ich dich. Ist das richtig oder habe ich das falsch verstanden?

Ich hatte das Gefühl, da ist schon was, vielleicht, weil ich da schon was vorwegnehmen wollte, ich weiß es

nicht.

Ja, das ist spannend, was du beschreibst. Wir sind nämlich keine leeren Flipcharts, wir sind ständig im Erle-

ben. Und das, was gerade in uns aktiv ist, beeinflusst natürlich das, was dann kommt. Was dann so als Wort

rübergeschickt wird und was damit passiert, wird natürlich beeinflusst. Das hast du wahrgenommen. Das ist

nicht so ohne, das ist nicht einfach ein sich Leermachen und dann ist irgendwie alles ganz neutral. Wir sind keine neutrale, leere Leinwand oder so.

Teilnehmer: In dem Moment, wo du das angekündigt hast, gab es so eine Art Aufmerksamkeitsbereitschaft,

will ich mal so sagen, und dann kamen so Attraktionen. Das wechselte dann mit den Begriffen, was dann bis

zu physisch wahrnehmbaren Erlebnissen führte. Das zeigt ja schon, wie komplex so was ist, dass dann auch Bilder und Erfahrungen mit Gefühlen...

Ja, das ist schön, du beschreibst jetzt die Komplexität, da ist Hörverstehen, führt zu Bildern, führt zum

Mitschwingen des Körpers und, und, und...

Diese Aufmerksamkeitsbereitschaft, die dann irgendwann auch beendet sein kann.

Ja klar, ich habe euch bewusst in einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit versetzt. Ich habe die Aufgabe

auch extra nicht sehr spezifisch gemacht, sondern nur: „Wie ist das mit den Gedanken?“ Klar, dass es um

Entstehen, Vergehen und Verweilen geht, aber ich wollte, dass ihr einfach nur erlebt, wie es ist. Was wir so

einen Gedanken nennen, enthüllt sich bei eurer Beschreibung als ein relativ komplexer Prozess, der verschie-dene Sinnesbereiche mit einbezieht.

Teilnehmerin: Mir ist das sogar so gegangen, dass ich die Worte immer verknüpft habe und eine ganze

Geschichte daraus wurde.

Das habe ich mir auch gedacht, dass dann irgendwie das Feuer in der Nacht brennt und viel Liebe drum

herum ist. Ich habe auch so gedacht, das ist der mythomanische Anteil unseres Bewusstseins. Wir versuchen,

Verknüpfungen herzustellen. Du hast beobachtet – obwohl die Begriffe so weit auseinander waren – dass

etwas in dir Verknüpfungen hergestellt. Du bist bestimmt nicht die Einzige, die so gedacht hat, denn wir als

Menschen lernen und erinnern durch Verknüpfung. Wenn wir uns an die Serie dieser Worte hätten erinnern

sollen, hätten wir als Erinnerungsstütze Verknüpfungen gebaut. Kennt ihr das Spiel mit dem Kofferpacken?

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Ich tue dies hinein, dann tue ich das hinein, und dann ich habe dies und das und das in meinem Koffer. Dann

stellt man Verknüpfungen her. Genau so funktionieren wir. Das ist so was Absurdes, im Traum kann man

sich dabei manchmal selber zuschauen. Da tauchen Traumbilder auf und dann merkt man – wenn man im

Traum relativ bewusst ist –, wie unser Geist das Ganze zu einer Geschichte zusammenwebt. Das Absurdeste

wird irgendwie plausibel gemacht. Das ist dieses vernetzende Denken. Wir leben vernetzend in dem, wie wir

erfahren, wie wir Sinn geben. Obwohl die Worte in sich schon Sinn haben, ist es normalerweise unserem

Geist, unseren Gewohnheitsmustern nicht genug. Wir möchten diesen Sinn und den Sinn auch noch mit-einander verknüpfen. Dem hast du zugeschaut, das ist super.

Teilnehmer: Es war ein ganz klarer Film, war toll wie das sich so veränderte mit jedem Wort. Ich hab alles

integriert.

Wie ist es denn mit dem einen Gedanken? Wo finden wir denn den? Wo ist denn da der eine Gedanke? Wer hat denn da noch was beizutragen auf der Suche nach dem einen Gedanken?

Teilnehmer: Ist es wirklich mein Wille, dass da irgendwas verknüpft ist? Ist es nicht vielmehr so, dass eins

das andere auslöst, dass da so eine Adaption stattfindet im Sinne von einer Assoziation, dass das aber gar

nicht zufällig ist, sondern dass es im Sinne von einem bedingten Entstehen ist?

Das denke ich auch, es hat mit dem zu tun, was wir unsere Gewohnheitsmuster nennen und bedingt ent-stehende Assoziationsketten. Da sind wir gar nicht so frei, mit Willen hat das wenig zu tun.

So ein verknüpfendes Denken wäre normalerweise so, dass es nach einem logischen Muster geschieht.

Ist es gar nicht, es ist gar nicht logisch, wie im Traum. Es ist manchmal so absurd, was da entsteht und was

da für Interpretationen gegeben werden. Es ist ein verknüpfendes Denken und Fühlen, was einfach aufgrund

von Mustern abläuft, die wir normalerweise höchstens zu fünf bis zehn Prozent steuern. Auch das bewusste

Steuern ist wieder konditioniert. Das ist wirklich bedingtes Entstehen, so wie du beschreibst. Dem stimme

ich voll zu. Das sind also die Muster, die in uns ablaufen; vor allen Dingen ein Muster ist da aktiv, und das

habt ihr gemerkt. Das Muster, das ihr alle bemerkt habt, ist, wie schwierig es ist, einen Begriff einfach nur

stehen zu lassen.

Teilnehmer: Gut, dass du es sagst. Ich habe schon gedacht, wenn ich mir nicht so sicher wäre, würde ich

mich gerade um Kopf und Kragen reden, aber ich war mir sehr sicher. Zuerst war ich überrascht, ich ver-

suche mich zu entspannen, was auf einer Ebene möglich ist. Dann taucht ein Wort auf, das im Prinzip gar

keine Bedeutung hat, sondern Spannung ist. Es ist einfach erstmal nur Energie, die von dir kommt. Ich war

überrascht, dann habe ich gemerkt, dass ich erstmal keine Lust habe, jetzt zu deuten, d.h. ein Wort taucht

auf, völlig Wurst was du sagst, hat keine Bedeutung. Es ist ein Energieanstieg, der hört auf in dem Moment, wo du mit dem Wort zu Ende bist.

Das verstehe ich.

Teilnehmer: Ich konnte das auch so wahrnehmen. Ich war eigentlich auch sehr entspannt in dem Moment,

dass zuerst eigentlich das Wort da steht, und das ruft zuerst einfach nur so eine bildliche oder gesamt-

heitliche Assoziation auf, wie so eine Melodie oder so was. Und dann ist etwas wie eine Ambivalenz da, wie,

ob ich da jetzt auf den Begriff zugehen will. Da habe ich so eine gewisse Freiheit, wie weit ich mich denn

jetzt darauf einlassen will. Will ich da was verstehen? Weil ich so entspannt war, und mich darin wohl fühlte,

war auch so ein Widerwillen da. Ich konnte sehen: „Ja, ein bisschen lässt du dich ja drauf ein.“ Manche

sind ja auch abstrakt wie Liebe. „Ja, ist in Ordnung, aber was willst du denn damit?“ Dagegen bei Feuer ist eine größere Bereitschaft gewesen, da ist dann ein Bild entstanden.

Also ihr beide beschreibt ganz differenziert Prozesse, wie man sich mehr oder weniger einlassen kann mit

Ablehnung oder einfachem Ruhen, Desinteresse oder Interesse. Eigentlich hättet ihr jede dieser Klangfolgen

einfach als Klangfolge stehen lassen können. Aber es ist schwer, eine Klangfolge einfach so als Klangfolge

stehen zu lassen, wenn sie auf der kommunikativen Ebene Sinn macht. Ich hätte noch unsinnige Klangfolgen

hinein nehmen sollen, das wäre auch noch spaßig gewesen. Dann hätten wir diesen Prozess ganz deutlich entlarvt. Da geht es tatsächlich um die Möglichkeit, sich nicht darauf einzulassen, sich nicht zu verstricken.

Teilnehmer: Ich habe ja gar keine Zeit, ein Bild entstehen zu lassen, denn die Pause ist ja nicht leer. Also,

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durch dich entsteht diese Spannung, Energie. Das war ja gestern schon so, als du gesprochen hast und

gesagt hast, wir sollen auf die Pause achten. Es war im Prinzip Wurst, ob du was sagst oder nicht, denn das

Wahrnehmen geht ja weiter. Die Intensität ist anders. Erst war ich überrascht, weil ich die unterschiedlichen

Befindlichkeiten relativ stark wahrgenommen habe, dann habe ich versucht, es so zu lassen, und dann dachte

ich mir: „Jetzt gehst du einfach mal ins intensivere Deuten rein.“ Dann war das Wort aber immer zu Ende, wo du aufgehört hast.

Ja, es kann so einfach sein, wie du es beschreibst. Wenn jemand uns anspricht, auch wenn es fünfzig Leute

auf einmal sind, spürt man so etwas wie eine Spannung. Und wenn uns jemand anschreit, ist das so intensiv, dass wir uns kaum entziehen können, irgendwie ins Reagieren zu kommen. Es ist so intensiv.

Es geht noch weiter, wenn einer entsprechend denkt. Eigentlich sollte man mit dem Denken verantwortungs-

bewusst umgehen.

Ja, es hängt mit der ganzen Geisteshaltung, dem Denken dahinter, zusammen. Das ist völlig klar. Wir haben

aber die Möglichkeit, entspannt zu bleiben, dann wäre es unter Umständen nur eine kleine Welle, die durch-

rauscht. Wir können minimal reagieren: es kommt noch zum Entziffern des Wortes, aber … Pause – das

Wort ist vorbei und bei mir ist auch Pause. Oder es ist mehr Interesse da und noch mehr Interesse, … je mehr

Interesse da ist, je mehr Bereitschaft da ist, desto mehr Stories und desto länger wird der Prozess. Was vorhin

so ausführlich beschrieben wurde, zeigt uns ja, wie viele geistige Bewegungen da ablaufen. „Möchte ich

mich drauf einlassen – möchte ich nicht.“, „Möchte ich eigentlich doch Ruhe?“ Das sind alles geistige

Bewegungen, jedes einzelne von diesen Elementen, jedes Unterelement ist ein sogenannter Gedanke. Ja verflixt noch mal, wie viele Gedanken können wir in so kurzer Zeit denn haben?

Teilnehmer: In diesem Moment der Entscheidung, „Steige ich da jetzt drauf ein?“, „Kreiere ich da ein Bild,

oder ein Gefühl dazu?“, ist das der Prozess, wo ich sage, das nehme ich jetzt, oder das kreiere ich jetzt oder

das lehne ich jetzt ab, ich bleib in meiner Ruhe? Kann man sagen, dass das ein Moment von Anhaftung und Ablehnung ist?

Ja, das kann man so sagen. Es sind die Muster von Anhaftung und Ablehnung oder es ist eine Form des

Desinteresses, Nicht-Wissenwollen; es gibt noch diese Zwischenform. Ja, die Muster spielen da ständig mit,

ständig. Beim Entziffern jeder Sinneswahrnehmung, beim Deuten einer jeden Sinneswahrnehmung spielt

Interesse eine Rolle. Ob das Interesse ein anhaftendes Interesse, ein ablehnendes Interesse oder ein nicht-

wissen-wollendes Interesse, ein Desinteresse ist, es spielt ständig mit. Es bestimmt auch, wie lange bestimm-

te Prozesse weitergehen. Solange Interesse da ist – sei es Ablehnung oder Anhaften – geht es weiter.

Ablehnung führt zu genau so langen Prozessen wie Anhaften, bloß sind sie anderer Natur. Man sagt viel-

leicht, „Nein, ich will nichts mit dem Feuer zu tun haben“, aber man bewegt sich in dem „Ich will nicht und

ich bleib lieber bei mir“ und bis das Ganze wieder zur Ruhe gekommen ist, ist auch eine Menge Zeit vorbei.

Die andern haben in derselben Zeit „Oh ja! Feuer groß, warm!“ erlebt und dann ist das vorbei. Die Dauer des

Prozesses ist nicht prinzipiell anders, ob wir anhaften oder ablehnen. Das sind nur andere Inhalte, aber dass

da eine Kraft des Interesses wirkt, ist ja offenkundig.

Teilnehmer: Welche Rolle spielen Liebe und Mitgefühl in diesem Zusammenhang? Es heißt ja, in der Thema-

tik von Liebe und Mitgefühl gehe ich ja im Grunde genommen auf minimalste Impulse von dir eine

Beziehung ein. In dem Moment habe ich irgendeine Spannung, d.h. ich setze mich ja auseinander, es geht

nicht einfach nur vorbei, oder? Das kam für mich gerade als Frage auf.

Ich glaube, ich verstehe dich noch nicht ganz. Ich habe in der Übung „Liebe“ gesagt, was hier nur die

Funktion eines völlig abstrakten Begriffes, der positiv besetzt ist, hatte. Und dann ging es darum zu schauen,

was da passiert. Es ist ja nur ein Abstraktum; wer hat schon je Liebe gesehen? Einen Baum kann man

wenigstens anfassen, aber Liebe? Trotzdem wissen wir alle, wovon wir sprechen. Deine Frage geht aber in eine andere Richtung, das ist wie wir uns…

In diesem Moment der Aufmerksamkeit zu einem minimalen Vorgang, wie dass mir eine Fliege auf die

Handfläche kommt als Beispiel. Und dann ist ja die Frage, nehme ich das wahr? Oder wie weit tritt dann im

Moment allein diese Frage auf: Entsteht Liebe und Mitgefühl oder … Ich gehe ja auch irgendeine Art von

Beziehung in diesem Moment ein. Das ist das, was mich interessiert, wo ich da – wer auch immer, mein

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Bewusstsein – eine Beziehung zu dem Besagten eingeht.

Du gehst eine andere Art von Beziehung ein als nur die anhaftende und ablehnende. Es ist eine dritte oder

vierte Möglichkeit, eine wohlwollende, wo es gar nicht um mich geht. Beim Anhaften und Ablehnen geht es

um mich, aber bei diesem Beispiel geht es um die Fliege. Das ist eine andere Art des In-Beziehung-Tretens.

Potentiell können wir mit allen liebevoll und mitfühlend in Beziehung treten, potentiell könnte man sagen,

alle Sinneserfahrungen können auf dieser Grundhaltung des Liebevollen, Mitfühlenden erlebt werden. Das

ist eine andere Haltung als die Grundhaltung von „Was brauche ich – was brauche ich nicht?“ Es wird

offenkundig, dass wir keine leeren Flipcharts sind, sondern wir haben eine Grundhaltung. Diese Grund-

haltung kann in uns auch durch etwas aktiviert werden und bewirkt dann, wie wir mit der Situation umgehen.

Eure Grundhaltung war wohlwollend, denn ihr habt euch auf das Spiel eingelassen und ganz reiche Früchte hervorgebracht.

Teilnehmer: Ich wollte noch nachfragen: Es kommt dieser Impuls, dein Wort, und ich kann in die Anhaftung

oder Ablehnung gehen, und ich kann aber auch versuchen es loszulassen. Woher weiß ich jetzt, dass ich es

wirklich loslasse oder lasse und nicht in dieser dritten Empfindung bin, dass es eigentlich egal ist?

Wenn du in dem Egalsein bist, dann merkst du, dass da Spuren von Ablehnung, von Nicht-Wissenwollen,

von Nicht-Gestörtseinwollen sind, während dann, wenn du in einem offenen, nicht haftenden Gewahrsein

bist, alles sein darf wie es ist. Es wird voll wach wahrgenommen, ohne weitere Prozesse auszulösen. Das ist ein erfahrbarer Unterschied.

Teilnehmer: Ich habe es irgendwie ganz anders gemacht. Ich habe versucht, voll reinzugehen in das, was du

sagst, und einfach zu sehen: egal, was das jetzt für ein Wort ist, egal wie stark ich danach greife, ich merke,

es hat keinen Mittelpunkt. Und wenn ich es mir direkt anschaue, ist da eigentlich nichts im Mittelpunkt, was

man festhalten könnte. Egal was es ist, eine Emotion oder auf welcher Ebene, es ist da nichts; es ist dann

sofort wieder frei, es ist gar nicht greifbar eigentlich. Ich hoffe, das ist kein Mahamudra-Bla bla...

Nein, du beschreibst deine Erfahrung, und diese Erfahrung, die du beschreibst, wäre euch am ehesten

zugänglich, wenn ich die Instruktion etwas anders ausgedrückt hätte. Wenn die Anleitung gelautet hätte,

„Versucht mal, das, was dann entsteht, wenn ich diese Worte sage, so gut wie möglich festzuhalten.“, wärt

ihr zu derselben Erfahrung gekommen. Du hast dich total eingelassen, hast das gemacht und kommst damit

ganz nah an die Lösung von dem, was hier eigentlich gemeint ist. Stellt euch vor, ihr hättet versucht, irgend-

etwas festzuhalten – das könnt ihr im Nachhinein noch machen … „Baum“. … Versucht das, was dabei

entsteht, festzuhalten –, ihr schafft es nicht, ohne dass es sich verändert. Es gibt nichts, nach dem man in der

Erfahrung greifen könnte, was man festhalten könnte. Das beschreibt der Teilnehmer gerade.

Es gibt Liebe. – „Verflixt noch mal, wo ist denn das Ding, wo ist denn das, was da ausgelöst wird!“ Dann

versucht man es festzuhalten und merkt, dass es sich während des Festhaltens verändert. Der initiale Mo-

ment, den wir den einen Gedanken nennen könnten, ist gar nicht zu finden! Da ist gar nichts, was den aus-

macht. Das was du jetzt beschreibst, ist die Lösung für das, was hier ausgedrückt wird als „… ohne dass

Entstehen, Vergehen und Verweilen greifbar wären...“ – von einem Gedanken. Es gibt nämlich gar keine

Gedanken. Das ist die Lösung! Es gibt nur Denken. Das ist es, was so besonders ist. Wer Gedanken wirklich

untersucht, der merkt, dass für Gedanken genau dasselbe zutrifft wie für Hören und Sehen und Spüren. Es

gibt keine Seh-Einheiten, keine Spür-Einheiten, keine Hör-Einheiten, die man abgrenzen könnte, und genau

so gibt es auch keine Denk-Einheiten, die man Gedanken nennen könnte. Denken ist Prozess. Jetzt versucht

mal Anfang, Mitte und Ende eines Gedankens zu finden, wenn das Ganze nur Prozess ist. Merkt ihr? Das ist

einfach in der Natur der Dinge.

Teilnehmer: Aber dann kommen wir wieder auf den hohlen Mahamudra-Geschwätz-Satz. Wenn man das

Denken nicht abgrenzen kann, dann kann es auch nicht beginnen, und dann kann es auch nicht aufhören. Dann war dieser hohle Dharma-Geschwätz-Satz gar nicht so ein Geschwätz?

Gedanken und geistige Bewegungen sind alle leer, das ist so. Aber er glaubt trotzdem noch an Gedanken. Er

sagt, „Die Gedanken sind leer.“ Er hat noch nicht begriffen, dass Gedanken eigentlich nur Denken ist, das

kommt da nicht zum Ausdruck. Er redet der Wahrheit hinterher, so wie er sie gehört hat. Und es wird hier

auch jemanden geben, der dann irgendwann mal sagt: „Ja, Gedanken habe ich keine gefunden, nur Denken.“

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Das ist neues Dharmavokabular, das dann Einzug hält. Lehrer müssen so geschickt sein, dass sie sofort

bemerken, wenn jemand nicht aus der direkten Erfahrung spricht. Das muss man einfach merken und es

gehört zum Geschick von Lehrern, zu spüren wenn jemand aus der Erfahrung spricht. Das hat eine

bestimmte Qualität, und die kriegt ein Lehrer mit. Aber das, was du schlussgefolgert hast, ist richtig. Was da

steht, ist nicht falsch. Man kann sagen, es ist falsch, diese Aussage in einer bestimmten Art zu sagen. Aber vom Dharma aus gesehen ist diese Aussage richtig.

Teilnehmer: Also kann ich doch in der Meditations-Praxis eigentlich mit diesem willentlichen Prozess, „Ich

meditiere jetzt.“, eigentlich nur sagen, in welchen graduellen Stärken ich Denken zulassen kann, ja oder nein. Dass ich das bewusst steuere.

Lass' es doch einfach zu. Du steuerst das bewusst.

Wie soll denn sonst so was wie Geistesruhe auch entstehen?

Geistesruhe entsteht dadurch, dass wir das, was auftaucht, nicht mehr mit Interesse nähren.

Das ist Loslassen.

Was heißt „Das ist Loslassen“? Du brauchst das nicht loslassen, es ist dem völlig egal, ob du es loslässt; das

verdrückt sich von selbst, das löst sich von selber auf. Was loszulassen, ist völlig überflüssige Anstrengung.

Wenn du meinst, du müsstest etwas loslassen, um in Geistesruhe zu finden, bist du derjenige, der sich anstrengt.

Okay, das verstehe ich auch gerade so.

Da gibt es nichts loszulassen. Es ist nur so, dass wir diese Prozesse normalerweise Gedanken nennen, die

sich aber von selber auflösen, wenn sie nicht mehr durch Interesse genährt werden. Wenn ich z.B. sage, „Ich

habe einen Gedanken gehabt.“, meine Güte, diese Idee, von der ich da als dem Gedanken spreche, ist ein

abgeschlossener Prozess, aber da ist eine Menge Denken drin. Die Idee, mir z.B. ein Häuschen in der Prov-

ence zu kaufen; da habe ich einen Gedanken gehabt, aber dieser Gedanke ist ein Sammelsurium von Tausen-

den von Denkprozessen, was als Gedanke benannt wird. Wenn ich es einfach nicht mehr nähre, wenn da kein

Interesse mehr ist, und kein Nähren mehr ist, dann löst sich sowieso alles auf, dann ist Geistesruhe das Ge-

schenk der Natur des Geistes, weil einfach diese Prozesse kein Öl mehr ins Feuer bekommen. Das ist alles,

wir brauchen nichts loszulassen, nur einfach in diesem entspannten Sein verweilen, wo die Dinge auftauchen können, aber weiter keine Beachtung kriegen.

Teilnehmerin: Ich denke auch die ganze Zeit über diesen Punkt nach und verstehe alles – glaube ich –, was

du sagst. Wenn ich jetzt aber auf dem Weg bin und noch Interesse habe und ich merke, dass da dieses

Interesse ist, wie entsteht dann die Entwicklung? Lass ich dann das Interesse fallen in dem Moment?

Aber nein, du lässt doch kein Interesse fallen! Du hast doch Interesse, dann folge doch dem Interesse und denke einfach.

Aber wenn ich das mache, dann denke ich die ganze Meditations-Sitzung. Da komme ich ja gar nicht…

Ja, du willst doch denken. Du hast doch Interesse am Denken, oder hast du jetzt doch kein Interesse am

Denken?

Ich möchte kein Interesse am Denken haben.

Ah, jetzt wird es aber kompliziert.

Das ist wirklich eine ganz ernsthafte Frage.

Du hast Interesse am Denken und dann hast du ein weiteres Denken, dass denkt, du solltest kein Interesse am Denken haben.

Was ist denn das: Ich meditiere und es tauchen Gedanken auf. Ich merke, es gelingt mir nicht, sie sofort

einfach loszulassen und ich spüre, „Oh, offensichtlich ist da doch Interesse, weil mich das emotional be-

rührt.“ Mich interessiert jetzt, was passiert in dem Moment des Loslassens, ist es dann so, dass das, was entsteht, sich von alleine verflüchtigt hat oder?

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Also da gibt es Tricks. Es gibt Tricks und es gibt Weisheit, die in der Tiefe die Sachen löst. Trick ist z.B. zu

sagen, „Okay, das interessiert mich zwar, aber jetzt gerade meditiere ich, und für diese Viertelstunde oder

halbe Stunde kriegt das von mir keine Aufmerksamkeit.“ Dadurch löst sich das. Dann kannst du in Gedanken

das Interesse und die Gedanken sein lassen und das Interesse ist wie geparkt. Da sagst, „Ich kümmere mich

darum später, nach der Meditationssitzung.“ Dann machst du so eine Klammer, das ist so, wie die meisten

Menschen meditieren. Sie schaffen so eine Klammer und sagen: „Okay, jetzt ist Meditation, was immer jetzt

auftaucht, ich übe jetzt das Lassen.“ Das ist freilassen, lassen wie es ist, ohne weiter zu nähren, aber in der Tiefe hast du damit noch nichts gelöst.

Für manche Dinge ist das Interesse ja durchaus angebracht und wichtig, lebenswichtig. Da müssen wir ja

auch drüber nachdenken. Aber für vieles ist es auch völlig überflüssig, auch nach der Meditation immer noch

überflüssig. Da geht es drum, in die Tiefe zu schauen: „Was ist es denn, was mein Interesse daran nährt?

Was sind denn die Bedürfnisse, Hoffnungen, Befürchtungen? Was sind denn innerlich meine emotionalen

Muster, die genau dieses Interesse immer wieder wach halten?“ Und da hinein gilt es, Gewahrsein und

Entspannung zu bringen. Dann löst sich das auf, und es löst sich aber auch so auf, dass dann diese Art von

Denken nicht mehr entsteht, wenn das gelöst ist.

Es gibt viele solcher Tricks, aber wirklich auflösen tut es sich überhaupt erst, wenn der Durst zu denken mit

Gewahrsein durchdrungen wurde und wir realisieren, wie absurd es ist, ständig denken zu wollen. Es bringt

uns keinen Zuwachs an Lebensqualität. Das muss auch noch wegfallen, denn selbst wenn wir gar kein

Interesse an speziellen Dingen haben, denken wir einfach, weil uns das Denken noch die angenehmere

Lösung ist als das Nichtdenken. Das müssen wir auch mal mit Gewahrsein durchdringen. Wir finden es auf

die Dauer relativ unangenehm nicht zu denken, denn wir sind da auf einem sehr heiklen Gebiet unterwegs,

wo wir gar nicht mehr wissen, wer wir sind, weil wir uns ja über unsere Gedanken identifizieren. Und da

merken wir, „Oh hoppla! In der Tiefe meiner ganzen Ablenkung, meiner Unruhe, meinem Aufgewühltsein,

da ist ja dieses ständige Verlangen, mich über das Denken und Aufgewühltsein zu bestätigen. Ich bin ja

dabei, immer eine Existenzbestätigung vorzunehmen, wenn ich denke. Wer bin ich denn, wenn ich nicht

denke?“ Da beginnt es, richtig interessant zu werden. Da kommen wir in die tieferen Bereiche von meditati-

ver Praxis, wo es egal ist, worüber wir nachdenken; das interessiert ja niemanden. Es geht darum, ob wir

denken oder ob wir wie einfach nur sein können, ohne zu denken. Dann wird es richtig interessant, dann geht es ans Eingemachte.

Du strahlst, hast offenbar irgendwie was verstanden oder gespürt. Was hast du verstanden?

Ich war berührt, ich glaube ich würde gern…

Okay, dann lass ich dich.

Teilnehmer: Dann mit dem Durst: Ich habe mich immer gefragt, warum wir gewisse Erfahrungen haben

wollen, obwohl wir eigentlich wissen, dass das nicht gut ist. Z.B. die Emotionen: Wir wissen, das ist

eigentlich unheilsam, aber wieso greifen wir so danach, auch im Alltag; immer dieser Durst! Wir wissen, dass es nicht richtig ist, und trotzdem machen wir das. Das beschäftigt mich auch schon ewig.

Hast du schon eine erste Antwort darauf?

Es gehört zu diesem Dasein dazu. Es ist irgendwie Teil unserer Existenz hier. Oder es ist wichtig auf diesem

Weg, oder so.

Vielleicht, es reicht noch nicht ganz als Antwort. Wenn ich in Ländern wie Griechenland und Brasilien

unterrichte und es darum geht, Begierde und Wut zu lassen, sind die Teilnehmer sehr schnell mit ihrer

Antwort: „Dann lebe ich ja nicht mehr!“ Wir haben das aber auch, bloß drücken wir das nicht so schnell aus.

Wir haben das Gefühl, dass unsere Emotionen unsere Vitalität sind, und tatsächlich steckt in unserem emo-

tionalen Erleben unsere Vitalität. Um unsere Emotionen wirklich lassen zu können und uns nicht mehr darin

zu verstricken, brauchen wir ein neues Erleben von echter authentischer Vitalität. Wir brauchen eine Alterna-

tive. Wir spüren uns ja am besten, wenn wir verliebt sind, im Begehren, im Habenwollen oder wenn wir

ärgerlich, wütend, streitend, und rechthaberisch sind. Dann spüren wir uns, das ist vital und endlich ist was

los im Leben. Das andere erscheint uns wie so ein tristes, graues Dahindümpeln im meditativen Gleich-

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gewicht.

Ein emotionaler Zombie.

Ja, du bringst es auf den Punkt. Auf Französisch sagt man „comme des légumes“, wie ein Gemüse, wie als

Gemüseeintopf durch die Gegend zu ziehen – alles breitgekocht. Das ist unsere erste Angst, und die ist ziem-

lich wichtig, weil wir eigentlich durch den Dharmaweg noch vitaler werden sollten. Wir sind ja in unserer

Energie durch die Emotionen etwas ausgebremst. Immer wenn diese emotionalen Verstrickungen stark wer-

den, ist ja ein Teil von unserer Energie blockiert in den Fixierungen, die Teil der Emotionen sind; in den

fixierenden Anschauungen. Ein Teil unserer Energie ist blockiert, aber ein anderer Aspekt davon ist, dass wir

uns ganz intensiv erleben. Wie können wir so intensiv leben, ohne zu fixieren? Kann man vielleicht noch

intensiver leben, wenn man nicht fixiert?

Das ist eigentlich unsere Hausaufgabe: Wege zu finden, ganz vital unterwegs zu sein, dank einer Haltung des

Nichtfixierens. Untersucht das mal. Der Schlüssel dazu ist dieses vitale, absolut energievolle Mahamudra-Gewahrsein. Darum geht es. Es geht nicht um einen tristen Gemüseeintopf.

Teilnehmerin: Emotionen sind ja nur dann unheilsam, wenn sie sofort oder später Leid mit sich bringen.

Richtig. Nicht alle Emotionen bringen Leid mit sich. Da müssen wir ein bisschen aussortieren: Freude, Liebe

usw. werden ja auch Emotionen genannt, aber um die geht es nicht, die bringen in ihrer reinen Form – wenn

sie nicht mit Haften durchsetzt sind – kein Leid mit sich. An so was hast du gedacht? Ja, da müssen wir erst

den Begriff „Emotion“ präzisieren und sagen, dass es um verstrickende, belastende Emotionen geht. Wir

fühlen uns nämlich – und damit deutest du die Lösung an – auch total lebendig, wenn Freude, Liebe, Dank-

barkeit usw. da sind. Und diese Geistesregungen sind ja auch in einem Erwachten da. Vielleicht ist das die

Lösung. Vielleicht geht es in Richtung eines freien Erlebens, wo all unsere Vitalität sich ausdrücken kann

mit diesen natürlicherweise vorhandenen Qualitäten.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir im Vajrayana-Buddhismus so stark auf die Qualität der Freude

setzen, vielleicht ist das auch der Grund, warum im Mahayana-Buddhismus so stark auf die „Emotionen“,

die Qualität von Liebe und Mitgefühl gesetzt wird. Weil Menschen da lebendig sind, ohne dass es leidvoll ist. Das macht doch Sinn.

Teilnehmer: Ich möchte noch mal einen Schritt zurückgehen zu dem Entstehen und wie lange etwas dauert.

Wenn du „Sonne“ sagst, dann sind einige Gedanken und meine Reaktionen darauf wie unter einem Schirm,

wie Sonne, die sind durchlöchert, weil da ganz andere Sachen auch noch reinkommen. Und dann sagst du

„Bauch“ oder was auch immer, das steht immer unter einem Schirm, und da drinnen passiert ganz viel. Aber

der Schirm ist irgendwie da, unter dem Einflussbereich von dem Impuls von dir.

Der Schirm ist wie so der Bereich deiner Möglichkeiten, das ist so das, was alles assoziativ möglich wäre.

Genau, was so passiert. Und wenn dann ein Impuls von dir kommt, wenn du ein neues Wort sagst, dann

kommt ein neuer Schirm. Aber der Schirm an sich hat vom Beginn an bis zum nächsten Impuls eine Zeitdauer, da passiert dann ganz viel. So eine Konstruktion wäre dann so etwas wie Ende – Beginn.

Aber was ist denn da los unter dem Schirm?

Ganz viel.

Also du kannst sagen „Anfang“, wo das emotionale Muster getriggert wird und „Ende“, weil das nächste

Muster gerade getriggert wird. So definieren die meisten Anfang und Ende eines emotionalen Zustandes.

Dann, wenn das Nächste kommt, ist das Vorhergehende vorbei. Das ist schon richtig, da passiert ganz viel.

Aber der vorhergehende Schirm hat auch noch Einfluss auf den nächsten Schirm, deshalb kann man kein

richtiges Ende finden. Und da der nächste Schirm in seiner Aufnahme schon beeinflusst ist vom vorher-

gehenden Erleben, ist auch kein echter Beginn festzustellen. Da haben wir schon wieder so ein Dilemma.

Verflixt noch mal, die Dinge sind Prozess, sie durchwirken sich.

Wir hatten jetzt gerade das schöne Modell eines Schirmes, aber – verflixt noch mal – der ist so löchrig, dass

man ihn gar nicht mehr Schirm nennen kann. Merkst du? Das war ein schönes Konstrukt, in der Abstraktion befriedigend, nur wenn man es im Detail anschaut, hält es wieder nicht stand. Das war ein guter Versuch.

* * *

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Wir haben in der Übung vorhin bewusst Gedanken erzeugt und beobachtet, was passiert, wenn wir bewusst

Gedanken entstehen lassen. Dabei haben wir festgestellt, dass es sich um eine Serie von Geistesbewegungen

handelt, die jeweils durch einen Impuls ausgelöst werden. Da sind unterschiedlichste assoziative Bewegun-

gen.

Karmapa fährt fort:

Kommt kein Gedanke „Er ist nicht fassbar“ – der Gedanke ist nicht fassbar – und erfährt er ein nicht

greifbares gleichzeitiges Erscheinen und Auflösen der Gedanken in einem Zustand des unbeeinflussten

Nichtfesthaltens, dann ist er über intuitive Einsicht durch Gedanken aufgeklärt.

Das gibt ein wenig die Lösung von dem, was wir eben diskutiert haben. Intuitive Einsicht kennzeichnet sich

auch dadurch, dass es eben keine begriffliche intellektuelle Einsicht ist, die kommentiert wird „So und so ist

es! Da ist ein Gedanke, aber er ist nicht fassbar.“ Dieses Verstehen braucht keinen Kommentar, dieses Ver-

stehen ist unmittelbar. Die nicht-fassbare Natur der geistigen Prozesse wird direkt erlebt. Dabei erleben wir

das gleichzeitige Erscheinen und Auflösen der Gedanken. Das ist interessant. Wie kann denn Erscheinen und

Auflösen gleichzeitig sein? Das ist eine andere Art auszudrücken, dass Gedanken eigentlich gar keine Dauer

haben, dass Denken Prozess ist. Wenn Entstehen und Vergehen gleichzeitig sind, dann gibt es auch kein Ver-

weilen dazwischen, d.h. wir haben es mit Denkprozessen zu tun, in denen kein einziger Gedanke abgrenzbar

ist.

Spürt noch einmal hinein während ich weiterspreche. – Im Erleben ist das so, dass etwas entsteht. Wenn ich

jetzt sage „Vogel“, beginnt ein Prozess, es ist ein Entstehen, wie das Bemerken eines Anfangs von dem Pro-

zess. Der Prozess geht aber sofort weiter, und von daher ist der Moment des Entstehens schon das Ende, Der

Beginn vom Nächsten ist damit das Ende vom Vorangehenden. Das ist damit gemeint, dass Entstehen und

Vergehen gleichzeitig sind. Im Moment des Entstehens von einem so genannten Gedanken, sind wir eigent-

lich am Anfang eines Denkprozesses. Wir können einen Gedanken nicht isolieren, es beginnt eine Art Welle

sich in uns freizusetzen, eine Bewegung. Im Moment, wo etwas erscheint, befreit es sich auch schon, d.h. es

löst sich schon auf und geht ins Nächste über.

Wollen wir uns das noch mal in einer Übung anschauen? Der Nachteil ist, dass ich es euch schon erklärt

habe, aber dafür haben wir die Übung vorher ja schon gemacht.

Übung: Gedanken festhalten

Entspannt einfach erst mal, fährt sozusagen auf Nullniveau runter und seid einfach völlig gelöst da, ohne irgendeine Absicht. Die Übung kommt dann schon von selbst. –

Dann lasst mal einen Gedanken entstehen, irgendeinen. … Lasst mehrfach Testgedanken entstehen und

schaut, wie es sich damit verhält. –

Versucht mal, einen Gedanken ganz langsam entstehen zu lassen. [Schmunzeln] – Das war gemein. –

Versucht mal, einen Gedanken ganz schnell entstehen zu lassen. –

Und jetzt lasst ihn mal normal entstehen. –

Und jetzt machen wir die Übung, die vorhin angedeutet wurde. Ich sage mal das eine oder andere Wort und

ihr versucht, den Gedanken festzuhalten:

Blau … und wenn es geht, auch wieder loslassen. … Maus … bitte die Maus festhalten … Himmel …

Mutter … Bridladip – [Lachen] – nicht lachen, festhalten. … Mond … Danke!

* * *

Erfahrungen der Teilnehmer

Haben sich eure Beobachtungen von vorhin bestätigt oder habt ihr Neues herausgefunden? Ganz kurz, wenn

ihr was beitragen wollt, nur ganz kurze Bemerkungen, bitte.

Teilnehmer: Für mich war das Bild von einem Fluss hilfreich, und als du dann gesagt hast „Maus“, war die

Maus kurz da, es war aber so, als wenn sie den Fluss runter schwimmen würde, d.h. es war dauernd in

Bewegung.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Aber ich hab doch gesagt „festhalten“. War das nicht möglich? Ging nicht? Wie ist es denn den anderen

gegangen?

Teilnehmerin: Ich habe die Maus am Schwanz gepackt.

Ja, eine Story, und dann hat sie was gemacht?

Da ist sie noch ein bisschen länger geblieben.

Genau, und hat einen Tanz aufgeführt.

Teilnehmerin: Bei der Aufgabe langsam einen Gedanken entstehen zu lassen, dachte ich „Luftballon“, aber ich habe gar nicht fertig denken können, da sind die Ballons schon in der Luft gewesen.

Tolle Beobachtung. Bei der Aufgabe langsam zu denken merken wir, wie sich das vorbegriffliche Denken

vom begrifflichen Denken separiert. Wir wollen dann einen Gedanken langsam denken, aber was wir

langsam denken, ist nur der Begriff von dem, was wir denken. Der Gedanke war schon längst da. Habt ihr

das gemerkt? Das, was vorher war, vor dem Begriff, nennt man einen Gedanken. Das ist der eigentliche

Gedanke. Der Begriff ist nur nachformuliert; das, was wir ohnehin schon gedacht haben. Und diesen einen

Impuls, den du hattest und was du so gut gesehen hast und dann verzögern wolltest, dieser Impuls lässt sich

nicht beschleunigen und nicht verlangsamen. Wir haben keinen Einfluss darauf. – Wie lange hat er gedauert? Das ist es, was wir Vergehen im Entstehen nennen.

Wir haben es mit zwei ganz zentralen Mahamudra-Begrif-

fen zu tun. Der eine Begriff steht dafür, dass sich alles von

selbst auflöst. Aus der Perspektive des Erwachens nennt

man das selbstbefreiend – Tibetisch rang dröl. – Es gibt

eine energetische Behandlungsform, die zur Selbstbefrei-

ung der Blockaden beiträgt und sich „Rangdröl“ nennt.

Die Tatsache, dass jede geistige Bewegung von selbst der

nächsten ihren Platz gibt, nennt man selbstbefreiend. Sie

löst sich von selbst auf. Auf dieser Tatsache baut die ganze

Mahamudra-Praxis auf, wir brauchen eigentlich nichts zu

tun, um Emotionen aufzulösen, um Gedanken aufzulösen.

Wir dürfen sie nur nicht weiter mit Interesse nähren. Wenn wir ihnen Interesse geben, geht der Prozess

weiter, aber die einzelnen Elemente, Gedanken – wie es offenbar viele von euch erlebt haben – sind schon

da, bevor sie formuliert werden. Wenn man versucht, den Geist etwas zu verlangsamen, merkt man, dass sie

schon längst da sind; man kann es gar nicht rückgängig machen. Es war schon längst da, man kann höchstens

noch die Beschreibung rauszögern.

Dieses da, was da war, hat sich in dem Moment schon befreit und hat den Anstoß zu einem Prozess des Ver-

balisierens gegeben. Das Verbalisieren ist nicht derselbe Gedanke wie vorher, es ist ein anschließender Pro-

zess. Es sind also weitere Gedanken, es ist weiteres Denken, es sind weitere Geistesbewegungen, die tatsäch-

lich das, was wir gesehen, gedacht, gehört, gefühlt haben, weiter ausformulieren. Und das, was vorher war,

was nicht festzuhalten ist, nicht zu identifizieren ist, von dem wir nicht sagen können, wie lange es überhaupt

dauert, ist aber ein ganz klares Erleben. Wir können ganz deutlich erleben, dass da der Impuls auftaucht und wir dem dann ein Wort geben; dadurch wird es noch weiter ausgeformt.

Und diese Tatsache, dass es sich im Moment seines Auftauchens schon weiter entwickelt, das nennen wir

shar-dröl. Shar bedeutet auftauchen. Das tibetische Wort sharwa wird auch verwendet, um zu sagen, dass

die Sonne aufgeht. – Etwas taucht auf im Geist, und ist – hier wieder dieselbe Silbe dröl: befreit – im Auf-

tauchen befreit. Das ist dieses simultane Geschehen. Es entzieht sich irgendeiner Möglichkeit, die Dauer zu

benennen; einzuschätzen, wie lang denn ein Gedanke sein könnte. – Ich sage es euch ehrlich, es ist nicht mal

eine Millisekunde. Ich habe ein Experiment mit den Forschern in Freiburg gemacht. Sie sind mit ihren sehr

feinen EEG‘s und 60 Elektroden an meinem Kopf nicht in der Lage zu zeigen, wenn ein Gedanke auftaucht.

Sie können das nicht wahrnehmen, es geht zu schnell. Sie können keine Dauer für einen solchen Impuls fest-

legen, sondern nur die Prozesse, wenn längeres Denken stattfindet. Wenn es tatsächlich ein paar Millisekun-

den oder bis hin zu Hundertstelsekunden dauert, können sie es mitkriegen, aber ein einziger Impuls –

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unmöglich. Sie kriegen es nicht mit, weil die Auflösung bei Millisekunden liegt.

Das nennt man im „Auftauchen befreit“. Alles befreit sich im Auftauchen, und wenn es nicht weiter genährt

wird, dann entsteht auch kein weiterer Prozess und es ist erledigt.

Es kann also sein, dass wir einen Moment der Wut haben, die durchschießt – das ist ja mehr als eine Milli-

sekunde, es kann eine Zehntelsekunde Wut durchschießen – aber wenn die Wut nicht weiter genährt wird,

gelassen wird wie sie ist und durchschaut wird, in dem wie sie ist, dann ist sie im nächsten Moment schon befreit. Dann sind wir schon wieder ganz woanders. Wir brauchen gar keine Story anzuhängen.

Teilnehmerin: Das heißt, auch ein Erwachter kann so einen Anflug von Wut haben?

Nein, das heißt das nicht. Bei uns ist es so. Es braucht ja einen Grund für die Wut, und der Grund ist bei

einem vollkommen Erwachten offenbar nicht mehr da, weil diese Ich-Identifikation nicht mehr da ist. Das

war nur ein praktisches Beispiel für uns, denn wir leiden ja am stärksten unter den emotionalen Impulsen, die

da auftauchen – Habenwollen, Nicht-Habenwollen, stolzer Impuls. Wir machen das oft sehr kompliziert.

Statt es einfach zu lassen und zu sehen, dass es keine Substanz hat, kommen Schuldgefühle dran, kommen

Rechtfertigungen, Verdrängungs-Mechanismen; es kommt alles Mögliche, was eigentlich gar nicht nötig ist. Das nennt man Komplikationen.

Teilnehmerin: Ich hätte eine Frage zu diesem Erleben eines Gedankens, diesem Wahrnehmen des Entstehens

und Vergehens. Dieses Erleben ist doch auch Denken.

Ja weißt du, im Sinne von Geistesbewegungen, alles ist geistige Bewegung.

Aber wenn da kein Gedanke ist, ist doch das dann auch Denken, oder?

Du haderst jetzt mit der Definition von Denken. Wir können die Definition doch ganz breit machen und

sagen, Denken umfasst alles, was an geistigen Bewegungen vorhanden ist. So benutzen es die Tibeter auch.

Dann gibt es das begriffliche Denken, eine sehr langsame Form, ein langsamer Prozess des Denkens. Dabei

ist es so, als würden wir innerlich Worte und Sätze hören. Aber es gibt die ganz flinken, raschen Prozesse

des bildhaften Denkens, des assoziativen Denkens; die Idee, die dem Wort vorausgeht. Das geht alles viel

schneller, und dort findet das eigentliche Gestalten der Welt statt. Da gestalten wir unsere innere Welt, und

das sollten wir ruhig auch Denken nennen; das ist aber das vorbegriffliche, das nicht-begriffliche Denken.

Und auch das kann zur Ruhe kommen. Wenn dieses ganze Ausformen – Bilder, Assoziationen, akustische

Eindrücke, Ideen – zur Ruhe kommen, dann bleibt nur noch dieses grundlegende Gewahrsein, wie so eine

vibrierende Bereitschaft in uns wahrzunehmen, eine Bereitschaft zu denken. Aber es kommt nicht zu

Ausformungen von Inhalten. Es entstehen keine neuen Inhalte. Das nennt man „erhellende Klarheit“, die wir

auch im Tiefschlaf erfahren können. Da kommt es nicht zum Aufsteigen von Träumen oder von Ideen,

sondern das ist einfach nur Grundgewahrsein. Alles andere sind die Bewegungen, die da stattfinden, und das können wir ruhig mal summa summarum Denken nennen.

Teilnehmer: Das heißt also, weg vom Inhalt, hin zur Bewegung. Wenn ich nicht auf die Inhalte eingehe, die

eine Emotion auslösen, dann wird die Emotion nicht weiter genährt. Die Quelle der Emotionen ist abge-schnitten.

Die kriegt keine Aufmerksamkeit in dem Moment. Wenn ich meine Aufmerksamkeit den Inhalten zuwende

– das kriegen wir sehr schnell hin – dann fängt es an zu kochen, dann geht die Emotion schön in die nächste

Prozessrunde.

Teilnehmer: Die Bewegung kann ich doch nur am Inhalt erkennen.

Mit Inhalt war etwas anderes gemeint, nämlich der Auslöser, z.B. eine Situation. Etwas hat mich geärgert,

jemand hat sich mir gegenüber fies verhalten, da war eine Situation. Dann geht der Prozess aber weiter und

hat seine weiteren Inhalte – „Das geht doch nicht!“, „So lass ich nicht mit mir umgehen!“, „Wenn der das

noch mal macht!“ – Die Inhalte wandeln sich und daran merken wir auch, dass dieser Prozess abläuft. Da

stimme ich dir zu, aber da ist ein ursprünglicher Inhalt, und wenn der nicht mehr genährt wird, wenn wir uns

nicht mehr darauf zurückbeziehen, dann fällt das andere in sich zusammen.

Ich möchte einfach den Abschnitt noch mal vorlesen oder in meine eigenen Worte fassen.

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Es taucht kein Gedanke auf wie, „Das ist so und so“ oder „Geist ist nicht fassbar“ oder „Die Gedanken

sind nicht fassbar“ und wir erfahren einfach dieses nicht greifbare gleichzeitige Erscheinen und Auflösen

der Gedanken in einem Zustand des unbeeinflussten Nicht-Festhaltens. – Das ist die Grundhaltung, das

können wir nur dann erfahren, wenn wir wirklich nicht fixieren, wenn wir überhaupt nicht beeinflussen und festhalten. – Dann erfahren wir intuitive Einsicht in die Natur der Gedanken.

Dann verstehen wir, dass es sich um Denken handelt, um Prozess, der keine Substanz hat aber klar erfahrbar

ist, und wir können uns in diesen Prozess hinein entspannen. Wir können ihn lassen, weil er shar-dröl ist –

alles, was da entsteht, befreit sich im Entstehen. Diese Gewissheit zeichnet die Erwachten aus; sie müssen

nicht eingreifen, um das zu bewirken, was ohnehin stattfindet: dass sich die Dinge auflösen. Sie brauchen

diese Komplikation gar nicht mehr, immer einzugreifen, so wie wir das tun, indem wir an uns rumdoktern.

Die Dinge können freigelassen werden. Das, was in unserem Geist auftaucht, kann freigelassen werden und

erschöpft sich dadurch von selbst. Die grundlegenden Muster werden nicht mehr genährt und auch die

emotionalen Muster erschöpfen sich. Das ist die Botschaft hier, das ist intuitive Einsicht in die Natur der geistigen Bewegungen.

* * *

Die Frage von Karmapa an uns:

Außerdem: Verstehst du Gedanken als unverhüllte Klarheit und Bewusstheit, ohne dass es da die ge-

ringsten Unterschiede gibt zwischen gut und schlecht im Inhalt, zwischen stillem und bewegtem Geist

– ohne Unterschied zwischen dem jetzigen Geist – zum vorigen Geist und vorigen Gedanken?

Wenn es dann mal so ist, dann können Gedanken auftauchen, egal welchen Inhalts. Der Inhalt spielt dann

keine Rolle mehr; der Inhalt ist wie er ist. Klar, die Inhalte unterscheiden sich sowieso, manche mögen wir

und manche nicht, aber wenn wir in diesem gewahren Sein sind, wo wir die Natur, das Wesen des Denkens

wahrnehmen, dann haben Gedanken des Ärgers und Gedanken der Liebe dasselbe grundlegende Wesen. Da

ist kein Unterschied mehr. Das ist hier gemeint mit „kein Unterschied zwischen gut und schlecht im Inhalt“.

Und dann macht es auch keinen Unterschied mehr, ob unser Geist still ist oder bewegt. Es macht tatsächlich

keinen Unterschied mehr. Das ist natürlich Klasse. Ja, das ist nämlich dann so, wie wenn ihr vor einem See

sitzt, einem Waldsee – das Ideal der Stille. Ihr wollt Einkehr mit eurem eigenen Geist halten an so einem

Waldsee. Stört es, wenn kleine Wellchen, sind, wenn sich da was bewegt? Oder wenn ihr am Meer seid, ist

denn die platte See irgendwie interessanter als die, wo sich Wellen brechen? – Ist eigentlich völlig egal, ob

still oder bewegt.

Und so ist es auch mit dem eigenen Geist. Eigentlich ist es völlig egal, ob da Bewegung ist. Es ist wie

Wellen und Wasser. Wenn wir gewahr sind, dass die Wellen Wasser sind, dass wir uns nicht dagegen

auflehnen, dass auch kein Greifen nach der Ruhe stattfindet, dann macht es keinen Unterschied mehr.

Es kann sogar noch weiter gehen: Nicht nur, dass es für uns keinen Unterschied mehr spielt – das hört sich

an wie „Ist mir doch egal.“ –, wir freuen uns genauso an der Bewegung wie wir uns an der Stille freuen. Wir

freuen uns an der Qualität des gewahren Seins, die immer überall durchzuschmecken ist, die ganze Zeit. Und

es macht keinen Unterschied, ob der Geist sich gerade von seiner dynamischen Seite zeigt, ob da Denken ist,

ob da Fühlen ist, ob da intensive Sinneswahrnehmungen sind, oder ob da gerade eine sehr ruhige Phase ist,

ohne dass irgendetwas los ist. All das spielt keine Rolle mehr. Wenn man keinen emotionalen Unterschied

mehr spürt und es auch keinen Unterschied macht, ob man den Geist erkennt oder nicht – wir erkennen ihn

nicht besser, wenn er still ist und nicht besser wenn er bewegt ist und auch nicht schlechter –, das ist ein

Zeichen dafür, dass echte intuitive Einsicht in die Natur des Geistes gewachsen ist.

Und da ist dann natürlich auch kein Unterschied zwischen dem jetzigen Geist und dem vorherigen Geist. Der

vorherige Moment des Gewahrseins ist in keiner Weise besser oder schlechter, wacher, offener als der

jetzige Moment des Gewahrseins. Das ist es, was Karmapa mit dieser Frage meint. Er fragt nach: „Na, wie

steht es denn mit deiner Einsicht, wie weit bist du denn gekommen? Bist du denn nun schon so weit, dass da

eine wirkliche Einsicht ist, die unterschiedslos alle Geistesbewegungen und Geisteszustände erfasst?“ –

Vielleicht noch nicht, aber wir arbeiten daran.

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Einfangen und Loslassen von Gedanken

Werden Gedanken nicht erst durch Einfangen und Loslassen klar und leer, sondern erscheint der

plötzlich – entstehende oder – entstandene Gedanke als klar und leer oder du erkennst ihn als klar und

leer, dann bist du [über das Wesen der Gedanken] – tatsächlich – aufgeklärt.

Dieses Einfangen und Loslassen muss ich euch erst mal erklären. Hier wird ein Fehler in der Praxis von

Vipassana, von Lhaktong angesprochen. Jetzt schaut mal, was für eine Handbewegung ich mache. Innerlich

fühlt sich das so an: Da ist der Gedanke [schließt die Hand in der Luft] – [öffnet die Hand wieder] und jetzt

ist er leer. Hier findet eine innere Verwechslung die statt. Wir versuchen, Gedanken auf ihr Wesen hin zu

untersuchen, aber was wir dabei machen, ist, dass wir die Gedanken ein bisschen fixieren. „Ah – und guck

mal wie ich es loslassen kann.“ Dann lassen wir sie los und erleben, wie leer der Geist ist. Und die Gedanken

sind dadurch auch leer: „Da ist keine Substanz, wir haben ja bewiesen, dass sie jetzt gegangen sind.“ Könnt

ihr das nachvollziehen? Es ist natürlich ein bisschen subtiler als ich jetzt beschrieben habe.

Es ist gut, den Fehler zu kennen. Nehmen wir als Beispiel das Wort „Baum“ von vorhin. Visualisiert jetzt

mal einen Baum. … Und jetzt lasst ihn gehen. … Er ist gegangen, spätestens jetzt, wo ich angefangen habe

zu reden. Dann haben wir das Gefühl: „Ah, der ist ja gegangen. Jetzt ist er endlich gegangen. Ah, der ist ja

leer.“ Der ist aber nicht leer durch sein Gehen, der wird nicht dadurch leer, dass er geht, der visualisierte

Baum ist leer während wir ihn visualisieren. Versucht das noch einmal. Das ist beim Visualisieren ja so

etwas Spezielles, da können wir ein bisschen festhalten. Nehmen wir uns noch mal den Baum vor. Mich

interessiert jetzt, diesen Wald zu sehen, der hier entsteht, aber … Okay, ich habe meinen Baum wieder. Habt

ihr euren auch? Ihr könnt auch mehrere Bäume nehmen. Haltet sie mal präsent – Baum, Baumgruppe, Wald

–, ist diese Vorstellung, diese Visualisation jetzt leer? Wie ist denn das?

Teilnehmer: Ich glaube, das Bild ändert sich ständig. Ich kann es nicht festhalten.

Interessant. Das Bild selber ändert sich schon. Hat es sich krass geändert oder nur fein? Wie ist das bei dir?

Es ist im Vergleich zum vorherigen Bild ganz anders. Und es sind Nuancen. Ich kann mir das gesamte Bild

nicht wieder gleich vorstellen wie vor etwa 2-3 Sekunden.

Okay. Kann es sein, dass du einfach nicht geschickt genug bist, um das Bild schön stabil zu halten?

Möglich. Aber ich glaube, das ist einfach eine Gegebenheit des Geistes.

Ja, wenn es das jetzt wäre, dass die Leerheit des Bildes darin besteht, dass sich Nuancen im Bild verändern,

dann wäre bei jemandem, bei dem sich das innere Bild nicht verändert, diese Geistesbewegung nicht leer.

Das wäre der erste Schluss. Der zweite Schluss: Wenn wir das auf eine äußere, visuelle Wahrnehmung über-

tragen, dann ist die Klangschale solange nicht leer, als sich unsere Wahrnehmung der Klangschale als

visuelles Objekt nicht ändert. Das ist nicht ganz das, was gemeint ist. Was ist denn wohl gemeint? Wir

können die Klangschale ja sehr stabil sehen, aber was ist es denn, was genau darin leer ist?

Teilnehmer: Beim Baum habe ich gemerkt, wie ich das Bild aus den verschiedenen Bestandteilen zusam-

mensetze, aus den verschiedenen Erinnerungen, Details. Und das Zusammensetzen und Zusammenhalten

macht mir deutlich, dass es leer ist.

Ja, das ist ein Zugang, wie wir das merken können. Es ist zusammengesetzt, wir sagen auch, es ist durch

Bedingungen entstanden. Solange diese Bedingungen aufrechterhalten werden, solange besteht es. Damit

kommen wir schon näher an das, was Leerheit ist. Was habt ihr für andere Beobachtungen?

Teilnehmer: Zuschreibung. Zuschreibung des Namens.

Damit meinst du, dass du gar keine Klangschale siehst sondern nur eine Klangschale denkst? Oder was

meinst du damit? Was meinst du mit „Zuschreibung“?

Es ist alles Zuschreibung.

Das hört sich jetzt an wie ein sehr stabiler Gedanke. Ist der leer?

Zuschreibung.

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Was meinst du mit Zuschreibung? Ich kenne das Wort und benutze es auch, aber was meinst du damit?

Leer davon, Schale zu sein.

Ja, da ist ein analytisches Bewusstsein bei dir, dass das, was wir Klangschale nennen, lauter Hypothesen in

sich vereint. Ja, alle möglichen Zuschreibungen. Das ist analytisches Denken und das ist nicht das Erkennen

der Leerheit des visuellen Objektes. Aber es ist natürlich hilfreich. Wollen wir mal schauen, wo geht es

weiter.

Teilnehmer: Es ist ja doch ein Konstrukt, so wie ein Fernsehbild.

Genau. Nimm das Beispiel von einem Fernsehbild. Nehmen wir mal an, der Fernseher bleibt stehen auf

einem Bild; nicht dass sich das Bild wandelt, wie vorhin gesagt. Wenn die Aussage – wie vorhin gesagt

wurde –, dass das Bild leer ist, weil es sich wandelt, das einzige Kriterium wäre, wie wäre es dann mit einem

stehenden Bild? Was ist deine Antwort?

Ich habe mir die Bäume z.B. aus dem Augenhintergrund konstruiert und dadurch waren sie relativ stabil.

Aber der Augenhintergrund ändert sich ja auch, dann ist es halt etwas stabiler, aber wenn ich die Augen

wieder zumache, ist es ja auch wieder völlig anders.

Genau, da ist eine subtile Veränderung. Bleiben wir einmal bei dem stehenden Fernsehbild. Das gibt es heut-

zutage nicht mehr oft, dass das auftritt. Wisst ihr noch, wie stehende Fernsehbilder aussehen? Sie flimmern.

Könnt ihr in eurer visuellen Wahrnehmung dieses gewisse Grundflimmern wahrnehmen?

Teilnehmer: Es entsteht andauernd von Neuem.

Es entsteht immer wieder von Neuem. Wenn ihr hinschaut, ist im Entstehen des visualisierten Bildes Bewe-

gung; nicht eine Bewegung, die die Details des Bildes wirklich verändert, aber es wird immer wieder neu

erzeugt, die ganze Zeit, unaufhörlich. Es ist wie so eine Flimmerbewegung, und das gilt für alle scheinbar

stabilen geistigen Inhalte.

Auch wenn wir auf etwas Abstraktem, einem Wort verweilen und z.B. nur „Baum“ denken – gar nicht Baum

sehen – nur „Baum“, müssen wir das Denken von „Baum“ ständig wiederholen. Es ist nicht in sich stabil, es

bleibt nicht aus sich heraus. Und das ist die Prozessnatur, auf die es ankommt, nicht die Veränderung des

Details, sondern dass es immer wieder durch Bedingungen erzeugt wird. Und die Bedingungen müssen wir

immer wieder zusammenbekommen. Manchmal gelingt es uns nicht ganz perfekt, dieses exakt selbe Bild

zusammenzubekommen, dann wird es sehr offenkundig, dass wir dabei sind zu konstruieren. Aber selbst

wenn es uns gelingt, genau dasselbe innere Abbild zu halten, dann ist es ein ständiges Erzeugen, ein ständi-

ges Wachhalten. Und das ist erlebbar, das hat eine Qualität wie so ein vibrierendes Gewahrsein. Es kommt

einem sehr stabil vor. Wenn euer Blick auf etwas Stabiles vor euch im Raum fällt, dann ist es auch ein

kontinuierliches Schauen und nicht einmal geschaut und dann stabil.

Nehmt mal eure eigene Hand als Beispiel. Macht eure Hand jetzt ganz stabil. … Wie stabil kriegt ihr eure

Hand? Merkt ihr, dass Schauen ein ständiger Prozess ist? Jede minimale Bewegung der Hand sehen wir.

Dadurch erkennen wir, dass Schauen kein Schauen von stabilen Bildern ist, sondern dass Schauen Prozess

ist. Wenn etwas, das wir anschauen stabil ist, sich nicht bewegt, wie z.B. wenn wir in der Meditation den

Blick auf einem Objekt ruhen lassen, da entsteht der Eindruck, dass das Objekt in unserem Geist stabil ist

und es ist so, als würde das Schauen erledigt sein auf eine Art. Aber wir schauen die ganze Zeit weiter und

wenn eine minimale Bewegung stattfindet, wird sie sofort gesehen, weil Schauen Prozess ist und sofort die

veränderten Bedingungen registriert.

So geht es mit allen geistigen Prozessen. Manchmal taucht die Illusion von Stabilität auf, und zwar beson-

ders dann, wenn ein hoher Grad von Abstraktion erreicht wird, wenn es weit weg vom Leben ist. Also z.B.

das Wort „Liebe“ ist das einzige Stabile in der Liebe. Das Wort „Liebe“ überdauert die Jahrhunderte und

Jahrtausende. Aber das, was damit jeweils verbunden wird, was damit erlebt wird, was gefühlt wird, auch

wenn es dieselbe Person erlebt, ist jedes Mal anders.

Aber ein abstraktes rotes Quadrat kann – weil es so schön abstrakt ist und klar definiert ist – mir den

Eindruck von etwas Stabilem, Unveränderlichem geben. Seht ihr jetzt innerlich so ein rotes Quadrat? Es

kann uns den Eindruck von etwas Stabilem geben, aber es ist prozesshaftes Wahrnehmen, durch Bedingun-

gen entstehend. Und sobald etwas sich verändert, verschiebt es sich und es wird z.B. zu einem Dreieck oder

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es wird unregelmäßig oder fängt an zu flattern.

Das ist die Leerheit: Es entsteht durch Bedingungen, ist Prozess und hat keinerlei Substanz.

Teilnehmer: Würde man das auch für ein gemaltes Bild, z.B. ein Quadrat, so sehen oder irgendetwas

anderes Beliebiges, dass es erst einmal stabil zu sein scheint? Aber das verändert sich ja auch. Das Bild

kann z.B. schmutzig werden, es kann dunkler werden oder heller.

Jetzt bist du bei einem äußeren Objekt und da ist es natürlich ebenfalls so, dass sich das äußere Objekt in sich

verändert – unabhängig von uns, aber aufgrund der Umweltbedingungen. Auch da kommen Bedingungen

zusammen. Und du weißt, wie wenig farbstabil ein rotes Quadrat ist. Selbst unter extremem Schutz verändert

sich das noch. Das ist die innere Instabilität, abhängig von Bedingungen der äußeren Objekte. Unsere Medi-

tation hier kümmert sich aber gar nicht darum, was die äußeren Objekte angeht. Bei diesem Beispiel würde

es darum gehen, wie sich das Erleben von dem Bild verändert. Das Erleben des scheinbar immer selben

Bildes ist nicht für eine Millisekunde dasselbe Erleben. Darum geht es jetzt an erster Stelle.

Über die äußeren Objekte können wir natürlich wenig aussagen, weil wir sie ja nur über unser Erleben ken-

nen. Das heißt, die Veränderungen deines Bildes würdest du aufgrund deines Sehens und Betastens usw.

feststellen – „Ah, das Bild hat sich verändert.“ –, und auch das ist wieder Erleben. Das heißt, es hat sich auch

dann in deinem Erleben verändert, und was sich sonst noch alles in der äußeren Welt verändert, das wissen

wir gar nicht, solange wir es nicht erleben. Ich glaube, es verändert sich noch viel mehr in der äußeren Welt

als wir mitbekommen.

Wir haben dafür keine Antennen. Wir haben uns inzwischen verlängerte Messantennen gebaut, die Radio-

aktivität messen und Luftverschmutzung, CO2-Werte und dergleichen. So kriegen wir z.B. Veränderungen in

der Atmosphäre mit, aber auch wieder über das Ablesen von selbst konstruierten Messgeräten. Auch das

muss erstmal Erleben werden, damit es bei uns ankommt. Was immer in der äußeren Welt stattfindet, es

findet durch unsere eigenen Antennen oder die verlängerten Antennen statt. Und darum kümmert sich hier

dieser Ansatz, dass alles, was wir über die Welt wissen, über unser Erleben wahrgenommen wird. Und wir

machen keine Aussagen über die äußere Welt, weil sie ist Erleben. In letzter Instanz ist sie immer Erleben.

Teilnehmer: Ich habe erlebt, dass ich den Eindruck hatte, ich müsste den Auftrag zu sehen immer neu aus-

stellen. Aber wer macht das?

Genau, das würde ich auch gern wissen.

Ich muss also das Bild jedes Mal neu aufbauen, aber irgendetwas hält ja die Linie.

Du hast also den Eindruck, dass du den Auftrag neu ausstellen musst, immer wieder das Bild zu sehen.

Wo und wie hält sich das?

Das sind Faktoren oder Kräfte, für die es Namen gibt, wie Interesse, Motivation, Wille. Diese Kräfte führen

dazu, dass wir bestimmte geistige Handlungen ausführen, dass wir bestimmten Aspekten unseres Lebens die

Aufmerksamkeit schenken. Die Menschen denken, es gäbe dabei eine Instanz, die „Ich“ heißt. Und da

müssen wir jetzt weiter hinschauen. Im nächsten Schritt würdest du jetzt mal schauen müssen, ob du diese

Ich-Instanz findest.

Ich habe da nichts gefunden.

Du hast nichts gefunden?

Nein.

Echt?

Das ist ja auch … wie entsteht eine Tendenz? Wie entsteht eine Gewohnheit?

Ja, das sind alles Fragen. Im Moment sind wir dabei, und da bin ich dir dankbar. Du hast also schon geschaut

und hast nicht einmal das Ich gefunden. Was entdecken wir denn, wenn wir nach dem Ich schauen? – Bevor

ich die Gruppe frage, machen wir erst einmal eine Übung dazu. – Aber darum geht es. Auch das Ich ist in

letzter Instanz geistige Bewegung. Und wenn wir hineinschauen, ist da, wo wir „Ich“ vermuten, Prozess. Es

ist nichts anderes als das, was wir hier die ganze Zeit machen.

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Aber es muss sich doch etwas weitergeben, wenn es Sekunde für Sekunde sich verändert, wie geht es dann?

Ist da Kontakt?

Ja, es geht weiter. Es geht immer weiter, da ist ein kontinuierlicher Strom.

Sodass ein Gedanke den anderen einführt?

Tja. Und wenn zwischendurch kein Gedanke ist? Was machen wir dann? Überspringt der Gedanke eine

gedankenfreie Pause?

Wenn es z.B. frei von Gedanken ist, kann es trotzdem sein, dass da eine bestimmte Grundbefindlichkeit ist.

Du meinst, dass in der Tiefe Grundkräfte weitergehen? Das könnte doch sein.

Teilnehmer: Wenn die Bedingungen da sind, wird das wieder aktiv.

Genau. Diese Kraft, dieses Sein, das wir Gewahrsein nennen, ist auch eine Kraft, das ist auch kein Ding. Das

ist die Kraft, gewahr zu sein. Und da gibt es zwei verschiedene Ansätze, das zu erklären. Der eine Ansatz ist,

dass immer das vorhergehende Gewahrsein das nächste Gewahrsein so etwa wie anstößt, also die Kraft sich

fortsetzt und nie verloren geht.

Sonst gäbe es ja kein Karma.

Genau. Das ist vielleicht eine befriedigende Erklärung. Der andere Ansatz spricht von Zeitmomenten, dass

jeder Moment den nächsten Moment erzeugt. Aber das ist nicht so haltbar. Wenn dich die erste Erklärung

schon befriedigt: gewahr zu sein ist Geisteskraft, und diese Kraft geht nie verloren, sie setzt sich fort. Das

können wir aber nur beobachten. Das auch noch mal erklären? – Nein, es ist einfach so.

Teilnehmer: Du erklärst, dass es ein Fehler ist zu lernen, Dinge zu beobachten und wieder loszulassen.

… und dann denkt, das wäre die Leerheit, das Loslassen.

Ist es dann eher richtig, es wie mit der Klangschale zu machen, dass wir den Fokus auf den Blick haben und

plötzlich den Blick ausweiten auf das ganze Spektrum? Also wenn es ein Fehler ist, das herzunehmen und zu

begreifen als das Loslassen, wäre es dann richtig, diesen ganzen Prozess so zu behandeln, wie wir es mit der

Klangschale gemacht haben, es visuell zu sehen: So, jetzt bin ich konzentriert auf die Klangschale und jetzt

kann ich aber meinen Blick auch wieder auf das Ganze ausweiten.

Ja, du kannst dir so helfen. Das ist hilfreich, um von der Fixierung wegzukommen und gar nicht zu ver-

suchen, dass die Klangschale irgendwie verschwindet; die kann bleiben. Was du beschreibst, ist hilfreich,

aber noch nicht die Lösung. Die Lösung ist, sich vorzunehmen, die Gedanken nicht in ihrem Verschwinden

zu betrachten und zu meinen, ihr Verschwinden wäre ihre leere Natur, sondern die Gedanken in ihrem

Entstehen zu nehmen und sie solange bestehen zu lassen, wie sie wollen. Und das gilt nicht nur für das Den-

ken sondern auch für alle Sinneserfahrungen. Jetzt gerade, wo wir sie machen und sehen, hören usw., geht es

darum zu verstehen, dass immer jetzt, gerade das, was wir jetzt erleben, von dieser nicht fassbaren Prozess-

natur ist, nicht greifbar; jetzt gerade! Es braucht sich nicht aufzulösen. Es entwickelt sich ja ohnehin weiter.

Es geht immer um das gerade jetzt Entstehende; das Jetzt, … das Jetzt hat dieses Nicht-Fassbare. Ich spüre,

wie ihr dran seid...

Das Frische.

Weil es frisch ist, ist es leer. Weil es entstehend ist, weil es immer entstehend ist, immer im Prozess. Das ist

es, genau da! Dieser Prozess gestaltet sich ständig neu, und die Bedingungen, die in dieses Gestalten hinein-

wirken, sind zum Teil von uns abhängig. Wenn wir darin fixieren, kommt es zu engen Erfahrungen. Wenn

wir darin frei von Festhalten sind, ist es ein ganz offenes, spielerisches Sein, das sich da zeigt; dasselbe

Erleben.

Teilnehmer: Kannst du, falls es hilfreich ist, den Zusammenhang zwischen 7. und 8. Bewusstsein noch erklä-

ren?

Das ist jetzt nicht hilfreich und würde nur zu viele neue Konzepte bringen. Aber für dich einfach gesagt:

Wenn da dieses Nicht-Festhalten in das 7. und 8. Bewusstsein kommt, dann löst sich das. Und dann wird das

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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8. Bewusstsein von namshe zu yeshe.

Das ist die unterschiedliche Haltung. Merkt ihr, was das für eure Meditation ausmacht? Statt auf irgendetwas

zu warten, dass sich jetzt die Leerheit zeigt: die ist ja schon da! Hallo!

In die Fülle schauen.

Ja, in die Fülle schauen. Die Fülle in ihrer Dynamik und Frische, da ist sie ja, die nicht-fassbare Natur des

Seins. Da ist sie ja! Jetzt gerade, während ich spreche, ist sie ja! Es ist alles da, wir brauchen sie nicht woan-

ders zu finden, wir brauchen an nichts festhalten, nichts wegscheuchen, nichts produzieren, nichts weg-

nehmen. Die Stille jetzt gerade ist genauso wenig fassbar wie das Gesprochene.

Merkt ihr, wenn ihr jetzt so auf das frische Erleben schaut, wie das alles wie transparent wird? Wie das alles

so ein bisschen wie einen traumhaften Charakter bekommt? Ist es genauso wirklich und wach wie vorher?

Aber irgendwie seid ihr gerade nicht so identifiziert damit. Ihr staunt ein bisschen, und dieses Staunen ist

gerade eure jetzige Fixierung, weil ihr woanders hinschaut.

Jetzt schaut mal in das Staunen, schaut mal in dieses Aha-Gefühl. Das hat auch keine Substanz. Das hat

dieselbe Natur. Merkt ihr? Auch die Fragezeichen und all die Knötchen im Geist haben dieselbe Natur; es ist

frisches Erleben, es gestaltet sich. Die Knoten braucht man gar nicht zu lösen, die sind wie sie sind. Merkt

ihr? Wenn ihr so schaut, dann kommt so was Unbekümmertes rein; selbst unbekümmert vom Aha-Erlebnis

und den Fragen, die noch da sind. Dieses unvollständige Verstehen ist auch die Natur des Geistes, nicht erst

das vollständige Verstehen. Das ist doch irre, oder? Aber so ist es. Genau das ist gemeint, wenn Karmapa

hier sagt: „Oder ist es so, dass der plötzlich entstandene Gedanke – das jetzt unvermittelt entstehende Den-

ken – als klar und leer erkannt wird?“ Das ist damit gemeint, immer gerade jetzt, kein anderer Geisteszu-

stand.

Als ich vorhin gerade aus dem Schlaf kam und mich hier hingesetzt habe: dieses Erleben war auch leer. Ihr

habt euch vielleicht gefragt, wo meine Leerheit hin ist, aber die war da. Das ist auch nur Erleben, es ist frisch

und hat dieselbe Natur und man braucht nichts daraus zu machen, egal wie tief der Schlaf ist; solange wir

bewusst sind und das Schlafen ein bewusstes Erleben ist, sind wir gewahr, dass es keine Substanz hat, dass

es leer ist.

Wir brauchen also nicht ein anderes Erleben zu suchen. Immer das Erleben, das gerade da ist, das ist es. Und

das wird in der Dzogchen-Tradition „Die Vollkommenheit des Seins“ genannt; deswegen heißt Dzogchen

„Die Große Vollendung“. Das ist die Übersetzung, weil dieses jetzige Sein, immer das jetzige Sein, vollendet

ist in seiner Natur. Sein wahres Wesen ist das Sosein, von dem alle Buddhas sprechen.

Das ist seine Vollendung. Mahamudra und Dzogchen sind da völlig eins, sie sind identisch. Das ist gleich-

zeitig Mahamudra, das große Siegel. Mahamudra ist das große Siegel der Leerheit aller Erscheinungen. Alle

Erfahrungen, alle Wahrnehmungen bergen dieses Siegel der Authentizität in sich. Es ist immer da. Alles

Wahrnehmen, alles Denken sagt: „Hallo, hier ist das Erwachen.“ Alles birgt das in sich, alles. Deswegen

nennen wir sie Botschafterinnen der Weisheit – Dakinis. Jeder Geistesmoment ist eine solche Botschafterin

des eigentlichen Seins. Das ist also damit gemeint. Jetzt haben wir uns an das Eigentliche herangetastet,

darum geht es. Um mehr geht es nicht. Jetzt versteht ihr den ganzen Rest.

Teilnehmer: Alle Erscheinungen mögen sich als Dharmakaya offenbaren.

Genau.

Reine Sicht

Teilnehmer: Kannst du noch in dem Kontext etwas zu reiner Sicht sagen? Das hat doch auch mit der

Leerheit zu tun.

Ja, das, was ich jetzt beschrieben habe, ist die eigentliche reine Sicht. Das Sehen der wahren Natur aller

Wahrnehmungen, allen Erlebens, das ist die wirklich reine Sicht.

Ja, ich kann mir die doch nicht einfach vorstellen.

Nein, das kannst du nicht.

Wir können nicht einfach sagen: Ja, alles ist rein, weil es in seiner Natur leer ist.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Ja, da verwechselst du jetzt zwei Ebenen. Zum einen gibt es die reine Sicht des Übenden. Du als Übende

übst eine reine Sichtweise, indem du den Ort, an dem du gerade bist, als das reine Gefilde aller Buddhas vi-

sualisierst oder praktizierst. Und alle, die dir begegnen, siehst du als Tara, Tschenresi usw., also als Buddha.

Das ist die reine Sicht von uns als Übende, die uns in ein Gefühl davon hineinbringen soll, wie denn ein

Buddha das jetzt hier wahrnehmen würde. Und damit fahren wir unsere Antennen aus: „Wie würde ein

Buddha das wahrnehmen?“ Klar, er würde ohne Greifen, ohne zu fixieren und zu vergegenständlichen jeder-

zeit diese nicht-fassbare leere Natur des Erlebens wahrnehmen. Und das ist die eigentliche reine Sicht.

Aber das ist eine Erfahrung.

Das ist eine Erfahrung. Und das andere ist eine hinführende Methode, sich so hineinzuversetzen, wie es wohl

wäre, als Buddha in dieser Welt unter Buddhas unterwegs zu sein. Und das war die erste Ebenenver-

schiebung in deiner Frage: Du hast die Übungsinstruktion, die reine Sichtweise zu praktizieren, was ist eine

gewisse Anstrengung bedeutet, verwechselt mit der tatsächlichen reinen Sicht, in der die Dinge so sind, wie

sie sind in der Sicht des Erwachens.

Und die zweite Verschiebung war mit dem Begriff „rein“, der in diesem Kontext nicht dualistisch gemeint

ist. Wenn ein schädlicher Gedanke oder auch ein grausames Handeln als leer erlebt wird, als nicht-fassbar,

das macht es nicht besser. Das macht das Handeln nicht besser, es wird dadurch kein hilfreiches Handeln.

Das Handeln ist wie jegliches Handeln, wie jegliches Denken, entsprechend ohne Substanz.

Es ist Prozess, ja, aber es hat Auswirkungen. Weil es Prozess ist, ist es Kraft und hat Auswirkungen, und

zwar hier ziemlich schädliche. Auch die sind nicht-substantiell, nicht fixiert; auch die Auswirkungen ent-

wickeln sich weiter, auch die sind leer. Aber „leer“ bedeutet nicht bedeutungslos, es bedeutet nicht

wirkungslos. Es bedeutet nicht, dass aus „schlecht“ plötzlich „gut“ wird. „Rein“ bezieht sich hier nur darauf,

dass in dem Moment des Erlebens die dualistische Sichtweise aufgehoben ist. Wenn wir wirklich eintauchen

in die reine Sicht der Leerheit allen Erlebens, dann ist die dualistische Sichtweise aufgehoben und das ist,

was mit „rein“ bezeichnet wird.

Aber das kann man sich nicht einfach vorstellen.

Nein, die kann man sich nicht einfach herbeibeamen.

Teilnehmer: Und reine Länder?

Das ist dasselbe. Reine Länder sind reine Bereiche, in denen wir bereits mit dieser Schau des Seins hinein-

geboren werden. Das ist das Sein in der reinen Sicht.

Teilnehmer: Es gibt da eine Formulierung von Leerheit, die mich mal sehr angesprochen hat. Und zwar: Die

Klangschale als Klangschale zu sehen, heißt, die Leerheit der Klangschale zu sehen. Oder Gefühle als

Gefühle zu sehen, das ist die Leerheit der Gefühle.

Ja, macht das heute auch noch Sinn, wenn du das dir so sagst oder so hörst? Wenn du die Klangschale als

Klangschale siehst, was siehst du da?

Wobei ich es nicht wirklich erklären kann, warum mich das so anspricht. Für mich bedeutet, die Klangschale

als Klangschale zu sehen, jetzt schon, auch all das mitzusehen, was sie zu einer Klangschale macht; also

natürlich auch den, der sie hört, drin zu sehen usw. und diesen Prozess, der beim Klingen entsteht und das

alles. Das heißt für mich also, nichts dahinter zu sehen, nichts da drin und nichts dahinter, also eben nur

Klangschale. Das ist ein bisschen eine andere Vorstellung von Klangschale als vielleicht die konventionelle.

Aber ich kann es auch nicht richtig erklären.

Ja, aber du hast uns schon in die Nähe geführt. Dieser Ausspruch – nicht mit der Klangschale – ist genau so,

wie der Buddha im Satipatthana Sutta spricht: „Körper als Körper erleben, Empfindungen als Empfin-

dungen, Geist als Geist.“ Er weist uns darauf hin, dass, was immer wir erleben, wir es als bloß das erleben;

ohne Identifikation, ohne Fixierung, ohne Hypothesen über das Erleben, ohne, ohne, ohne; einfach nur als

das, was es ist, wie es ist. Diese Einfachheit des bloßen, direkten Erlebens scheint dich angesprochen zu

haben in der Instruktion. Zen z.B. arbeitet wohl sehr viel mit dieser Instruktion. Es gibt auch Theravada-

Praktizierende, die damit arbeiten. Das es ist eine sehr hilfreiche Instruktion, die ja eigentlich nichtssagend

ist: „Betrachte die Klangschale als Klangschale.“ Damit ist erstmal ja nichts gesagt. Aber es ist so viel ge-

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sagt, es schwingt so viel drin, das ist so intuitiv, ohne dass der Verstand sich dazwischen schaltet, dass wir

intuitiv beginnen, uns mit der Einfachheit des Erlebens zu verbinden und damit kommen wir dem näher, was

eigentlich gemeint ist.

Teilnehmer: Ich habe vor einigen Jahren im „Ozean des wahren Sinnes“, eine Passage gelesen, wo

geschrieben steht, dass wir das Mahamudra deshalb nicht sehen, weil es so einfach ist. Als ich es zum ersten

Mal gelesen habe, war ich regelrecht schockiert darüber, über die Unfähigkeit bei mir: „Warum sehe ich es

denn nicht?“ – Warum muss ich diesen wirklich verrückten Zustand, in dem ich mich scheinbar befinde, so

kultivieren und so pflegen, obwohl ich mir genau das Gegenteil wünsche? Und weil es dann eben auch in der

Erklärung, so wie du die auch gerade gegeben hast, theoretisch und logisch richtig für mich gerade ist. Aber

man ist wie mit einer Kugel am Bein, die 4 Tonnen wiegt, und man möchte sie loswerden und hat den

Schlüssel in der Hand, steckt ihn aber nicht ins Schloss. Warum ist das so?

Teilnehmer: Es gibt einen schönen Spruch von Wilhelm Busch: „Das Schlüsselloch wird oft vermisst, wenn

man es sucht, wo es nicht ist.“

Und tatsächlich ist das so ein Fall. Wir suchen nach dem Schlüssel, um die Kugel loszuwerden. Das ist das

Bild, das sich dir und vielen von uns aufdrängt. Wir haben das Gefühl: Schlüssel rein, Schloss auf, Kette

gelöst, ich gehe frei weiter, die Kugel bleibt zurück. Wo sind die Irrtümer? Schau hin, du siehst sie gerade.

Ja, Kugel, Schlüssel und Freiheit und Gehen.

Wie wäre es denn, wenn wir das Erleben des Gefangenen durchschauen, wenn wir mit der Kugel ins Nirvāna

eintreten? Wie wäre denn diese Version?

Da muss ich erst darüber nachdenken.

Ja, denk mal darüber nach.

Blöde Frage.

Aber das ist ja das so Wichtige, auch wenn du dir jetzt gerade vielleicht ein bisschen doof vorkommst, aber

die Frage ist ja stellvertretend für uns alle gestellt worden. Und ich kann mich so gut daran erinnern, wie ich

diese Kugel, dieses Gefängnis abstreifen wollte. Völlig klar, genau wie du. Immer wieder abstreifen wollen,

und ich falle auch jetzt noch immer wieder da hinein, Unliebsames abstreifen zu wollen. Welche Illusion!

Dort ist der Weg nicht zu finden.

Im Durchdringen mit Gewahrsein dessen, was jetzt ist, da ist die Lösung. Wenn es jetzt gerade ein Erlebnis

mit der Kugel am Bein ist, dann ist es genau das, was darauf wartet, erkannt zu werden in seiner wahren

Natur. Deswegen sagen wir, Samsara und Nirvāna sind nicht trennbar; sie sind untrennbar, denn das Erleben,

das wir jetzt Samsara nennen, ist das Erleben, das im Erkennen das Erleben von Nirvāna ist. Erleben ändert

sich, weil sich das Gewahrsein ändert, aber unsere Welt und wir selber, da hat sich nichts geändert. Die

Bedingungen haben sich nicht geändert, nur das Gewahr-Sein im Erleben.

Also: Wenn die Gedanken nicht erst durch Einfangen und Loslassen klar und leer werden, sondern das

plötzlich erscheinende Denken als klar und leer erkannt wird, dann sind wir über das Wesen der

Gedanken tatsächlich aufgeklärt. Dann hat die Aufklärung gegriffen.

Leerheit – Gewahrsein – Prozesshaftigkeit

Karmapa schreibt: Nun sind alle drei – geistige Bewegungen, der stille Geist – der Geist ist Gewahrsein, in

dem keine solche Bewegungen sind – und das Wesen des begrifflichen Denkens – unverhüllt klar und

leer. Es gibt zwischen ihnen nicht das Geringste zu unterscheiden, es sei denn jemand versteht Er-

kenntnis und Nichtdenken nicht und hält mit intellektuellen Zuschreibungen [an Unterschieden] fest.

Das dürfte das sein, was du vorhin gemeint hast. Nach dem, was wir alles schon besprochen haben, sehe ich

in diesem Abschnitt jetzt gar nichts, was ich euch noch erklären müsste. Geht euch das auch so?

Teilnehmer: Also ich hatte immer ein bisschen Schwierigkeiten mit der Leerheit des Gewahrseins. Gefühle

sind leer, Gedanken sind leer – das verstehe ich, weil sie nicht so zu greifen sind. Das Gewahrsein ist auch

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nicht zu greifen, aber ihm fehlt ein Merkmal, und zwar, dass es nicht entsteht und vergeht, es ist dauerhaft.

Ja, es ist dauerhaft. Aber ist es ein Ding oder ist es Prozess?

Ja, es ist kein Ding, aber es fehlt dieses Merkmal der Vergänglichkeit.

Fehlt das wirklich? Vielleicht bist du auf der Suche nach einer Vergänglichkeit mit Geburt und Tod, aber wie

ist es denn mit der Prozessnatur des Gewahrseins?

Ja, es ist immer da. Auch wenn es sich verändert, aber das Gewahrsein an sich ist ja da.

Aber wenn es sich doch immer verändert, wie ist es denn dann damit? Dann reicht das doch.

Ja, aber dem fehlt die Vergänglichkeit.

Wenn sich etwas verändert, dann fehlt dem die Vergänglichkeit?

Ja, das ist wie mit diesem Ozean und den Wellen.

Ist das nicht dasselbe? Wenn sich etwas verändert, dann bleibt es doch nicht gleich, dann ist es doch

vergänglich. Aber du meinst offenbar mit Vergänglichkeit, dass es sterben muss und auch mal nicht mehr

sein wird.

Ja.

Das ist damit aber nicht gemeint. Es ist nur gemeint, dass es unbeständig ist, dass es Fluktuationen hat, dass

es Prozessnatur hat. Was Gewahrsein auszeichnet, ist, dass es durch und durch dynamisch ist und dass das

seine einzige verlässliche Qualität ist.

Ja, das ist eine.

Ja. Und?

Ja, das heißt, es ist ja nicht in dem Sinne leer.

Wieso denn nicht? Ist denn da irgendetwas Fassbares?

Das nicht. Aber es stirbt ja z.B. nicht. Wie du es gestern sagtest, wenn man es einmal erfahren hat, hat man

keine Angst mehr vor dem Tod. Also ist es etwas, worauf man sich schon verlassen kann.

Nein, nicht als ein Ich, das sich auf etwas verlässt, sondern als das Ich, das eins wird mit dem Prozess. Du

bist jetzt gerade dabei, dir deine eigene Definition von Vergänglichkeit zu stricken und dich dann damit zu

verheddern. Ich weise dich noch einmal darauf hin: Es ist richtig, dass andere Dinge wie z.B. einzelne Ge-

danken erst nicht sind und dann entstehen und dann wieder nicht sind. Ja? Okay. Aus Bedingungen ent-

stehen, das ist für das Gewahrsein anders. Diese Fähigkeit des Erlebens ist nicht mal nicht und dann da und

wieder später nicht. Das ist ein Unterschied. Das ist aber nicht das, was mit Unbeständigkeit gemeint ist. Mit

Unbeständigkeit ist gemeint, dass etwas dynamisch ist und keinen Wesenskern hat, nichts was man greifen

und festhalten kann, dass nichts Beständiges zu finden ist.

Die Qualität, dynamisch zu sein, ist kein Ding. Da verwechselst du etwas. Wenn Feuer warm ist, dann ist die

Wärme deswegen trotzdem kein Ding. Sie ist zwar eine beständige Qualität von Feuer, aber die Wärme wird

dadurch kein Ding, bloß weil sie eine beständige Qualität ist. Und dass Feuer flackert, ist auch eine Qualität,

aber das Flackern gibt es gar nicht. Das findest du nirgendwo. Das ist nur die Beschreibung der dynamischen

Natur des Feuers. Und so ist es auch mit dem Gewahrsein. Der Intellekt spielt uns da einen Streich, indem er

die Dynamik oder das Gewahrsein als Substantiv hinsetzt, das hat eine scheinbare Stabilität. Aber das, was

damit beschrieben wird, ist tatsächlich Prozess. Hast du mir folgen können?

Ja, aber ich kann dieses Konzept dieser Beständigkeit nicht ganz loslassen.

Ja, das ist schwierig. Du hast dich darauf so eingeschossen und durch lange Übung ist das Ganze für dich

wohl immer mit Geburt und Tod verbunden, sodass die Dinge entstehen und vergehen im Sinne von Gebo-

renwerden. Vergänglichkeit ist noch subtiler als das, denn eigentlich wird nie etwas geboren und es stirbt

auch nichts. Alles wandelt sich nur in anderes. Vielleicht hilft es dir, wenn du da hineinschaust.

Ein Baum z.B.; wird ein Baum geboren und stirbt er? Schau mal genau hin. Eigentlich kannst du gar nicht

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sagen, wann ein Baum geboren wird und wann ein Baum stirbt. Wird er denn schon geboren, wenn der Same

noch auf dem vorherigen Baum ist? Wo wird der Baum denn genau geboren, wenn der Same in den Boden

fällt? Ist es der Moment des Aufkommens, wenn er die Erde berührt und Wasser dazukommt? – Es ist ein-

fach nur, dass Bedingungen sich verändern. Und wenn in unserer Vorstellung etwas zu Ende kommt, dann

sagen wir: Es ist tot. Dabei hat der Baum schon lange vorher begonnen, sich zu verändern und ist immer

noch weiter dabei, sich zu verändern, und neues Leben entsteht. Was du Geburt und Tod nennst, ist

eigentlich Prozess, aber du suchst nach etwas Definitivem. Du hast also von der Vergänglichkeit eine etwas

zu fixe Idee entwickelt und tatsächlich ist auch das, was du als Vergänglichkeit erlebst, Prozess.

Es ist ganz spannend, da mal hinzuschauen, ob es tatsächlich in der Natur so ist, wie wir denken, dass etwas

geboren wird und dass gestorben wird. Wann beginnt denn tatsächlich das Leben eines Lebewesens? Wann

hört es denn tatsächlich auf? Untersuche das einmal, damit du noch tiefer vertraut wirst mit der Natur des

Seins.

Wenn ein Gedanke, von dem du ja sagst, du verstehst, dass er leer ist, durch Bedingungen entsteht, wenn das

Zusammentreffen der Bedingungen einen Gedanken hervorbringt, dann müsste man ja sagen, dass er in den

Bedingungen vorher schon drin war. Ja, wann wird er denn dann eigentlich geboren? Wenn die Bedingungen

entstehen? Aber die sind wiederum aus anderen Bedingungen entstanden. Verstehst du? Ein Gedanke ist

dann das Fortsetzen von Prozessen und Neues formt sich. Wir haben vorhin mit dem Gedanken „Baum“ ex-

perimentiert. Ist der Gedanke „Baum“ wirklich in dem Moment entstanden? Es haben bestimmte Bedingun-

gen in uns etwas hervorgerufen, was wir den Gedanken „Baum“ nennen. Erst einmal war er bei jedem von

uns anders. Den Gedanken „Baum“ gibt es gar nicht. Es ist eine völlige Abstraktion. Mein Baumerleben,

woraus hat sich das geformt? Aus all den früheren Baumerleben, den früheren ähnlichen Erleben. Das sind

Faktoren, die dazu geführt haben, dass ich jetzt ein bestimmtes Baumerleben rausgesucht habe. All diese

Faktoren spielen mit; als ob all die früheren Bäume noch hineinspielen in das jetzige Baumerleben. Es ist

schwer zu sagen, wo dieses Baumerleben seinen Anfang hat. Kontempliere das mal ganz in der Tiefe, so

ganz im Stillen: „… Ja, tatsächlich, wo beginnt etwas, wo endet etwas? Wie ist das?“

Wenn du jetzt aufstehst und ein paar Schritte machst. Dann beginnt das Gehen. Aber wann beginnt es?

Beginnt es, wenn du stehst und dann den ersten Schritt machst oder beginnt es schon mit deinem Aufstehen?

Beginnt es mit der Idee, aufzustehen? Beginnt dein Gehen mit meinem Vorschlag, dass du jetzt gehen

solltest? Verstehst du? Das ist irre; wenn wir die Dinge mal so untersuchen, sehen wir, wie es irgendwie

nicht klar hinzukriegen ist, wo genau Geburt stattfindet, wo genau der Anfang von etwas ist. Alles ist

Ausdruck von etwas anderem, und das gab es schon vorher. Und da gab es wieder andere Kräfte vorher.

Und das ist mit Gewahrsein ganz ähnlich. Gewahrsein hat etwas Kontinuierliches, Bestehendes. Und das

spürst du. Gewahrsein hat etwas Verlässliches, etwas zutiefst Verlässliches, und zwar, dass es immer gewahr

ist. Und trotzdem ist in diesem Gewahrsein nichts zu finden, an dem wir festhalten können. Es ist Prozess.

Es ist so wie bei einem Fluss. Nehmen wir als Beispiel den Rhein, auch wenn er nicht ganz in der Nähe ist.

Der Rhein ist immer da und im Gewahrsein ist es auch total verlässlich der Rhein. Schon seit Generationen

kennt man den Rhein und dennoch ist es nie derselbe Rhein. Jetzt versucht mal, ihn zu finden. Wo ist denn

der Rhein? An seiner Mündung, an seiner Quelle, zwischendurch, bei Hochwasser, bei Ebbe, wo ist denn

nun der Rhein? Das Flussbett verändert sich ständig, die Ufer verändern sich ständig, das Wasser verändert

sich ständig. Wo ist denn nun dieser verflixte Rhein? Und da hast du dasselbe Phänomen von etwas durchaus

Beständigem, was aber offenkundig Prozess ist, und als solches findest du es nicht. Aber du kannst sicher

gehen, dass – falls keine extreme Trockenzeit eintritt – du den Rhein dort finden wirst, wo du ihn vermutest

und ungefähr so, wie du ihn verlassen hast.

Deswegen sprechen wir von einem Gewahrseinsstrom, denn das Gewahrsein hat ganz viele Parallelen mit

einem Strom. Es ist etwas Verlässliches, Gleiches, Kontinuierliches und doch nie dasselbe, da ist nichts, was

absolut identisch ist.

Und noch etwas: Wir können das Gewahrsein nicht vom Erleben trennen. Das ist auch ein Artefakt, dass wir

denken es gäbe das Gewahrsein ohne die verschiedenen Aspekte des Erlebens. Das ist ein Konstrukt, was

wir machen. Wir denken, hier ist Gewahrsein und jetzt kommen die verschiedenen Aspekte des Erlebens und

das Gewahrsein erlebt. Nein! Versucht mal, ein Gewahrsein ohne Erleben zu finden. Das geht gar nicht. Das

ist ein Konstrukt. Und genau dieses mentale Konstrukt, dass wir das Gewahrsein vom Erleben trennen –

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genauer gesagt vom Erlebten –, darauf beruht die Subjekt-Objekt-Idee. Das Gewahrsein wird zum Subjekt

gemacht und das Wahrgenommene zum Objekt. Aber das gibt es nicht zu finden, es existiert nirgendwo. Es

gibt kein Erleben ohne Gewahrsein und kein Gewahrsein ohne Erleben. Das sind völlige Hirngespinste. Das

gibt es einfach nicht.

Das heißt, wir gehen in unserer Diskussion und Betrachtung davon aus, dass es so ein durchgehendes Ge-

wahrsein gibt und ein Erleben, das sich da so draufpfropft. Dann denken wir, dass wir diese Auswüchse doch

auch einmal wegmachen könnten. Dann hätten wir pures Gewahrsein. – Das kriegt man nicht hin. Gewahr-

sein ist immer Erleben und genau das ist seine Natur, vielgestaltiges Erleben zu sein. Und es ist in seiner

Natur nicht verschieden von den Gedanken, die auftauchen, von den Sinneswahrnehmungen. Das Gewahr-

sein hat die Natur der Sinneswahrnehmungen und die Sinneswahrnehmungen haben die Natur des Gewahr-

seins. Es sind nicht zwei verschiedene Dinge.

Das ist genau das, was der Karmapa gerade beschrieben hat: Nun sind alle drei – geistige Bewegungen, der

stille Geist – also dieses grundlegende Gewahrsein – und das Wesen des begrifflichen Denkens –

unverhüllt klar und leer. Es gibt zwischen ihnen nicht das Geringste zu unterscheiden. Das ist das, was ich

gerade klar machen wollte. Dieses grundlegende Gewahrsein, der stille Geist, der in sich selbst ruht, die

begrifflichen Bewegungen und die anderen geistigen Bewegungen – da ist kein Unterschied. Es gibt nichts

zu unterscheiden.

Versucht mal, einen Rhein ohne Wellen zu finden. Das geht nicht, denn es ist die Natur von Wasser zu

fließen; da gibt es Strudel; … das ist seine Natur. Und es ist wichtig, dass wir das schon einmal intellektuell

verstehen, um unsere Meditation dafür zu öffnen, wie die Dinge wirklich sind und nicht woanders als im

Erleben nach einem erwachten Gewahrsein zu suchen. Wir werden es woanders als im Erleben nie finden.

Wenn erwachtes Gewahrsein zu finden ist, dann nur im Erleben, denn es ist die Natur des Gewahrseins.

Merkt ihr? Wir alle haben nach dem erwachten Gewahrsein schon woanders gesucht. Aber dass es jetzt gera-

de einfach hier sein könnte, ist schon fast eine unverschämte Annahme.

Teilnehmer: Für mich ist es schon ein Punkt, der auch einfach Angst macht. Mir wird einfach klar, ich habe

da so ein Bild: Und dann poliere ich einfach an mir herum und dann bin ich Buddha und alles ist paletti.

Aber so ist es nicht.

Ja, es ist wirklich viel einfacher! Du brauchst gar nichts zu polieren.

Dass die Dinge nicht so sind, wie wir meinen, macht Angst.

Ja, das macht Angst, dass die Dinge nicht so sind, wie wir es meinen; das macht echt Angst. Und das

Schlimmste ist, dass es uns in der ganzen Geschichte gar nicht gibt. Ich! Ich meine ja zu existieren und das

macht Angst! Du hast nämlich offenbar tief innen drin zugehört und du kriegst mit: „Mich gibt es ja gar

nicht!“ Ja, das macht Angst; dem vertrauten Ich-Bewusstsein macht das Angst.

Teilnehmer: Sitze ich dann auch gar nicht hier oder wie?

Nein. Sitzt auf deinem Platz ein Ich? Zeig doch mal! Ja, versucht mal in dem Prozess, der auf euren Kissen

sitzt, das Ich zu benennen. Was ist denn nun das Ich und was ist das Nicht-Ich auf euren Kissen? – Es kommt

überall Verstehen an. Es ist schon spannend.

Teilnehmer: Der stille Geist.

Der stille Geist sitzt bei dir nicht auf dem Kissen. [Lachen] Wie wäre es mit dem bewegten Geist?

Also der stille Geist und das grundlegende Gewahrsein – ich erinnere mich, in den Dzogchen-Texten taucht

das immer ganz viel auf. Und da kriegt es ja so ein „etwas“ wie eine Entität oder etwas Festes oder?

Ja, wenn man immer über den Geist spricht, dann kriegt der Geist plötzlich so etwas real Existierendes.

Und speziell die Stille. – [Lachen]

Ich weiß, warum du das sagst. Denn je stiller der Geist wird, desto weniger bewegt er sich ja.

Ich erkenne ihn ja gar nicht dann, eigentlich. – [Lachen]

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Okay. Darum braucht es Meditation. Jeder erkennt, dass Bewegung unbeständig ist, dass Bewegung Prozess

ist. Und dann denken wir, da in der Tiefe gibt es ein unbewegtes Ich, das wie der ewige Zeuge unseres Seins

ist und vielleicht auch der- oder diejenige, der/ die so die wichtigsten Erinnerungsspuren in sich trägt. Wir

denken, das wäre so eine stabile, verlässliche Instanz. Wenn wir versuchen, die zu finden, dann merken wir

in verschiedenen Etappen, dass alles, was ichbezogenes Erinnern, Fühlen usw. ist, total Prozess ist; und dass

auch das grundlegende Gewahrsein Prozess ist. Und dass dieses grundlegende Gewahrsein, obendrein das

stille Gewahrsein, auch gar nicht von einem Ich gefärbt ist, sondern dass es genauso ist wie mein Gewahrsein

und dein Gewahrsein und sich gar nicht mehr individuell unterscheidet.

Dieses Grundgewahrsein, von dem wir denken könnten, das wäre vielleicht die stabile Bastion des Ichs,

entpuppt sich als das universelle Selbst – so kann man das nämlich auch nennen –, als das, was alle in sich

tragen, aber das ist auch Prozess und auch das wiederum hat nichts Solides und trägt kein Ich in sich, ist

nicht fassbar.

Von daher ist der stille Geist irgendwie schon so wie eine der letzten Bastionen des Ichs. Wir denken, da

gäbe es doch vielleicht etwas Stabiles zu finden. Dafür brauchen wir die Erfahrung, in solche Stille Einkehr

zu halten und dann zu erleben, wie es tatsächlich ist.

Teilnehmer: Ist da eine Grenze zwischen nicht still und still? Wo hört das eine auf?

Eben! Da hat noch nie jemand eine klare Grenze gezogen. Die einen denken, ihr Geist wäre still, wenn das

begriffliche Denken aufhört. Da ist er aber noch gar nicht still. Eine weitere, mögliche Definition ist, wenn

alle Sinneswahrnehmungen aufhören, dann ist er richtig still. Und selbst dann ist er noch dynamisch. Selbst

dieses Gewahrsein, das nur in sich selber ruht und nicht mehr mit den äußeren Sinnen verbunden ist und

keine inneren Bilder produziert, hat noch diese dynamische Grundnatur. Selbst das! Einen stillen Geist gibt

es also eigentlich gar nicht. Das hast du dir irgendwie schon gedacht, nicht?

Ich habe nicht verstanden, was der stille Geist eigentlich sein soll.

Der stille Geist ist in dieser Definition hier der nicht denkende Geist. Und das ist dann entweder der nicht

begrifflich denkende Geist oder der nicht einmal nicht-begrifflich denkende Geist. – Wenn also auch noch all

diese inneren Bewegungen, die wir sonst so mit Sinnenwahrnehmungen haben, und die intuitiven Geistesbe-

wegungen zur Ruhe kommen. Das lässt Karmapa hier bewusst offen. In anderen Texten wird das noch etwas

präziser geschrieben.

Das hängt davon ab, wie wir selber gewohnt sind zu meditieren. Wenn wir eigentlich nur den begrifflich

denkenden Geist kennen, dann erscheint uns das schon wie eine große Ruhe und Stille, wenn mal kein be-

griffliches Denken da ist – auch nur für einen Moment. Dann denken wir, da wäre gar nichts mehr. Kurs-

teilnehmer beschreiben diese Spanne zwischen zwei begrifflichen Gedanken oft. Sie bezeichnen sie in der

ersten Beobachtung als ein Nichts. Und dann gehen wir forschend in dieses Nichts, und dann wird dieses

Nichts zwischen den Gedanken als eine Fülle entdeckt, weil eine Fülle von weiteren Geistesregungen zum

Vorschein kommt. Diese Geistesregungen können sich auch noch beruhigen, und dann erlebt man pro-

gressive Stufen der Stille. Aber richtig still im Sinne von gar nichts los – keine Bewegung, keine Dynamik –,

das gibt es nicht.

Teilnehmer: Das hört sich interessanter an als diese ewig langwierigen Konstrukte. Die Konstrukte und

Konzepte sind ja Wiederholungen, ein bisschen eingefärbt, ein bisschen modifiziert durch Definitionen. Das

hört sich sehr frisch an.

Ja, das hört sich sehr frisch an. Wenn du es erlebst und es dir vertraut wird, dann ist es genauso interessant

oder uninteressant wie das normale, aktive Sein. Das ist dann auch nicht so speziell interessant, aber es ist

sehr interessant, wenn man es noch nicht kennt. Es ist ein Abenteuer, diese Geistesbereiche kennen zu

lernen.

Es ist auch hilfreich als Vorbereitung auf den Tod. Beim Tod fallen ja alle Sinneswahrnehmungen und all

diese inneren Prozesse weg und es geht dann schon in dieses grundlegende Gewahrsein, wo nur noch diese

geistige Grundaktivität vorhanden ist. Und damit vertraut zu sein, ist die beste Vorbereitung auf den Tod.

Diese Grundaktivität wird als „erhellende Klarheit“ bezeichnet, als klares Licht. Das ist die Grundaktivität

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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des Geistes.

Teilnehmer: Ich muss jetzt noch mal nachfragen. Ist es richtig, dass der stille Geist auch der nicht denkende

Geist ist?

Richtig.

Geht das tatsächlich?

Du meinst, ob es das gibt, dass man mal nicht denkt?

Aber eine Bewegung ist doch immer da.

Ja, aber nicht eine Bewegung hin zu Objekten oder mit Inhalten. Es gibt den Geist, dem keine Inhalte vor-

schweben. Das gibt es. Das habe ich schon selbst erfahren und erfahre es auch immer wieder.

Aber die Bewegung nimmt man ja wahr.

Das ist eine andere Form von Bewegung. Die Bewegung mit Inhalten und dass da was los ist, das ist der

denkende, sich bewegende Geist. Und der stille Geist kann soweit still werden, dass wirklich nur noch

Gewahrsein in sich selber ruht. Und das hat eine dynamische Grundnatur und ist jederzeit bereit wahrzu-

nehmen. Da ist ein Potential der Bewegung zu spüren, aber im Moment wird dieses Potential nicht genutzt,

um irgendeine geistige Aktivität auszuführen. Also, das gibt es.

Teilnehmer: Dann können wir in der Zwischenzeit schon ein bisschen zufrieden sein.

Ja. Wenn ihr jetzt zufrieden seid, dann kann ich weiterlesen. Entspannt euch doch einfach und hören wir mal,

was der Karmapa als Nächstes geschrieben hat.

Früher hast du Gedanken nicht erkannt, sie wurden nicht zur Meditation und es mangelte an

Gewahrsein. – Wir haben unsere Meditation woanders gesucht als im Denken. – Da du sie nun erkennst,

werden sie selbst zu Meditation, Bewusstheit und zeitlosem Gewahrsein.

Das sagt Karmapa den Praktizierenden, die diese Erkenntnis jetzt gemacht haben. Für die ist es tatsächlich

so. Die Meditation ist nicht mehr woanders zu suchen als in dem jetzt so seienden Geist, ob aktiv oder nicht

aktiv. Denken selbst wird zur meditativen Praxis, wird zur Gewahrseinspraxis. Und er sagt uns:

Nun nutze Denken als Grundlage deiner Meditation. Früher haben die Gedanken sich selbst verdeckt

und du konntest sie nicht erkennen.

Die haben sich selbst verdeckt in dem Sinne, dass wir so im Denken, in den Gedanken gefangen waren, da

war so viel Fixierung drin, dass wir ihre substanzlose Natur nicht erkennen konnten. Es war nicht möglich,

es wurde zu stark vergegenständlicht. Jetzt wird nicht mehr vergegenständlicht und dadurch wird offenkun-

dig, was die wahre Natur des Denkens ist.

Nun verstehst du es, Gedanken zur Meditation zu nutzen, was besser ist, als frei von begrifflichem

Denken zu meditieren.

Das ist ein starker Satz; das steht da wirklich. Das ist aber keine Aufforderung an euch, euch wilder Abge-

lenktheit hinzugeben. Wenn wir mit Geistesbewegungen meditieren, dann haben wir ganz viel Futter für das

erkennende Gewahrsein. Jede Wahrnehmung, jedes Erleben ist quasi Futter für ein weiteres Erkennen der

Natur dessen, wie es ist. Deswegen ist es für diese Praktizierenden besser, mit aktivem Geist zu meditieren.

Darum erkenne die aufkommenden Gedanken. Falls kein Gedanke entsteht, bleibe in diesem Zustand,

wo keine entstehen. Es ist nicht nötig, welche zu erzeugen.

Wir sollten auch keine Abneigung gegenüber dem Nichtdenken erzeugen, dem Sein, ohne dass da etwas vor

sich geht.

Entstehen welche, bleibe in ihrem Entstehen. – Bleibe gewahr in ihrem Entstehen, bleibe im Prozess.

Klink dich nicht aus, bleibe drin mit deinem ganzen Gewahrsein.

Es ist nicht nötig, sie zu unterdrücken – oder sie zu vermeiden. – Hege keinerlei Gedanken von Hoff-

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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nung und Furcht und mache Denken zu deiner eigentlichen Meditation.

Wenn wir das tun, dann sind wir im Spiel der Erscheinungen ohne zu greifen, ohne zu haften. Und alles, was

auftaucht, geht seinen Weg. Es geht gar nicht darum, dass es sich auflöst, es wandelt sich ins Nächste.

Prozess vollzieht sich ohne Haften, ohne Leid, ohne dass der Geist dabei eng wird. Er ist so offen, so weit

wie der Himmel.

Gedanken sind nicht außerhalb des Geistes – alle geistigen Bewegungen sind Geist – und der Geist

befreit sich von selbst; sein Wesen ist nackte, leere Klarheit, der Dharmakaya, frei von zu

Befreiendem und Befreier.

Alles, was diese geistige Beschaffenheit hat, befreit sich von selbst. Das Wort hier im Tibetischen ist

rangdröl. Gedanken sind nicht Dinge, die von außerhalb kommen, sondern sie entstehen innerhalb des

Geistes. Sie sind die Wellen des Geistes und befreien sich von selbst.

Nackt bedeutet unverhüllt, also ohne Bekleidung, ohne Hülle; direkt erfahrbare, leere Klarheit, der Dharma-

kaya, der Wahrheitskörper. In dem geistigen Erleben gibt es weder jemanden, der sich um Befreiung küm-

mern muss, also den Befreier spielen muss, noch gibt es etwas, was befreit wird. Es befreit sich von selbst:

rangdröl.

Teilnehmer: Der große Vajrayoga des Mahamudra?

… ist genau das.

Das so zu verstehen bedeutet, dass du intuitive Einsicht im Denken erfährst und du bist – nun erfolg-

reich – darüber aufgeklärt, dass die Einheit von Klarheit und Leerheit der Dharmakaya ist.

Klarheit bedeutet dieses deutlich wahrnehmbare Erleben. Und dieses deutlich wahrnehmbare Erleben ist

immer leer, also immer substanzlos, hat nie einen Wesenskern. Dieses deutlich klar Erfahrbare hat keinerlei

Substanz. Das ist der Dharmakaya. Der Dharmakaya wird hier also auch nicht etwa als etwas Statisches

beschrieben, sondern der Dharmakaya ist die Natur des klaren, deutlichen Erlebens.

Kurz: Du solltest es dir zur Gewohnheit machen, alles was auftaucht, zu erkennen und ungekünstelt

und unzerstreut darin zu verweilen.

Unzerstreut bedeutet hier: immer der wahren Natur gewahr. Es bedeutet nicht, dass verschiedene Gedanken

auftauchen. Normalerweise halten wir das für Zerstreuung. Zerstreuung bedeutet, vom Wesentlichen abge-

lenkt zu sein. Wenn kein sati da ist, dann ist Zerstreuung da. Und das Wesentliche, von dem wir hier abge-

lenkt wären, das wäre das Gewahrsein der wahren Natur des Erlebens. Das ist Zerstreuung hier. Abgelenkt-

sein ist hier, vom Eigentlichen abgelenkt zu sein. Da können so viele Gedanken sein wie wollen, aber in dem

Denken ist ein Gewahrsein der Natur des Denkens.

Sati ist Achtsamkeit, Gewahrsein. Wenn sati da ist, dann sind wir nicht abgelenkt. Wovon sind wir nicht

abgelenkt? Davon, uns an das Wesentliche zu erinnern. Und das Wesentliche hier ist, der Natur des Seins

gewahr zu sein, wie die Dinge erscheinen und was ihre wahre Natur ist. Das ist das Wesentliche. Und davon

sind wir nicht abgelenkt. Das ist hier die Instruktion. Wir kommen wieder auf dasselbe zurück. Was

Karmapa uns hier sagt ist: „Bleib unzerstreut im Wesentlichen, im Erkennen, wie die Dinge erscheinen und

wie sie wirklich sind.“

So [das Wesen des Geistes] aufzuzeigen ist der zweite wichtige Punkt [beim gründlichen Erforschen].

Dabei reicht es nicht, das [nur einmal] zu erkennen, sondern es geht um ein kontinuierliches Pflegen –

und Wachhalten – [dieser Erkenntnis].

Sie immer wieder neu machen; nicht ein Mal machen und sich dann wieder daran erinnern, was man mal

erkannt hat, sondern immer wieder neu. Und das ist tatsächlich der springende Punkt. Es gibt Praktizierende,

die haben dann mal diese Erkenntnis gemacht. Ja, das gibt es; es gibt auch Nicht-Buddhisten, die diese Er-

kenntnis machen. Aber dann ist es manchmal so, dass man sich daran erinnert, ohne es zu aktualisieren, ohne

es tatsächlich jetzt wieder zu erleben. Und das ist sterile Erkenntnis, die bringt nichts. Es muss jetzt aktiv

sein, nur das bringt es. Es bringt gar nichts, dass ich es gerade eben erkannt habe, gestern, vor einem Jahr,

vor zehn oder zwanzig Jahren. Das bringt nichts. Jetzt braucht es das, genau jetzt.

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Damit hätten wir auch unser heutiges Kapitelchen geschafft.

Teilnehmer: In deiner Beschreibung kommst du immer wieder auf das Prozesshafte zurück. Warum schreibt

Karmapa nichts über Prozess?

Das Wort gab es nicht. Da heißt es Strom, Wandel usw. Wir haben als Übersetzer ein großes Problem. Die

tibetische Sprache arbeitet ganz viel mit substantivierten Verben, also mit Wörtern, die sowohl als Substantiv

als auch als Verb übersetzt werden können. Wie z.B. togpa, was wir als Gedanken übersetzen können, heißt

auch denken. Und wir Übersetzer mit unserer fixierenden Weltanschauung haben fast alle die Wahl

getroffen, das als Substantive zu übersetzen. Und damit haben wir die Sprache vergegenständlicht und haben

das prozesshafte wie vor der Tür gelassen.

Ich beginne jetzt in meinem weiteren Übersetzen zusammen mit Frank zu entdecken, dass die und die Wörter

ja eigentlich auch Verben sind; dass das, was Gedanken heißt, auch denken heißen kann. Und das ermöglicht

uns, eine prozesshaftere Sprache zu wählen, die viel näher an dem dran ist, was eigentlich beschrieben wer-

den soll. Und das Wort „Prozess“ ist mir im Tibetischen noch nicht begegnet. Das ist für uns jetzt gerade der

geeignete Begriff, aber im Tibetischen spricht man von Strom. Es gibt auch noch andere Wörter.

Das ist das eine Problem, mit dem wir zu tun haben. Deswegen merkst du auch, dass sich eine neue Qualität

im Unterrichten eingestellt hat. Und dann haben wir noch ein sprachliches Problem, z.B. salwa und tongpa

kann man als Klarheit und Leerheit übersetzen. Man kann salwa aber auch einfach als klar übersetzen, als

Adjektiv und tongpa als leer anstatt als Leerheit. Und tongpa-nyi muss man eigentlich immer als Leerheit

übersetzen, aber hier in dem Text kommt auch sehr oft tongpa vor, leer – wie shunya anstatt shunyata.

Shunyata wäre die Leerheit und shunya wäre leer. Und auch bei diesen Wörtern, die sowohl als Adjektiv als

auch als Substantiv übersetzt werden können, haben wir Übersetzer oft die Substantiv-Variante genommen.

Und dann wird das so schwerfällig. Klarheit und Leerheit – manchmal muss man es so übersetzen –, aber

wenn wir es adjektivisch übersetzen, sind das Beschreibungen von einem Erleben.

Ihr merkt den Unterschied zu Texten aus früheren Erklärungen. Allmählich macht sich eine andere Sprache

breit. Wenn wir Übersetzer uns treffen, sprechen wir auch darüber, und diese differenzierte Art der

Übersetzung wird sich mit der Zeit einbürgern. Ihr werdet auch merken, dass wir jetzt aufgrund unserer

wachsenden inneren Erkenntnis zu einer anderen Wortwahl kommen, die immer noch korrekt übersetzt ist.

Der Übersetzer ist eben auch gefangen in seiner Sicht der Welt. Und wenn die Erkenntnis im Übersetzer

nicht wirklich gereift ist, dann wird in der Limitation übersetzt, in der er gerade ist. Das geht nicht anders.

Die tibetische Sprache ist eine verrückte Sprache für uns. Sie ist zwar sehr präzise, aber sie legt weniger fest.

Oft gibt es z.B. kein Pronomen. Hier, in unseren Sätzen braucht es immer ein „ich“ und „du“ oder ein „wir“

oder „man“; irgendwie muss die Ansprache stattfinden, während die tibetischen Sätze fast alle ohne Prono-

men auskommen. Da ist kein klar erkennbares Subjekt, das unbedingt bezeichnet werden muss. Das führt

dazu, dass z.B. hier – 3 Absätze zurück – steht: „Früher hast du Gedanken nicht erkannt, sie wurden nicht zur

Meditation und es mangelte an Gewahrsein.“ Da ist im tibetischen Satz kein „du“, kein „ihr“, kein „wir“. Da

steht auf Tibetisch: „Früher kein Erkennen von Gedanken, wurden nicht Meditation, mangelndes Gewahr-

sein.“ Das steht da. Da steht nicht, es mangelte an Gewahrsein, sondern einfach nur marigpa – mangelndes

oder kein Gewahrsein – oder einfach nur marig.

Macht daraus mal einen Satz! Du hast es mit einem Bild zu tun, wo man spüren muss; Tibeter spüren das

sehr gut, wer angesprochen ist. Es ist durchaus korrekt, da mal „wir“, „du“ oder „man“ zu sagen. Und marig

kann auch „nicht verstehen“ heißen. Rig kann Verb und auch Substantiv sein. Und was ist es denn jetzt? Du

bist in einer Sprache, die abbildet, was eine innere Erfahrung ist, und du brauchst als Übersetzer ein ganz

feines Gespür dafür, was eigentlich gemeint ist. Und du verstehst dann.

Und da gibt es zwei ganz klare grammatische Regeln; es ist keine x-beliebige Sprache, aber es ist eine

Sprache, die innerhalb ihrer klaren grammatikalischen Regeln eben auch diese Spielräume lässt. Und nun ist

Frank, mit dem ich diesen Text zusammen übersetze – er hat seine Doktorarbeit über tibetische Grammatik

gemacht –, einer der wenigen Experten in tibetischer Grammatik in Europa. Das reicht aber nicht aus, um

solch einen Text zu übersetzen. Dadurch ist der Text noch längst nicht übersetzt. Es braucht dann noch

jemanden mit der meditativen Erfahrung. Was macht denn hier Sinn mit den Worten, die wir da haben? Und

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wie kommt der Sinn dann auch wirklich beim Leser an? Wie kann das als Schlüssel wirken, um Meditations-

Erfahrungen und Aha-Erlebnisse zu ermöglichen? Und das muss zusammen kommen. Deswegen bin ich

über diese Zusammenarbeit sehr froh, denn das gibt mir die Sicherheit, dass wir grammatikalisch richtig

liegen und ihm gibt es die Sicherheit, dass wir von der Bedeutung her einigermaßen richtig liegen. Das ist

das, was da stattfindet. Das ist wirklich eine recht andere Sprache, die im Grunde genommen einfacher

gestrickt ist als unsere, die weniger festlegend ist, aber ganz viel intuitiven Spielraum lässt. Und das ist ihre

Stärke.

Teilnehmer: Wenn man dann für Lehrer wie Lama Gendün live übersetzt, ist das dann genauso schwer?

Ja, natürlich. Das ist so unglaublich schwer. Ihr kennt vielleicht Lama Rinchen, sie war eine exzellente

Übersetzerin von Lama Gendün, eine der wenigen, die ihn wirklich verstand. Und sie hat nach dem Tod von

Rinpoche noch einmal ihre eigenen Übersetzungen angehört und auch die Übersetzungen von anderen wie

Yeshe und Tsonyi, die für Lama Gendün übersetzt haben. Sie hat gesagt, „Das ist ja nicht auszuhalten,

wieviel uns entgangen ist!“, und hat die wesentlichen Teachings noch einmal auf Tibetisch transkribiert – in

Tibetischer Schrift – und dann das Tibetische noch einmal übersetzt. Wir warten noch auf das, was sie uns da

alles zur Verfügung stellen möchte. Sie sagt, dass in der Ad-hoc-Übersetzung so etwa ein Drittel an Gehalt

verloren gegangen ist.

Warum ist das so?

Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen lässt das Tibetische selbst Deutungsmöglichkeiten offen. Und wenn

man da nicht genau nachhakt, ist es ein bisschen ein schwammiger Boden. Man müsste schon auf derselben

Stufe der Erkenntnis sein, um exakt erfassen zu können, was gemeint ist. Und es sind viele Unterweisungen

gegeben worden mit Übersetzern, die noch nicht so weit waren und in ihrer limitierten Sichtweise übersetzt

haben und sich auch in der Wortwahl gehalten haben an bereits existierende schriftliche Übersetzungen. Es

gibt immer einen Standard, wie in der jeweiligen Sprache übersetzt wird. Und man liest sich gegenseitig,

benutzt ähnliche Worte und lässt sich anregen von der Wortwahl des anderen. Und so übersetzt man eben

immer innerhalb der Limitierungen dessen, was gerade so die Standards sind. Und dann merkt man viel-

leicht, da stimmt etwas nicht und entwickelt vielleicht einen neuen Ansatz, etwas zu übersetzen. Und da ist

es durchaus verständlich, dass man da noch einmal nachhakt und tiefer reinhört, was da eigentlich alles

gemeint war.

Ich habe diesen Text schon zweimal gelehrt, allerdings auf Englisch und Französisch, aber noch nie auf

Deutsch. Dies ist die erste deutsche Übersetzung, die wir jetzt gemacht haben. Es gibt zwar eine deutsche

Übersetzung, aber die ist genauso unbrauchbar wie die englische. Ich hatte damals beide Male vom Tibe-

tischen her gelehrt, und habe jetzt eine schon relativ gut entwickelte deutsche Version, wobei wir beide

immer die englische, französische und tibetische Version berücksichtigen. Bis zum letzten Abend, bevor ich

euch das zusammengestellt habe, waren noch die tibetischen Zeilen zwischen den Absätzen. Die habe ich

erst zum Schluss gelöscht. Und da habe ich das Gefühl, dass ich einen neuen Text unterrichte. Ich habe das

Gefühl, dass ich das noch nie unterrichtet habe. Ich entdecke Absatz für Absatz mit euch, kenne das aber und

entdecke nicht wirklich etwas Neues, aber es ist so neu, wie es nur neu sein kann. Ich habe nicht das Gefühl,

mich zu wiederholen, wie ein vertrautes Teaching zu geben. Und das gehört auch mit dazu.

Ich habe innerlich die tibetischen Begriffe präsent, soweit ich mich erinnern kann. Aber es ist ein ganz

frischer Prozess. Und solch einen Prozess muss man eigentlich viele Male durchleben und gleichzeitig an der

Übersetzung schleifen, bis die eigene Erkenntnis auf dem Stand ist, den es eigentlich braucht, um solch einen

Text zu übersetzen. Und dann kann man die Übersetzung als abgeschlossen betrachten. An solch einen

ähnlichen Punkt bin ich mit dem Mahamudra-Gebet gekommen. Das habe ich so viele Male überarbeitet, wie

ich gar nicht mehr zählen kann, bis wirklich nach wiederholtem Unterrichten und damit Praktizieren, das

Gefühl entstanden ist, dass es jetzt gut ist.

Aber an diesem Text hier verbessere ich nach jedem Unterrichten weiter. An den Seiten, die ich euch schon

unterrichtet habe, habe ich schon wieder Verbesserungen vorgenommen. Das ist auch Prozess. Wie kann ich

es noch besser ausdrücken, sodass es den Geist der Zuhörer und Leser wirklich erreicht und Sinn ergibt;

einen Sinn, der in uns ein Verständnis befreit.

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Teilnehmer: Ist es geplant, das Buch heraus zu geben?

Ja. Wir sind aber nicht in so großer Eile, weil wir auch eine gute Arbeit machen wollen.

Lama Lodrö: Ich stoße mich an ein bzw. zwei Wörtern, weil ich das mit dem, wie du es dann erklärst, nicht

so überein bringen kann. Ich kenne jetzt auch nicht die genauen tibetischen Wörter. Das betrifft das

Untersuchen und/ bzw. das Erforschen. Und ganz besonders auch, wenn es um den stillen, nichtdenkenden

Geist geht, für mich ist es dann einfach nur ein Erfahren oder ein Sich-damit-Verbinden.

Da ist es im Tibetischen wirklich ein untersuchendes, erforschendes Hineinschauen in die Natur dieses Erle-

bens. Also der stille Geist wird erlebt, klar; und jetzt kommt noch ein zusätzliches Element, dieses zusätz-

liche Element des neugierigen Interesses daran. Was ist eigentlich das Wesen dieses stillen Geistes? Das ist

mit diesem Begriff gemeint. Es sind dieselben Begriffe wie für die analytische Meditation, aber hier dürfen

wir sie nicht so hart übersetzen. Vielleicht kommt es dir ein wenig hart vor.

Ja, es kommt mir so vor, als würde ich da jetzt bestimmte Methoden anwenden und ich bin damit sozusagen

noch zugange. Es ist im Grunde genommen noch so wie ein künstlicher Ansatz im Moment für mich. Aber bei

dem, wie du es eigentlich erklärt hast, entfällt dieser Ansatz für mich.

Okay, vielleicht kann ich noch danach suchen, dass wir für diese Begriffe noch etwas Einfühlsameres

nehmen, was nicht so klingt, als würden wir den Zustand jetzt sezieren bzw. auseinandernehmen. Ich schaue

noch mal nach und achte darauf.

Teilnehmer: Ist dieses Neugierige dieses Wissen-Wollen?

So ganz nicht.

Im Grunde diese Neugier, erfahren zu wollen.

Es ist damit gemeint, dass wir uns nicht einfach zufrieden geben: „So ist es halt und so lassen wir es.“

Sondern da ist ein weitergehendes Interesse, das, was ich jetzt erfahre, daraufhin zu untersuchen, wie es denn

zur Befreiung beitragen kann, wie es zum Erwachen beiträgt. Dieses Interesse ist da im Hintergrund, und das

ist mit Erforschen gemeint. Also nicht so ein Aha-Interesse, sondern ungefähr: „Und wie soll jetzt das

hilfreich sein?“ Wie können Denkprozesse hilfreich sein beim Erwachen? Das ist eine dieser Fragen, die

jetzt bei euch angestoßen wurden. Dieses Interesse gilt es wach zu halten. Das ist das Lhaktong-Interesse.

Struktur: Lhaktong – Intuitive Einsicht

Es geht um intuitive Einsicht, und da ist die Struktur relativ schnell erklärt. Es ist für euch vielleicht etwas

unübersichtlich, aber eigentlich geht es in der Struktur, wie sie der 9. Karmapa benutzt, darum, dass die

Praktizierenden, die in die Geistesruhe eingetreten sind, genau das, was ihre aktuelle Erfahrung ist, betrach-ten.

Sie werden zunächst einmal den Geist betrachten, der ruhig geworden ist; also den Geist in Ruhe. Das ist

der erste Punkt in der intuitiven Einsicht.

Dann werden sie sich, als Kontrast zur Ruhe, dem begrifflichen Denken zuwenden. Das begriffliche

Denken gehört zu den Sinnesempfindungen, zum mentalen Sinn. Sie werden sich dem begrifflichen Denken

als der am leichtesten wahrnehmbaren Bewegung zuwenden. Das ist der zweite Punkt.

Und dann gehen sie sukzessive durch all die Sinneswahrnehmungen und untersuchen ihre Natur. Die

Sinneswahrnehmungen sind vorbegrifflich; Hören, zum Beispiel. Dabei bedeutet Hören hier nicht, dass ich

z.B. einen Vogel piepsen höre, sondern dass da Klang ist. Klar, wird er als Piepsen identifiziert, aber die

Frage ist: Wie ist genau die Natur der Sinneswahrnehmung? Das ist der dritte Schritt im Lhaktong.

Und dann werden insgesamt noch mal Ruhe und Bewegung miteinander verglichen. Das schreibe ich euch jetzt noch einmal auf, als Kurzstruktur:

Der Begriff „Intuitive Einsicht“ stammt von Lama Henrik. Wir haben diesen Begriff damals mit Lama

Walli zusammen geprägt, als wir die erste Übersetzung des „Ozean des wahren Sinnes“ gemacht haben.

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Eigentlich bedeutet Lhaktong so etwas wie helles, klares Sehen, oder durchdringende Schau; das ist die

eigentliche Bedeutung. Das Wort „Einsicht“, auf Englisch „insight“, passt gut. Aber „klare Einsicht“ oder

„helle Einsicht“ hat die Konnotation, als ob das Sehen dadurch irgendwie noch heller werden würde. Das

klare Sehen, das hier gemeint ist, ist ein nicht-begriffliches Verstehen, und daher haben wir „intuitiv“

eingeführt. „Intuitiv“ gibt es nicht wirklich in der etymologischen Wurzel des Begriffes. Ursprüngliche

bedeutet Lhaktong, dass es sich um ein nicht-begriffliches Verstehen handelt, was durch eine direkte Schau

auftaucht, und nicht die Folge von begrifflichen Prozessen oder einem analytischen Denken ist. Ihr könnt

also gerne andere Übersetzungen für Vipassana, Lhaktong benutzen. Ich wollte nur erklären, woher der

deutsche Begriff kam. Er bewährt sich eigentlich ganz gut.

1) Das Untersuchen des ruhigen Geistes – Unter-

suchen im Sinne von Betrachten.

Ich habe noch einmal im Tibetischen nachgeschaut.

Wo in einer Übersetzung „betrachten“ steht, steht

im Tibetischen lta, was schauen, sehen bedeutet,

und wo „untersuchen“ steht, ist es che, also ein ana-

lytisches Hinschauen. Im ersten Schritt haben wir

uns also zunächst darum gekümmert, den Geist zu

beruhigen, zu entspannen, aus allen aufwühlen Ge-

danken, Emotionen herauszugehen. Und genau die-

sen Geist nehmen wir jetzt etwas genauer unter die Lupe: Wie ist der eigentlich?

2) Das Betrachten des bewegten Geistes.

Damit ist aber in erster Linie das begriffliche Den-

ken gemeint, also die gröbste Form geistiger Bewe-

gung.Wenn man das begriffliche Denken vergleicht

mit den anderen Bewegungen im Geist, dann sagte

Gendun Rinpoche immer, dieses begriffliche Den-

ken ist wie die dicken Karpfen im Teich, man sieht

sie ganz schnell. Die anderen geistigen Bewegun-

gen sind wie die feinen Stichlinge, die flitzenden

Fischchen,die man zunächst mal gar nicht bemerkt.

merkt. Ich sag eoft, die begrifflichen Gedanken

kommen einem vor wie Lastwagen, die durch den

Geist rollen. Sie sind relativ langsam, aber mit viel

Gedöns, sehr gut zu bemerken. Und dann gibt es Abstufungen; die anderen Gedanken sind nicht nur wie

Autos oder Motorräder; da gibt es Geistesbewegungen, die im Vergleich zu den Lastwagen so fein wie

Mücken sind, die vorbeifliegen. Sie sind gerade noch wahrnehmbar, gerade an der Schwelle. Unsere Fähig-keit das wahrzunehmen nimmt zu, und das ist dann der dritte Bereich des Untersuchens:

3) Das Untersuchen der Sinneswahrnehmungen insgesamt.

Klassisch beginnt man die Liste mit dem visuellen Sinn, das ist aber gar nicht das Einfachste, mit dem Hören

ist es oft einfacher. Also: Sehen, Hören, Spüren. – Mit Spüren ist der Körpersinn gemeint. Das Tibetische

sagt hier „Berührungssinn“, das ist so etwas wie der Tastsinn. Aber da ist viel mehr. Da wird im Tibetischen

nicht näher unterschieden. Es gibt dazu noch erklärende Listen: Lagesinn, Bewegungssinn, Tastsinn,

Wärmesinn, Gleichgewichtssinn sind unterschiedliche Körpersinne. Man kann sie nicht einfach unter

Tastsinn zusammenfassen. Das alles ist mit Körperspüren gemeint. Dann sind da noch Riechen, Schmecken

und nicht-begriffliche mentale Bewegungen. Da gehören noch die Emotionen und auch Stimmungen dazu,

die feinen Fluktuationen der Stimmung. Das ist der dritte Schritt in der Lhaktong-Praxis, wo wir uns den

feineren Eindrücken zuwenden und systematisch unser ganzes Leben durchgehen.

Wenn ihr eine Emotion untersucht, dann merkt ihr, dass das, was wir zunächst wahrnehmen, eigentlich be-

griffliches Denken ist; dass da innerlich Sätze und sowas wie Meinungen und Dialoge stattfinden usw. Aber

unter dem begrifflichen Denken ist eine Menge nicht-begriffliches Fühlen und Empfinden, und das ist feiner.

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Das ist schwieriger wahrzunehmen, aber das ist die eigentliche Emotion. Und die führt dazu, dass es dann zu

der begrifflichen Ausformung des emotionalen Erlebens kommt.

4) Das Vergleichen von Ruhe und Bewegung.

Wir haben uns zunächst die Ruhe angeschaut und dann die Bewegung. Dann wollen wir jetzt mal zu einem

Schluss kommen: Ja, ist denn nun die Geistesnatur von ruhigem Gewahrsein und von den verschiedenen

Formen des bewegten Gewahrseins gleich oder verschieden? Ruhe und Bewegung nochmal im Gesamtver-

gleich. Das ist also eigentlich eine abschließende Betrachtung. Nachdem wir die Detailbetrachtung bereits

gemacht haben, gehen wir nochmal bewusst hinein und alternieren Ruhe und Bewegung. Wir schauen immer

wieder: Ist es denn ein anderer Geist jetzt, ist es eine andere Form des Gewahrseins, oder ist es dasselbe

Gewahrsein? Wie ist es denn genau?

Die Frage, die wir hier klären, ist, ob es einen ruhigen Geist gibt und einen bewegten Geist oder ob das der-

selbe Geist ist. Oder ob es vielleicht einen Geist gibt, der sieht; einen Geist, der hört; einen Geist, der riecht

usw. Wir klären, ob es verschiedene „Geister“ in uns gibt; einen Geist, der genervt ist und wütend ist, und

einen anderen, der gegensteuert und der Pilot ist: „Jetzt beruhige dich mal und denk mal an den Dharma!“ …

Darum geht es. Das ist gar nicht so dumm – obwohl von mir humorvoll dargestellt. Gibt es einen schlechten

Geist? Ich habe das auch schon einmal gedacht: „Mein Geist ist nicht zu gebrauchen.“ Ja, also gibt es einen

Geist, der so etwas sagen kann über einen anderen Geist: „Dieser Geist ist nicht gut.“, „Das ist ein schlechter

Geist und dieser Geist ist gut.“

Ruhe und Bewegung meint all das. Wir pendeln so lange hin und her, schauen immer wieder, bis wir

merken: „Hm, die grundlegenden Qualitäten, die da erlebbar werden, sind identisch. Egal ob es sich um

einen ruhigen, begrifflich bewegten Geist oder eine nicht-begriffliche Bewegung handelt, es ist immer

derselbe grundlegende Geschmack.“

Und sogar wenn vom Hörbewusstsein ins Sehbewusstsein gewechselt wird, ist da kein Unterbruch. Da tritt

nicht jemand anderes auf die Bühne, übernimmt und sagt: „Jetzt wird geschaut statt gehört!“ Und dann der

Nächste: „Und jetzt ist da Körperfühlen statt Sehen!“ Da ist eine Kontinuität von einem Gewahrsein spürbar,

in dem verschiedene Aspekte aktiviert werden. Das ist ganz wichtig, weil wir im Dharma oft von Hörbe-

wusstsein, Sehbewusstsein, Riechbewusstsein und von mentalem Bewusstsein sprechen. Man könnte doch

auf die Idee kommen, es gäbe sechs verschiedene „Bewusstseine“. Die gibt es aber nicht. Es gibt verschiede-ne Arten, wie dieses eine Bewusstsein benutzt werden kann.

Das war die erste Serie. Im Inhaltsverzeichnis sind das die Kapitel eins 1. – 4. im Kapitel B. Intuitive

Einsicht. Karmapa hat diesen Text so aufgebaut, dass er zuerst die Instruktionen dazu gibt, wie man schauen soll. So wird dann geübt.

Mit den nächsten vier Kapiteln gibt Karmapa die Antworten. Die enthalten zwar auch noch Fragen, wie man

zu schauen hat, aber hier geht es um das Betrachten und Untersuchen. Wenn die Schüler betrachtet und untersucht haben und selber zu Erkenntissen gekommen sind, dann kommen die vier Aufklärungen.

5. – 8. Aufklärung über die Natur

Auf Tibetisch heißt das ngo-trö. Ihr kennt

das vielleicht aus der englischen Literatur

als „pointing out instructions“.

Das sind die Aufklärungen über die Natur

des ruhigen Geistes (5),

des bewegten/ denkenden Geistes (6),

der Erscheinungen (7).

– Immer wenn das Wort „Erscheinungen“

auftaucht – Tibetisch nangwa – dann er-

setzt euch das innerlich als Wahrneh-

mungen der sechs Sinne. Das ist mit Er-

scheinungen gemeint. Da hat niemand ei-

ne Erscheinung; es ist das, was im Bewusstsein aufscheint. Das ist ein toller Ausdruck, aber ungewöhnlich

für uns. Wir benutzen das sonst nicht so. Das heißt also: Aufklärung über die Natur der Erscheinungen. Das

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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ist dasselbe wie die Wahrnehmungen der sechs Sinne.

Und dann noch abschließende Erklärungen über die Natur des Geistes in Ruhe und Bewegung. (8)

Deswegen habe ich letztes Jahr bei Punkt vier aufgehört. Theoretisch hättet ihr nämlich das ganze Jahr mit

diesen Anleitungen praktiziert und diese Fragen jetzt für euch bearbeitet. Dieses Jahr würdet ihr nun die

Auflösung des Kreuzworträtsels bekommen. In diesen Kapiteln 5. – 8. ist der Anteil der weitergehenden Un-

tersuchungen kleiner, und es kommt sehr viel Antwort. Karmapa gibt Aufklärung, er führt ein in die Natur

des Geistes. Die Aufgabe dieser Aufklärung ist folgende: Der Lehrer geht selber, während er erklärt, in die

Schau der Natur des Geistes. Der Schüler ist bereits vorbereitet und erfährt in dem Moment eine Bestätigung

des Erkennens. Es findet durch einige weiterführende Erklärungen, die vorher nicht gegeben wurden, eine

Verankerung des Erkennens statt. Die wurden nicht gegeben, damit die Schüler selber forschen und selber drauf kommen.

Das war auch diese Passage, in der es im fünften Kapitel hieß, dass diese Aufklärung nicht zu früh gegeben

werden sollte. Das bezieht sich aber auf die Lehrer-Schüler-Beziehung, wie sie damals beim neunten Kar-

mapa Usus war. Die Schüler, die mit ihm praktizierten, reisten mit ihm durchs Land. Karmapa reiste mit

mehreren tausend Menschen durch Tibet. Das war ein großes Zelt-Dorf und Karmapa war im Zentrum.

Einige Hundert kümmerten sich immer um die Beziehung zu den Menschen der Gegend, in die sie kamen,

um die Klöster. Karmapa gab Unterweisungen, und die restlichen paar Hundert oder Tausend, je nachdem

wie lang die Reise ging, waren Yogis, die gar nicht auf der öffentlichen Szene auftauchten. Die blieben in

ihren Zelten und praktizierten die Anweisungen von Karmapa und kamen gelegentlich mit ihren Erfahrun-

gen, um sie mit dem Meister zu besprechen und bekamen dann individuell die Aufklärung. Die Aufklärung

wurde persönlich vom Meister an einen Schüler gegeben – normalerweise –, wenn die Zeit dafür reif war. Manchmal waren es kleine Gruppen von Schülern, die gemeinsam am selben Punkt in der Praxis waren.

Ihr merkt, die Aufklärung geht noch einmal dieselben Punkte durch wie vorher. Karmapa hat das so struktu-

riert, und man könnte das also auch so verstehen: Der Schüler wird geschickt und untersucht die Struktur des

ruhigen Geistes. Er kommt mit seinen Erfahrungen zurück, wird vielleicht noch ein zweites oder ein drittes

Mal geschickt – „Schau noch genauer!“ – und wenn er reif ist, dann bekommt er die Aufklärung über den

ruhigen Geist. Dann wird gesagt: „Und jetzt schau ins begriffliche Denken und untersuche das.“ Wenn er da reif ist, bekommt er diese Aufklärung über den bewegten/ denkenden Geist. Die gehören also zusammen.

Kapitel fünf gehört eigentlich mit Kapitel eins zusammen. Kapitel sechs mit Kapitel zwei, Kapitel sieben mit

Kapitel drei, Kapitel acht mit Kapitel vier. Der Karmapa hat die Kapitel so auseinander dividiert, um erstmal

den ganzen Bereich des Forschens zu erklären und noch nicht so viele Lösungen zu geben. In den Kapiteln,

die wir dieses Mal besprechen, gibt er die Antworten. Jedes Kapitel endet mit einer klaren, definitiven Ant-

wort: „Wenn du das und das erfahren hast, dann bist du aufgeklärt.“ Es gibt bei dem tibetischen Wort ngo-

trö eine Schreibweise mit einem sa hintendran und eine ohne. Die eine bedeutet, die Aufklärung wird

gegeben, damit verstanden wird. Und die zweite bedeutet, die Aufklärung ist abgeschlossen. Das ist ein kleiner Unterschied in der Schreibweise.

Und in diesen Kapiteln hier steht immer: „Aufklärung abgeschlossen.“ Das heißt, die Botschaft ist angekom-

men, die Übertragung hat stattgefunden – „Du hast verstanden, jetzt können wir uns dem Nächsten zuwen-

den.“ Das ist der Bereich, in dem wir jetzt unterwegs sind.

Und dann gibt es noch ein Schlusskapitel: Bemerkungen zum Aufbau der Erklärungen. In diesem Kapitel-

chen beschreibt Karmapa, dass er das genau so gemeint hat, wie ich das euch jetzt gerade erklärt habe. Das

ist einfach nur für Lehrer geschrieben, warum er den Text so strukturiert hat. Das wäre also wie man vorgeht.

* * *

Die vier Schritte des Erkennens

Nun zu einer Struktur, die euch aus den Mahamudra-Erklärungen der letzten Jahre schon vertraut ist. Es geht

jetzt um den Inhalt, nicht mehr nur um äußere Struktur, und zwar darum, wie das Erkennen stattfindet.

1) Alle Phänomene sind Geist.

Das gilt es als Erstes zu erkennen. Das Wort „Phänomene“ ist die Übersetzung von tschö – Dharmas – und

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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bedeutet, wenn wir das in unsere Sprache richtig hereinholen, folgendes: Zunächst können wir mal sagen:

„Alle Dinge sind Geist.“ Wir können es aber auch übersetzen in: „Alles Erleben ist Geist.“ Das ist ganz wichtig.

Wenn wir einander anschauen, denken wir, das ist Daniel, das ist Lodrö, das ist Tilmann usw. Wir haben das

Gefühl von real existierenden äußeren Objekten, und das gilt für alle Sinneswahrnehmungen. Wir haben

sogar, wenn wir nur ein Piepsen hören, das Gefühl, dass da ein Vogel ist. Wir haben ihn noch gar nicht

gesehen, nehmen aber sofort an, dass da ein Vogel ist. Oder wenn ein Quietschen von Gummi zu hören ist,

nehmen wir gleich an, dass es quietschende Autoreifen sind und gerade ein Auto um die Ecke biegt. Wir nehmen sofort an: „Das ist dort. Da draußen ist was.“

Wir lassen uns auch täuschen. Das Vogelgezwitscher kann auch von einer CD kommen, oder im Fernsehen

läuft gerade eine Film, wo es gerade quietscht. Das Quietschen ist einige Monate vorher irgendwo aufge-nommen worden; oder es war vielleicht auch im Speicher des Studios.

Alle Phänomene sind Geist, bedeutet, dass

wir ein Gewahrsein entwickeln, dass alles,

was wir wahrnehmen, alles, was wir sind,

geistiges Erleben ist. – Dass ich diesen Stift

Stift in der Hand habe, dieser Stift, das Se-

hen, Berühren, Riechen, Benutzen dieses

Stiftes, … all das ist geistiges Erleben. Das

ist eine ganz wesentliche Grundlage. Wir er-

leben den Stift als außerhalb, aber: Wo ist

denn der Stift? – Der Stift ist doch in mei-

nem Geist. Klar, ich kann ihn dir zuwerfen,

dann ist er nicht mehr in meiner Hand, aber

selbst das Zuwerfen und Aufgefangenwer-

den usw. findet doch in meinem Geist statt.

Das ist ganz, ganz wesentlich, das gilt für

alles.

In der Konsequenz bedeutet das, die ganze

Welt, alles, was wir von unserer Empfängnis

– und von mir aus auch vorher – bis jetzt er-

lebt haben, ist geistiges Erleben. Wir haben

die Welt erlebt. Wie die Welt außerhalb un-

seres Erlebens ist, davon haben wir keine

Ahnung. Wir wissen über die Welt nur, was

wir von ihr erleben. Auch wenn wir Zeitungsnachrichten lesen, erleben wir sie. Jemand anderer hat sie erlebt

und da hingeschrieben, sie wurden gedruckt und es ist Erleben. Wir wissen dadurch nicht besser, wie die

Welt ist, sondern wir wissen dadurch besser, wie andere diese Welt erleben. Und wir wissen, wie wir das

Erleben der anderen in uns erleben, wie wir es in uns abbilden. Jeder liest die Zeitungsnachrichten wieder anders.

Und das ist ganz, ganz wichtig. Wenn wir sagen, „alle Phänomene sind Geist“, dann bedeutet das: Die ganze

Welt ist geistiges Erleben. Die Relevanz dieser Erkenntnis ist enorm! Das bedeutet nämlich, wenn doch

alles im Geist stattfindet – im Geist bin ich ja zu Hause –, dass ich etwas tun kann. Das heißt, ich kann

beeinflussen, wie meine Welt ist. Wir denken, wir würden beeinflussen, wie die Welt draußen ist. Nein, nein,

nein! Ich gestalte meine Wahrnehmung meiner Welt mit. Ich habe Einfluss darauf, wie ich die Infos in der

Zeitung lese; ich habe Einfluss darauf, wie ich mich jetzt fühle, wie ich damit umgehe, dass es jetzt

allmählich stickig wird hier im Raum; was ich damit mache. Wenn die Welt außerhalb von mir ist und nicht

Geist ist, dann muss ich irgendwie versuchen, auf sie einzuwirken und draußen eine Veränderung zu bewir-ken. Es ist eine ganz andere Haltung zur Welt, wenn ich sage: „Das ist geistiges Erleben.“

In erster Linie kann ich mal schauen, wie ich erlebe, wie ich das Erleben gestalte. Wenn ich mich ärgere und

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Streit habe, sage ich normalerweise: „Du machst mich wütend. Du bist verantwortlich dafür, dass ich jetzt so

ärgerlich bin.“ Wir haben das Gefühl, dass alles von außen kommt, dass wir aufgrund von Ursachen wie ge-

zwungen sind, etwas zu erleben, oder nicht zu erleben; das kommt immer wie von außen. Das Wetter macht

was mit uns, die Wärme macht was mit uns. Ständig macht jemand oder etwas was mit uns, immer.

Tatsächlich erleben unterschiedliche Menschen dieselbe Situation sehr, sehr verschieden. Und dieser große

persönliche Anteil ist es, wo wir gestaltend eingreifen können. Deswegen ist das so wichtig. Lasst euch das

weiter durch den Geist gehen. Wir leben – ein jeder von uns – in unserer eigenen Welt. In diesem Haus

werden jetzt gerade sechzig verschiedene Welten erlebt. Wir leben nicht in einer Welt. Wir haben Überlap-

pungen, wo unsere Wahrnehmungen ähnlich sind, aber jeder hat doch seine eigene Welt. Jeder ist auf seine

ganz eigene Art gestern ins Bett gegangen, auf seine ganz eigene Art heute Morgen aufgestanden, erlebt auf

seine ganz eigene Art jetzt gerade diese Momente. Das ist unsere Welt. Das ist die Welt, die für uns zählt.

Das ist die Welt, in der wir leiden und dass ist die Welt, in der wir glücklich sind. Die Welt, in der wir leiden

und glücklich sind, ist nicht die äußere Welt der Bäume, Sträucher, Mauern, Licht, Schatten usw. Es ist die Welt, die wir erleben, in der wir leiden und glücklich sind, und in der wir Befreiung erfahren.

2) Geist ist leer.

Ein schwer verdaulicher Satz. Alle Phänomene sind Geist, alles Erleben ist geistiger Natur. Und der Geist

selbst und alles, was an Erleben in ihm stattfindet, ist leer, hat keinen Wesenskern, ist nicht greifbar, ohne

Substanz; ähnlich wie ein Traum, sich gestaltend und gleich weiter entwickelnd.

Darin liegt eine unglaubliche Botschaft der Befreiung: „Hey, dein Erleben ist nicht verbindlich!“ Das Erle-

ben wandelt sich sowieso die ganze Zeit unter dem Einfluss von Kräften. Es ist bedingtes Entstehen, hat

keine Substanz. Das heißt, ob du ärgerlich bist oder nicht, kann im nächsten Moment schon anders sein, weil

es keine Substanz hat. Das ist doch irre, oder? Die Botschaft hier heißt: Keine Emotion bleibt länger, als die

Bedingungen, die zu ihrem Erleben führen. Nichts hat Substanz. Das bedeutet auch, wir können erwachen,

wir können Heilung von unseren Kindheitstraumata erfahren. Alles ist möglich, alles gestaltet sich weiter,

nichts hat Substanz. Es gibt kein Trauma, das einen Wesenskern hätte und bewirken würde, dass es jetzt immer so bestehen bleibt und immer aktiv ist. Das gibt es nicht.

Es ist Prozess; das ist mit leer gemeint. Es ist Prozess, hat nichts Solides, nicht das geringste bisschen etwas

Solides, aber so manche Prozesse neigen dazu, sich ständig zu wiederholen, weil die Bedingungen, die sie

erzeugen, immer wieder die gleichen sind. Aber da können wir gestaltend eingreifen. Deswegen ist es auch

eine ganz wichtige Botschaft, eine unglaublich befreiende Erkenntnis, wenn wir verstehen, dass alle Phäno-mene geistige Phänomene sind und dass sie alle leer sind, ohne Wesenskern.

Die Bedeutung ist also: Geistiges Erleben ist ohne Substanz. Wut hat keine Substanz, Stolz hat keine Sub-

stanz, Begierde hat keine Substanz, Unwissenheit hat keine Substanz, Liebe hat keine Substanz, Freude hat

keine Substanz usw. Und Erwachen hat auch keine Substanz, Erleuchtung auch nicht. Alles ist geistiges Erleben, nichts hat Substanz.

3) Leerheit ist spontanes Vorhandensein.

– spontane Manifestation, spontane Präsenz. Das ist das Wort lhündrup, es bedeutet auch „spontan verwirk-

licht“. Es ist das spontane Entstehen dessen, was wir für wirklich, für präsent, für manifest halten. Eigentlich heißt das: Leerheit ist Fülle. Das ist hier die Bedeutung.

Dieser Geist, der leer ist, ist – weil er leer ist, weil da nichts Festes ist – ständiges, spontanes Entstehen von

immer wieder neuem Erleben; nicht fassbares, unaufhörliches Erleben. Leer bedeutet nicht fassbar, es ist

ein kontinuierliches Erleben einer unbegrenzten Vielfalt von Erscheinungen, von dem, was spontan auf-

taucht, unaufhörlich. Leerheit ist Fülle; die Fülle unseres Erlebens, die Fülle unseres Seins.

Dieser dritte Punkt ist sehr wichtig. Nur weil die Erfahrungen, die Wahrnehmungen, die Gedanken usw.

keine Substanz haben, kann sich alles zeigen kann. Wenn irgendetwas Substanz hätte – im Sinne von einem

unveränderlichen Wesenskern –, dann würde es blockieren, es würde seinen ständigen Platz beanspruchen

und keinen Platz machen für das nächste Erleben. Wenn das Erleben vom letzten Satz irgendeine Substanz

hätte, dann würde es das Erleben des nächsten Satzes blockieren, okay? Es müsste wie auf die Seite rangiert

werden, irgendwo geparkt werden. Wir hätten endlose Parkhäuser für unsere Gedanken. Versteht ihr? All

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diese Lastwagen! Wir müssten Milliarden von solchen Lastwagen unterbringen, wenn sie Substanz hätten.

Wir haben aber keine Mühe damit, es braucht keine Harddisc, nichts. Es kann immer wieder neues Erleben

kommen. Selbst beim Burnout, wo wir denken, es ist alles schon zu viel. Das Erleben geht trotzdem weiter.

Es geht immer weiter. Das ist die Natur des Gewahrseins, das ist die Natur des Geistes, das ist es, was wir mit Fülle meinen. Und dieses unaufhörliche Erleben, was ist jetzt mit dem? Das ist ja unser Problem.

4) Spontanes Vorhandensein ist selbstbefreiend.

Rang-dröl auf Tibetisch. Was bedeutet das? Alles, was auftaucht, befreit sich von selbst, da es keine

Substanz hat, da es keinen Wesenskern hat. Wenn keine Bedingungen mehr zum weiteren Entstehen des

nächsten Ähnlichen beitragen, ist es ganz offenkundig; aber selbst im Entstehen des nächsten Ähnlichen ist

das Vorherige auch befreit, vorbei, auch wenn ähnliche Geisteseindrücke auftauchen. Wir sitzen z.B. seit

einer halben Stunde hier. Ihr sitzt da, ich stehe. Der Typ da vorne erzählt etwas – sehr ähnlicher

Geisteseindruck, aber es ist immer ein bisschen anders. Ein bisschen andere Inhalte, ein bisschen andere

Bewegungen und so. Und dieses „ein bisschen anders“ bedeutet, es ist nicht dasselbe. Das, was vorher war,

hat sich schon längst aufgelöst, und das jetzige Erleben ist gerade da und schon wieder ist das nächste da.

Das ist der ständige Prozess, wie sich unser Erleben befreit ins nächste Erleben. Es befreit sich nicht in eine Leere hinein, sondern ins nächste Erleben. Alles ist unaufhörlich im Wandel und befreit sich von selbst.

Und wieder angewendet auf unsere Grundfragen: Was ist mit den Kleshas, den verstrickenden Emotionen?

Ja, die befreien sich auch von selbst. Wut, Zorn, Begierde, Stolz, Angst – was ihr wollt –, aber auch Freude,

Liebe, Mitgefühl, alles ist selbstbefreiend, alles. Alles ist Prozess, geht ins Nächste über. Wenn die Be-dingungen sich ändern, geht es in etwas anderes über.

Alles löst sich von selbst auf und geht ins nächste Erleben über. Das ist mit fließendem Sein gemeint, das

ist Mahamudra. Mahamudra ist ein Leben in dem fließenden Gewahrsein, dass alles, was sich manifestiert,

von selbst ins Nächste übergeht und dass wir da gestaltend eingreifen können. Wir können mitgestalten in

diesem Netz von wechselseitiger Bedingtheit. Wir gestalten mit. Bei einem Buddha nennt man das erleuchte-

tes Wirken, erwachtes Wirken. Aber auch das hat keine Substanz, auch das befreit sich von selbst. Es sind

Kräfte, die in das Netzwerk der Kräfte hineinwirken und zu einem Erleben führen, und dieses Erleben

gestaltet sich auch immer weiter unter dem Einfluss der wirkenden Kräfte. Das ist mit fließender Präsenz gemeint. Das ist die erwachte Aktivität der Mahamudra Meister.

Fragen

Teilnehmer: Würdest du bitte leer „klar“ und „unbehindert“ noch einmal erklären?

Der Geist ist leer, ohne Substanz, nicht fassbar. Dieser leere Geist ist Fülle, klares deutliches Erleben, das ist

mit dem spontanen Vorhandensein gemeint. Und unbehindert bedeutet, dass diese Fülle sich ständig wieder

neu manifestieren kann, weil sich alles spontan befreit. Deswegen unbehindert, da ist nichts, was behindern würde.

Du hattest das gestern mal so beschrieben: „Der Geist ist leer, klar und bewusst.“

Ja, bewusst ist er auch noch.

Zusätzlich?

Ja, das ist ja mit Geist gemeint, Geist ist bewusst. Immer da, wo Erleben stattfindet ist ein Bewusstsein; die sechs verschiedenen Aspekte des Bewusstseins. Das ist mit bewusst gemeint.

Und dann nochmal das Selbstbefreien. Die Emotionen befreien sich aus sich selbst heraus?

Nicht nur die, alles andere auch.

Aber bei den Emotionen, wir hatten gestern ja das Thema, dass eine Emotion aufsteigt und sich in dem

Moment, wo ich nicht greife, befreit.

Ja. Das schauen wir uns noch an: Wenn wir greifen, befreit es sich dann auch von selbst?

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Greifen bedeutet ja, dass wir, wenn es in der Meditation passiert, dass wir dann Gedankenketten kreieren,

dass wir Filme machen…

Bleib mal bei der Frage. Ja oder nein? Wenn wir greifen, befreit es sich dann auch von selbst?

Irgendwann schon.

Nein, nicht irgendwann. Auch dann im selben Moment. Es wird zu etwas anderem. Das Greifen ist eine

Kraft, die auf das Erleben einwirkt. Das ist ein Habenwollen oder Nicht-Habenwollen, und das verändert das

Erleben. Wenn du nach einer Freude greifst, die verändert sich im Zugriff, sie bleibt nicht wie sie ist. Greif

nach Ärger, der Ärger verändert sich im Zugriff. Das heißt, auch da findet dieser Prozess der Selbstbefreiung

statt, nur eben in die Richtung des Greifens. Okay? Also, Selbstbefreiung hängt nicht davon ab, ob wir

greifen oder nicht! Das ist die Natur der Dinge, dass sie Prozess sind und nicht bleiben. Das Greifen bewirkt

nicht etwa, dass etwas so bleiben würde, wie wir es gerne hätten. Das schaffen wir nie! Das wäre ja toll, aber

das schaffen wir nicht.

Es wird doch gesagt, dass karmische Reinigung so stattfindet, dass in dem Moment, wo wir nicht nach den

Bewegungen im Geist greifen, die Ursachen im Speicherbewusstsein, die bewirken, dass wir immer wieder Emotionen erleben, gereinigt sind.

Wenn etwas in unserem Geist auftaucht – sagen wir mal aus dem Speicherbewusstsein, das ist auch nur ein

Begriff; es taucht aus dem Unbewussten auf, oder aus dem Vorbewussten –, wird es bewusst, und dann

findet kein Greifen statt. Das heißt, es findet kein Verstärken der Muster statt, die in diesem Erleben stecken.

Dann können wir von karmischer Reinigung sprechen. Dieses momentane Erleben kann seinen Weg nehmen, wie verpuffen, ohne dass es wieder dieselben verstrickenden Muster nährt.

Das heißt, in dieser Weise verändern wir eigentlich unsere Gewohnheit.

Das ist der eine Prozess, wie wir unsere Gewohnheiten verändern, da lösen wir alte Gewohnheiten auf.

Meistens reagieren wir doch auf eine Weise, und zwar mit etwas geschickteren, auf eine etwas heilsamere

Art. Dadurch entstehen neue heilsame Gewohnheiten.

Und wie tritt dann an die Stelle, wo wir normalerweise mit Gewohnheit reagieren, dann die Weisheit? Man sagt ja, in der Emotion liegt die Weisheit.

Das ist es doch schon, was ich beschrieben habe. Wenn wir im Erleben erkennen, dass es nichts bringt, auf

die alte Art darauf zu reagieren, unterlassen wir die alte Form des Reagierens, und weise erkennen wir, dass

wir entweder besser gar nicht reagieren oder in ein heilsames Denken, Sprechen, Handeln gehen. Das sind

die Weisheitskräfte. Das ist das klare Erkennen oder einfach das Gewahrsein, das ist auch Prozess. Gewahr-

sein/ Weisheit ist auch Prozess, ist auch keine feste Instanz. Es ist ein umfassenderes Gewahrsein, als wir es

vorher hatten. Vorher waren wir nur teilweise gewahr, sahen vielleicht nur unseren eigenen Vorteil und jetzt

nehmen wir umfassender wahr. – Ich benutze immer „wir“ oder „ich“, das sind aber Konstruktionen. Das sind eigentlich Weisheitskräfte, Mitgefühlskräfte usw.

Was ist damit, wenn gesagt wird, dass die Emotion in der Essenz als Energie wahrgenommen wird, als Weis-

heitsenergie?

Die Emotion wird wahrgenommen als eine starke Energie. Und wenn sie nicht ergriffen wird, nicht wieder

mit den Mustern einverleibt wird, zeigt sie sich als vitale Energie, die unverstrickt dann weitere Klarheit freisetzt, ja.

Wie dann manchmal geschrieben wird: Zorn wird zur spiegelgleichen Gewahrsein.

Ja, das sind so vereinfachende Beschreibungen. Ich glaube, dass ich in diesem Kurs nicht dazu komme, das

noch mal zu erklären. Zu diesem Thema gibt es viele Abschriften, ich erkläre es sehr oft. Man kann nicht

sagen, dass Wut zum spiegelgleichen Gewahrsein wird. Wenn sich das Greifen löst, das zur Wut führt, dann

ist der Aspekt des Gewahrseins, der dann besonders deutlich zu Vorschein tritt, das spiegelgleiche Gewahr-sein.

Teilnehmer: Als du gerade diese vier Punkte erklärt hast, kam die Frage, was ist denn mit Erinnern, aber

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das war mir dann im Laufe der Erklärungen zu grob…

Aber spiel es doch gerade durch. Erinnern ist ein Phänomen des Geistes…

Ja, aber ich habe das dann noch ein bisschen weiter gedacht. Was ist denn dann dieses Gefühl, dass man

eigentlich so eine Art kontinuierlicher Bewusstheitsstrom ist? Ich gehe z.B. abends ins Bett und habe das

Gefühl, dass das, was da den ganzen Tag über passiert ist, mich irgendwo berührt hat. Ich war dabei, ich

war Anteil an dieser Aktion oder auch Reaktion, und wenn ich morgens nach dem Schlaf dann wieder

aufwache, habe ich das Gefühl: Den Typ im Spiegel, den kennst du doch. Wenn ich das alles konsequent zu

Ende denke, dann würde das bedeuten, dass ich eigentlich das Selbstbild, das ich von mir habe, komplett

fallen lassen muss. Ist das richtig?

Ja. Du kannst dann z.B. noch sagen: „Ich bin ein Strom.“

Ja, ja. So habe ich es verstanden. Strom ja, aber es ist dann „mein“ Strom. Ich bin quasi der Fluss. Ich bin

zwar nicht immer der Gleiche und es gibt auch keinen festen Wesenskern, aber es gibt so eine gewisse Konti-

nuität, die sich so in meinem Leben durchzieht.

Ja, das ist doch schon mal ganz gut. Das ist ganz nahe dran an dem, wie es ist. Und was sich dann noch weiter entwickelt, ist, dass du dir dann irgendwann gar nicht mehr die Frage stellst, wer du bist.

Ja, in die Richtung geht es wohl. Das wollte ich jetzt noch mal wissen.

Teilnehmer: Mir ging es auch so, dass mir nochmal so klar geworden ist, dass bei allem, was ich wahrneh-

me, natürlich alles auf der Grundlage von Erinnerungen und Erfahrungen geprägt ist in dem, was ich

wahrnehme.

Ja, genau. Erinnerungen, Erfahrungen, Muster, das alles prägt unsere jetzige Wahrnehmung.

Teilnehmer: Sind dann diese Erinnerungen, Erfahrungen so etwas wie Staudämme oder fließen die auch mit?

Die fließen auch mit.

Die sind ja doch irgendwie Fixierungen.

Ah ja? Aber schau mal, wie lebendig Fixierungen sind. Das ist das Spannende. Wir denken irgendwie, weil

wir fixieren, würde das eine Ausnahme machen zu der Natur des Geistes. Aber wir kriegen es ja gar nicht

fixiert. Versuch mal, eine Erinnerung zu fixieren. Das fühlt sich zwar so an, also ob das recht stabil ist, aber

jedes Mal, wenn wir die Erinnerung erzählen oder wiedererleben, ist sie neu, ist sie wieder anders. Auch

Erinnerung ist Prozess.

Das ist spannend. Vorhin schon in den Fragen hat das mitgespielt, dass wir denken, wenn wir greifen, dass

wir dann irgendwie aus dieser Beschreibung herausfallen. Das ist aber gar nicht der Fall. Wir wähnen uns

näher dran an einer Stabilität, aber wenn wir es untersuchen, ist es nur eine sehr ungeschickte Art des Flie-

ßens. – [Lachen] – Ja, aber das bringt’s doch rüber, merkt ihr das? Trotz unseres ganzen Fixierens geht das Leben immer weiter – es ist furchtbar.

Teilnehmer: Dieses Selbstbefreien, das war immer so mysteriös. Ich habe immer gedacht, da ist etwas, da

warte ich dann drauf, dass es sich selbst befreit, aber dass es sich in das nächste Erleben hinein befreit, das

macht es irgendwie klar. Weil dann braucht man nur diese Bedingungen zu schaffen. Da ist ja diese

Leerheit, die auf den Bedingungen fußt, und wenn ich jetzt Bedingungen schaffe, die positiv sind, dann ist auch das, was als nächstes Erleben kommt, positiv.

Genau, dann befreit sich das weniger positive Erleben von vorher, in das nächste, was durch viel positivere Kräfte geprägt und bedingt ist und befreit sich da hinein.

Wenn wir hier selbstbefreiend sagen, bedeutet das auch, dass es natürlich ständig weiter geht in seiner leeren

Grundnatur. Das ist nie etwas anderes als Leerheit. Es ist nicht so, dass es sich extra noch in die Leerheit

befreien müsste. Es ist substanzlos, während wir es erleben, und es geht substanzlos weiter. Also es ist nicht

so, dass erst etwas nicht befreit ist, und dann befreit wird und endlich wieder leer wird, sondern es ist

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während wir es erleben substanzlos, und dieser Prozess geht ständig weiter. Das ist eine ständige Befreiung

aus sich heraus. Dieser ganze Weg wird ja Weg der Befreiung genannt. Und wir denken, wir müssten die

Befreiung irgendwo finden. Die ist schon da! Das ist ja der Punkt, die ist ja schon da, die ist die Natur des

Seins. Das ist das Geniale an diesen Erklärungen. Der Weg der Befreiung ist gar nicht ein Weg, den wir zu

suchen haben, er vollzieht sich schon. Wir können dem einfach noch mehr Raum geben. Wir können auf eine viel geschicktere Art, auf eine viel heilsamere Art sein in dem, wie es ist.

Teilnehmer: Also ich erlebe es ambivalent. Einerseits, nicht mehr so erschreckend wie noch vor einigen

Jahren, aber es sind noch immer Ängste da. Auf der einen Seite verstehe ich schon in gewisser Weise das Befreiende, von dem du sprichst. Aber ich habe immer noch Ängste, wie sich das denn anfühlen würde.

Ja, das ist doch toll, dass jetzt weniger Ängste da sind. Ich kenne die Ängste ja auch, ich habe die ja auch

gehabt, jetzt habe ich die nicht mehr so, aber das ist ganz normal, dass man sich überlegt: Ja wer übernimmt

denn dann die Kontrolle, wenn das Ich abtritt. Ist da wirklich so etwas wie eine Weisheit. Man muss irgend-

wie so einen Repräsentanten dafür haben. Wer übernimmt denn die Funktion wenn „Ich“ abtrete? Irgendwie

möchte ich doch einen Stellvertreter, aber der Prozess geht weiter. Wir können in den Prozess vertrauen, weil

ein entspannter, offener Geist ohne Ichbezogenheit viel besser in der Lage ist, all die Dinge auszuführen, um

die wir uns zu kümmern haben im Leben. Wir werden nicht ineffektiver, sondern immer fließender, ge-

schmeidiger, effektiver, klarer usw. Es ist eine Zunahme der Qualitäten zu verzeichnen, denn das, was ab-

nimmt, sind die blockierenden Kräfte.

Teilnehmer: Kann man sagen, dass sich die Offenheit aus der Bewegung ergibt und dass Offenheit nicht irgendwie ein Zustand ist, der wie extra entsteht, sondern der entsteht aus der Bewegung an sich?

Du könntest sagen, dass Bewegung schon Offenheit beinhaltet. Da, wo Bewegung ist, ist Raum, ist Offen-heit. Aber was für eine Art von Offenheit meinst du eigentlich?

Ich habe so ein Bild, wo ich jemanden gesehen habe, wo für mich ganz klar war, dass da jetzt Offenheit ist

der Situation gegenüber. Ich habe immer versucht zu verstehen, was ist eigentlich Offenheit oder wie empfin-de ich mich offen oder so. Wie kommt das?

Diese emotionale Offenheit, von der du jetzt sprichst, ist wie die Bereitschaft für die nächste Bewegung. Wir

erleben die Bereitschaft, sich für die nächsten Bewegungen zu öffnen dann emotional als Offenheit. Das hat mit Bewegung zu tun.

Teilnehmer: In diesem Prozess sehe ich die Identifikation mit dem Ich als den größten Brocken, weil viele Reaktionen automatisch passieren.

Ja, die Identifikation mit einem vermeintlichen Ich ist ein zentraler Punkt. Eigentlich gibt es wenig andere

Blockaden, glaube ich. Es hängt alles damit zusammen.

Teilnehmer: Ich bringe gerade die Idee mit der biologischen und chemischen Entstehung der Erde und das Prinzip, dass alles Geist sein soll, nicht zusammen. Wie passt das zusammen?

Aha, ich weiß was du meinst. Wenn wir sagen, „alles ist Geist“, dann hört jemand in uns, „dann ist es ja

keine Materie“, als ob die physikalischen und chemischen Grundlagen in Frage gestellt würden. Nein! Das

ist unser duales Denken! Wenn alles Geist ist, wenn alle Phänomene geistiges Erleben sind, bedeutet das

nicht, dass sie nicht auch gleichzeitig Materie sein können. Das bedeutet das gar nicht. Das ist gar nicht der

Umkehrschluss. „Alle Phänomene sind Geist“ bedeutet, dass unser Erleben, unsere Welt – wie wir in der

Welt unterwegs sind – im Geist stattfindet. Das heißt nicht, dass der Vorhang da drüben nicht aus Materie

wäre. Aber vielleicht hat Materie geistige Qualitäten. Vielleicht ist Materie im Grunde genommen Energie und Geist ist auch Energie. Vielleicht treffen die sich irgendwo.

Aber was auch immer wir von dem Vorhang mitkriegen, ist durch Anfassen, Hinschauen, Riechen, Ein-

gewickeltwerden, Dagegenlaufen, was auch immer. Und das geschieht nur durch Sinneserfahrungen. Und

deswegen sagen wir, dass das alles in unserem Erleben Geist ist. Und wir wissen ja gar nichts über den

Vorhang, was er ist, wenn wir ihn nicht erleben. Wir wissen gar nichts darüber und behaupten auch gar

nichts darüber. Das heißt, die Welt kann entstanden sein durch einen Urknall – von mir aus –, und durch

physikalisch/ chemische und dann biologische Prozesse und es kann auch Gewahrsein allmählich

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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aufgetaucht sein. Wer weiß, woher das gekommen ist. Das wird alles nicht in Frage gestellt.

Aber unsere Diskussion über den Ursprung der Welt ist Geist. Und alles, was wir wissen, findet im Geist

statt, ist Geist. Das ist die Aussage. Merkst du? Da rasten wir sofort als Westler in der Geist-Materie-Dicho-

tomie ein. Entweder so oder so. Ein Baum kann nicht gleichzeitig Materie und Geist sein. Das geht für uns

nicht. Aber für Buddhisten ist das kein Problem. Darüber, wie weit der Baum auch Materie ist, können wir

wenig sagen, weil wir alles, was wir von dem Baum erleben, im geistigen Erleben haben. Aber da sind

materielle Prozesse. Da sind physikalische, biologische Prozesse, auf die können wir bauen, die werden nicht

in Frage gestellt. Den Baum können wir fällen und verfeuern und das gibt Wärme. Das wird alles nicht in

Frage gestellt. Und es ist nicht so, dass, wenn wir den Baum in den Ofen stecken und verfeuern, wir unseren

Geist verbrennen würden. Keine Idee von dieser Art! Wenn wir sagen, alle Phänomene sind Geist, bedeutet

das nicht, dass sie nur Geist sind und „Kommt ja nicht auf die Idee, das noch anders zu nennen!“ Es bedeu-

tet, dass alles Erleben ist und dass wir in diesem Erleben kreativ unterwegs sein können und gestalten

können. Wir können den Baum als Freund betrachten, wir können ihn als Ärgernis betrachten, wir können

ihn als Holzquelle betrachten, wir können uns völlig überhaupt nicht interessieren für ihn. Der Baum ist

tatsächlich Erleben. Das ist damit gemeint.

Teilnehmer: Können wir dann sagen, Materie entsteht aus Geist?

Keine Ahnung! – [Lachen] – Wie sollen wir das je wissen? Wir postulieren ja etwas. Alles, was wir zur Ver-

fügung haben, ist ja unser Erleben. Selbst das Ablesen von Messinstrumenten ist Erleben. Deswegen lasst

uns doch einfach mal bei dem bleiben, was wir erleben, darin findet ja unser Glück und Leid statt und auch

das Erwachen, ohne zu meinen, wir müssten irgendwelche nicht beweisbaren Hypothesen über die Welt also

solche – ohne uns – aufstellen. Da bringen wir uns in eine philosophische Sackgasse. Da sind wir dann tat

sächlich nur im Denken, Postulieren und Entwickeln von Hypothesen. Einige Hypothesen sind ganz gut, die

bewähren sich. Es gibt auch die Hypothese, dass Geist und Materie eins sind; dass im Grunde genommen die

ganze Welt nur Energie ist; dass Geist Energie ist und dass er deswegen Materie auch erleben kann, weil

Materie auch nichts anderes als Energie ist. Das hat viel für sich, aber ich möchte mich gar nicht in diesen

Bereich herein wagen, denn er ist fürs Erwachen nicht relevant. Es ist unerheblich. Unser Erwachen findet

dort statt, wo wir die Natur des Erlebens verstehen, die Natur der geistigen Prozesse.

Teilnehmer: Sichtweise Mahamudra, Entstehungsphase, Auflösungsphase untrennbar…

Okay, das ist die Sichtweise des Mahamudra. Das spontane Vorhandensein ist Kyerim, die Entstehungsphase, die Selbstbefreiung ist Dzogrim, die Vollendungsphase.

Teilnehmer: Und so ist es mit allen Phänomenen.

So ist es mit allen Phänomenen. Die beiden Phasen der tantrischen Praxis, das Entstehenlassen von Visuali-

sationen – von Sinneswahrnehmungen in unserem mentalen Bewusstsein – ist aufgrund der leeren, substanz-

losen Natur des Erlebens möglich; aufgrund von Bedingungen und der leeren Natur ist es möglich, dass

Dinge entstehen. Und sie sind nicht nur Kyerim, Entstehungsphase, sondern gleichzeitig auch Vollendungs-

phase, spontanes Sich-Befreien. Das ist ein Prozess. Kyerim ist Prozess und in ständiger Selbstauflösung

begriffen. Wie wir zu unserem Leidwesen schon bemerkt haben, bleibt eine Visualisation nicht, wenn wir sie

gemacht haben. Wir müssen immer wieder die Bedingungen dafür erzeugen, halten, damit eine Visualisation erneut entsteht oder bleibt.

Teilnehmer: Zur Praxis; Mahamudra Sichtweise ist ja, ich schaue nach links, sehe den Buddha und weiß, da

kommen Bedingungen zusammen, wie ich jetzt den Buddha erlebe. Ich schau nach rechts, in dem Moment

befreit sich das schon wieder, ich sehe den Vorhang, dann weiß ich, okay, Bedingungen kommen zusammen,

wie ich jetzt den Vorhang erlebe, das befreit sich wieder, ich erlebe etwas anderes. Das kann ich doch nicht

den ganzen Tag machen… – [Lachen]

Was wäre denn dein Vorschlag, wie könnte es denn entspannter gehen? Wie wäre es denn, wenn wir uns da

hinein entspannen, dass es sich ohnehin befreit und wir ihm das auch gar nicht zu sagen brauchen? Das tut es

ja von selbst. Ich schau jetzt da zu dir und dann schau ich da hin und brauch mir nicht zu sagen, dass das,

was ich links gesehen habe, mich rechts nicht stört. Verstehst du? Das passiert von selbst. Und zu wissen,

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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dass, was auch immer auftaucht, nur so lange bleibt, wie die Bedingungen dafür weiter bestehen, das in sich

reicht. Das heißt, wenn ich ärgerlich sein möchte, bin ich ärgerlich und schaffe mir die Bedingungen dafür,

und wenn ich nicht ärgerlich sein möchte, dann kann ich es auch sein lassen, mir die Bedingungen für den

Ärger zu schaffen. Daran arbeiten wir dann.

Also dieses Verständnis darüber, das reicht dann schon?

Ja, das reicht schon. Und das ist ein Verständnis, das dann gar nicht mehr begrifflich ist. Das braucht man

sich nicht zu sagen. Das sagt man sich dann, wenn man den Eindruck hat, „Jetzt bin ich gerade wieder in

einer dicken Blockade und nehme die Dinge für richtig solide, substanzhaft.“ Dann ist es gut, sich das wieder

zu sagen.

Teilnehmer: Das war Thema schon gestern, gestern hat es mir geholfen, heute hilft es mir gerade wieder

einmal nicht. Wer sorgt für die Bedingungen? Warum taucht ein Gedanke auf? Darüber haben wir schon

einmal gesprochen, dass Impulse da sein müssen. Welcher Impuls ist da, der einen Impuls zum Impuls werden lässt?

Du kannst es in dir selbst erfahren. Das ist unser Verbundensein mit allem im Gewahrsein. Wir haben ja

einen Körper und wir haben ja geistige Kräfte. Dieser Geistesstrom hat Kraft, das ist ja klar, und wir sind

verbunden mit allem. Und aus diesem Verbundensein mit allem kommen, wenn wir nicht ich-bezogen sind,

die mitfühlenden weisen Antworten und so. Dafür brauchen wir gar keinen Dirigenten. Das kommt aus dem

Verbundensein mit allem. Nimm es mal so, wie ich es jetzt gerade erkläre, weil ich jetzt zum Kapitel kom-

men möchte. Ich – Chef. [Lachen] Das sagen so meine Weisheitskräfte, dass ich sonst nicht durchkomme.

Aber die Antwort ist ehrlich gemeint. So wird erwachtes Wirken beschrieben, wie ich es dir gerade beant-

wortet habe. Das findet nicht statt, ohne dieses Verbunde sein und das findet auch nicht statt, wenn immer noch ein Chef da ist, der sich „Ich“ nennt.

7. Das Aufzeigen der Natur von Erscheinungen.

Mit Erscheinungen sind die Wahrnehmungen der sechs Sinne gemeint.

Die dritte Einführung [in das Wesen des Geistes] ist das Aufzeigen der Natur von Erscheinungen. Sie

zeigt auf, dass Erscheinungen und Geist untrennbar sind. – Das entspricht dem ersten der vier Schritte: Alle Phänomene sind Geist.

Untersuchst du irgendeine Wahrnehmung (wörtlich: „Objekt“) der fünf äußeren Sinne – einen Klang,

einen visuellen Eindruck, eine Geschmackswahrnehmung … –, dann erfährst du die Wahrnehmung als

offen und unbehindert, ohne dass ein Gedanke entsteht: „Die Wahrnehmung ist da drüben“. Auch der

wahrnehmende Geist ist gelöst, ohne Festhalten. Die beiden – Wahrnehmungen und wahrnehmender

Geist – sind weder eins noch verschieden, ohne dass ein Gedanke entsteht: „Es gibt sie nicht [als eins

oder verschieden]“. – Sie sind nicht eins oder verschieden.

Lasst uns das am Beispiel eines Klanges nochmal durchgehen. Hört mal entspannt hin und versucht zu erle-

ben, wie es ist zu hören, wenn ich die Klangschale anschlage. Wie ist es zu hören? … [Klangschale ertönt] –

Karmapa sagt: „Du wirst die Wahrnehmung als offen und unbehindert erfahren.“ Offen ist in dem Sinne,

wie es vorhin angesprochen wurde, offen. Da ist offener Raum, in dem Wahrnehmung stattfinden kann, und

sie setzt sich fort. Sie setzt sich von einem zum nächsten fort. Da sind ja viele Klänge in diesem Klang. Das

ist Prozess, das ist nicht ein Klang. Man kann nicht sagen, dass der Klang zu Anfang derselbe Klang wie

zum Ende ist. Und „unbehindert“ bedeutet, dass die Klangwahrnehmung jederzeit wieder möglich ist, …

[Erneutes Anschlagen der Klangschale] … sobald wieder etwas auftaucht. Die Klangwahrnehmung ist jeder-

zeit möglich. Sie ist unbehindert, da kann jederzeit etwas anderes kommen. Es können viele Geräusche sich

bis zu einer Kakophonie steigern oder bis zu einer Symphonie – es ist unbehinderte Wahrnehmung. Das

Hören selbst selektiert nicht. Das sind nachgeschaltete Prozesse. Der Geist ist prinzipiell offen für alles

Hören und sucht sich darin den Klang aus. Diejenigen, die wollen, können z.B. jetzt noch die Klangschale

hören, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Frequenz einstellen. Genauso, wie wir unter all den

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Lichtpunkten bestimmte Lichtpunkte aussortieren und uns darauf konzentrieren können. Dann haben wir ein

visuelles Objekt.

Das gilt für alle Sinneswahrnehmungen. In der Summe all dessen, was da unbehindert, offen wahrgenommen wird, konzentrieren wir uns auf etwas. Wir filtern etwas heraus und sind vorwiegend mit dem.

Dabei entsteht kein Gedanke: „Die Wahrnehmung ist da drüben“. Ihr habt jetzt nicht gedacht, das Hören

findet in der Klangschale statt, oder? Das war ja irgendwie so im Erleben. Überprüft noch einmal, ob das so

stimmt: … [Klangschale ertönt] … Wo ist der Klang? Wenn ich so frage, ist es schon anders, nicht? Tatsächlich haben wir eine Neigung zu sagen: „Der Klang ist da.“ Aber wo ist er wirklich?

Verschiedene Teilnehmer. Im Raum… Mal da mal dort…

Merkt ihr was? Der Klang füllt das Bewusstsein. Der ist gar nicht im physischen Raum, der ist auch nicht im

Objekt, der ist im Erleben. Hört nochmal hin, der ist einfach ein relativ prägnanter Teil unseres jetzigen Erlebens; das ist, was Klang ist. … [Klangschale ertönt] –

Wir können da etwas beobachten. Während wir den Klang gehört haben, haben wir alle auch noch unseren

Körper gespürt; wir haben gesehen, wir haben Gedanken gehabt, wir haben Gedanken über dieses Klang-

erleben gehabt. Es war also nicht nur Klang in unserem Bewusstsein. Der Klang hat nicht unser gesamtes

Bewusstsein ausgefüllt. Jetzt könnten wir aber uns so ins Hören versenken, dass wir alles andere ausschlie-

ßen. Dann würde der Klang unser gesamtes Erleben füllen. … [Klangschale ertönt … Was müssen wir tun, damit der Klang in unserem Erleben mehr Raum einnimmt, was braucht es?

Teilnehmer: Interesse.

Interesse, ja. Wir müssen ein vollständiges Interesse für den Klang aufbringen, um auch das Feinste im

Klangerleben noch wahrzunehmen. Dann tritt das andere immer mehr zurück. Versucht das mal. … [Klang-

schale ertönt] … Wie viele Töne habt ihr gehört? Wie viele Klangebenen habt ihr gehört? Das ist schon

enorm, wenn ihr genau hinhört. … [Klangschale ertönt] … Das Phänomen, das ich euch zeigen wollte, war

gar nicht, wie viele Klangebenen die Klangschale hat. Wenn wir versuchen etwas zu hören, was uns vorher

nicht aufgefallen ist, wird unser Interesse immer feiner und der Klang im Erleben immer dominanter. Das

heißt, der Klang ist gar nicht einfach Klang, sondern er ist Klang mit der Bedeutung, die wir ihm geben. Er

füllt so und so viel von unserem Erleben aus, wie er in unserer Bedeutung rangiert. Wenn uns der Klang

ärgern würde, würden wir fast nur noch den Klang hören. Wenn wir gerade dabei sind, irgendetwas Interes-santes zu lesen, würden wir vielleicht gar nicht hören, dass der Klang überhaupt ertönt.

Dazu kann ich euch von einer Videoaufzeichnung erzählen, bei der sich zwei Mannschaften – eine in weiß

gekleidet und eine in schwarz –, einen Ball zuspielen. Die Achtsamkeitsaufgabe für die Zuseher war, zu

beobachten, wie viele Ballkontakte die weiße Mannschaft hat. Die beiden Mannschaften warfen sich in einer

Turnhalle den Ball so hin und her. Wir waren fünf Leute, die sich das auf dem Bildschirm anschauten, und

wir zählten die Ballkontakte. Es ging um die weiße Mannschaft. Die schwarze Mannschaft versuchte, den

Ball auch zu erwischen, aber die in der weißen Mannschaft bekamen das ziemlich gut hin. Nach drei Minu-

ten stoppte das Video und wir wurden gefragt: „Na, wie viele Ballkontakte habt ihr gezählt?“ Ok, das waren

siebzehn oder fünfzehn. Es waren tatsächlich fünfzehn, einige hatten es richtig wahrgenommen. Und dann wurden wir gefragt: „Habt ihr den Affen gesehen, der durch die spielenden Mannschaften lief?“

Keiner von uns hatte den gesehen. Keiner! Ein Mensch hatte sich in ein Orang-Utan Kostüm verkleidet, dick

schwarz, und war durch die spielenden Mannschaften gelaufen. Er war in der Mitte stehen geblieben, hat

sich noch bemerkbar gemacht, war rausgelaufen, aber niemand hatte ihn gesehen. Der war größer als die

anderen Spieler; es waren zehn Spieler, fünf weiße, fünf schwarze. Wir waren nur auf den Ballkontakt

fixiert. Keiner hatte diesen ganz langsam und groß auftauchenden schwarzen Affen gesehen, niemand! Der

existierte nicht für uns. Den gab es gar nicht. Merkt ihr? Der war nicht vorhanden in unserer Welt. Die Welt

– was ist die Welt? Die Welt ist das, was wir erleben. In unserer Welt gab es den Affen nicht.

Das war für mich der Spiegel dafür, wie selektive Aufmerksamkeit funktioniert. … Puuh! … Wir kriegen

das nicht mit, wo unsere Aufmerksamkeit nicht hingeht. Wir waren voll im visuellen Sinn. Es wurde uns auf

einem recht großen Handy gezeigt, kleiner Bildschirm. Es war also nicht eine Frage des Gesichtsfelds. Er hat

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uns das Video ein zweites Mal gezeigt, und dann sahen wir alle den Affen und waren erstaunt: „Was? So

riesig groß! In der Mitte des Geschehens.“

Das zeigt, was hier gemeint ist damit, dass wir wahrnehmen, was wir bereit sind wahrzunehmen. Und das,

obwohl beides im visuellen Sinn war. Es war nicht so, dass ein Geräusch ausgeblendet worden wäre, oder

Körpergefühle, es war im selben Sinn. Das gilt für alle Sinne, das ist eine ganz wichtige Erkenntnis.

Also, Klang ist unbehindert, er kann jederzeit erscheinen. Und auf die Frage, wo der Klang ist, sagen wir

nicht – wenn wir es mit intuitiver Einsicht wahrnehmen –, dass die Wahrnehmung, der Klang da drüben ist.

Es wird klar, dass der Klang im eigenen Erleben ist, wo auch immer das ist. Das ist nicht im physischen

Raum. Der Klang füllt zwar auch den physischen Raum, aber darüber wissen wir ja gar nichts. Er füllt unser

Erleben. Wir hören ja nicht da hinten in der Ecke, wir wissen ja gar nicht, ob er den physischen Raum füllt.

Das denken wir. Wir hören es ja nur hier und das Hören findet in unserem Geist statt. Diesen Raum füllt das Erleben.

Teilnehmer: Aber das kann schon so anmuten. Dieses Zwitschern, was mich so entzückt hat, von dem ich aus meiner Sitzung erzählt habe, gab mir das Gefühl, als wenn der Vogel mitten in mir drin wäre.

Genau, damit beschreibst du das, was ich meine. Er war auch in dir drin, nicht nur als ob. Die Vorstellung

von „Vogel“ war in dir drin und auch sein Zwitschern. Und du wirst nie wissen, ob wirklich einer in der

äußeren Welt gezwitschert hat. Er hat wirklich gezwitschert, aber in deinem Erleben. In deinem Erleben hat

wirklich ein Vogel in dir gezwitschert.

Ja, so ist das. Das ist wichtig, es ist nicht da drüben. Da streckt gerade jemand seinen Arm. Ich denke, das

wäre da drüben – jetzt kommen wir nämlich zum Visuellen –, das nehme ich ja nicht da drüben wahr. Oder

gehen etwa meine Augen da drüben hin, oder geht mein visueller Cortex mal kurz auf Reisen und nimmt da

drüben das Strecken war? Nein! Hier, im eigenen Erleben streckt sich der Arm. Merkt ihr? Das ist unglaub-

lich wichtig. Wir sehen nicht da drüben, sondern wir sehen hier, in unserem Erleben. Und in diesem Erleben,

da bitte ich euch jetzt auch mal ganz fein noch hinzuspüren, da gibt es gar kein „Hier“. Denn es gibt im Erleben kein Hier und Dort.

Hört noch einmal hin bei der Klangschale. Ist der Klang hier oder dort, wo ist er eigentlich? … [Klangschale

ertönt] –

Ok, danke. Wir lokalisieren Geräusche aufgrund unserer beiden Ohren. Da hustet jemand, irgendwo kommt

ein Zwitschern her, wir geben den Geräuschen räumliche Zuordnungen; genauso auch den visuellen

Phänomenen. Das ist auch korrekt, das ist völlig korrekt. Aber das Erleben findet ohne Bezug auf hier und

dort statt. Das Erleben ist einfach in diesem Geist. In diesem Gewahrseinsstrom findet dieses Erleben statt,

und das Erleben geht einher mit „dort passiert etwas“, aber das Erleben von „dort“ findet auch wieder hier

statt, im Gewahrsein.

Teilnehmer: Das kommt mir recht bekannt vor in meinem eigenen Erleben. Und ich frage mich dann öfter

auch, ob ich mich dann zu unrecht auf dieses kleine Wesen reduziere oder was ich in der Materie denke zu

spüren. Dass ich also eine Reduktion mache, die zu Unrecht ist, sodass, wenn ihr hier seid, ihr dann auf eine

Art auch in meiner Wahrnehmung seid, also auch „ich“ seid auf irgendeine Art; sodass sich das dann irgendwann dann löst und erweitert und dann nicht mehr so trennbar wird, diese andere Seite noch…

Ja. Diese Art zu denken, hilft mir auch, mit der Nuance, dass es nicht ein Mega-Ego ist, wenn ich denke „Ich

bin euch alle“ oder „Ich bin das alles“, sondern dass das Spüren ist, dass wir in einem solchen Austausch

sind, dass ich hier keine unabhängige Existenz abziehe. Ich bin in ständiger Wechselbeziehung mit euch und

ihr mit mir. Wir sind, mit allem drum herum, als Gesamtes unterwegs, nicht als Einheit, aber auch nicht

getrennt. Weder eins noch getrennt. Das tut gut. Das ist keine Ausweitung der Ich-Bezogenheit sondern

eigentlich ein Verfeinern dieser Wahrnehmung, mich als jemand Getrenntes gibt es nicht. Ich bin immer

abhängig von Bedingungen.

Das ist für mich auch so ein Stück Erlösung.

Ja, für mich auch. Das ist wie eine Erlösung.

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Auch der wahrnehmende Geist ist gelöst ohne Festhalten.

Können wir das unterscheiden? Schaut bei der folgenden Klangübung hin und versucht, Wahrnehmung und

wahrnehmenden Geist, wahrnehmendes Gewahrsein auseinander zu halten, oder zu schauen, wie es sich da-

mit so verhält. … [Klangschale ertönt] … Noch einmal: … [Klangschale ertönt] … Wo ist das wahrnehmen-

de Gewahrsein? … Und wo ist es wenn der Klang aufhört? … [Klangschale ertönt] –

Habt ihr Antworten aus dieser kurzen Betrachtung?

Teilnehmer: Das ist nicht zu trennen.

Teilnehmer: Ich habe auch wahrgenommen, dass das eins, also nicht zu trennen ist. Aber bei dem Klang ist

eine Vibration dabei, und als der Klang nicht mehr da war, da war etwas, aber die Vibration war nicht mehr, ich hab sie auch körperlich nicht mehr gespürt, aber es war eine Wachheit.

Da war dieses Wahrnehmen von dem Klang der Klangschale, das war das Wahrnehmen. Und dann wird der

Klang immer feiner, immer weniger, und dann ist so etwas Waches geblieben, in deiner Erfahrung?

So etwas Waches, Frisches.

Das heißt, dein Gewahrsein hat in dem Moment Wachheit und Frische wahrgenommen. Die Klangwahr-

nehmung tritt zurück und eine andere Wahrnehmung, in dem Fall Wachheit und Frische, tritt in den Vorder-

grund. Andere haben vielleicht andere Geräusche gehört, oder wieder mehr gesehen oder so.

Teilnehmer: Ich war dann zwischendurch der Klang und hatte da die gleiche Angst: Was ist, wenn dann der Klang aufhört.

Ja, dann bist du nicht mehr, oder?

Da war richtig Trauer da, als der Klang weniger wurde.

Ja und dann, wie hat das Ich sich damit arrangiert?

Das war gar nicht so schlimm.

Nein, das ist wirklich nicht schlimm. Wenn wir voll und ganz erleben, dann entsteht dieses Gefühl – denn so

denken wir, so ticken wir – „Ich bin das Klangerleben.“ Das macht nichts. Das ist ein Konzept, was das

Erleben gar nicht braucht. Das Erleben braucht niemanden, der denkt „Ich bin das Erleben“. Wenn dieses

Erleben vorbei ist, findet das Ich immer eine Lösung, mit dem nächsten Erleben weiterzugehen. Eigentlich

ist es einfach nur Erleben und in dem Erleben steht nirgendwo „Ich“ geschrieben, oder klingt mit. Es geht

auch ohne diese Gedanken. Erleben vollzieht sich einfach. Ihr sagt euch doch auch nicht, während ihr mir zuhört: „Ich muss jetzt zuhören.“ Nein, es hört einfach und es versteht.

Teilnehmer: Wenn ich darauf höre und mir die Frage stelle, „Wo ist jetzt das auseinander zu dividieren, das

Gewahrsein zu erleben und der Klang?“, dann finde ich da überhaupt kein Erleben und Gewahrsein. Es macht nur „Ting…“!

Ja, super, das andere sind alles nur Konzepte.

Teilnehmer: Ich habe nur eine Frage, und zwar haben wir immer so gesagt, dass Erleben immer Entstehen

und Vergehen hat. Aber was ich jetzt so wahrgenommen habe, da war diese Frische und eigentlich nichts, was entstand und verging. Eigentlich ist das auch ein Erleben.

Ja, super. Selbstverständlich ist dieses Frische auch Erleben. Und diese Begriffe – Entstehen und Vergehen –

sind völlig willkürlich. In der Theravada-Tradition gibt es Meditationen, wo man sich mal nur auf das Ent-

stehen konzentriert. Die ganze Welt, alles, was wir erleben, ist plötzlich nur noch Entstehen. Ein ständiger

Prozess des Entstehens. – Man fragt sich wo das Vergehen hingekommen ist. – Dann gibt es eine andere

Meditation, da meditiert man nur ständig das Vergehen, alles hört auf, alles vergeht plötzlich.

Was du jetzt beschreibst, ist, dass es weder entsteht noch vergeht, sondern einfach ist. Es ist frisches Sein,

immer wieder frisch. Man nennt das im Mahamudra „Frische“. Aber verflixt nochmal, es ist weder ent-

stehend noch vergehend, einfach ständiger Prozess, ohne dass man Einheiten wahrnehmen könnte, wo wirk-

lich eine Einheit entsteht und vergeht. In dieser gleitenden Bewegung, die so der Fluss des Wahrnehmens ist,

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kann man da sagen, dass ein Moment der Gleitbewegung entsteht und der andere vergeht? Das ist sehr

künstlich. Denn es gibt keine wirklichen Momente darin.

Genauso, wie ein Fluss nicht im Stakkato den Berg herunter fließt. Der fließt nicht ruckweise, das Fließen

eines Flusses hat keine Momente. Der hält nicht mal inne, um eine Handlung des Fließens abzuschließen,

dann wieder loszufließen, wieder zu stoppen und wieder loszufließen usw. Fließen passiert ohne Unter-

brechung, da gibt es keine Momente zu unterscheiden.

So ist das auch mit unserem Geist, in allem Erleben findet ständiges Erleben statt: weder entstehend noch

vergehend; einfach immer frisch. Es ist nicht, dass etwas entsteht, das sind keine Dinge. Wenn etwas

Konkretes entstehen würde, müsste das konkret auch wieder vergehen. Aber da nichts Konkretes entsteht, ist es einfach nur ein Strömen. Das hast du gerade sehr schön beschrieben.

Das heißt, wenn wir so erleben:

Die beiden – Wahrnehmungen und wahrnehmender Geist – sind weder eins noch verschieden, ...

Wir können nicht sagen, sie sind eins, denn was sollte da eins sein? Wir müssten sie erstmal als getrennt

identifizieren können, damit wir von Eins-Sein sprechen können. Wir können auch nicht sagen, dass sie

verschieden sind, weil wir sie ja eben nicht finden. Sie sind weder eins noch verschieden –

… ohne dass ein Gedanke entsteht „Es gibt sie nicht [als eins oder verschieden]“.

Denn wir beschäftigen uns nicht mehr damit: Gibt es die Wahrnehmung getrennt vom Wahrnehmenden? In

der totalen Präsenz ist einfach „Ting….“, einfach nur das. Da ist kein getrennter Erlebender und eine Wahr-

nehmung, die erlebt wird. Spannend, spannend, wir sind der Nondualität auf der Spur. Merkt ihr das?

Dieser letzte Absatz hat über Wahrnehmungen insgesamt gesprochen. Wir haben zwar

Klangwahrnehmungen als Beispiel genommen, aber Karmapa spricht über alle Wahrnehmungen, dass wir

sie als offen und unbehindert erfahren, ohne dass ein Hier und Dort zu bemerken wäre und ohne dass

Wahrnehmungen und wahrnehmender Geist voneinander getrennt werden könnten.

Auch Körper [d.h. körperliche Erfahrung] und Geist werden weder als eins noch als verschieden

erfahren, sondern sind untrennbar – die Einheit von Klarheit und Leerheit, Erscheinungen und Leer-

heit, wie die Spiegelung des Mondes im Wasser. So sind auch die Empfindungen von Hitze, Kälte und

dergleichen leeres Erscheinen.

Übung: Hören

Ihr habt sicher gerade irgendwelche Körperempfindungen. – Wir untersuchen und beobachten wie vorhin mit

dem Klang. … Körperempfindungen sind auch Erleben; ich glaube, das können wir sagen. –

Wenn wir sie nicht im Geist erleben würden, wären wir nicht bewusst, dass Körperempfindungen da sind.

Körperempfindungen werden im Geist erlebt; im Geist! … Gibt es in diesem Erleben ein von der Wahr-nehmung getrenntes Gewahrsein und demgegenüber eine Wahrnehmung? –

* * *

Auch da ist kein getrenntes Gewahrsein zu finden. Eigentlich können wir sagen, wir merken, dass wir ge-

wahr sind, daran, dass wir erleben. Da ein Erleben stattfindet, sind wir gewahr, und jetzt gerade ist es eben

körperliches Erleben – Erleben körperlicher Sinneserfahrungen.

Es ist der Begriff „Klarheit und Leerheit“ mehrmals erwähnt worden. Wisst ihr, was damit gemeint ist? Könnt ihr es für euch übersetzen, falls so ein Ausdruck vorkommt?

Teilnehmer: Dass man etwas klar wahrnimmt, dass es also klar erscheint, und es sich dann wieder auflöst

sozusagen.

Der erste Teil ist korrekt, der zweite trifft es nicht ganz. Wer mag aushelfen?

Teilnehmer: Obwohl die Dinge klar erscheinen, haben sie trotzdem keine stabile Basis, keine innewohnende Existenz.

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Ja, das ist es. Das würde bedeuten, sie sind nicht Leerheit dann, wenn sie sich auflösen, sondern bereits in

ihrem Erscheinen. In ihrem klaren, deutlichen Erscheinen sind sie bereits nicht fassbar, sind sie bereits ohne Wesenskern. Nicht erst, wenn sie sich auflösen. – Kommt es an?

Ja, aber ein Merkmal der Leerheit ist ja, dass sich die Erscheinungen wieder auflösen.

Jein, ein Merkmal der Leerheit ist, dass sie entsehen.

Ja, und sich wieder auflösen.

Und dass es in Wirklichkeit weder Entstehen noch Auflösen gibt. – Okay? – Dann verstehen wir uns.

Teilnehmer: Wir spüren, haben das Gefühl, da ist eine Wahrnehmung. Wir beobachten und haben dabei die-

ses Gefühl von Zoomen, so eine Suchbewegung, wie vorhin bei dem Klang. Es ist doch dieses Empfinden von

Zoomen, also „Ich fokussiere“ auch bloß ein Erleben, nicht? Da ist ja gar niemand, der zoomt. Das ist ja nur ein Erleben von Bewegung.

Genau. Es wird alles erlebt. Egal, was du jetzt beschreiben würdest, es wäre alles Erleben.

Da ist ja gar kein Ich, dass zoomt oder etwas wahrnimmt, es ist ja nur ein Erleben von...

Ja, das sind so unsere Worte, die wir darüber bilden. Eigentlich ist einfach Interesse da, und wo unser

Interesse ist, dorthin richtet sich das Gewahrsein und die Dinge werden groß. Das ist kein Zoomen, das ist die Natur des Interesses. Da, wo Interesse ist, werden die Dinge groß.

Teilnehmer: Könnte man es so ausdrücken, dass ich durch das Interesse die Bedingungen für dieses Erleben

verstärke?

Durch das Interesse verstärlkst du die Bedingungen für ein präzises Gewahrsein, für ein intensiveres Erleben.

Das Erleben würde sich auflösen, wenn ich das Interesse verliere.

Ja, wenn du das Interesse verlierst, dann verschwindet das aus deinem Erleben.

Es löst sich also die Verbindung zu den Bedingungen auf.

Wenn du z.B. diese Klangschale siehst, so sind die Bedingungen dafür, dass dein Sehbewusstsein aktiviert

ist, die Klangschale in dein Gesichtsfeld kommt und du gerade auch in diese Richtung schaust. Die Bedin-gungen sind nur teilweise von deinem Interesse abhängig. Einiges ist abhängig davon, einiges nicht.

Teilnehmer: Das bedeutet, dass die Wahrnehmung von Schmerz von meinem Interesse abhängig ist? Wenn

ich mich nicht mehr dafür interessiere, löst er sich auf?

Genau, völlig richtig. Erst einmal gibt es das plötzliche Verschwinden eines Schmerzes, wenn die Aufmerk-

samkeit voll wo anders ist. Sobald die Aufmerksamkeit wieder zurückkommt, ist der Schmerz wieder da.

Das ist eine einfache Art und Weise, das zu verstehen. Das heiß nicht, dass die chemischen Prozesse, die den

Schmerz auslösen, zwischendurch weg gewesen wären. Die Entzündungsprozesse usw., all das ist noch da. Aber es bekommt für den Moment nicht die Aufmerksamkeit.

Wenn ich also einen unheilbaren Schmerz habe, dann hilft nur das Desinteresse.

Ja, Desinteresse, die Aufmerksamkeit woanders hinlenken. Aber es gibt tatsächlich auch die Möglichkeit, die

wahre Natur dieses Schmerzerlebens zu erfahren. Darin ist es dann nicht mehr Schmerz – eine Kategorie, die

auf Ablehnung beruht –, sondern es ist Intensität, intensive Vitalität. Es wird anders erlebt. Es gibt also noch

diese dritte Möglichkeit, aber ansonsten ist es angezeigt, die Aufmerksamkeit woanders hinzulenken, sich nicht zu sehr damit zu beschäftigen.

Teilnehmer: Bei der Übung mit der Klangschale und der Frage, wo der Klang ist, war mir klar, dass das

Erleben ist, ohne Raumbezug. Bei der letzten Übung mit dem Körpererleben war es schwieriger, der Frage

nachzugehen, wo das Gefühl ist. Es war Erleben, aber gleichzeitig war ich viel näher beim Ort als bei der Frage nach dem Klang.

Beim Körpererleben ist es tatsächlich so, dass unsere unmittelbare Verknüpfung mit einer physischen Reprä-

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sentation unglaublich stark ist. Ganz stark ist es bei dem Phantomschmerz. Wir haben z.B. das Bein nicht

mehr, erleben aber trotzdem Schmerzen in diesem Bein. Es ist bekannt, dass wir das so lokalisieren, weil da

bestimmte Bereiche im Gehirn aktiv sind, die dann meinen, die Information würde aus dieser Gegend kom-

men. Bei den Körperempfindungen ist ein unwillkürliches Bemühen da, sie zu lokalisieren. Ob wir uns

täuschen oder nicht, weiß niemand; das sei dahingestellt. Das machen wir ähnlich beim Hören; wir meinen

tatsächlich, dass wir z.B. da drüben etwas hören. Aber es findet tatsächlich im Bewusstsein statt, und man

kann es erleben, dass Schmerzempfindungen oder andere Körperempfindungen ohne diese Neigung zur

Lokalisierung einhergehen. Diese Möglichkeit gibt es, es ist aber schwieriger, weil das unglaublich stark

trainiert ist. – Das ist ja auch wichtig zum Überleben. Wir müssen ja sofort wissen, wo die Information eines

Schmerzes herkommt, um den Körper aus der Schmerzzone herausholen zu können. Deswegen ist das so absolut im System verankert.

„Erscheinungen und Leerheit“ bedeutet eigentlich fast dasselbe wie wahrnehmen und zugleich substanzlos

sein. Etwas wird wahrgenommen und zugleich ist es nicht fassbar.

Teilnehmer: Warum haben wir dann überhaupt die Punkte 2, 3 und 4? Man könnte ja einfach bloß sagen, „Alle Phänomene sind Geist“, und bräuchte nicht diese anderen Zeilen.

Du könntest hier einfach lesen: Geist, leer, spontanes Vorhandensein, selbstbefreiend. Du könntest es auch in

einem Satz sagen: Alles ist Geist – leer, spontan erscheinend und selbst befreiend. Ist es das, was dir gerade aufgegangen ist?

Was bringt uns diese Strukturierung in vier Schritten?

Das ermöglicht uns, dass unser Verstand hinterher kommt. Ich glaube, ihr hättet es auch nicht auf Anhieb verstanden, wenn ich euch das nicht so erklärt hätte.

* * *

Auch Körper [d.h. körperliche Erfahrung] und Geist werden weder als eins noch als verschieden erfah-

ren, sondern sind untrennbar – die Einheit von Klarheit und Leerheit, Erscheinungen und Leerheit, wie

die Spiegelung des Mondes im Wasser.

Das ist ein klassisches Beispiel in der indischen Kultur: Ein Vollmond kann bei klarer Nacht auf einer

Wasseroberfläche so wirklich aussehen, dass wir denken, der Mond wäre im Wasser. Dazu gibt es diese be-rühmte Sufi-Geschichte von dem Mann, der den Mond gerettet hat:

Die Geschichte geht ungefähr so: Herodin – ich glaube, der Mann hat so geheißen – war schlafen gegangen,

wachte durstig auf und ging zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Er sah den Mond im Wasser und sagte:

„Mein Gott! Mond, bist du da reingefallen? Ich muss dich da rausholen!“ Herodin nimmt seinen Schöpf-

eimer, um den Mond herauszuholen, aber nach mehreren Versuchen ist er immer noch im Wasser. Aber

plötzlich hat er ihn, der Mond ist genau im Eimer. Herodin zieht den Eimer mit einem Riesenruck hoch,

sodass er auf den Rücken fällt. Seine Augen gehen hoch und er sieht den Mond am Himmel und sagt: „Das

ist ja wunderbar! Da bist du ja wieder! Siehst du, jetzt habe ich endlich auch einmal was Gutes für dich getan.“

Tatsächlich sind unsere geistigen Repräsentationen – das, was wir als Abbilder erleben von dem, was ist – so

täuschend echt, so wie der Mond im Wasser dem Mond am Himmel ähnelt. Sie sind genauso klar, leuchtend

und präzise. Das ist mit diesem Beispiel gemeint.

Ich bin überzeugt, ihr könnt eure Lieblingsmusik im inneren Erleben mit einer Schönheit hören, die unglaub-

lich ist. Ihr konntet eben den Mond im Wasser sehen, als würdet ihr euch mit mir über den Brunnenrand

beugen, nicht? Unsere Träume erscheinen uns so wirklich, dass wir mit den Gliedern zucken, um im Traum

eine Handlung auszuführen. Ich weiß noch, dass ich im Traum immer wieder Torwart-Situationen hatte, wo

der ganze Körper gezuckt hat. Das ging noch Jahre weiter, als ich längst kein Torwart mehr war. So reagiert

der Körper mit, weil es so total wirklich erscheint.

Tatsächlich – und das müssen wir uns klar machen – ist alles, was wir erleben, geistiges Bild, Abbild der

Wirklichkeit. Wir wissen gar nicht so recht, wie die Wirklichkeit ist. Wir denken z.B. im Visuellen, die

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Wirklichkeit wäre so, wie wir sie jetzt mit den Augen wahrnehmen. Den Rest konstruieren wir uns schon

immer dazu. Wir schauen uns z.B. um und sehen entweder die Vorder- oder die Rückseite eines Menschen,

unbewusst sehen wir aber den ganzen Menschen – dabei sieht keiner von uns einen ganzen Menschen. Wir

haben dabei nicht das Gefühl, dass wir halbe Menschen sehen, nicht? Tatsächlich sehen unsere Augen aber nur immer einen Teil. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, wir denken den Rest einfach mit.

Hinter mir ist z.B. diese Zwischenwand, und dahinter denken wir einfach den Raum und die Hausmauer mit.

Wir sehen aber nicht, ob sie wirklich da sind. Wir erleben viel mehr über das Visuelle, als die Lichtpixel auf

unserer Retina uns zeigen. Das machen wir uns nicht klar. Wir sehen z.B. auch Stimmungen. Ihr könnt

sehen, wie sich der Tilmann im Laufe des Vormittags verändert hat. Ihr erlebt vielleicht Stimmungen von

eurem Vordermann, wie er sich gerade zurücklehnt, sich entspannt, wieder anspannt, vielleicht Schmerzen hat. Wir erleben so vieles mit.

Das sind alles innere Bilder, und all das kommt uns total wirklich vor. Es sind aber unsere Extrapolationen

und Hypothesen, die wir ständig mit aufbauen – die ganze Zeit, während wir erleben. Und wir wissen ja, wie

wir uns manchmal täuschen können; dass wir z.B. etwas gesehen haben, dass sich beim Näherkommen als

etwas ganz anderes herausstellt, aber vorhin waren wir noch überzeugt, dass es so war. Wir erleben so vieles,

das sich in unserem Inneren anders darstellt. Und das ist mit diesem Mond im Wasser gemeint, weil er so wirklich erscheint.

Deswegen ist das Wort „Erscheinung“ auch so gut geeignet. Alles erscheint, und tatsächlich sind wir unter-

wegs mit einer riesigen Hypothese aus Millionen Einzel-Hypothesen, wie die Welt wohl ist. – So, wie das da

aussieht, glaube ich, dass das ein Boden ist, auf den ich meinen Fuß setzen kann. Das ist die Hypothese, es

kann aber auch ein völliger Trugschluss sein und ich breche im nächsten Moment durch. Aber alle meine

Informationen, all die Hypothesen über die Wirklichkeit sagen das.

Die Hypothese eines Vogels, der auf diese Fensterfläche zufliegt, ist – wenn der Vogel noch sehr jung ist -

zunächst einmal: Da geht’s durch. Dann landet er an der Scheibe. Dabei lernt er. Das sind Hypothesen,

Annahmen über die Wirklichkeit, und damit sind wir ständig unterwegs, in allen Sinnesbereichen.

Bei mir ist im Moment die Hypothese aktiv, dass ihr versteht, was ich meine; dass ihr unter den Worten das

versteht, was ich sagen wollte. Wenn ich dann nachfrage, wie z.B. vorhin zu Leerheit und Klarheit, dann sind

kleine Unterschiede deutlich wahrnehmbar. So ist das eigentlich die ganze Zeit. Ich kriege so ungefähr etwas

von dem rüber, was ich denke, ganz klar auszudrücken. Ich laufe aber mit der Hypothese durch die Welt, als

könnte ich, weil ich aus diesem inneren Bild, aus dem inneren Erleben spreche, das irgendwie transportieren.

Und ihr denkt, ihr hättet mich verstanden. Wenn wir dann wirklich im Detail vergleichen, was verstanden

wurde, ist es eigentlich nie dasselbe, es ist eine gute Annäherung oder eine entfernte Version, … Und das sind alle diese Hypothesen über die Wirklichkeit, mit denen wir unterwegs sind.

Wenn man in diese intuitive Einsicht eintritt, gehört dazu, dass man sich klar macht: Visuelle Rekonstruktion

dessen, was die Retina als Lichtflecken sieht; akustische Reproduktion dessen, was die Hörnervenzellen im

Innenohr an Erregungen übermittelt bekommen, usw. Innere Organisation der Körperwahrnehmungen nach

dem, wie wir das im Laufe des Lebens trainiert haben. Die und die Erregungen werden so repräsentiert.

Wisst ihr, dass wir mit Bildern von unserem eigenen Körper herumlaufen, die so überhaupt nicht stimmen?

Wenn Menschen gebeten werden, ihren Taillenumfang mit einer Schnur auf dem Boden anzuzeigen, so

stimmt es nie mit ihrem wirklichen Umfang überein. Es wird entweder maßlos zu dick oder maßlos zu dünn,

wir liegen fast nie richtig.

Alles ist räumliche Wahrnehmung, wir laufen mit diesen Wahrnehmungen durch die Gegend und halten sie

für wirklich. Das deutsche Wort „wahrnehmen“ spiegelt die Bedeutung sehr gut, wir nehmen es für wahr.

Die Sprache ist schon Klasse. Eine „Erscheinung“ erscheint uns, taucht auf und wird für wahr genommen.

Darum geht es. So sind alle Körpererfahrungen wie die Spiegelung des Mondes im Wasser.

So sind auch die Empfindungen von Hitze, Kälte und dergleichen leeres Erscheinen.

Falls du das nicht verstehst, bedenke, wie geistiges Benennen zu endlosem Greifen führt und wie das,

was Körper-Geist wahrnehmen und benennen, in Wirklichkeit ohne Basis ist. Richte den Blick und die

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Aufmerksamkeit auf irgendeine auftauchende [visuelle] Erscheinung. Dann entspanne dich etwas.

Zuerst sind die Umrisse des wahrgenommenen Objektes deutlich. Dann möchtest du es überhaupt

nicht mehr betrachten und die Augen werden wie taub. Das wird „Selbstumkehr“ genannt. Wenn du

danach [wieder] ein wenig schaust, kommt es zu einem klaren Erleben der Erscheinung frei von

Greifen. Das nennt man „Umkehr in sich selbst“.

Was Karmapa hier beschreibt, haben wir schon angesprochen. Was wir beim Prozess des Wahrnehmens

machen, ist, dass wir das Wahrgenommene, das Erlebte benennen, ihm eine Zuordnung geben. Mit der Zu-

ordnung, dem Benennen wird es für uns ein Ding. Solange im Wahrnehmen kein Benennen stattfindet, ist es

sehr leicht, das Wahrnehmen als Prozess zu erleben. Wenn im Wahrnehmen ein Benennen stattfindet, dann

sage ich: „Das ist der Peter.“ In dem Moment, wo ich das sage, sehe ich den Peter eigentlich gar nicht mehr,

weil ich eine Idee geformt habe, und ich muss mich richtig anstrengen, um die Veränderungen, die dann

noch stattfinden, auch noch wahrzunehmen. In dem Moment, wo ich sage „Dieses Zwitschern stammt von

einer Amsel.“, höre ich im Grunde genommen auf, hinzuhören, denn ich habe es identifiziert.

So geht das mit ganz vielen Dingen – nicht immer. Dieses Benennen gibt uns eine gewisse Sicherheit – das

ist ja auch wichtig – und mit der Sicherheit hört das Interesse auf, weiter zu wirken. Es kann sich anderem

zuwenden, es ist frei für etwas anderes. Aber das kontinuierliche Wahrnehmen von dem, was ist, findet in

dem Bereich dann nicht mehr weiter statt. Dabei entsteht das Gefühl: „Ich habe wahrgenommen.“ Ich habe

erkannt, denn etwas hat identifiziert. Dieses andere ist in dem Moment zu einem Ding der Wahrnehmung

geworden, und hier ist ein Subjekt der Wahrnehmung entstanden. Subjekt und Objekt sind spürbar in dem

Moment entstanden, wo das Benennen stattfindet. – Ich muss hinzufügen: nicht nur das begriffliche Be-

nennen. Diese Subjekt-Objekt-Trennung findet auch vorbegrifflich statt, aber sie wird sehr deutlich im Pro-zess des Benennens.

Das zeigt, wie wir uns da aus dem prozesshaften Erleben ausklicken. Das sind sehr sinnvolle Prozesse, wenn

es darum geht, die Aufmerksamkeit schnell in bestimmte Bereiche zu lenken, um sich zu orientieren, führt

aber zu der Illusion von einem existierenden Ich, das das alles tut, und vielen, vielen Objekten, die da draußen sind – statt verbunden zu bleiben damit, dass wir es mit einem Prozess des Erlebens zu tun haben.

Wir können diese Körper-Geist-Einheit nicht trennen. Wir wissen nichts von unserem Körper, wenn er nicht

im Geist erlebt wird. Es ist unmöglich, Geist und Körper zu trennen; jetzt, in diesem Leben. Versucht

einmal, irgendetwas im Körper zu spüren, ohne dass der Geist daran beteiligt ist. … Das geht doch nicht. …

Versucht einmal, den Körper wahrzunehmen, ohne dass der Körper beteiligt ist. … Das geht auch nicht. – So einfach kann man sich die Untrennbarkeit von Körper und Geist herleiten.

Was wir da benennen – der Schmerz in der rechten Hüfte z.B. – wird hier bezeichnet als ohne Basis. Das ist

nur ein anderer Ausdruck für „ohne Substanz“. Der Schmerz ist nicht „der Schmerz“, sondern ist das ständig

fluktuierende, sich ständig entwickelnde prozesshafte Erleben von einem intensiven Gefühl in dem, was als

rechte Hüfte lokalisiert wird. Ärzte verzweifeln oft über die Ortsangaben des Schmerzes von Patienten; die

sind oft sehr ungenau. Der Herd des Schmerzes ist oft gar nicht an dem Ort zu finden, wo die Menschen

meinen, dass er wäre. Weil die innere Repräsentation so aussieht, ist der Schmerz eben dort; und es interes-

siert im Normalfall auch niemanden, ob er wirklich dort ist. In der inneren Repräsentation ist er dort. Aber es

ist ohnehin nur Prozess, es ist Erleben und hat keine Basis von etwas konkret Existierendem. Wenn wir

weiter hineinschauen, ist Schmerz Zelldynamik, es sind Prozesse zwischen vielen Zellverbänden und

zwischen verschiedenen Geweben, chemische Prozesse, die dazu führen, dass Depolarisationen von Zell-

membranen stattfinden usw. Es ist alles Prozess. Versucht einmal, den Schmerz zu finden. Es gibt ihn nicht, es ist nur Prozess; immer; bis ins letzte subatomare Teilchen hinein ist alles Bewegung und Prozess.

„Der Schmerz“ ist ein Überbegriff für eine Summe von Phänomenen, die in ihrer Bedingtheit diese Erfah-

rung erzeugen. Er hat keine Basis als wirkliches Ding.

Dann bittet uns Karmapa, diese Übung mit einem visuellen Objekt zu machen: Wir richten uns auf etwas

aus; bleiben dabei entspannt; merken, wie das, was wir da sehen, ermüdet und wollen dann gar nicht mehr

hinschauen. Und dann, wenn wir erneut hinschauen, sehen wir auf eine frische Art, die gar nicht mehr die

Art von vorher ist. Wir machen bei dieser Übung also Erfahrungen mit sich ermüdendem Sehen bis wir die

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Augen schließen wollen und das Objekt verschwindet. Dann schauen wir wieder frisch hin und entdecken

Neues, sodass wir bemerken, dass wir gar nicht ein Objekt sehen, sondern dass Sehen Prozess ist. Prozess,

der mit Anstrengung, mit Interesse zu tun hat, mit Hinschauen und Wegschauenwollen usw. Darum geht es.

– Das brauchen wir jetzt nicht zu machen, das haben wir bereits mehrere Male mit anderen Dingen gemacht.

Diese „Selbstumkehr“, von der hier gesprochen wird, ist, dass nicht das Objekt bewirkt, dass wir aufhören,

es anzuschauen. Es findet aus uns selbst heraus statt, dass wir müde werden, das Interesse verlieren usw.

Dann ziehen wir uns auf uns selbst zurück, und wenn wir wieder hinschauen, dann hat die Umkehr in sich

selbst stattgefunden, und plötzlich ist wieder Interesse da, dann ist es wieder frisches Erleben und man kommt wieder zu etwas Neuem.

Ständiger Prozess, Hinwendung – Abwendung, Hinwendung – Abwendung, Hinwendung zu anderem, Inter-

esse, kein Interesse mehr, usw. Diese Prozesse finden ständig statt und gestalten unser Erleben in allen sechs

Sinnesbereichen. Wenn man das so ausdrückt, dann scheint es ziemlich überwältigend, dass wir das alles in

diesen sechs Sinnesbereichen schaffen. Aber wir haben das alles auf der Reihe, es läuft automatisch ab. Wir

haben das alles gelernt, am Anfang ging es nicht so leicht und automatisch, wir mussten ess lernen; jetzt ist es automatisiert, es klappt von selber.

Jetzt merken wir – das ist der Schritt des Erwachsenen, eine weitere Dimension des Verstehens –, dass wir in

diesen sechs Sinnesbereichen ständig dabei sind, uns unsere Welt zu konstruieren, zu gestalten mithilfe von

Informationen, die wir von außen kriegen, und von Verarbeitungsmechanismen, die wir innerlich aktivieren.

Das nennt man karmisches Gestalten. Da sind wir in dem, was wir das Erzeugen unseres karmischen Abbil-

des der Welt nennen. Je nachdem, welches Karma wir haben, je nachdem, welche Muster in uns aktiv sind

aus unserer Vergangenheit, haben wir so eine Welt oder so eine Welt. Jeder hat seine eigene, individuelle

Welt. Das ist mit Karma gemeint. Jeder hat sein Karma bedeutet, jeder hat seine Welt, und die gestaltet sich aufgrund der eigenen Vorlieben und Abneigungen, Erfahrungen, Muster usw.

* * *

Noch einmal zurück zum letzten Abschnitt, den wir bereits besprochen haben:

Falls du jetzt nicht verstehst – was bisher erklärt wurde –, bedenke, wie geistiges Benennen zu endlosem

Greifen führt. Und wie das, was Körper-Geist wahrnehmen und benennen, in Wirklichkeit ohne Basis ist.

Das dürfte bis hierhin klar sein.

Richte den Blick und die Aufmerksamkeit auf irgendeine auftauchende [visuelle] Erscheinung. Dann

entspanne dich etwas. Zuerst sind die Umrisse des wahrgenommenen Objektes deutlich. Dann möchtest

du es überhaupt nicht mehr betrachten. Die Augen werden wie taub.

Das heißt, der Geist löst sich daraus, er möchte nicht mehr damit befasst sein.

Das wird „Selbstumkehr“ genannt. Wenn du danach [wieder] ein wenig schaust, kommt es zu einem

klaren Erleben der Erscheinung, frei von Greifen. Das nennt man „Umkehr in sich selbst“.

Dabei ist etwas Interessantes. Wir werden das jetzt nicht miteinander üben, denn bis es zu dieser Ermüdung

bei einem visuellen Objekt kommt, muss man lange darauf schauen. Das passiert bei den meisten nicht schon

in den ersten Minuten. Man merkt das erst bei langer Praxis mit einem visuellen Objekt. Und was da so

müde macht und zum Aufgeben des Objektes führt, ist der Anteil an Anstrengung, Wollen in unserem

Schauen, im Blicken. Das macht es, dass das Ganze dann verschwommen wird und man irgendwie gar nicht

mehr wahrnehmen mag und auch irgendwann gar nicht mehr richtig sieht.

Wir habe keine Mühe, den ganzen Tag zu schauen, oder? Das haben wir noch nie gehabt, weil das Interesse

mal hierhin mal dorthin geht. Der Blick wandelt sich. Er bleibt nicht ruhig, stabil auf etwas gerichtet,

sondern ist im Fluss. Es entstehen auch immer wieder Momente von Entspannung, nachdem man fokussiert hat.

Wenn man seine Meditation beginnt, z.B. einen Stein vor sich hinlegt, oder eine Buddha-Statue vor sich

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stellt und einfach den Blick darauf ruhen lässt und schaut, bemerkt man, wie da Anspannung reinkommt –

dafür ist diese Art Meditation total gut. Zu Anfang ist nicht klar, wie man diese Anspannung lösen kann. Das

geht bis zum verzweifelten Augenschließen oder Wegschauen, bis zu: „Jetzt blick ich's überhaupt nicht

mehr!“ Dann schauen wir wieder hin und das frische Hinschauen – da haben wir schon etwas gelernt aus der Anspannung vorher – ist bereits mit weniger Anspannung. Das führt zu einem neuen Sehen.

Und genau das meint Karmapa hier, dass wir mit der Zeit lernen zu sehen, zu hören, überhaupt zu fühlen, auf

eine Art, dass es ohne Anspannung passieren kann. Ein geübter Mahamudra-Praktizierender kann mit dem

Blick auf so einem Objekt bleiben, ohne dabei Müdigkeit in den Augen zu erleben, weil es ein total ent-

spanntes Sehen ist, in dem kein Wollen zu bemerken ist. Da ist kein Identifizieren, Habenwollen, Nicht-

Habenwollen, er ist völlig entspannt. Der Blick sammelt sich auf dem Objekt und der Geist sammelt sich ebenfalls, und da wird keine Spannung aufgebaut.

So lernen wir am Beispiel des visuellen Objektes, wie wir in alle Sinneswahrnehmungen auf diese ent-

spannte Art und Weise hineingehen können, ohne müde zu werden, weil wir gar nicht in die Anspannung

gehen. Und das ist etwas, was es zu lernen gilt. Wie kann ich entspannt wahrnehmen, z.B. entspannt hören?

Auch jetzt: Wie kann ich entspannt so eine ganze Unterweisung hören, ohne in die Überanstrengung rein zu

kommen? Es geht dann noch weiter:

Sinneswahrnehmungen beinhalten ja auch das Denken. Wie kann ich entspannt denken? Denken ist phan-

tastisch. Wie kann ich entspannt an einer Problemlösung arbeiten? Wie kann ich entspannt kreativ sein? Wie

kann ich entspannt Mails beantworten? Wie kann ich entspannt einen Text schreiben? Wie kann ich ent-

spannt lesen? Wir entdecken nach und nach, dass wir all das mit derselben Entspannung machen können,

wenn wir mit stabilen Objekten arbeiten. An denen bemerken wir, was für Prozesse sich da abspielen und

wir lernen, in dieses so einfache Sein hinein zu entspannen.

Hätte doch niemand gedacht, dass auf ein Steinchen schauen – auf eine Blume oder eine Buddha-Statue – so

anstrengend wäre. Was macht es denn so anstrengend? Das sind diese Muster, die ständig in uns ablaufen.

Was wir auch tun, wir tun es mit einem Schuss Wollen und Anstrengung zu viel; mehr als nötig. Wir

schießen mit unserem Wollen immer ein bisschen über das Ziel hinaus, ein bisschen zu viel Anstrengung.

Der Buddha verwendete als Bild für den Mittleren Weg ein Saiteninstrument, dessen Saiten so gespannt sein

sollten, dass sie weder zu straff sind, damit sie nicht reißen, aber auch nicht zu lax, denn dann geben sie keinen Ton mehr. Das war eines von seinen Beispielen für den Mittleren Weg in der Anstrengung.

Und wir sind fast immer auf der Seite von zu viel Anstrengung, ganz wenige unter uns sind auf der wirklich

laxen Seite. Eigentlich kann man unseren Weg so beschreiben: Wir gehen den Weg der minimalen Anstren-

gung. Was ist eigentlich minimal? Wie viel braucht es eigentlich wirklich? Wie viel Anstrengung braucht es

beim Sehen, wie viel Anstrengung braucht es jetzt beim Hören und Verstehen? Wie viel Anstrengung

braucht es denn nun wirklich beim Denken? Wie viel Anstrengung braucht es denn nun wirklich beim

Beantworten von Mails usw.? Wir sind dabei, immer mehr Anstrengung raus zu nehmen und merken: „Oh,

geht ja sogar besser als vorher.“ Es geht nicht etwa schlechter sondern sogar besser. Und diese Art und

Weise, die überflüssige Anstrengung rauszunehmen, geht weiter, die zieht sich durch unser Leben hindurch

und beschreibt mit anderen Worten die ganze Mahāmudrā-Reise. Und auch diese Ich-und-Du-Anstrengung,

diese Subjekt-Objekt-Anstrengung ist eine überflüssige Form der Anstrengung. Die brauchen wir gar nicht, sie kann wegfallen.

Wie man so schön sagt, bei uns im Schwarzwald: Das ist überflüssig wie ein Kropf. Das sind so die Aus-

wüchse der Ich-Bezogenheit, dass wir aus dem Hoffen und Befürchten heraus immer einen Tick

Anstrengung zu viel machen. Manchmal ist dieser Tick ganz schön intensiv. Darum geht es eigentlich. Und darüber spricht Karmapa hier, und dann kommt es zu einer Umkehr.

Im weitesten Sinne ist das die Umkehr von diesem ganzen Wollen: Von einem Sehenwollen, Hörenwollen,

Denkenwollen hin zu einem Sehenlassen, Hörenlassen, Denkenlassen. Die Prozesse vollziehen sich von

selbst, auf spontane Weise. Wir brauchen ja gar nichts zu tun, um zu verstehen. Das bringt ja nichts, wenn

ich so dasitze, und versuche zu verstehen.

Darum geht es. Ich möchte euch ermuntern, diese Übungen ernsthaft zu praktizieren, wie sie im „Ozean des

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Wahren Sinnes“ stehen. Fangt mit einem äußeren visuellen Objekt an und übt das mal längere Zeit, bis ihr

völlig entspannt den Blick auf jedes visuelle Objekt fallen lassen könnt, ohne in ein Reagieren zu kommen.

Ohne Habenwollen, Nicht-Habenwollen, Interaktion usw., ohne Greifen, Beschreiben, Fixieren. Übt so lan-

ge, bis ihr so ganz entspannt in einer panoramischen Weite präzise gesammelt sein könnt. Darum geht es.

Dabei wird deutlich wie wir selbst [der vermeintlich Beobachter] und die Erscheinung – die Wahrneh-mung – untrennbar sind, ...

Wir brauchen nämlich gar nicht etwas anzuschauen. Schauen findet statt und kümmert sich überhaupt nicht

darum, ob da ein Ich, ein Subjekt ein Objekt anschaut. Es findet einfach statt. Es gibt gar kein Subjekt, das

ein Objekt anschaut. Sehen findet statt. Auch jetzt gerade, wenn ihr auf euren Text schaut, Sehen findet einfach statt.

Subjekt und Objekt sind untrennbar, … erscheinend und leer, ohne dass es ein [getrenntes] Objekt [der

Wahrnehmung] geben würde. Dies sind die „Eigenerscheinungen der Wirklichkeit“, oder das „eigent-

liche Merkmal des Geistes“.

Das eigentliche Merkmal alles geistigen Erlebens ist, dass im Erleben keinerlei Trennung zu finden ist. Es ist

die Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt nicht zu finden, aber es gibt auch nicht auf der einen Seite das

Erscheinen und auf der anderen Seite die Leerheit. Egal, ob es sich um die äußeren Sinne handelt – Sehen,

Hören, Riechen, Schmecken, Spüren – oder um inneres Wahrnehmen – Denken, Fühlen, geistige Bewegung

–, alle Formen des Erlebens haben das Merkmal, dass sie geeintes Erleben sind; geeint im Sinne von ohne

Trennung; ohne zu unterscheiden in hier das eine und dort das andere. Ihr kennt das vielleicht aus Momenten

des besonderen Genusses. Wenn ihr Musikgenießer seid, dann wisst ihr, dass beim Musikhören der Musik-

genuss geschmälert ist, solange ihr noch die Distanz aufrechterhaltet. Da fehlt noch was. Je mehr wir uns ins

Hörerlebnis hineinfallen lassen können, desto kompletter wird das Erleben. Wenn ihr beim Jogging neben

euch her läuft und noch irgendwie getrennt seid von der Bewegung oder beim Tanzen und so weiter, dann merkt ihr, dass etwas nicht ganz stimmt.

Das eigentliche Erleben, wenn wir die Distanz aufgeben, ist ein geeintes Erleben. Das ist das fließende Er-

leben. Der Rest ist so, dass da zwar die Bewegung oder das Hören stattfindet, aber immer wieder tauchen

Gedanken auf, wie: „Wie ist denn das?“, „Machst du's gut?“, „Machst du's richtig?“, „Ist das schön?“, „Ist

das nicht schön?“ – Immer wieder entstehen Gedanken in uns, geistige Bewegungen, die neben dem Erleben

noch so etwas wie eine künstliche zweite Präsenz erzeugen. Das ist auch Erleben, aber es erzeugt eine Span-

nung im Erleben, die gar nicht notwendig ist. Und das ist erschöpfend; das wird subjektiv von jedem von uns

als anstrengend empfunden. Wir erschöpfen uns, weil ständig die Kontrollfunktion aktiviert wird, die bewer-

tende Funktion. In der Psychotherapie nennen wir das die Richter-Funktion, oder manche nennen es das

Über-Ich, die Eltern-Funktion. Da sind immer dieses Beobachten und die Dualität. In den zwischenmensch-

lichen Beziehungen gehen wir sehr stark in Ich und Du, statt im Wir zu sein, im Erleben des Verbunden-Seins. Und das ist Stress.

All das, was ich jetzt beschreibe, sind die Mechanismen von Samsara. Das ist es, wo dukkha entsteht; immer

aus dieser Trennung heraus. Und wenn wir das untersuchen, merken wir, dass diese Trennung nicht im Er-leben selbst enthalten ist. Das Erleben ist ein geeintes, ein einfaches Erleben.

Das nennt Karmapa die Eigenerscheinung der Wirklichkeit oder das eigentliche Merkmal des Geistes.

So sind äußere Erscheinungen und innerer Geist nicht verschieden, sondern das ununterbrochene

Aufleuchten der Eigenstrahlkraft des Geistes.

Dieser Begriff der Eigenstrahlkraft des Geistes geht zurück auf Buddha Shakyamuni. Er findet sich in den

Pali-Texten – Anguttara Nikaya – und hat so manchem Pali-Kenner schon Kopfzerbrechen bereitet. Aber in

den Mahayana-Lehren hat diese Eigenstrahlkraft des Geistes sehr große Bedeutung. Der Buddha sprach vom

Selbstleuchten des Geistes; auch schon in den allerersten Lehrreden ist das so aufgezeichnet. Und damit ist einfach das gemeint, was wir Erscheinen nennen.

Damit wird ausgedrückt, dass unser Geist klar wahrnimmt. Ihr nehmt jetzt z.B. ganz klar und präzise wahr,

und dieses Klare wird mit Licht verglichen. Es ist nicht, dass im Geist Licht wäre, sondern dass alles ganz

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deutlich ist. Wir sagen ja im Deutschen „mir ist ein Licht aufgegangen“, wenn wir etwas verstanden haben.

Diese Art Licht ist hier gemeint. Es ist die Fähigkeit des Geistes, alles zu verstehen; gewahr zu sein. Das

nennt man die Eigenstrahlkraft des Geistes. Die Fähigkeit zu sehen, zu hören, zu spüren, zu denken, zu sein,

zu leben, das ist die Eigenstrahlkraft des Geistes. Alles Erleben ist also Ausdruck dieser natürlichen Gewahr-seinskraft, die man auch Eigenstrahlkraft nennen kann.

Und so wird hier von dem ununterbrochenen Aufleuchten der Eigenstrahlkraft des Geistes gesprochen. Das

ist das, was wir jetzt gerade erleben, jetzt gerade. Ist ja wunderbar; das also, was wir jetzt gerade sehen und

bemerken, ist das ununterbrochene Aufleuchten der Eigenstrahlkraft eines jeden Geistesstromes hier im

Raum. Das ist eine etwas poetische Ausdrucksweise, um zu sagen, dass in jedem von uns jetzt gerade die

Kraft des Gewahrseins aktiv ist, wahrzunehmen – klar und deutlich, unterscheidend, verstehend, mit-

schwingend, … wahrzunehmen. Und das vollzieht sich von selbst, das braucht kein Ich. Das ist die Botschaft hier. Das ist untrennbares Erleben; das braucht kein Ich.

Diese Eigenstrahlkraft, die Klarheit des Geistes, diese Fähigkeit, unverhüllt wahrzunehmen und zu erkennen,

nimmt ab, je mehr Anspannung im Geist ist. Wir können dann gar nicht mehr klar denken. Wenn das Ich so

richtig verstehen will, dann steht es auf dem Schlauch. Es steht auf der Leitung.

Wollen, Anspannung führt in den meisten Fällen dazu, dass wir weniger klar wahrnehmen, weniger präsent

sind. Es kann zwischendurch auch die Wirkung haben, dass wir uns präsenter fühlen, führt aber schnell zur

Erschöpfung. Manchmal hat Wollen eine etwas aufputschende Wirkung. Deswegen setzen wir es auch ein; wir haben das Gefühl, dass wir dann noch mehr präsent sind – aber nur kurzfristig.

Wenn wir wirklich etwas tun wollen, um bewusster zu sein, dann empfiehlt es sich, nicht mit dem Willen zu

gehen, sondern mit der Freude. Es geht um die Freude gewahr zu sein; um die Freude zu hören, zu sehen,

den Körper zu spüren. Es ist gut, mit der Freude zu gehen. Die Freude am Gewahrsein selber, letzten Endes

die Freude am Leben, die Freude zu erleben erhöht unsere Präsenz. Freude ist der Faktor, der wirklich lang-

fristig ohne Komplikationen, ohne Nebenwirkungen unsere Eigenstrahlkraft noch deutlicher werden lässt,

dem Geist den Raum gibt, sich ganz zu zeigen. Wir treten quasi zurück und freuen uns an den natürlichen

Fähigkeiten des Geistes. Da kommen sie wirklich zum Vorschein.

Sich zu freuen, ist ein richtiges Heilmittel – sich freuen statt zu wollen. Sich an jedem kleinen Schrittchen zu

freuen, an jedem kleinen bisschen Aufmerksamkeit, an jedem Moment der Präsenz, das wirkt öffnend. Und

das weiß auch jeder gute Pädagoge, jede Pädagogin weiß: Da geht es lang, genauso.

Und das wusste der Buddha, und er hat unter den sieben Gliedern des Erwachens piti, die Freude, ins

Zentrum gesetzt. Piti ist das vierte Glied. Freude ist das wichtigste Bindeglied unter den Gliedern des Er-

wachens, die in die meditative Versenkung führen, was dann schließlich zu einer Stabilität unseres Gewahr-

seins führt. Die Freude an der sich einstellenden Geistesöffnung, an der Entspannung, am gewahren Sein, ist

genau das, was dann alles Weitere bewirkt. Im Anapanasati Sutta, dem Entwickeln von Gewahrsein mit dem

Atem, sind das bewusste Zulassen von Freude und Glück drei von den sechzehn Schritten. So wichtig ist das; absolut zentral.

Der ganze tantrische Buddhismus baut auf Freude auf: Freude am Sein, Freude an den Sinneswahrnehmun-

gen, Freude am Kontakt, Freude am In-der-Welt-Sein, Freude am Aktivsein, Freude am Stillsein, Freude am

Sein, Freude zu sein – ohne dass es diese duale Freude bleibt, dass ich mich über etwas freue. Es ist dann ein

Aufgehen in der Freude. Und das ist total lebensbejahend; da kommen alle Qualitäten zum Vorschein. Da

wächst dieser Lebensstrom, dieser Geistesstrom – wenn ich das mal so sagen darf – über uns selbst hinaus. Das Ich tritt zurück und in der Freude übernehmen andere Kräfte die Führung.

All das ist von A bis Z Freude am lebendigen Erleben. Auch in der Trauer ist es die Eigenstrahlkraft des

Geistes. Es ist nicht so, dass da keine Trauer zugelassen wäre, aber selbst in der Trauer, selbst in der Ver-

zweiflung ist spürbar, wie lebendig wir sind. Diese Freude, von der ich spreche, ist keine Freude, die ent-

steht, weil wir Angenehmes erfahren, sondern weil wir so lebendig sind. Das ist die Freude am lebendigen

Erleben; nicht eine aufgesetzte Freude, weil es gerade tolles Wetter hat. Schaut, wie toll es ist, dass es jetzt

regnet – es ist alles so lebendig. Diese Lebendigkeit ist gemeint – auch in der Trauer, im Verlusterlebnis, was

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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auch immer gerade unser Erleben ist. Im Kranksein ist so eine Lebendigkeit. … Davon ist hier die Rede. Die

Eigenstrahlkraft des Geistes ist die Basis des freudigen Erlebens; das Lebendigsein.

Erscheinungen als Objekte zu ergreifen führt zudem zu der Täuschung, es gäbe ein ergreifendes

Bewusstsein.

Ja, das ist immer so. Dieses ergreifende Bewusstsein nennen wir manchmal Beobachter. Manchmal nennen

wir es Ich; das Ich, das alles ergreift. Manchmal nennen wir es Selbst. Und es ist Teil unseres Meditations-

Trainings, zu untersuchen, wo denn dieses Ich, dieses Selbst, dieser Beobachter ist. Wo geht er denn hin

nach dem Beobachten? Wo ist er denn zu finden? – Er ist nirgendwo zu finden; nirgendwo! Er ist auch nur

eine kurz auftauchende Bewegung im Geist, eine Gedankenblase; und schon wieder fort.

Wenn es zu dieser Täuschung kommt, es gäbe Objekte und ein ergreifendes, wahrnehmendes Bewusstsein, dann hängt diese Täuschung allen Sinneswahrnehmungen an.

In dem Fall lösen sie sich nie voneinander [die Täuschung und das Bewusstsein] und der Geist er-

scheint [sieht sich] unter dem Einfluss seiner eigenen Täuschung.

Wir denken dann bei allem Wahrnehmen, „ich“ würde wahrnehmen. Das ist hier gemeint. Das kennen wir

doch. Diese grundlegende Täuschung begleitet dann alles Erleben, alles Wahrnehmen. Wir können uns aber freimachen davon.

Eigentlich gibt es nur geistige Erscheinungen. – Erscheinungen im Geist. – Andere Erscheinungen –

äußere Erscheinungen oder Objekte – gibt es nicht im Geringsten. Verschleiert durch mangelndes Ge-

wahrsein und geistiges Greifen hast du dies vorher nicht gesehen. Aber jetzt, wo der Strom des er-

greifenden Denkens – all dieser Bewegungen im Geist, die zusätzlich noch ergreifen – unterbrochen ist,

erkennst du die Eigennatur [des Geistes] als ohne Objekte.

Es gibt ja gar keine Objekte. Wo sind sie denn hin, die Sinnesobjekte? Da ist nur dieser Strom des Erlebens,

in dem Objekte sich nicht von einem Subjekt trennen lassen. – Ich denke, ihr überprüft das ständig. Während

ich spreche, seid ihr ständig dabei, immer mal wieder zu überprüfen und zu schauen: Wie ist denn das?

Wenn wir uns vorstellen, wie der Dharma-Weg aussehen könnte, dann nehmen wir das Fließen, den Strom

als Beispiel – Gewahrseins-Strom, Geistes-Strom. In unserer dualistischen Weltsicht sieht das dann so aus,

dass wir lernen, gut zu schwimmen im Strom; das heißt, wir treiben mit dem Strom, gut um die Hindernisse

herum. Aber darum geht es nicht. Diese Person da, die lernt, im Fluss mit der Strömung eins zu werden,

muss sich ganz auflösen; eins werden, verschwinden; da ist kein Jemand, kein Etwas, das den Strom des

Lebens hinunter treibt. Wir sind der Strom, wir sind ganz und gar der Strom. Wenn wir beim Bild des

Stromes bleiben, dann sind wir jedes Tröpfchen. – Allerdings gibt es keine Tröpfchen. Habt ihr schon mal

gemerkt, dass es in einem Strom gar keine Tröpfchen gibt? Es hängt alle zusammen. Manchmal spritzt es,

aber es gibt keine Einheit von einem Tropfen. Wenn wir uns schon visuell vorstellen, wie es ist, ein Strom zu

sein, dann sind wir alles Erleben und es gibt da auch keine Ufer. Merkt ihr was? Es gibt in diesem Strömen

keine Ufer, es gibt kein Flussbett und es gibt keinen Himmel oben drüber. All unser Erleben, alle unsere

Sinne, all das nennen wir den Strom. Überall fließt es und nirgendwo ist jemand zu finden, der darin noch

herumpaddelt. Entsteht eine Ahnung bei euch, was ich meine? Wir nennen das in der Dharma-Sprache „ohne

Mittelpunkt und ohne Begrenzungen“. Das ist es, worum es jetzt gerade geht. Es ist ein Strömen ohne Mittel-

punkt und ohne Grenzen.

Erscheinungen, die nicht festgehalten werden, sind offenkundig leer, klar und frei von Objektbezug.

Sie sind also nicht fassbar, ohne Wesenskern, deutlich erlebbar und es gibt darin kein Subjekt und Objekt.

Sie werden „zugleich entstandene Erscheinungen“, „Lichtstrahlen des Dharmakaya“ genannt.

Dieses gleichzeitige Entstehen oder zugleich Entstehen – Tibetisch lhän-tschig-kyépa – haben wir schon be-

sprochen. Eine Bedeutung davon ist: was auch immer für eine Verwirrung gerade entsteht, zugleich damit ist

immer die Natur des Geistes da. Samsara und Nirvāna sind in dem Sinne zugleich entstanden, zugleich ent-

stehend. Eine andere Bedeutung ist, dass Gewahrsein und leerer, nicht-fassbarer Aspekt des Erlebens immer

zugleich entstehen; dass Freude und Leerheit immer zugleich entstehen, Klarheit und Leerheit immer zu-

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gleich. Sie sind untrennbare Aspekte des Seins. Was auch immer für Verwirrung da ist, es ist immer auch

begleitet von seinem erwachten Aspekt. Das hängt davon ab, auf welche Seite wir schauen, welche Seite erfahrbar wird. Das ist alles gleichzeitig da, das ist das gleichzeitige Entstehen.

Dieses Erleben wird als „Lichtstrahlen des Dharmakaya“ bezeichnet. – Der Dharmakaya ist das völlig freie

Gewahrsein der Erwachten, non-dual, ohne Mittelpunkt, offen wie der Raum, und die Lichtstrahlen dieses

Raumes wären dann die verschiedenen Aspekte unseres Erlebens, die hell und deutlich erfahrbar werden. Das sind einfach nur poetische Arten und Weisen, das auszudrücken.

Halte nun [dieses Erkennen] ungekünstelt aufrecht. Lasse den Wahrnehmungen der sechs Sinne freien

Lauf und bleibe mit deiner Praxis bei den Erscheinungen – in den Erscheinungen. Lasse in diesem

Zustand das geschmeidige, fließende Bewusstsein ungekünstelt, wie es ist. Erzeuge nicht absichtlich

besonders freudige, klare, leere oder gute Erfahrungen, sondern hänge einfach – wie es in den sechs

Dharmas von Tilopa heißt – nicht der Vergangenheit nach, denke nicht an die Zukunft und denke nicht

über die Gegenwart nach. Meditiere nicht auf etwas mit dem Verstand Fabriziertes, lasse dich nicht

auf Analysen ein, wie „ist“ und „ist nicht“. Belasse den Geist in seiner eigenen Natur, völlig gelöst,

entspannt und frisch, ohne dich anzustrengen und ohne dich um ihn zu kümmern. Belasse ihn in der

Dimension der Untrennbarkeit von Erscheinen und Leerheit, Klang und Leerheit, Freude und Leer-

heit, Gewahrsein und Leerheit, Klarheit und Leerheit.

Das war ein langer Satz. Das praktizieren wir jetzt.

Teilnehmer: Ohne Anstrengung.

Genau, ungekünstelt, ohne irgendetwas am Erleben verändern zu wollen. Was meint ihr? Wenn ihr in euch

hinein fühlt, in welcher Körperhaltung könnt ihr jetzt gerade am ehesten ungekünstelt sein? – Sitzt ihr gut,

oder würdet ihr besser liegen? Würdet ihr euch besser anlehnen? Was braucht es denn? Nehmt diese Haltung ein, die es jetzt braucht. – Wenn du einen Stuhl brauchst, nimm dir einen Stuhl.

Stabiler Rücken.

Stabiler Rücken ist gut. Ich habe jetzt einen stabilen Rücken, deshalb kann ich so sitzen. Liegen geht auch,

natürlich, klar. Alle Körperhaltungen sind zum Meditieren geeignet; alle, ohne Ausnahme. Es wäre ja ge-

lacht, wenn das Gewahrsein von der Körperhaltung abhängen würde. Ihr könnt euch auch irgendwo eine

Wand aussuchen und euch anlehnen, wenn ihr das braucht. Fühlt euch frei.

Meditation

Während wir beginnen zu meditieren, werde ich ein paar Worte aus diesem Absatz wiederholen, um euch

daran zu erinnern. – Aber eigentlich gibt es gar nichts zuzuhören, ihr könnt auch einfach abschalten. –

Wo auch immer der Geist hingehen möchte: einfach geschehen lassen. Geschehen lassen, ohne zu greifen. –

Genießt die völlige Freiheit! Keine Kontrolle. –

Wenn ihr irgendwo ein Greifen, ein Anhaften bemerkt, gebt dem Geist noch mehr Freiheit. … Es braucht

jetzt gar nichts mehr; es braucht kein Tun. –

Geschmeidig fließendes Bewusstsein; fließend in den sechs Bereichen der Sinneswahrnehmung. ... Mal

hören, mal sehen, mal spüren. … Und manchmal ruht das Gewahrsein einfach in sich selbst. –

Vergangenes, Zukünftiges, Gegenwärtiges brauchen keinerlei Kommentar, keinerlei Beschäftigung. –

Falls wir müde werden oder sind, lassen wir auch das einfach zu und erforschen es, das heißt wir bleiben

gewahr, wie es sich anfühlt müde zu sein. Falls wir gerade wach sind: Wie ist es eigentlich, wach zu sein?

Wir versuchen nicht zu meditieren, irgendwelchen Vorstellungen zu genügen. –

Wir überlassen den Geist sich selbst. –

Achten wir drauf, uns nicht unter Selbst-Hypnose zu setzen sodern weiterhin geschmeidig im Fluss zu

bleiben. –

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Erfahrungen der Teilnehmer

Wie ist es euch bei der Praxis ergangen?

Teilnehmer: Ich bin eingeschlafen.

Das hast du auch nötig. Das ist ganz verständlich, wenn das alles mal zur Ruhe kommt, … nicht? Wie war

das, war es okay? Ja? War innerlich noch was da, oder bist du ganz weggegangen?

Da war ein Widerstand.

Ja, und da hätte ich mir gewünscht, dass du es ruhig ganz zulässt. Es gibt die Möglichkeit so wegzunicken,

einzuschlafen, innerlich bleibt aber ein kleiner Faden Achtsamkeit, Gewahrsein da, der dich begleitet. Nor-

malerweise schläft man nicht ganz so tief ein, wenn man in Gemeinschaft während einer Meditationssitzung

einschläft. Da bleibt noch so ein bisschen was. Und das ist interessant. Da merkt man, dass tiefe Müdigkeit,

Schläfrigkeit, Dumpfheit ein ganz waches Erleben ist; eigentlich. Das könnt ihr in so einer Situation ruhig

zulassen.

Ich habe gemerkt, dass ich eingeschlafen bin.

Du hast das gemerkt. Das ist ja erstaunlich, normalerweise merkt man das ja nicht.

Das war der Widerstand.

Das ist der Widerstand? Ich habe nur gesehen, dass du dich zwischendurch wieder aufgerichtet hast. Da habe

ich gedacht: „Schade!“ Du hättest ruhig bleiben können. Das Typische ist, dass man dabei merkt: „Oh, es

wird immer schwerer.“ Dann schaut man: „Wie ist es eigentlich jetzt, so müde zu werden und so den Kopf

sinken zu lassen?“ Irgendwann geht es nicht mehr weiter, manchmal landet man auf dem Tischchen, und

dann: bleiben, bleiben, bleiben. Man kriegt das ja innerlich mit; es ist, als würde man schlafen, und irgend-

wann merkt man: „Jetzt ist das Dumpfe vorbei.“ Und dann richtet sich das allmählich wieder auf. Wenn man dann die Augen aufmacht, ist eine Frische da, man ist so erholt.

Das ist eine gute, eine wichtige Erfahrung. Wir können dann nämlich auch lernen, es so zu machen, während

wir hier sitzen und offene Sinne haben. Wir brauchen nicht unbedingt weg zu gehen. Wir können uns so in

das jetzt wache Sein hinein entspannen, dass wir danach ebenfalls diese Erfrischung erfahren. Das ist auch

möglich. Es braucht nicht unbedingt das Wegnicken; aber es ist gut, das zuzulassen und dabei diesen Faden

des Gewahrseins zu behalten. Das ist Teil der Meditationspraxis. Das ist einfach eines der sogenannten Geis-

tesgifte, das wir jetzt mal total annehmen – diese Dumpfheit, Trägheit, Schläfrigkeit – und mit Gewahrsein

durchdringen. Dafür müssen wir es ganz leben und ganz annehmen, ganz reingehen.

Teilnehmer: Ja, ich hab das ein bisschen so gemacht; eine ungewöhnliche Art zu meditieren. Ich bin allen

diesen Impulsen nicht gefolgt, wie: „Oh, wirst du jetzt müde? Richte dich mal ein bisschen auf!“ Dabei habe

ich so gemerkt: „Du hängst hier wie ein Sack, na und?“ Es war sehr gut, es von dir immer zu hören und

habe mich eingeladen gefühlt, nichts gegen irgendetwas zu unternehmen. Ich dachte: „Wenn er das sagt,

machst du es jetzt einfach mal.“ Ich bin ins Vertrauen mit dir gegangen, aber ich war nicht wirklich sicher,

ob es klappen würde. Und ich habe genau gemerkt, wie es sich auf einmal voll drehte, dass sich der Körper von allein aufrichtete und auf einmal Lust an der Frische da war.

Ja, das ist es, was ich meine. Diese Lust an der Frische, die da kommt; genau das habe ich eben gemeint. Wir

entspannen einfach alles durch, egal welcher Geisteszustand gerade da ist. Egal welche Spannung, welches

emotionale Ding, wir nehmen es an, wir gehen hinein. Wir nähren es nicht weiter, aber sind es und erleben es

und es wird alles wie durchentspannt. Das hast du jetzt gerade erlebt, das ist toll. – War ja gar nicht so

schwierig, oder?

Nein, unglaublich war das eigentlich, wie eine Offenbarung.

Ja, das ist wie eine Offenbarung, genau.

Ich habe noch nie erlebt, dass sich so eine Müdigkeit tatsächlich auflösen kann, weil ich immer dagegen gegangen bin.

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Ja eben! Die Müdigkeit braucht so lange, um sich aufzulösen, weil wir dagegen angehen.

Teilnehmer: Mich hat es angesprochen, als du gesagt hast: „Achten wir darauf, uns nicht unter Selbsthyp-

nose zu setzen, sondern im Fluss zu bleiben.“ Es ist wie eine Gratwanderung, dass der Geist nicht einfach nur ins Hypnotische im Sinne von „nicht gewahr“ gleitet. Wo ist da die Grenze?

Na ja, dieser Text hat uns eingeladen ganz zu entspannen, nichts zu kontrollieren, nicht zu meditieren und da

war zunächst Entspannung im Raum. Wir finden in ein wirklich entspanntes offenes Sein, und dann beginnt

etwas, wo wir uns innerlich sagen: „Wow, das muss es ja wohl sein!“ Da beginnt die Selbsthypnose, indem

wir das, was dann ist, zu stabilisieren versuchen. Obwohl wir so geschmeidig begonnen haben, bewegen wir

uns irgendwann nicht mehr mit dem Körper, wir erlauben keine Augenbewegung mehr. Irgendwann denken

wir: „Ach, es ist dann doch besser, den Geist sich nicht zu sehr bewegen zu lassen.“ Obwohl wir genau damit

angefangen haben, ihm alle Freiheit zu geben, tun wir das plötzlich nicht mehr. Das ist Selbsthypnose.

Eben eine gewisse Starrheit.

Ja, das ist eine Fixierung.

Kann denn in so einer Fixierung trotzdem Klarheit da sein?

Naja, ein bisschen weniger als ohne Fixierung. Klarheit kann da sein. Es kann so klar sein, dass wir die

Selbsthypnose gar nicht bemerken; das nennt man dann manchmal Samadhi. Diese Art von geistiger Stabili-

tät ist nicht ein wirklich offener Samadhi, darin ist ein Bewahren. Worum es hier geht, ist, nichts zu bewah-

ren, sondern zu öffnen, zu lockern, zu lösen, nicht zu kontrollieren. Das ist eine ganz spezielle Form von

Samadhi, die dann da eintreten kann. Vielleicht hat jemand von euch eine spezielle Form der Geistesruhe

und Präsenz erlebt. Es würde mich sehr interessieren, ob bei jemandem von euch eine Entdeckung von einer neuen Art von ruhiger Präsenz passiert ist.

Teilnehmer: Ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort jetzt darauf ist, aber ich wollte gern etwas erzählen,

oder nachfragen. Was mich schon länger beschäftigt, ist, dass es einerseits geistige Bewegungen gibt, die mit

der Sinneswahrnehmung zu tun haben, wenn ich z.B. mit geöffneten Augen übe und sich daraus ein Gedanke

ergibt. Was mich meist mehr hindert, sind andere Gedanken, die kommen. Was ich heute dann so entdeckt

habe, war, dass da plötzlich so etwas wie ein Bild auftaucht, was eigentlich völlig unreal ist. Das lässt man eben auch alles einfach.

Hm, lassen … und hast du das Bild auch zugelassen?

Ja, ich habe mich sogar kurz gefreut, das war kein echter starker Kommentar, aber doch darauf bezug-nehmend, und dann immer wieder zurück…

Zurück wohin?

Ich war nicht wirklich ganz weg von der Aufmerksamkeit, die ich mir gewählt hatte…

Du hattest dir eine Aufmerksamkeit gewählt?

Ja, aber ich bin hin und her geschwankt, weil ich gemerkt habe, dass es für mich ruhiger ist, wenn ich den

Atem spüre…

Hm, du hast also versucht zu meditieren. Das war eigentlich nicht im Sinne des Erfinders, dass du jetzt meditierst, mit Atem und visuellem Objekt und allem Drum und Dran.

Stimmt, ja, hab ich gemacht.

[Lachen]

Teilnehmer: Alles erlaubt.

Alles erlaubt, aber sie hat ihrem Geist nicht freie Bahn gelassen. Sie hat dann immer wieder versucht, ihn

zurückzuholen. – Ist ja toll, aber es ging tatsächlich jetzt einmal darum, ohne Meditationsobjekt, ohne Ausrichtung auf den Atem oder sonst etwas zu praktizieren.

Aber in den letzten Jahren haben wir es so gemacht, zu schauen: was kommt dann, wo geht der Fokus hin,

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wie funktioniert man? Das hab ich aus dem letzten Jahr mitgenommen, und dass – wenn ich versuche es so

entspannt zu lassen, – dann durchaus erkennen kann, dass bei diesen Millionen Sachen irgendwo ja doch ein

Fokus kommt. Das hat ja auch mit dem eigenen schon konstruierten Geist zu tun, den man sich angewöhnt

hat.

Ja, genau. Jetzt war die Instruktion tatsächlich einfach: Lass den Geist frei in allen sechs Bereichen. Wenn du

einen Fokus merkst, entspanne, löse ihn wieder. Aber das macht ja nichts. Gut, ihr habt das vom letzten Jahr mitgenommen, aber es geht jetzt ein Stückchen weiter.

Also einfach gar nicht einhaken sondern lassen.

Wenn wir so meditieren, wie der Karmapa es hier beschreibt, dann entsteht ein ganz neues Verhältnis zum

Denken. Habt ihr da irgendetwas bemerkt? Hat sich euer Verhältnis zum Denken, zu den Sinneswahrneh-mungen irgendwie anders angefühlt als sonst?

Teilnehmer: Ich bin einfach so da gesessen und hatte das Gesichtsfeld vor mir. Ich dachte, ich muss mich

jetzt auf gar nichts konzentrieren, ich kann es einfach so sein lassen. Und dann habe ich gesehen, wie ein

Moment nach dem anderen kommt und habe mich gefreut daran. Es ist nicht so ein Denken daraus entstan-den, sondern ich war froh, dass ich nichts tun muss und bin einfach so gesessen und war freudig.

Hm, so einfach, gell?

Was da passiert, ist, dass es uns völlig schnurz piep egal wird, ob wir denken oder nicht. Völlig egal. Das

geht einfach durch. Das ist, als ob wir nicht denken würden. Es findet zwar hier und da Denken statt, aber es

ist, als ob niemand denken würde. Es ist niemand involviert. Es ist einfach ein grundlegendes Sein, eine

Freude, ein gelassenes offenes Sein und ob da Denken auftaucht oder kein Denken ist, ändert gar nichts an dieser durchlässigen, fließenden Präsenz.

Teilnehmer: Ich bin ja heute erst gekommen und weiß nicht, wo fängt dann die Dumpfheit an?

Nirgends.

Ich kann ja nicht die ganze Zeit so aufmerksam sein, da ist ja dann…

Wollen wir mal so sagen: Dumpfheit fängt da an, wo das, was ich gerade beschrieben habe, aufhört. Also

z.B. bei der Selbsthypnose. Selbsthypnose ist der Anfang der Dumpfheit. Die Dumpfheit wäre z.B. nicht das,

was einige vorhin beschrieben haben. Wenn man in der sogenannten Dumpfheit dieses Minimum an Ge-

wahrsein hat, ist das gar keine Dumpfheit mehr. Es enthüllt sich als eine lebendige Erfahrung von Schläf-

rigkeit. Ja, tatsächlich. Ihr schmunzelt so.

Teilnehmer: Ja, das kenn ich. Ich bin beim Sitzen manchmal so müde, und dann gebe ich einfach auf und

sag: „Okay, ich lasse es!“ – das Festhalten. Und dann lass ich wirklich los und schlaf nicht ein. Nachher bin ich dann völlig erfrischt.

Das ist es ja, dieses völlige Annehmen und Loslassen. Und dann bist du überrascht: „Hoppla, wieso schlafe

ich jetzt eigentlich nicht ein?“ Diese Art von Dumpfheit ist etwas anderes, als wenn wir körperlich total

erschöpft sind und wirklich schlafen müssen. Diese Dumpfheit, die da auftaucht, ist meistens durch ein

Wollen entstanden, durch eine Überanstrengung. Wenn wir mit Entspannung durch Loslassen der Anstren-

gung reagieren, durch tiefes Annehmen, dann hat sie keinen Grund mehr zu sein. Dann löst sie sich ganz schnell auf. Das ist ganz überraschend.

Teilnehmer: Und was ist, wenn ich gar nicht mehr weiß, was Denken ist?

Das ist in Ordnung.

Das ist zwar ein Wort, aber…

Ja, das brauchst du nicht zu wissen; muss man ja nicht. Wir hatten das ja definiert, die äußere Definition ist

dir wahrscheinlich noch bewusst: begriffliches Denken, vorbegriffliches Denken – im Grunde genommen einfach Geistesbewegungen.

Und wenn da was stattfindet…

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Man muss sich damit ja nicht rumschlagen. Es gibt keinen Feind mehr. Diese Art zu meditieren kennt keine

Feinde. Sie kennt keine Hindernisse. Die Hindernisse werden selbst zur Basis der Praxis. Wenn da Dumpf-

heit ist, Müdigkeit, Aufgewühltsein: „Okay, her damit!“ Hinein gehen, total hinein: „Wie ist es, das zu erle-

ben?“ Die brauchen nicht wegzugehen, die sind spannend. – Das ist natürlich ein Ausdruck, der nicht ganz

passend ist. Auch ihnen wird mit der gleichen offenen Haltung begegnet. – Haltung ist auch noch falsch, da

ist noch so eine Distanz. Wir gehen hinein, wir werden eins mit diesem Erleben, und darin entpuppt es sich

als ganz waches Erleben.

Teilnehmer: Eine hohe Intensität dann wieder.

Eine ganz hohe Intensität des Erlebens. Solche Erfahrungen werden Kostbarkeiten; das sind ganz kostbare

lebendige Erfahrungen, die uns tief begleiten. „Wow, so fühlt es sich an, wütend zu sein. So fühlt es sich

tatsächlich an, diese Angst zu erleben.“ – Das ist noch gar nicht nonduales Erleben, wir sind im dualen

Erleben bei völliger Akzeptanz. Und das kann in nonduales Erleben hinübergehen, weil die Akzeptanz total wird. Wenn die Kontrolle ganz weggeht, dann geht das hinüber in ein nonduales Erleben.

Teilnehmer: Als sich diese Schläfrigkeit aufgelöst hat, das war lustvoll.

Lustvoll war es, das ist ein toller Ausdruck. Da schwingt doch was von Freude mit.

Teilnehmer: Ich habe so ein bisschen eine komische Erfahrung gemacht. Ich habe so gedacht: „Na gut, dann

lass ich dich jetzt frei. Mach mal was du willst.“ Und dann produzierte mein Geist allerhand Bilder und es

waren Geräusche da und so weiter und so fort. Aber plötzlich habe ich so wie einen kleinen Schreck

gekriegt. So, als wäre da etwas Fremdes am Werk. Ich habe mich so daneben gestellt und habe gedacht:

„Bürschchen, mach´ mal!“ Und denn legte er los. Aber es war tatsächlich so, dass ich dann das Gefühl

hatte, ob da eine fremde Macht ist. – Du guckst mich so an, also ist das etwas Ungewöhnliches, oder? – Ach,

es war jetzt nicht so, dass ich denk: „Ach, schön, und diese Bilder… “ sondern habe mich eher so daneben

gestellt und gedacht: „Mach mal und dann plötzlich so: Huh!“ Da fängt was an zu wirken und zu kreieren, –

die Bilder waren jetzt auch nicht schlimm…

Ja, ich glaube, dass du die Übung ein bisschen abgewandelt hast. Mit diesem „Mach mal“ hast du, glaube

ich, tatsächlich so ein Bürschchen erzeugt, das dann mal so macht. Zum Teil sind das natürlich deine unbe-

wussten Kräfte, die das dann alles erzeugen. Gleichzeitig hast du aber nicht einfach nur gelassen, sondern du

hast wie einen Auftrag gegeben, einen Impuls gesetzt, und das funktioniert dann auch. Das macht dann. Du

hast also vielleicht so ein Bürschchen erzeugt – nicht im wirklichen Sinne –, du hast da Kräfte angeleiert.

Schau mal, ob du dich noch entspannter zurücklehnen kannst. Du brauchst auch gar nichts zu machen. Du

kannst den Geist einfach sein lassen. Der Geist braucht nicht unbedingt seine große Show abzuziehen. Und

dieses Beiseitetreten: Versuch mal, so wenig wie möglich auf die Seite zu treten, drin zu bleiben im Ge-

schehen. Denn diese duale Spannung – auch das Beiseitetreten und Zuschauen – wirkt unter Umständen

wieder anheizend. Diese Art des Interesses wirkt anheizend auf das Geschehen, das sich dabei nicht wirklich

erschöpfen kann, denn es wird immer subtil genährt durch ein interessiertes, sich wunderndes Beobachten.

Also noch mehr entspannen. Noch weiter entspannen, noch mehr Raum lassen – auch Raum dafür, dass

nichts geschieht. Und soweit es geht eins sein mit dem Erleben. – Ich bin nicht besorgt.

Teilnehmer: Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, ich entspanne alles, was ich nicht zum Sitzen brauche. Und

habe mich dann zwischendurch gewundert, warum es so wenig anstrengend ist. Warum ich, obwohl es Nachmittag ist, plötzlich mal nicht müde werde. Das fand ich sehr spannend.

Das ist ein gutes Zeichen.

Ich musste nicht durch die Müdigkeit erst hindurchgehen, sie ist überhaupt nicht gekommen, wie sonst

immer. Es war einfach ohne Anstrengung.

Das ist eine schöne Art es zu sagen: „Ich entspann jetzt einfach mal alles, was ich nicht zum Sitzen brauche,

alles Überflüssige entspanne ich.“ Und dann hast du diese tolle Erfahrung gemacht, dass es so anstrengungs-

los wird, und darum genau geht es. Dann kommen wir in diese Frische hinein, in dieses frische Erleben, von

dem Karmapa hier schreibt. Und dann kannst du dich immer noch mehr vergessen und brauchst gar nicht

hinzuschauen, was das für eine Erfahrung ist. Der Geist übernimmt selber. Er weiß selber, wie er sich ent-

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knotet. Du hast ihm einfach die Möglichkeit gegeben, das zu tun.

Teilnehmer: Ich glaube, ich war relativ entspannt und plötzlich kam so eine körperliche Reaktion: Ein ganz

tiefer Seufzer, so wie in einer Not. Ich war aber eigentlich nicht traurig, aber dann kam diese Eruption.

Ja, ich glaube du weißt schon, was das war. Magst du gerade noch sagen, was du denkst?

Es war etwas, was sich gelöst hat; was vielleicht eine Anspannung, eine Not war. Aber wer oder was hat das ausgelöst?

Ach, das hat immer schon darauf gewartet, endlich mal seufzen zu dürfen. Und du hast alles, was es ver-

hindert hat, wegentspannt und dann kommt diese Erleichterung.

Ist das auch der Geist?

Ich wüsste nicht, wer es sonst sein sollte. Es ist auch der Geist.

Die Nerven, oder was entspannt da, der Körper?

Richtig, Körper und Geist arbeiten da zusammen, und dann kommt energetisch das Bedürfnis nach Atem-

hohlen, Seufzen, und das wirkt zusätzlich entspannend. Da löst sich eine Blockade. Das ist das Zusammen-wirken von Körper, Geist und Atmung. Prana – subtile Energie – das macht es dann.

* * *

Auf diese Weise direkt zu verstehen, dass Erscheinungen untrennbar von Leerheit sind und unaufhör-

lich erscheinen ohne ein Subjekt, bedeutet, dass intuitive Einsicht in Erscheinungen erschienen ist, und

entspricht dem Erkennen der Einheit von Erscheinungen und Leerheit als Dharmakaya. Wenn du

genau dies kontinuierlich aufrechterhältst, entstehen vortreffliche Erfahrungen und Erkenntnisse.

Ich wüsste nicht, was da noch zu erklären wäre. Ich möchte nur klarstellen, dass das, was die meisten von

euch erleben, noch nicht ganz das ist, was hier steht, weil ihr euch noch selber bei diesem Erleben zuschaut.

Es ist noch nicht ganz eins geworden. Diese künstliche Trennung in Subjekt und Objekt hat sich noch nicht

ganz aufgelöst. Ihr schaut euch beim Meditieren selber noch über die Schulter. Wenn sich das ganz auflöst,

dann wird es noch einfacher als das, was ihr jetzt erlebt. Es wird immer noch einfacher, bis es dann nicht

mehr einfacher, nicht mehr entspannter wird, weil das dann einfach der Seinsgrund ist. Das ist es dann.

Wenn es nicht mehr einfacher und nicht mehr entspannter wird, wenn sich alle Anspannung aufgelöst hat,

nennt man das Dharmakaya. Das ist ein Moment Nirvāna, ein Moment Frieden, ein Moment völliger Stress-

freiheit, sogar ohne die Spannung von Subjekt-Objekt. Das zeigt sich dann in seiner ganzen Einfachheit, und

das nennt man intuitive Erkenntnis, intuitive Einsicht – das ist dasselbe.

Teilnehmer: Kontinuierliche Aufrechterhaltung.

Das kontinuierliche Aufrechterhalten steht auch im Text. Genau dies kontinuierlich aufrechtzuerhalten

machst du so, indem du immer wieder in dieses frische Erkennen gehst, in dieses frische Wahrnehmen. Du

würdest dann z.B. in deiner Praxis den vorangehenden Abschnitt immer wieder als Meditationsanweisung

nutzen und dir sagen: „Und genauso praktiziere ich jetzt: öffnen, öffnen, öffnen, loslassen … bis die Erfah-

rung wieder kommt.“ Das ist es. Und wenn du dann vertraut wirst mit diesem offenen Sein, dann merkst du,

wie duales Greifen wieder kommt, und dann ist es möglich, direkt in dem Moment, wo du das merkst, genau

da hinein zu entspannen. Das ist das Aufrechterhalten. Dann kommt das ganz offene Sein wieder, und wir

entspannen immer wieder in die dualen Muster hinein, in das Greifen, das sich wieder zeigt. Und so werden wir immer vertrauter mit dem Sosein.

Teilnehmer: Wird das nicht auch eine Gewohnheit?

Das wird eine Gewohnheit, das wird eine Sucht – eine gute Form von Sucht. Es ist so, dass die angespannten

Geisteszustände uns wirklich immer weniger interessieren, dass der Geist ganz natürlich in den größtmög-

lichen Entspannungszustand möchte. Das ist wie bei allem in der Natur: Alles möchte in die Entspannung,

alles neigt hin zur Offenheit, und unser Geist macht da keine Ausnahme. Deshalb beginnt sich innerlich alles

zum entspanntesten Sein hin zu orientieren, zu entspannen. Das ist etwas ganz Wunderbares. Da geht die

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Praxis dann von selber.

Teilnehmer: Ich hatte das ja schon oft gehört mit dem Hinein-Entspannen und habe nie gewusst, wie das

Hinein-Entspannen geht. Aber ich habe verstanden, dass man keinen Widerstand leisten soll. Dadurch, dass ich keinen Widerstand geleistet habe, ist dann die Entspannung entstanden.

Genau! Wenn du dich sehen könntest! Du siehst ziemlich entspannt aus – wie nach einem guten Schlaf.

Und das ist für mich gerade die Erkenntnis: Beim Entspannen hätte ich nicht gewusst, wie es geht.

Okay, keinen Widerstand leisten; nicht kämpfen, kein Widerstand, dich übergeben, dich hingeben.

Teilnehmer: Mich macht deine Frage „Wie ist es euch ergangen?“ ein wenig hilflos. Ich kann darüber

eigentlich gar nichts erzählen. Ich bin nicht eingeschlafen, ich war wach, aber ich könnte jetzt nicht erzäh-len, wie es mir ergangen ist.

Das ist ja auch in Ordnung. Ich hätte auch große Mühe zu erzählen, wie es mir ergangen ist. Aber es gibt

immer einige, die das können. Ich kann vor allen Dingen erzählen, wie es mir danach ging. Über die Medi-

tation kann ich nur sagen, dass ich ab und zu bewusst wurde und merkte, dass es überhaupt keine Rolle

spielt, welche Sinneserfahrung da war. Ob Denken da war? – Ja da war was, aber ich könnte euch keinen

Bericht darüber geben. Ich weiß nur, dass ich danach genauso erfrischt war wie das vorhin beschrieben

wurde: völlige Frische, als hätte ich ein Bad genommen und geschlafen gleichzeitig. Aber was da genau

gelaufen ist… ? Frag nicht mich, frag lieber die anderen. Du brauchst dir selber gar nicht über die Schulter

zu schauen um es unbedingt zu wissen. Wenn du dich so löst und entspannst, keinen Widerstand leistest und so weiter, kannst du deinem Geist vertrauen, dass er das schon von alleine hinkriegt.

Dies beschließt die dritte Aufklärung, die Aufklärung über Erscheinungen – Wahrnehmungen. Auf die-

se Weise die Praxis zu kultivieren, ist der siebte Punkt [beim Entwickeln von intuitiver Einsicht].

Da brauchen wir keine Sorgen zu haben, wirklich nicht. Keine Sorgen.

Teilnehmer: Keine Sorgen haben … Ich hab immer wieder Sorgen bezüglich Selbsthypnose, wo die anfängt.

Jetzt schon, die fängt jetzt schon an. Immer mit dem Wollen fängt die Selbsthypnose an.

Du könntest das jetzt nicht wiedergeben, bist zwischendurch bewusst geworden – also einfach nur geschehen

lassen, ohne dass ich dabei einschlafe, das ist schon korrekt?

Ja, die Worte sind schwierig. Ich war die ganze Zeit voll bewusst, ohne dass jemand bewusst war. Ich habe

keine Erinnerungsspuren abgeheftet, ja? Aber eigentlich laufen wir hypnotisiert durch die Gegend. Die

Selbsthypnose läuft jetzt gerade, indem wir uns vorstellen, wie wir zu sein haben. Da setzen wir uns schon in

ein Rollengefühl. Dann versuchen wir dieser Rolle zu entsprechen, das ist bereits der Beginn. Und das setzen

wir in der Meditation fort. Immer wenn wir eine Vorstellung davon haben, wie wir zu meditieren haben, da

ist sie schon! Da ist der Beginn der Selbsthypnose, weil die Vorstellung in uns aktiv ist.

Ja, das habe ich so nicht. Ich habe schon ab und zu Phasen, wo ich das so laufen lasse, wobei ich aber nicht sicher bin, ob das eine schlechte Angewohnheit ist, oder ob das korrekt ist.

Da wird es einen Grund geben, warum du dir nicht sicher bist. Vermutlich gehst du in dem Laufenlassen den Dingen auf den Leim.

Nein, ich hab das jetzt zum ersten Mal mit dir hier geübt und habe gemerkt: Aha, ich muss gar kein

schlechtes Gewissen haben. Vielleicht habe ich all die Jahre – bis auf die letzten Jahre hier – ein Konstrukt gehabt davon, was Meditation bedeutet.

Ah ja, und woher kommt das Gefühl, es könnte doch irgendwie nicht stimmen?

Ja, weil man eben irgendwas immer tun muss; bewusst sein, viele Mantras sagen … Und da habe ich ja

schon viele Koffer hier stehen lassen, aber diese eine Meditation, die wir hier jetzt gerade gemacht haben,

die habe ich so noch nie erfahren. Das ist etwas, was gut ist, wenn ich müde bin oder einfach zum Entspan-

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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nen, was ich intuitiv seit langem mache. Aber damals, als ich zum ersten Mal von Kalu Rinpoche hörte, dass

man da vor einer weißen Wand sitzt, war ich dann ein bisschen verwirrt. Und jetzt ist das hier so eine Art Meditation…

Die erinnert dich daran, was du immer schon gemacht hast?

Ja, genau. Wobei ich aber bis jetzt immer dachte, das ist vielleicht nicht so gut und eine schlechte Ange-

wohnheit von Dumpfheit.

Die Frage ist, ist da ein – wie soll man sagen – ein luzides Erkennen? Bist du dir durch das, was du da erlebst, dessen gewahr, was die Natur der Dinge ist? Ist da diese Art des Gewahrseins aktiv in dir?

Jetzt wird das mehr.

Lass das noch mehr werden. Dann kommst du da an, was Karmapa meint. Das ist gemeint. Das andere ist

nämlich so ein Sich-Entspannen und Abhängen und Laufenlassen. Und hier handelt es sich um ein total

entspanntes und zugleich völlig waches Sein, in dem keine Kontrolle mehr ausgeübt wird. Und das ist ein

Gewahrsein, in dem ein totales Verständnis da ist von dem, wie es hier heißt: Erscheinung und Leerheit,

Klarheit und Leerheit, die nicht zu greifende Natur des Seins, allen Erlebens. – Das sind zwar nur Worte,

aber das schwingt hier mit, ohne benannt zu werden, und macht den Geist in der tiefsten Tiefe so etwas von

unbekümmert und frei. Da sind keine Hoffnungen, keine Ängste und das Laufenlassen bringt einen in keiner-

lei Ablenkung hinein, in keinerlei Greifen. Müdigkeit löst sich auf. Und es würde nie die Frage auftauchen:

Könnte das ein verkehrter Geisteszustand sein? Dass diese Frage auftaucht, ist für mich schon ein Anzeichen

dafür, dass da wohl etwas sein muss, was das auslöst. Denn wenn du da eintauchst, ist da auch die Gewiss-heit: „Genau das ist es.“

Ja, das merkt man, wenn man in diese alten Phasen kommt, dass man es in der Entspannung irgendwie so

müde laufen lässt und im Nachhinein erst merkt: „Hallo, jetzt habe ich da drei Minuten irgendwie was

laufen lassen.“ Das ist sicherlich nicht das.

Ja genau, das ist der Unterschied. Daran merkst du das. Intuitive Einsicht – um euch das herauszuarbeiten –

merkt man an der tiefen Seinserkenntnis, die sich im Nachhinein im Bewusstsein noch weiter ausbreitet. Da

entsteht ein Erkennen und dieses Erkennen, dieses Wissen um die Natur der Dinge verlässt einen nicht, wenn

man wieder in das „normalere“ Funktionieren zurückkehrt. Das bleibt. Das ist ein wichtiges Zeichen, um

hier unterscheiden zu können. Es ist eine echte Weisheitskraft, die Nahrung erfahren hat; sie durchschaut die Dinge und begleitet einen in der Nacherfahrung.

Um zu wissen was für eine Erfahrung da war, muss man als Meditationslehrer oft auch abtasten, was die Auswirkung der Erfahrung war. Da kann man sehr viel Rückschlüsse auf die Erfahrung selbst ziehen.

Teilnehmer: Ich habe am Anfang erstmal Probleme mit meiner Gier gehabt; das habe ich ja regelmäßig.

Nachdem sich das gelöst hat, gab es Phasen, wo ich gemerkt habe, wie durch unsere Sitzungen eine Bestäti-

gung stattfindet, die sehr hilfreich ist. Ich hatte in Momenten, wo ich möglicherweise gezweifelt hätte,

Sicherheit, und dann ging es nochmal ein Stückchen leichter. Ich habe merkwürdigerweise immer wieder das

Gefühl, dass es auf einmal anders wirkt. Im Prinzip habe ich es schon öfter mal gehört, öfter mal gelesen,

aber wie das funktioniert, war noch nicht so klar. Es wirkt jetzt anders. Ich gehöre zu den Leuten, die

Betätigung von außen nicht haben wollen, aber das ist äußerst förderlich. Ich meine Bestätigung so: Du

bestätigst mich ja ich nicht, wenn du das lehrst, sondern indem du das lehrst bestätigst du gewisse Sachen,

die ich erfahre.

Genau. Wenn Dharma gut gelehrt wird, spricht er zu den subtilen Erfahrungen in uns, und die bekommen

dann Bestätigung. Es ist eigentlich ein Wissen um die Natur der Dinge, das schon in uns vorhanden ist, dem

wir aber manchmal nicht trauen. Wir wissen oft nicht ganz, wo es eigentlich langgeht, aber wenn es ausge-

drückt wird, kommt es uns wie eine Evidenz vor, auf der Hand liegend, offenkundig. Es ist wie nach Hause

kommen; „jemanden Bekannten treffen“, hieß es hier in einem der Kapitel.

Dharma-Unterricht führt uns eigentlich nach Hause und bestätigt uns in dem, was wir grundlegend sind. Das

ist keine Bestätigung des Ichs, der Person, sondern unseres grundlegenden Seins. Und wir finden wieder in

uns selbst zurück. Man kann das Gefühl haben, jahrzehntelang Dharma-Unterweisungen bekommen zu ha-

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ben und nie etwas Neues gehört zu haben. Aber selber ausdrücken hätte man es nicht können.

Wenn man Dharma-Unterweisungen zuhört, macht alles Sinn und es schwingt in uns mit, weil es an etwas

anknüpft, das in uns bereits vorhanden ist. Oft ist da das Gefühl: „Endlich sagt es mal jemand! Toll, dass es

gesagt wird. Ja, genau!“ Zustimmung aus den Tiefen unseres Seins, aber wir hätten es nicht ausdrücken kön-

nen. Wir waren nicht ausreichend im Kontakt damit, um es so ins Bewusstsein zu holen, dass wir das auch

noch hätten beschreiben können. Selbst das Ins-Bewusstsein-Holen war nicht so einfach. So wird es jetzt

durch die Unterweisungen in das Bewusstsein geholt, beschrieben, nochmal erfahrbar gemacht und erfährt

Bestätigung: „Ah, da geht es lang. Da ist es, wo ich Heilung erfahre. Da ist es, wo es erwacht in mir.“ Das ist

spannend mit dem Dharma. Eigentlich wird nichts Neues vermittelt, wir tragen das tatsächlich schon in uns.

Ich brauche über gewisse Sachen nicht mehr zu urteilen. Verstehst du, was ich meine? Ich muss nicht grübeln.

Ja, da kommt etwas zur Ruhe. In den alten Texten heißt es manchmal: „Der Dharma bringt Frieden.“ Damit

ist nicht der Frieden zwischen Menschen oder Menschengruppen gemeint, sondern es ist – wie wir sagen

würden – Balsam für die Seele. Es ist ein Frieden in der Tiefe, eine Befriedung da, wo wir aufgewühlt sind

und nicht wissen, unsicher sind, suchen. Da; da kommt Klarheit und Frieden hinein. Durch die Worte der

Wahrheit, durch das Ausdrücken des Wahren, so wie es tatsächlich ist, was wir dann auch in uns als stimmig

erfahren, entsteht Frieden. Da kommt tiefe Beruhigung in unser Sein hinein. Und in dieser Beruhigung

entfaltet sich unsere persönliche Praxis bis wir immer vertrauter werden mit diesem Sosein, diesem freien, friedlichen Sein in uns. Das ist es eigentlich, was in Dharma-Unterweisungen passiert.

Teilnehmer: Ich fand die Anweisung total schön, dass man mit allem gehen kann, was auftaucht und dann da

hinein zu entspannen. Gar nichts tun, nicht fixieren…, und da war einfach so eine Entspannung. Ich habe

das heute das erste Mal so erlebt. Ich habe so eine Entspannung in meinem Gesicht wahrgenommen, in den

Schultern. Und dann dieses Fallen, das du beschrieben hast. Da war für einen kurzen Moment Angst, dann

habe ich mich aber an deine Bewegungen erinnert, die du gemacht hast: „Okay, das war das wohl, tiefer

kann ich nicht fallen.“ Dann war auch so eine Freude, aber dann kam auch schon gleich wieder so ein

Konzept: „Andere haben vielleicht diese Erfahrung und ich weiß, dass das sein kann, aber bei mir ist das

nicht…“

Worüber ich mich auch total freue, ist, was ich dir schon erzählt habe: Vor ein paar Tagen hatte ich so eine

Situation mit Angst. Ich habe plötzlich Angst erlebt vor allem Möglichen. Es hat mich so überschwemmt und

hat über Stunden angehalten. Ich bin in der Nacht aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen, bin dann

aufgestanden. Ich bin mir vorgekommen wie ein Fisch, der an der Angel hängt, da war Widerstand. Irgend-

wann bin ich total erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen, aber und am nächsten Morgen ging es dann weiter.

Ich habe genau gesehen, was ich mache, habe so meinen Widerstand gesehen, diese Angst, die mich so

gepackt hatte. Und dann habe ich gedacht, ich schiebe es jetzt meinem Partner zu, er ist schuld. Da habe ich

gedacht, dass wir so in einen Streit hineinkommen könnten und dann habe ich gemerkt, dass ich wieder

ausweichen will, und wieder zuschieben usw. Aber eigentlich ist es ja bei mir etwas ganz anderes: Ich habe

so Angst davor ins Flugzeug zu steigen, abzustürzen, von einer Schlange gebissen zu werden im Urlaub.

Dann habe ich gemerkt, jetzt gebe ich meinen Widerstand auf und habe geheult und dann hat es sich

eigentlich aufgelöst. Zwischendurch war noch meine Vorstellung, ich muss es doch irgendwie mit dem

Meditieren wegkriegen, ging aber nicht. Und dann hab ich mir gedacht: „Ich halt es nicht mehr aus, ich

gebe den Widerstand auf.“ Und dann hat sich alles aufgelöst.

So ist es wahrscheinlich mit allem. Den Widerstand aufgeben, sich hinein entspannen, nicht irgendwie

denken: „Ich muss toll sein, ich muss cool sein, ich darf keine Ängste haben, ich muss was weiß ich was.“ –

Sich in alles hinein entspannen und alle Vorstellungen, wie man zu sein hätte, einfach aufgehen

Das ist auch meine Vermutung.

Das ist ja so bescheuert, was wir machen.

Ich glaub schon, ja. Mögen wir es immer schneller so hinkriegen, dass wir diese unnötigen Widerstände auf-geben, uns offenbaren, unsere Kröten ausliefern, ja?

* * *

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Heute gibt es keine Strukturerklärung, weil es nichts mehr zu erklären gibt.

Wir haben die vorbereitenden Übungen besprochen, wir haben Geistesruhe und Lhaktong besprochen. – Für

unser Thema für diesen Kurs ist es das, was es braucht. Es gibt viele weitere Strukturen im Dharma, die man

noch erklären könnte, aber das ist für uns hier nicht so relevant. Zum Verstehen dessen, was wir machen,

reicht das aus. Wir wenden uns deswegen direkt dem nächsten Kapitel zu, dem Lhaktong.

8. Die Aufklärung, ob Ruhe und Bewegung eins oder verschieden sind

Untersuche nun, ob der ruhige und der bewegte Geist eins oder verschieden sind. Wenn du verstehst,

Gedanken zur Meditation zu verwenden, wirst du erkennen: Es ist ein und derselbe Geist, der mal

ruht und mal in Bewegung ist, aber stets nur eins von beiden. Ruht er, so bewegt er sich nicht; bewegt

er sich, so ruht er nicht. Und das Wesen beider Aspekte des Geistes ist nie etwas anderes als nackte,

leere Klarheit.

Es ist also unmittelbares, nicht-fassbares Erleben. Diese drei Worte fassen zusammen, was mit diesem Ab-

satz gemeint ist. … Ist das jetzt gerade so? … Jetzt gerade – ist euer Erleben so? … Schaut nochmal kurz

hin, einfach nur, um nochmal anzuknüpfen; jetzt gerade. Das unmittelbar Erlebte jetzt. Habt ihr ein kleines

Gefühl für diesen nicht-fassbaren Aspekt des Erlebens jetzt? Geht es euch auch so, dass es schwer zu finden

ist, ob da dieses wahrnehmende Subjekt, dieses Ich ein bisschen abhanden kommt? Ja? Irgendwie nicht so

leicht zu finden, nicht?

Wir nennen das – und haben schon darüber gesprochen – die Einheit des Erlebens. Dieses Erleben ist eine

Einheit. Die Sinne sind offen … und Wahrnehmen, Erleben füllt den ganzen Geistesraum. Es gibt keinen Be-

reich unseres Seins, in dem kein Erleben wäre. Oder findet ihr einen? … Unser ganzes Sein ist Erleben, alles

Erleben ist Geist – das sind einfach Synonyme. … Es ist nichts anderes wahrzunehmen und in diesem Erle-

ben gibt es auch kein Zentrum, das rufen würde: „Hier! Ich bin der Mittelpunkt!“ Merkt ihr das jetzt, wäh-

rend ihr hört, schaut … sitzt, den Körper spürt? Ist da irgendwo ein Mittelpunkt im Geschehen? … Das war mit diesem letzten Satz gemeint.

Doch du wirst die nackte leere Klarheit nicht sehen, indem du Gedanken einfängst.

Das hatten wir schon: einfangen, festhalten und dann anschauen. Nein! Wir sehen sie, indem wir eins werden

mit dem Fluss, mit dem Fließen. Fließendes Gewahrsein, da finden wir ein Gespür für die Natur des Seins,

für die Natur des Geistes; eins werden mit dem, wie jetzt gerade fließendes Erleben stattfindet; nichts fest-

halten. Wir brauchen den Gedanken nicht hinterher zu springen, wenn gerade mal Gedanken da waren. …

Erzeugt doch gerade mal wieder ein paar Gedanken. … Die Leerheit, die nicht-fassbare Qualität des Erle-

bens, diese offene Qualität des Erlebens wird nicht besser verstanden, indem man den eben da gewesenen

Gedanken noch hinterher springt und sie noch einmal versucht anzuschauen. Im Moment ihres Entstehens,

im Moment des jetzigen Erlebens, genau da ist es, das nicht Beschreibbare.

Es kommt auch nicht zu leerer Klarheit, nachdem der Gedanke verschwunden ist. Wenn der anfäng-

liche, plötzlich entstehende Gedanke als nackte, leere Klarheit erfahren oder erkannt wird, dann hast

du die Seinsweise des Geistes verstanden.

Damit gibt uns Karmapa eine Idee, wie wir uns an diese Erfahrung immer wieder anpirschen und in sie hin-

einfinden können. Wir nehmen immer nur den Anfang des Erlebens. – Es gibt ja keinen Anfang, keine Mitte

und kein Ende. Das ist also ein Trick. – Versucht jetzt gerade mal, immer im beginnenden Erleben zu sein.

… Das ist eine Möglichkeit, in die Frische des Erlebens hinein zu finden. Wir probieren das aus: Denkt mal

gerade was! Stellt euch eine Situation vor, z.B. dass ein Hund freudig auf euch zugelaufen kommt, mit

wedelndem Schwanz. … Die Frische dieses nicht-fassbaren Erlebens; immer gerade zu Anfang, immer gerade jetzt. … Und wie sich das weiterentwickelt, der Hund bleibt ja nicht stehen, das geht ja jetzt weiter…

Wir brauchen gar keinen Hund, wir haben fünfzig Menschen hier im Saal. … Die jetzt stattfindende Bewe-

gung im Geist … immer wie im Anfang der Bewegung bleiben, bedeutet, dass wir nicht irgend einem Ende

der Bewegung hinterher hängen, wir bleiben im Entstehen der Dinge. Versteht ihr, das ist eigentlich nur ein

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Trick mit der Sprache, um uns zu sagen, dass wir im Jetzt zu bleiben sollen, immer im jetzt Entstehenden. Da

ist die Leerheit zu finden und nicht im Nachhinein, nicht indem wir etwas zu packen versuchen und an-

schauen. So nicht! Oder wenn wir etwas halten, dann loslassen und als leer denken. – All das haben wir

schon angeschaut. Es geht um dieses Fließen.

Stellt euch vor, ihr nehmt eine Dusche, das Wasser fließt. Wir kümmern uns doch nicht mehr um das

Wasser, das schon an uns runter geflossen ist. Das Fließen, die Sinneserfahrung des Wassers, das uns

berührt, ist immer die jetzt stattfindende Sinneserfahrung. Das ist es, was wir als Dusche wahrnehmen. Aber

wir greifen nicht mehr dem Wasser hinterher, das schon unten ist. Wir können uns auch vorstellen, dass wir

jetzt gerade von unserem Erleben wie durch-duscht werden. Ganz frisch! Das, was eben war, zählt schon

nicht mehr. Das, was jetzt ist, immer gerade das frische Jetzt.

Und jetzt gehen wir in eine Vorstellung, die vielleicht hilfreich ist: Versucht doch mal zu erahnen, was der

nächste Moment bringt. Begebt euch mal ganz an die Schwelle des jetzigen Erlebens, dort, wo die Zukunft beginnt. Was bringt denn die Zukunft?

Merkt ihr, dass wir das nicht wissen? Wir wissen nicht, was der nächste Moment bringt. Aber dadurch, dass

wir uns an die Schwelle des Erlebens begeben, dahin, wo die Zukunft beginnt, und an dieser Schwelle der

Zukunft entspannen, sind wir im so genannten Jetzt, was es auch nicht gibt. Da sind wir ganz drinnen im

strömenden Erleben. Wir merken: Da beginnt der Bereich dessen, was sich noch nicht gestaltet hat. Es hat

sich noch nicht gestaltet, es ist in der Zukunft, es ist noch nicht da. Es wird sich gestalten aus dem jetzigen

Erleben heraus, aus dem, was gerade jetzt stattfindet. Ist ja klar, wenn meine Hand jetzt so ist [hebt die

Hand]; ihr wisst nicht, wohin ich die Hände bewegen werde. Aber aus dem jetzigen Erleben wird es sich

gestalten. Die Klänge können in Stille übergehen, es können neue Klänge entstehen. Licht kann mehr oder

weniger werden, Körperempfindungen können sich in die eine oder andere Richtung verändern – wir wissen

nicht! Und wenn wir ganz da sind, ganz präsent, dann sind wir offen für die gerade jetzt wieder stattfindende

Gestaltung. Wenn wir am Vergangenen hängen – an dem, was eben war –, sind wir nicht so ganz offen. Dann hängen wir ein bisschen nach, ein bisschen zurück. Das ist, was der Karmapa hier meint.

Wenn der anfänglich plötzlich entstehende Gedanke – „Gedanke“ übersetzen wir uns wieder mit „Geistes-

bewegung“: Wenn die anfängliche, jetzt gerade plötzlich, momentan entstehende Geistesbewegung – als

nackte, leere Klarheit erfahren wird, oder erkannt wird, dann hast du die Seinsweise des Geistes verstanden.

Es heißt, zwischen Ruhe und Bewegung sei eine Barriere, weil der Geist entweder klar und still, frei

von begrifflichem Denken verweilt, oder aber sich begriffliches Denken oder Gedanken – Geistesbewe-

gungen – zeigen – doch deren Wesen ist nie etwas anderes als nackte, leere Klarheit.

Klarheit ist Erleben, leer, nicht-fassbar, offen. Nackt heißt unmittelbar erfahren.

Ich habe mir lange Gedanken gemacht über diese „Barriere“. Das ist ein ungewöhnlicher Begriff; er taucht

hier zum ersten Mal auf in den Mahamudra-Texten, die ich kenne. Karmapa geht da zwar nicht drauf ein, der

nächste Absatz mit dem Beispiel von Wasser und Wellen macht es aber klar: Wir denken, es gäbe einen kla-

ren Unterschied zwischen ruhigem Geist und aktivem, bewegtem Geist. Gibt es diesen Unterschied tatsäch-lich? Wechselt der Geist wirklich wie von einem Modus in den anderen und sind die klar unterschieden? …

Teilnehmer: Das glaube ich nicht, aber es fühlt sich so an, als ob es so wäre.

Warum fühlt es sich so an?

Da ist man wie in so einer Bipolarität, man kippt entweder in das eine oder andere.

Wie ist es denn, wenn du wirklich hinschaust, wenn du hineinschaust in dein Erleben?

Dann ist sie weg, diese Bipolarität.

Ja, und was ist dann?

Ja, dann ist sie scheinbar nicht mehr da. [Lachen]

Wie geht denn der ruhige Geist in den bewegten Geist über und der bewegte in den ruhigen?

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Teilnehmer: Durch Fixieren.

Durch Fixieren? Nein, das glaube ich nicht. „Fixieren“ – Was meinst du denn damit, vielleicht meinst du ja

doch dasselbe.

Der ruhige Geist geht für mich in den bewegten Geist über, indem ich einfach … ähm, nein, das ist verkehrt, das ist nicht der Übergang.

Aaah, du hast dich verheddert. Dann wollen wir nochmal einen Ansatz machen oder soll ich andere fragen?

Ich denke nochmal nach.

Teilnehmer: Ist nicht fassbar.

Ist nicht fassbar? Der ruhige oder der bewegte Geist?

Sowohl als auch, und auch der Übergang nicht.

Auch die Übergänge. – Ah! Interessant. Du sagst, die Übergänge zu erfassen, einen Geist, den man nicht

erfassen kann, geht irgendwie nicht.

Teilnehmer: Ich hab mich auch schon länger gefragt, ob es so was wie einen völlig ruhigen Geist überhaupt

gibt. [Lachen] Ich hab‘ ihn nicht erfahren. Könnte wohl so sein, dass es einfach nur Abstufungen gibt, nicht?

Dass also die Bewegungen des Geistes einfach immer nur feiner und immer feiner werden. Kann aber nie

wirklich aufhören, weil wenn er aufhören würde, wäre irgendwas tot.

Ja, ja! – Genau, da wäre ja dann kein Leben mehr. Der wäre ja tot.

Ich habe früher gedacht, es gäbe wirklich einen ganz ruhigen Geist. So fühlte sich das zunächst mal an, weil

alles Denken, alle Sinneserfahrungen aufhören können. Aber heute weiß ich, dass das, was sich dann als

ruhiger Geist zeigt, immer noch diese vibrierende Qualität hat, immer noch ein erlebendes Sein ist. Ich

würde dir in deiner Beschreibung zustimmen, dass es nur Abstufungen sind. Aber es sind eben nicht Abstu-

fungen sondern gleitende, fließende Übergänge zwischen mehr oder weniger Aktivität. Natürlich kann

zwischendurch auch schnell große Aktivität auftauchen und schnell wieder abtauchen, aber es sind keine abrupten Übergänge, sondern [zischt, um den Übergang anzudeuten] sssssscht!

Und dass es so etwas wie eine Nullaktivität nicht gibt, nicht?“

Nullaktivität würde ich auch einfach als „keinen Geist“ betrachten. Da wäre dann kein Leben, das wäre tot.

Nullaktivität ist nicht zu finden als Erfahrung, denn Erfahrung ist Aktivität.

Teilnehmer: Tot wäre das ja eigentlich auch nicht, weil der Geistesstrom ja weitergeht.

Ja, sowieso, es ist mehr der Tod des Geistesstroms, aber dann ist es halt kein Geistesstrom mehr. Aber der

Tod, an den du jetzt gerade denkst, die Trennung von Körper und Geist, das ist kein Tod für den Geist, nur für den Körper.

Teilnehmer: Ich erlebe das so: Es ist ähnlich wie bei zwei Gedanken. Da löst der eine Gedanke den anderen

einfach ab, er poppt auf. Das ist ähnlich wie bei dem so genannten ruhigen Geist, wo man denkt, es sei kein

Gedanke da, und das wird dann nur abgelöst von einem Gedanken und dann wäre das wieder weg. Es ist so

ein Übergang wie zwischen Gedanken und Gedanken, Gedanken und keinem Gedanken.

Ja, genau. Der Übergang zwischen Gedanken und Nicht-Denken ist so ähnlich wie der Übergang zwischen

Gedanken und Gedanken. Wie ist es denn mit einem Gedanken und dem nächsten Gedanken? Kannst du die abgrenzen? Weißt du, wann ein Gedanke aufhört und der nächste Gedanke beginnt?

Teilnehmer: Nur retrospektiv, ich kann nur zurückdenken.

Ja, und wenn du jetzt mir mal grad den Gefallen tust und die letzten zwei Sekunden nimmst: Wie viele

Gedanken waren da? … Nur eine Sekunde …

Das kann ich nicht sagen, da waren so viele … Eindrücke.

Geht es euch ähnlich? Zustimmung] Kann irgendjemand sagen, wie viele Gedanken in der letzten Sekunde

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waren? [Grummeln] Nein? Weil es keine Gedanken gibt. [Lachen] Es gibt nur Denken. Okay? Das hatten

wir schon, da hab ich euch wieder einmal erwischt. [Lachen] Es gibt den abgeschlossenen Gedanken nicht. Wie viele Gedanken braucht ihr, um diesen Satz zu verstehen? [Lachen, Grummeln]

Nichts? Das kann man nicht sagen. Es muss, während diese Klänge kommen, fortlaufend gedacht werden,

um den Satz zu verstehen. Aber das sind keine Staccato-Gedanken, die sich aneinander hängen – sagen wir

mal, es wären tausend Gedanken – und in ihrer Summe würden sie das Verstehen dieses Satzes bewirken. Es

ist fortlaufendes Denken. Denken ist auch strömendes Erleben, fließendes Erleben. Das ist ganz wichtig. Wir

schaffen mit unserer Sprache Vorstellungen von Einheiten – von Gedanken zum Beispiel oder Erfahrungen –

und Substantive, die wirklich wie diese berühmten Lastwagen durch die Gegend sausen und dann denken

wir, irgendwie wäre unser Erleben in Gedanken verpackt. Dabei finden wir die Gedanken gar nicht.

So geht es auch mit Momenten. Wir denken, es gäbe Zeiteinheiten, es gäbe einen Moment. Versucht mal,

einen Moment zu finden. Das ist dasselbe Dilemma, es gibt nur fortlaufendes Erleben. Den abgegrenzten

Moment, der eine Einheit des Erlebens bilden würde, gibt es nicht. Es gibt nur kontinuierliches Erleben. So

funktionieren wir!

Wir haben einen Intellekt entwickelt, der die Dinge benennen muss, um kommunizieren zu können, und wir

kommunizieren benannte Einheiten; das, was benennbar erscheint. In der Grauzone, – z.B. im Übergang vom

aktiven in den ruhigen Geist – machen wir irgendwo einen künstlichen Schnitt und sagen: „Bis dahin war der

Geist aktiv, da ist er ruhig!“ Und dann wird das in uns zu einer fixen Vorstellung. So grenzen wir auch im

Kontinuum der verschiedenen Geistesbewegungen die Gedanken, die das Ich-Gefühl auslösen, als „Ich“ ab

von den anderen, dem anderen Erleben, was dann „nicht Ich“ ist. Das sind Konstrukte, wir nennen sie

Konzepte. Diese Konstrukte haben ihre Berechtigung, aber wir gewöhnen uns an diese Begriffe und denken

dann, dass es das gibt.

Nehmt doch mal die Farbe Gelb, hier im Raum gibt es relativ viele Gelbtöne. Wo fängt denn Gelb an und wo

hört Gelb auf? Wir haben z.B. die Vorstellung: „Es gibt ein reines Gelb!“ Ja, klar! Aber wo hört Gelb auf,

gelb zu sein? Wo beginnt eine andere Farbe? Wir haben Blau, Gelb und so weiter, aber wie ist das in der

Welt da draußen? Wo fängt das Grün an und wo fängt das Gelb an, und wo geht’s ins Blau über? Das sind

alles Vorstellungen. Das Erleben von dem, was da draußen an Farben los ist, ist so immens vielschichtig,

dass unsere plumpe Sprache gar nicht hinterher kommt. Wir können diese vielen Grüntöne da draußen im

Wald gar nicht sprachlich benennen. Das tun wir aber, und irgendwann sehen wir nur noch Grün und sehen

die Abstufungen gar nicht mehr.

So ist es mit allem, was wir benennen. Das Benennen ist hilfreich, wir können auch sehr präzise benennen.

Und mit der Zeit sehen wir die Nuancen nicht mehr, wir sehen nicht, dass wir künstliche Linien gezogen

haben. Wo geht denn Grün in Blau über, wo ist es denn genau? – Es ist eine künstliche Linie. Das ist eine

Einschätzung. Wo sind denn genau die Grenzen? Das sind Übereinkünfte, es sind fließende Übergänge.

Egal, wo wir sind im Leben, es sind alles fließende Übergänge. Die Trennschärfe, die wir meinen zu haben,

ist eine Unschärfe der Wahrnehmung. Das ist ein plumpes Kategorisieren, auf das wir dann selber reinfallen, dem wir dann selber aufsitzen.

Wo fängt denn „Ich“ an und wo fängt das „Du“ an? Versucht doch mal – z.B. in einem Gespräch – heraus-

zufinden, wo das „Ich“ ist und wo das „Du“. Wenn du mich anschaust, … schau ich dich an? Moment mal:

Wer schaut hier wen an? Du schaust mich an und löst in mir was aus. Ja, bist du dann in mir? Ist in meiner

Reaktion etwas vom „Du“? Merkt ihr, worauf ich hinaus will? „Ich“ und „Du“ – verflixt nochmal! Kaum,

dass Begegnung stattfindet, wird hier was ausgelöst und mein Erleben von der Situation, mein Erleben von

dir ist gefärbt von dem, was ich von dir mitkriege; dein Erleben von mir ist gefärbt von dem, was du von mir mitkriegst. – Wo sind die Grenzen zwischen „Ich“ und „Du“? Das ist unglaublich schwer zu sagen.

Ich habe da noch meine geheimen Gedanken. Ich bin das, was du nicht sehen kannst, was ich denke, nicht?

Selbst da sitzt es drin, das „Du“, selbst diese Gedanken sind beeinflusst vom „Du“. Ich denke in deiner Ge-

genwart anders als ich denke, wenn ich alleine bin. Wenn ich alleine bin, denke ich immer noch anders, weil

ich dich getroffen habe, weil wir uns ausgetauscht haben. – Merkt ihr, dass wir künstliche Linien ziehen?

Hier beginne ich und da bist du und hier muss ich Abgrenzung üben. Das ist überall so, ihr könnt jeden

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Bereich des Lebens nehmen. In jedem Bereich des Lebens gaukeln uns Begriffe eine Klarheit der Abgren-

zung vor, die nicht gegeben ist. Spannend, nicht?

Das alles ist mit „fließendem Erleben“ gemeint. Wenn wir uns wirklich einlassen auf den Gewahrseins-

Strom, auf offenes, unmittelbares, präzises Erleben, dann merken wir, wie nuanciert das Erleben ist. Das ist

die Frische. Kein Moment ist wie der andere. Die Worte, die wir benutzen, um diese Momente zu be-

schreiben, sind immer dieselben. Wir haben einen Sprachschatz von – je nach Person – zwischen 40.000 bis

zu 100.000 Wörtern. Es sind maximal 150.000 Wörter, mit denen wir das Erleben zu beschreiben versuchen.

Das Erleben ist jeden Moment anders, jeden Moment neu. Kein Moment, wie er heute Morgen ist, ist schon jemals in der Welt gewesen.

Das ist die Diskrepanz; zwischen Erleben und Beschreiben ist eine riesige Diskrepanz. Wir sind mit unserer

Sprache wie Künstler. Sprache ist eine Kunst. Mit dem, was wir benennen, versuchen wir den anderen, mit

dem wir kommunizieren, aufmerksam zu machen auf das Nicht-Benennbare. Das ist echte Dichtung. Wir

verdichten Bedeutung in Worten und hoffentlich schwingt der andere soweit mit, dass hinter dem Ausge-

drückten das Nicht-Ausdrückbare erahnbar wird. Das ist Sprache.

Es heißt, zwischen Ruhe und Bewegung sei eine Barriere, weil man behauptet, der Geist sei entweder klar

und still – frei von begrifflichem Denken – oder aber, es würde sich begriffliches Denken oder Gedanken

zeigen, Geistesbewegungen. Und tatsächlich ist es so, wie ein Teilnehmer das ansprach, dass es nur graduelle

Unterschiede sind in der Bewegung, fließende Unterschiede, und dass auch der sogenannte ruhige Geist ein

Minimum an Dynamik in sich hat. Diese Dynamik kann jederzeit angeregt werden, kann jederzeit große

Aktivität freisetzen und auch sich jederzeit wieder beruhigen. Es gibt nichts im Geist, was langsam hochge-

fahren und langsam runter gefahren werden müsste. Das gibt es nicht. Es geht im Nu, aber dieses „Nu“ ist

fließender Übergang. Das „Nu“ finden wir nicht.

Teilnehmer: Ich dachte, die Barriere ist – wie du es eben erzählt hast – solange man noch diese Begrifflich-

keit hat und nicht ins richtige Erleben kommt. Jetzt hast du aber gesagt: „Ja, das ist immer das, wir benutzen

die Sprache, mal so, mal so, weil die Worte gar nicht ausreichen.“ Kann ein ruhiger Geist auch viel Erleben

sein, aber einfach, weil ich dann im Erleben nur bin und nicht bewerte und nicht Worte nutze und

kategorisiere? Kann er also die Erfahrung haben von vielleicht intensiver Erfahrung oder von ruhigerer

Erfahrung und sind dann beide ruhiger Geist oder ist dann diese intensive Erfahrung nicht mehr…

Das kommt drauf an, wie du die Begriffe benutzt. Es gibt eine intensive Ruhe. Genauso, wie es eine schrei-ende Stille gibt. Es gibt intensives Erleben von etwas scheinbar Unbewegtem.

Ruhe oder Unruhe sind ja doch auch Begriffe für eine Erlebensqualität, und „Unruhe“ ist vielleicht – das ist

mein Konzept –, dass ich, wenn so ein intensiver Augenblick da ist, aus Gewohnheit schnell rausspringe und

im Nachhinein eine Bewertung mache und sage: „Wow! Und da war grad was!“ und schon ist‘s wieder

vorbei. Ich hab halt so gedacht, dass es, wenn ich wirklich ins Erleben komme, ruhiger Geist ist, egal, wie

intensiv oder wie vielfältig.

Ja, natürlich. Es gibt auch die Erfahrung des ruhigen Geistes in völliger Bewegung in sehr bewegtem Erle-

ben, wo viel los ist – ruhiger Geist mitten in der Aktivität. Natürlich! Die subjektive Erfahrung von Ruhe,

von Ausgeglichensein entsteht, wenn weniger Greifen da ist, wenn wir wirklich im Fließen sind. Dann erleben wir uns als ruhig, aber tatsächlich sind wir im Fließen.

Weil wir nicht bewerten, weil wir nicht…

Genau! Weil all die Komplikationen wegfallen.

Teilnehmer: Ist es nicht so, dass das Fließen des Geistes, diese fließende Aktivität immer gleich ist? Und es

gibt da diesen Vergleich mit dem Spiegel und den Bildern im Spiegel, dass nur die Bilder schneller kommen

und gehen, wenn man unruhig ist. Und irgendwann fallen die Bilder vielleicht ganz weg, aber das Fließen ist immer noch da.

Da könnte ich auch mit leben. Ich weiß es nicht, ob der Geist wirklich unterschiedliche Geschwindigkeiten

hat. Wir nennen das dann „Ruhe“ und wir nennen das „Bewegung“, aber in meinem Erleben ist es so

ähnlich, wie du das beschreibst, dass ich – auch jetzt beim Unterrichten – den Geist nicht wirklich als

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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schneller oder bewegter erlebe als in Ruhe. Weil für mich ist die Intensität der Ruhe, die Frische des

Erlebens in Ruhe so hoch, dass es sich genauso anfühlt wie jetzt beim Unterrichten. Ich kann also nicht

sagen, der Geist würde schneller oder langsamer oder wirklich ruhiger oder aktiver, es ist eine andere Form

der Aktivität. Das sind jetzt meine persönlichen Worte, wenn du mich danach fragst. Ich erlebe eine große

Ruhe, während ich mit euch hier diese Aktivität lebe. Das ist nicht speziell aufwühlend. Aufgewühlt bin ich,

wenn ich greife, und dann ist der Geist auch nicht schneller als jetzt, er ist einfach im Greifen und

angespannt. Ich glaube, es ist der Grad der Anspannung vielleicht, den wir da bemerken.

Bevor wir weiter spekulieren, meditieren wir doch ein bisschen.

Meditation

Wir entspannen uns wieder, so wie es uns gut tut. Der Geist ist ganz weit und offen. Alles darf sein. –

Wir können einfach sein und genießen. … Wie ist es denn, zu sein? –

Wir lassen dem Geist freien Lauf und brauchen uns nicht darum zu kümmern, was da so alles stattfindet: Das

findet von selber statt. –

Wenn wir weder in die Zukunft vorauseilen noch am gerade Erlebten hängen – an der Vergangenheit – und

auch das gegenwärtige Erleben einfach so lassen, wie es ist, dann erleben wir natürliches Sein. … Da ist der

Körper geschmeidig, der Geist bleibt geschmeidig und irgendwie immer frisch. –

Vorhin habe ich euch mal an die Schwelle der Zukunft geführt. … Wie ist es denn mit der Schwelle der Ver-

gangenheit? Könnt ihr die finden? ... Wo beginnt das Erleben denn, „vergangen“ zu sein? … Spannend,

beide Schwellen führen zum selben Erleben. –

Wir brauchen gar nichts zu tun, um die Gegenwart zu erfahren. Das gegenwärtige Erleben kommt, kommt,

kommt, geht, geht, geht ... ganz von selbst. –

Vielleicht hilft dieses entspannte Sein dabei zu verstehen, dass alle Erscheinungen wie Wasser und Wellen

sind. Das magische Spiel des Geistes, ohne dass diese Erscheinungen irgendwie wirklich unabhängig exis-

tieren würden. –

Schaut mal, ob ihr einen Gedanken finden könnt, oder eine Erscheinung, oder eine Wahrnehmung. –

Gibt es im Körper eine Körperwahrnehmung, eine Empfindung? Oder ist es im Körper so, dass das, was

„eine Empfindung“ genannt wird, dann doch wieder mehrere Empfindungen sind, oder ein Prozess des

Empfindens? Wie ist es damit? –

Geht doch der Reihe nach mal die verschiedenen Sinne durch: Gibt es eine Sehwahrnehmung, eine Hörwahr-

nehmung? Wie ist denn das? – Wenn ihr etwas anschaut, wie viele Sehwahrnehmungen finden statt im Anschauen von etwas? –

* * *

Es dürfte klar geworden sein, was Karmapa im nächsten Absatz schreibt:

Nun hast du verstanden, dass alle Erscheinungen, wie Wasser und Wellen, das magische Spiel des

Geistes sind. Ohne wirklich [d.h. unabhängig] zu existieren. – als ein Ding – Das war die Aufklärung

über die Erscheinungen als Geist.

Wenn wir versuchen, eine Erscheinung, einen Gedanken zu finden, dann versuchen wir das Allerkürzeste zu

finden, was es irgendwie gibt. Und selbst darin ist noch Prozess; selbst darin. Das ist Bewegung. Wir ver-

suchen, Ruhe zu finden. Wir finden relative Ruhe im Unterschied zu anderen Aktivitäten, aber die völlige Ruhe, eine unbewegliche Ruhe ist nicht zu finden.

Teilnehmer: Nochmal zurück auf die Fixierung. Dadurch kann ich mich immer wieder mit meiner eigenen

Reise des Lebens verbinden. Im Alltag greifen die Fixierungen natürlich sehr, auch wenn es in allen mög-

lichen Lebensbereichen immer intuitiver wird. Trotzdem sind die Fixierungen da und wir werden auch über

Diagnosen oder sowas in Fixierungen gedrängt. Ich kann immer wieder versuchen, mir die Eigennatur des

normalen Bewusstseins zu vergegenwärtigen und mich immer wieder an diese Phänomene des Geistes erin-

nern. Aber was bleibt mir noch, außer in einer stabilen Praxis zu sein und mich dann auch im Alltag, wo das

ja viel schwieriger ist, aus den Fixierungen wieder rauszukommen. Ist das klar geworden?

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Ja, das ist klar geworden. Du hast ja mit Diagnosen zu tun und du arbeitest mit Worten. Es ist gut, wach-

zuhalten, dass es überall fließende Übergänge gibt und dass Worte nur eine Richtung aufzeigen. Wir sollten

uns ein bisschen lösen aus dem Gefühl: „So ist es!“ – Fließende Übergänge. Und da ist auch eine unglaub-

liche Verschiebung z.B. zwischen dem, was guter Geschmack und was schlechter Geschmack ist; das ist un-

glaublich! Das ist alles so willkürlich und wir brauchen das, um zu kommunizieren, aber uns sollte bewusst sein, dass das nicht ganz so fix ist, wie es uns unser Denken und unsere Sprache vortäuschen.

Mein Lieblingssatz ist: Wenn ich denke, ich kenne den Patienten, den ich behandle, dann behandle ich den

falschen.

[Lacht:] Ja, ja, genau. Das kannst du ja ausweiten. Wenn ich denke „Ich kenne meinen Ehemann…“

[Lachen] „… dann habe keinen mehr“. Ja, dann verlieren wir die Frische. Wir könnten noch mehr darüber

sprechen, aber für jetzt gerade mal war das meine Antwort auf deine Frage.

Wir müssen kommunizieren, wir werden immer präziser kommunizieren – so gut wir können –, aber es geht drum zu wissen, dass unsere Worte nie das treffen, was wir eigentlich beschreiben wollen.

* * *

Wir kommen in die nächste Runde und sind nun dabei, unsere Ernte einzufahren. Wir haben die letzten Tage

ziemlich intensiv gearbeitet. Es geht schon leichter mit dem Verstehen, das habt Ihr heute Morgen vielleicht schon gemerkt.

Untersuchst du das Wesen dieses Geistes hinsichtlich Vergehen, Verweilen und Erscheinen, wirst du

finden, dass es keinen dieser drei Aspekte wirklich gibt.

Da lacht doch unser Herz, das ist doch mal ein Satz, den wir verstehen, oder? [Lachen] Das haben wir jetzt

doch nun wirklich durchgekaut. Das macht sofort Sinn, nicht?

Genauso wenig, wie Pferde und Elefanten im Traum, gibt es sie in Wirklichkeit nicht.

Das sind Benennungen, künstliche Begriffe, aber das Entstehen, das Verweilen, das Vergehen eines Gedan-

kens haben wir noch nicht erlebt; das gibt es nicht. Es gibt nur das ständige Sich-Weiterentwickeln von

allem. Es ist nicht zu sagen, wann genau etwas entsteht, denn es entsteht schon vorher – durch Bedingungen,

die zusammenkommen. Es ist nie für einen Moment stabil, deswegen kann man auch nicht von einem Ver-

gehen von etwas sprechen. Es ist nicht für einen Moment stabil. Wir finden nicht mal einen Moment. Wenn

wir einen stabilen Moment doch nur finden könnten. Aber es gibt keine Einheiten im Erleben – irgendetwas

Stabiles, wo man sagen kann: „Das ist die kleinste Zeiteinheit und in der verändert sich nichts.“ So etwas

gibt es nicht! Wenn es das gäbe, könnte man von einem Verweilen sprechen, da könnte man sagen: „Und da ist es entstanden und da vergeht es.“ Aber das kriegen wir nicht hin, das ist nicht zu finden.

Das ist auch wunderbar, so. Ich sage euch ganz ehrlich, es wäre furchtbar, wenn es anders wäre. [Zustim-

mung bei den ZuhörerInnen] – Ja! Was wäre mit dem Leben los, wenn alles in diesem Staccato stattfinden

würde? Das wäre nicht mehr dasselbe Leben.

Verstehst du das, bist du darüber aufgeklärt, dass Geist leer [d.h. ohne einen Wesenskern] ist.

Die Logik hier ist, dass, wenn Geist – geistiges Erleben – nicht einmal für einen Moment als etwas Existie-

rendes, Stabiles, Entstehendes und Vergehendes gezeigt oder erlebt werden kann, wir dann auch verstehen,

dass Geist an sich diese Natur hat, einfach Dynamik zu sein; dynamisches Erleben. Die Grundvoraussetzung,

um von „Geist“ als einem Etwas sprechen zu können, wäre, dass es für wenigstens einen Moment gleich bleibt. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben.

Aber wir sind jetzt dabei, uns intellektuell darüber auszutauschen. Unser Verständnis ist begrifflich, ein

bisschen verbunden mit unseren Erfahrungen, denn die sind ja schließlich auch da. Da entsteht auch schon

ein tiefes Ahnen, das ist dabei zu kommen. Das wäre dann die eigentliche Einsicht. Wenn ihr völlig gewiss

darin seid und ohne mit der Wimper zu zucken diesen Text oder entsprechende Fragen, die euch gestellt

werden, vorwärts und rückwärts, rauf und runter, einfach immer mit eurer inneren Erfahrung beantworten

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könnt, dann ist intuitive Einsicht entstanden. Dann ist es das, wovon hier gesprochen wird. Jetzt ist es der

Moment, wo eine Übertragung stattfindet, wo eine Klärung der Begriffe stattfindet, eine Klärung dessen, was

gemeint ist, bereits zusammen mit ein wenig meditativer Erfahrung. Und das setzt die Samen für tieferes

Verstehen, das sich dann noch ausbreiten wird. Dieses Verstehen geht nicht unbedingt mit mehr Worten

einher. – Ich glaube, mehr Worte kann man eigentlich nicht machen [Lachen] – Es wird aus dem Bauch

heraus kommen und ihr werdet dieses innere Wackeln, das ihr immer noch habt, verlieren. Das wird nicht

mehr sein; es wird eine Klarheit, eine Gewissheit sein.

Teilnehmer: In der letzten Meditation hatte ich ein Erlebnis, das dem zu widersprechen scheint.

Ja, her damit!

Wir hatten ja versucht, an den Rand der Vergangenheit zu gehen und noch an den Rand dessen, was kommen

könnte. Dann habe ich auch noch versucht, genau bei dem zu sein, was eben gerade erlebt wird und dann

war auch so eine Ahnung, dass das praktisch so wie ewig ist.

Ah, ich weiß, was du meinst, jajaja. Das ist eine ganz valide Erfahrung, darauf kannst du vertrauen. Es kann

sich ein Gefühl von Ewigkeit, von etwas Ewigem einstellen; das Gefühl, etwas Unveränderlichem zu begeg-

nen. Wenn du damit vertrauter wirst und da noch mehr hineinspührst, merkst du, dass da nicht ewig und

unveränderlich etwas ist, sondern dass ewig und unveränderlich dieselbe Qualität des Erlebens erfahrbar

wird.

Da besteht ein kleiner Unterschied, merkst du? Es ist nicht, dass etwas ist und das stabil ist, sondern es zieht

sich eine Qualität durch alles durch. Und diese Qualität ist total verlässlich; die ist ewig, kann man sagen.

Bleiben wir mal beim Beispiel des Stromes, des Flusses: Da ist immer diese Qualität von Wasser, das Wäss-

rige. Diese Qualität ist immer da, auch wenn sich alles andere ändert. Es ist nicht so, dass der Fluss irgend-

wie gleich bleibt und ewig wäre, aber da ist eine Qualität, die sich durchzieht.

Und diese ewige, unveränderliche Qualität des Geistes nennt man „Natur des Geistes“. Wenn du ganz darin

aufgehst, dann merkst du: Das ist immer da und total verlässlich. Deswegen wird es die eigentliche Zuflucht

genannt. Das ist die eigentliche Zuflucht. Durch deine Praxis hast du bereits eine Ahnung davon bekommen.

Da geht es lang. Es geht darum, dich in der Frische des Erlebens mit dem immer Gleichen, mit dem einen

Geschmack dieser Erfahrung zu verbinden. Und da entsteht zunächst mal ein Gefühl von Ewigkeit, und das

ist jetzt noch eine Shine-Erfahrung. Aber geh da weiter rein. Das Gefühl von Ewigkeit gibt dann einem noch

einfacheren Erleben Raum, und mit der Zeit wirst du so vertraut damit, dass du jedes Mal, wenn dieser Ge-

schmack auftaucht, weißt, dass du zu Hause bist. Dieser Geschmack ist da in Bewegung, in Ruhe, was auch

immer – Aktivität, Schlaf, Tiefschlaf, alles –, da ist immer dieser Geschmack. Das ist das, was du jetzt

dankenswerterweise uns beschrieben hast. Magst noch nachfragen, oder stimmt das so für dich?

Ja, es kam da hinterher noch ein anderes Bild in Verbindung mit diesem „ewig“ oder „zeitlos“ – wenn das nicht das bessere Wort dafür ist.

Zeitlos, genau!

Es ist das Bild, dass das andere alles da ist und sich bloß was anderes erhebt, nicht?

Das ist schon eine nachgeordnete Konstruktion. Da hat der begriffliche Geist sich nochmal ein Bild geschaf-

fen, um das Erleben irgendwie zu fassen, nicht? Aber das, was du zuerst beschrieben hast, ist eine ganz wert-

volle Fährte, der du folgen kannst: in dieses Erleben von Ewigkeit auch noch hinein entspannen, da hinein loslassen.

In diesem leeren – nicht fassbaren, offenen – und zugleich völlig reinen – nondualen – klaren Sein zeigt

sich unaufhörlich eine spontan vorhandene Vielfalt, so wie Mondspiegelungen im Wasser.

Schaut mal kurz auf die Flipchart1. Karmapa spricht jetzt welche Stufe an? Stufe Drei – spontanes Vorhan-

densein. Dieser leere, substanzlose Geist bringt eine spontan vorhandene Vielfalt von Erfahrungen, von Erle-

ben hervor – so wie Mondspiegelungen im Wasser: Diese vielfältigen Aspekte unseres Erlebens erscheinen und haben keine Substanz.

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Dieses Verständnis ist die Aufklärung über Leerheit als spontanes Vorhandensein.

Das ist ja nun mal ja genau das, was da steht. Und versteht ihr das jetzt auch? – Einer nickt!

Teilnehmer: Sag das nochmal, bitte!

Versteht ihr das jetzt auch, was Karmapa damit meint, dass es die Aufklärung über Leerheit als spontanes

Vorhandensein ist? Macht das Sinn? Was ist damit eigentlich gemeint? Ich möchte dich fragen, du hast dich getraut zu nicken – und nicht gewusst, dass du der Einzige bist. [Lachen]

Teilnehmer: In diesem Potenzial, in diesem Erleben, im Gewahrsein, zu dem es keine Trennung gibt, da

passiert es eben einfach…

Genau, es passiert. Was passiert da eigentlich?

Denken entsteht …

Genau, unter anderem!

… und der Prozess ist einfach vorhanden!

Genau, du meinst wahrscheinlich diesen ganzen Prozess dessen, was wir „Leben“, „Erleben“ nennen, nicht?

Das passiert einfach. Das ist das spontane Vorhandensein. Und das passiert, weil da im Geist nichts ist, was

sich dem widersetzen könnte. Da ist keine Substanz, da ist nichts. Da ist einfach Potenzial – wie du sagst –

Dynamik, nichts Fassbares, ständiges neu erlebendes Gewahrsein. Und weil da nichts ist, was Substanz hat, behindert auch nichts den nächsten Geistesmoment, sozusagen das nächste Erleben.

Teilnehmer: Ich habe gestern schon ein bisschen um ein Verständnis gekämpft. Eigentlich ist zwei gleich

drei und eigentlich zwei, also ich kann irgendwie keine klare Trennung finden.

Ja, ja, und eins ist drei und drei ist vier und vier ist eins …

… auch! Und wenn das jetzt so zugeordnet wäre, dann denke ich schon, aber eigentlich auch …

Genau, es sind fließende Übergänge, keine Trennschärfe [Lachen]. Mit diesem Satz hier – Satz Nummer

Drei – ist eigentlich alles schon gesagt. Die anderen brauchen wir gar nicht mehr. Mit dem ersten Satz wäre

auch schon alles gesagt. Mit dem letzten ist eigentlich auch alles gesagt. Merkt ihr? Diese vier Sätzchen sind

tatsächlich so, wie sich ein Erkenntnisprozess vollzieht, aber es ist dasselbe, was erkannt wird. Das

Verstehen wird nur tiefer erkannt, es wird etwas mehr ausgeschmückt, etwas mehr ausgeweitet und jeder

weitere Schritt fügt dem selben Verstehen einen weiteren Aspekt hinzu.

… dann könnten wir die Zahlen gleich weglassen.

Ja! Ich würde sagen, wir könnten eigentlich nur den Punkt stehen lassen. [Lachen] Ja! Wir können hier

erheblich vereinfachen. Aber so wird’s klar. Das sind also nicht irgendwie getrennte Erkenntnisse, sondern

das ist ein Erkennen über das, was wir das Wesen des Geistes nennen. Es entfaltet sich, und zunächst wird

klar. – Alles ist Geist: „Klar, ach ja!“ Und da ist auch nichts dran fassbar: „Natürlich!“ Nichts ist fassbar und

trotzdem entsteht alles: „Klar, logo!“ Es entsteht und vergeht auch wieder, löst sich von selbst auf: „Klar!“

So einfach! Es ist ein Verstehen. Wir tauchen ein in ein inniges, intuitives Verstehen von dem, wie es ist.

Teilnehmer: Wir haben immer vom „Prozess“ gesprochen. Ich habe das jetzt wie so einen Tanz erlebt, da

war sehr, sehr, sehr viel, was auftauchte, aber das durchdrang sich auch, das war für mich nicht wie ein

Prozess. Bei „prozesshaft“ habe ich so gedacht, das geht so, wie Stufe für Stufe. Aber, das was jetzt war, das

war so eine Fülle, das war so eine Bewegung und das durchdrang sich auch alles.

Sehr schön! „Tanz“ und „Spiel“ sind zwei weitere ganz hilfreiche Ausdrücke. Im Gespräch beim Frühstück

meinte Heiko, das Wort „Prozess“ ist für manche auch wieder irreführend, damit kann man auch gut fixieren

und vergegenständlichen. Man könnte „Prozess“ ja so verstehen, dass da so etwas wäre wie Zahnräder, die

ineinander greifen und wo Kolben antreiben. Aber eigentlich liegt darin unheimlich viel Fixierung, alles wird

als sehr solide wahrgenommen, als ob es sich um einen Prozess handelt, in dem mechanisch alles ineinander

greift. Du hast das Wort „Tanz“ verwendet. Karmapa spricht in unserem Text vom „magischen Spiel“, das

ist das tibetische Wort rölpa. Was hier mit „Spiel“ übersetzt wird, kann auch mal „Tanz“ heißen – das

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magische Spiel, der magische Tanz der Erscheinungen. – Das sagt dir als Begriff mehr zu?

Ja, es ist klar, dass sich das durchdringt und auseinandergeht und wieder zusammen.

Dabei müssen wir nur darauf achten, dass nicht das Gefühl auftaucht, da würden Entitäten tanzen. Das kann

wieder so ein Ding werden, wo welche herumtanzen, und die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer werden ver-gegenständlicht. Es ist ein durchwobenes Erleben, nicht wahr?

Teilnehmer: Ich möchte ein Erlebnis erzählen. Ich erinnere mich gerade sehr daran, wie meine Tochter

schwimmen gelernt hat. Ich kenne das von meinen Geschwistern, als die schwimmen gelernt haben: Wir

haben sie eher so reingeschmissen und meine Tochter, die habe ich immer gehalten, bis sie sich von selber

gelöst hat. Irgendwie empfinde ich dasselbe mit mir auch, jetzt gerade. Irgendwie halte ich mich selber ganz

freundlich, so, wie wenn es wirklich irgendwas gäbe, an dem man sich festhalten kann. Es ist einfach eine

Angst da, wo ich merke, ich habe das Gefühl, ich war noch nie so nah dran an dem… Wenn du sagst, „Lass

dich ein!“, dann habe ich das Gefühl, ich mache irgendwo ganz leicht einen Spalt auf und schaue ein bisschen …

Ah ja, so wie deine Tochter, als sie schwimmen lernte. So ganz ein bisschen mal vom Papa los, und dann…

Ja, und ich habe das Gefühl, ich hänge jetzt auch wie ein Äffchen, so wie sie an mir hing, so hänge ich jetzt da an irgendwas, das halt irgendwie ist, so als ob es real wäre.

Ja, und das, was uns noch hält, sind unsere Begriffe, unsere begrifflichen Vorstellungen. Jetzt geht es darum

– das ist euer nächster Schritt –, mittels der Begriffe und aus den Begriffen ins Nichtbegriffliche hinein, ins

wirklich nichtbegriffliche Erleben zu gehen. Damit wäre nämlich das begriffliche Erklären auch erschöpft, es

gibt dann nichts weiter zu erklären.

Wir haben es dann echt gepackt, haben vier Jahre daran gearbeitet und sind durch mit dem begrifflichen Erklären. Jetzt geht es darum, dass ihr ins Praktizieren, ins unmittelbare Erleben kommt.

Freischwimmer... Erst kommt der Freischwimmer, dann kommt der Fahrtenschwimmer und dann kommt der Rettungsschwimmer [Lachen]

Teilnehmer: … Allroundschwimmer…

Allroundschwimmer gibt’s jetzt, das gab es bei mir noch nicht. Ja, aber das sind die Bodhisattvastufen: Erst

Freischwimmer, dann Fahrtenschwimmer, dann geht’s in die Aktivität – das ist aber noch nicht eine Bodhi-

sattvaaktivität –, dann gibt’s den Allroundschwimmer, wo man sich in allen Aktivitäten übt. Rettungs-

schwimmer ist man erst, wenn man selber Bescheid weiß und sich um andere kümmert.

Teilnehmer: Lehrschein…

Ja, den Lehrschein kann man dann auch noch machen, dann ist man Rettungsschwimmer-Ausbildner. Und der Leerschein ist dann, wenn man in die Rente geht…

In diesem leeren und zugleich völlig reinen klaren Sein zeigt sich unaufhörlich eine spontan vorhandene

Vielfalt, so wie Mondspiegelungen im Wasser. Dieses Verständnis ist die Aufklärung über Leerheit als

spontanes Vorhandensein.

Sei einfach auf diese Weise im spontanen Vorhandensein – das ist der Freischwimmer – und verlasse nie

die klare, gewahre, leere, spontan vorhandene, komplikationsfreie, unveränderliche Große Freude.

Das ist der Fahrtenschwimmer. Da geht es wirklich drum, in diese Freude des Gewahrseins einzutreten, in

diese freudige Offenheit; es zu genießen, einfach so gewahr zu sein. Das ist kein Genuss von jemandem, der

etwas genießt. Es ist eine innewohnende Freude, die entsteht, weil überhaupt kein Stress mehr da ist. Es ist

ein stressfreies, anstrengungsfreies Erleben und das ist so unglaublich schön, dass es den Namen „Große

Freude“ bekommen hat. Es bedeutet nonduales, mittelpunktsloses, stressfreies Sein, was sowas von gelöst

ist, dass man es als Freude bezeichnet. Es hat nichts mit einem Lächeln im Gesicht zu tun, es ist die totale

Entspannung des Seins.

Teilnehmer: Es ist das Fehlen von Sehnsucht. Ich habe die Ruhe gesucht und hab dabei gemerkt, dass etwas

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fehlt, wenn ich eine gewisse Befindlichkeit habe, und das ist Sehnsucht.

Das ist völlig richtig. Es wird in den verschiedenen Schriften als die Erfüllung aller Wünsche beschrieben,

als das wunscherfüllende Juwel des eigenen Geistes im Erleben in dem Moment. Damit ist alle Sehnsucht zu Ende. Alle Wünsche sind erfüllt – Ende der Sehnsucht.

Es war mein ganzes Leben lang sehr schmerzhaft, immer diese Sehnsucht zu spüren. Umso deutlicher, wenn

sie einmal nicht da ist. Mir waren fast Tränen in den Augen, als ich das gemerkt habe. Das war Qual ohne

zu wissen, was mir fehlt. Wer weiß, wonach ich gesucht habe, dabei geht es – so wie du gesagt hast – nur um das Nach-Hause-Kommen.

Es ist im Rückblick auch noch leidvoll. Jetzt ist der Kontrast da und zum Glück ist die Lösung spürbar. Es ist

klar, wo das Zuhause ist, das Suchen hört auf, das Drängen hört auf.

Dann – so wie sich eine Schlange [von selbst] entknotet – entsteht Gewissheit, dass Erscheinen und

Sich-Befreien simultan sind, und du bist aufgeklärt, dass spontanes Vorhandensein selbstbefreiend ist.

Das haben wir auch schon gehört – steht als vierter Schritt auf der Flipchart. Geht noch einmal zu diesen vier

Schritten zurück und lest jeweils nur das Ende von jedem Absatz2:

1) Das war die Aufklärung über die Erscheinungen als Geist. – Alle Phänomene sind Geist.

2) Dann verstehst du, dass der Geist leer ist.

3) Dieses Verständnis ist die Aufklärung über Leerheit als spontanes Vorhandensein.

4) Du bist aufgeklärt, dass spontanes Vorhandensein selbstbefreiend ist.

Und das schreibt Karmapa im letzten Kapitel zur Intuitiven Einsicht. Das ist es, worum es eigentlich geht.

Das andere waren die Methoden dafür, wie wir da hinkommen: den ruhigen Geist untersuchen, den bewegten

Geist untersuchen, begriffliche und nicht-begriffliche Geistesbewegungen untersuchen, Ruhe und Bewegung

vergleichen. Dann kommen wir zu diesen Erkenntnissen, die nicht getrennt sind voneinander, die miteinan-der genau so verwoben sind wie unser ganzes Sein.

Und das war's. Die nächsten Absätze geben nicht noch eine weitere Aufklärung über dieses und jenes. Jetzt

kommen abschließende Bemerkungen. Gibt es noch Fragen zu rangdröl, zur Selbstbefreiung? Doch, da gibt

es eine. Hat die noch niemand gestellt: Wenn wir etwas erleben – es könnte ein körperlicher Schmerz sein, es

könnte aber auch eine emotionale Verzweiflung sein – ist diese Erfahrung selbstbefreiend? Ab wann ist sie

selbstbefreiend?

Teilnehmer: Wenn wir sie nicht nähren.

Ja, und solange wir sie nähren, ist sie nicht selbstbefreiend?

Sie verändert sich, wenn wir sie nähren, da ist eine ständige Veränderung.

Solange wir sie nähren, sind wir noch nicht aus der Verzweiflung, der schmerzlichen Erfahrung befreit, aber

das Erleben in sich selbst ist selbstbefreiend. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, ansonsten missversteht ihr das

in der Tiefe. Ich versuche, das noch einmal visuell darzustellen: Wenn wir hören „alle Geisteszustände sind

selbstbefreiend“, dann denken wir: „gute Nachricht“. Wir hören da: „Ich brauche nichts zu tun und bin frei!“

Und wenn ich dann verzweifelt bin oder Schmerzen habe, warte ich auf die Selbstbefreiung. – „Ich möchte ja

frei sein. Wo ist sie denn jetzt, diese Selbstbefreiung?“

Teilnehmer: Sie ist dann entspannt, wenn ich den Schmerz abgeben kann.

Das heißt, wenn ich total entspanne, erlebe ich die Selbstbefreiung? – Daneben!

Auf der Ebene des Gewahrseins.

Ja, auf der Ebene des Gewahrseins. –

2 ) Bezieht sich auf die 4 Absätze auf Seite 20 im Text beginnend mit: „Nun hast du verstanden, dass alle

Erscheinungen, wie Wasser und Wellen, das magische Spiel des Geistes sind...“

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Sind da nicht auch Bedingungen mit dabei, wenn ich sage „selbstbefreiend“?

Erklärung der Zeichnungder auf der nächsten Seite: Unser Erleben ist aufgrund von vielen Bedingungen

entstanden. Und dieses Erleben, was ich hier so wolkig dargestellt habe, entwickelt sich ständig weiter. Die-

ses nicht-fassbare Erleben entwickelt sich ständig weiter unter dem Einfluss von Bedingungen. Diese ständi-

ge, unaufhörliche Weiterentwicklung des Erlebens, das ist die Selbstbefreiung. Das heißt aber nicht, dass es

angenehmer wird. Das hängt von den Bedingungen ab, da hinein kommen. Es ist immer selbstbefreiend –

weder entsteht es, noch löst es sich auf – es ist shardröl, Weiterentwicklung im Entstehen. Das ist mit Selbst-

befreiung und Befreiung im Entstehen gemeint.

Selbstbefreiend bedeutet also: nie stabil, ein ständiges Weiterentwickeln.

Alles Erleben ist selbstbefreiend = nie stabil =ständiger Prozess

Wir hören das und missverstehen es als die Botschaft, das wäre schon die Freiheit, nach der wir uns sehnen.

Tatsächlich müssen wir aber erst das Verständnis entstehen lassen, dass alles sich ständig weiter entwickelt

und sich ständig von selbst befreit, das heißt nie das bleibt, was es gerade ist. Es bleibt nicht für einen Mo-

ment das, was es gerade ist. Trauer ist Prozess, Trauer ist dynamisch. Verzweiflung ist dynamisch. Angst ist dynamisch. Liebe ist dynamisch, Freude ist dynamisch. Auch Freude ist selbstbefreiend.

Es kommt dann immer auf die Bedingungen

an, welche Entwicklung das dann nimmt, und

wir warten auf das Befreitsein von Unangeneh-

mem. Das wird aber nur kommen, wenn in

dieser Weiterentwicklung Weisheitskräfte wir-

ken, die dazu führen, dass wir nicht anhaften,

dass wir nicht greifen; dass Bedingungen ent-

stehen, damit sich der auflösbare Schmerz auf-

löst, sich die auflösbare Verstrickung löst; sich das unnötige Greifen löst.

Und dann schauen wir, was die anderen Bedin-

gungen so bringen, was dann entsteht; innerlich

gelöst, andere Bedingungn wirken aber noch

weiter. Dann sehen wir, ob es zu einem ange-

nehmeren Erleben kommt. Klar, wenn da we-

niger Haften ist, wenn da Weisheits- und Lie-

beskräfte aktiv werden, dann wird das Erleben

sich in diese Richtung verändern.

Das ist Karma, das ist Wirken. Da wirken Kräf-

te, es entwickelt sich weiter. Und weil diese

Kräfte in unser Erleben wirken, wird wahrn-

nehmbar, dass es sich in Richtung von Weisheit und Liebe entwickelt.

Alles aber bleibt selbstbefreiend – die ganze

Zeit; auch das, was dann das Resultat von Liebe

und Weisheit ist, ist immer Prozess, ist immer selbstbefreiend. Die Kunst das zu verstehen, ist, dass dieses

Verständnis in den Prozess hineinwirken muss und sich dadurch im Prozess etwas löst. Aber es ist ohnehin

Prozess, auch im dicksten Leid, auch in der Hölle ist alles selbsbefreiend. Auch im Gefängnis, wo alles gefangen ist, sind trotzdem Gewahrseinsprozesse, die Sinne sind nie stabil.

Teilnehmer: Ich hab lange darüber nachgedacht und bin immer über dieses Wort „selbstbsfreiend“

gestolpert. Ich finde diesen Begriff irreführend. Er suggeriert, als hätte diese Erfahrung ein Selbst, das kommt ja schon im Wort vor. Aus sich selbst heraus befreiend, es braucht ja Bedingungen.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Wir könnten das tibetische Wort rang auch als „spontan“ oder „natürlich“ übersetzen oder wir könnten

sagen: in der Eigennatur. Es liegt in der Eigennatur der Dinge. Du kannst es dir anders übersetzen. Wir könn-

ten sagen: Alles Erleben geht in spontane Lösung; nichts ist verfestigt. Alles Erleben ist spontanes Fließen.

Das sind vielleicht hilfreiche Worte.

Das Wort „spontan“ hat auch wieder kleine Nachteile, denn es ist bedingtes Fließen, Ursachen – Wirkungen. Es ist spontan in dem Sinn, dass es immer wieder frisch ist …

Teilnehmer: Das Bild der Dusche gefällt mir dazu ganz gut.

Ja, wir sind vielleicht erst einmal in einer Verzweiflungs-Dusche und allmählich färbt sich das anders und es wird eine Freude-Dusche. Wir sind ständig im Durchlauf.

Teilnehmer: Bei der Dusche hatte ich kurz ein inneres Bild: Wenn der erste Schnee kommt, komme ich beim

Schauen in die fallenden Schneeflocken oft in so einen meditativen Zustand, von dem ich dann gar nicht

mehr wegschauen kann. Ich finde das ähnlich wie bei der Dusche, man kann das kaum festhalten. Es kommt

und es geht, und es ist so eine Vielzahl. Wie bei den Gedanken, man kann den einzelnden Gedanken nicht

greifen, man hat das Gefühl, da ist ein Gedanke, aber da ist immer alles und es hat so eine Ruhe und es geht nach unten. Dieses Bild finde ich sehr hilfreich.

Das ist ein schönes Bild mit den Schneeflocken. Wir kennen diese sanft fallenden Schneeflocken, es sind

aber so viele und wir können nicht anders, als uns entspannen in diesen Prozess des Fallens. Es gibt ein

ähnliches Bild in der Tradition, wo man sagt, das Gewahrsein ist wie ein heißer Stein, auf dem sich die

Schneeflocken nicht ansammeln können. Die Schneeflocken fallen, aber nichts wird vergegenständlicht. Wir

bleiben in dem Prozess, nichts sammelt sich an. Es sammelt sich nichts Vergangenes an, nichts, was wir

ergriffen haben; wir bleiben wie ein heißer Stein, auf dem alles schmilzt. Das ist das Bild des Schneefalls mit

dem wachen Gewahrsein, in dem nichts festgehalten wird. –

Teilnehmer: Ich muss noch einmal nachfragen. Es ist ja nicht befreiend sondern vergänglich.

Ja, das ist ja dieser Irrtum, den ich ansprechen möchte. Es ist spontanes Fließen und ist nicht befreiend im

Sinne, dass wir uns als „Ichs“ frei fühlen. Das ist nicht damit gemeint. Es ist nur, dass das Erleben frei ist. Es

kann gar nicht begriffen werden, es kann nicht besessen werden; es ist frei, aus sich heraus frei; aus sich heraus frei fließend.

Das ist es, was du mit dem „selbst“ missverstanden hast. „Selbst“ bedeutet hier nicht, dass ein Selbst postu-liert wird.

Das ist schon klar, aber ich bin immer über dieses Wort gespolpert, ich finde es so illusorisch.

Gut, dass wir das noch klären. Worte sind trügerisch. Ich hab's euch ja die ganze Zeit gesagt. Wir können

auch sagen: Erleben ist aus sich heraus immer in Bewegung.

Wir können jetzt nicht mehr zurück. Wenn wir das verstanden haben, dann können wir dieses Verständnis

nutzen, um diesen Geistesstrom zu befreien. Dank der Selbstbefreiung, dank des aus sich heraus In-Bewe-

gung-Seins, dank der Tatsache, dass alles im Fließen ist, kann dieser Geistesstrom in seine natürliche

Freiheit finden. Das heißt, wir praktizieren dann die Selbstbefreiung, wir praktizieren das natürliche Fließen

allen Erlebens als die Möglichkeit, in gelöstes Sein hineinzufinden. Was auch immer wir erleben, wir

vermeiden, es zu greifen; wir vermeiden, es zu fixieren; wir erlauben dem Erleben, sich weiter zu gestalten,

und wenn keine Kräfte des Greifens einwirken ist klar, dass auch die anderen Kräfte – Weisheitskräfte,

Mitgefühlskräfte usw. – wirksam werden und das Erleben wird tatsächlich angenehmer. Es wird das Erleben eines Erwachten, der nicht mehr im Greifen ist.

Aber der Körper wird trotzdem alt und zerfällt, es gibt trotzdem Krankheiten, man hat trotzdem Hunger und

Durst, es gibt unangenehme Situationen im Leben, es gibt unangenehme Weltenbürger usw. Das geht alles

weiter. Das hört nicht auf, aber das Erleben, das dadurch entsteht, wird belassen in seinem natürlichen

Fließen und kann sich ganz schnell weiter entwickeln, ganz schnell zu einem neuen Erleben werden. Es wird

ja nicht vergegenständlicht, es wird nicht verfestigt. Deswegen rauschen die Erfahrungen durch und es geht immer direkt zum Nächsten weiter.

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Wir nutzen die Tatsache, dass alles Erleben in sich dynamisch ist. Wir lassen diese grundlegende Dynanmik

des Seins zu und nutzen sie, um nirgends hängen zu bleiben und nicht Stress aufzubauen. Wenn wir uns

dagegen stellen und das Erleben verdinglichen, das ist dukkha, Leid. Das ist Anspannung. Wenn wir damit

ins Fließen kommen und kreativ auf eine gute Art gestalten, dann ist der Kampf vorbei. Versteht ihr?

Wir nutzen also die Dynamik des Erlebens, um in die echte Befreiung zu kommen, aber es ist nicht gesagt, dass das Leid zu Ende ist

Teilnehmer: Vielleicht habe ich was versäumt, aber mir ist noch nicht klar, wo das bedingte Entstehen in diesen vier Punkten ist.

Das bedingte Entstehen ist in der Vielfalt. Es ist im Erleben drin. Erleben entsteht durch Bedingungen.

Teilnehmer: Wenn sich das Verständnis darüber entwickelt, entsteht in mir Vertrauen und Sicherheit. Das ist

ein schönes Gefühl.

Das ist schön. So ein inneres Verstehen, wo du auch Sicherheit spürst, das macht Sinn. Damit kann ich was anfangen.

Ja, Sicherheit in dem Sinn, dass ich weniger tun muss. Es gibt Prozesse, die also nicht so sehr davon

abhängen, ob ich was tue. Das gibt Freiheit, es hängt nicht alles von mir ab, sondern ich muss nicht so viel machen.

Genau, das ist sehr entspannend. Wenn wir verstehen, dass sich dieses spontane Vorhandensein von allem

möglichen Erleben von sich aus ohnehin weiterentwickelt, dann kann man sich innerlich auch einfach

zurücklehnen und sagen: „Okay, zuwarten, sich entwickeln lassen.“ Oder ich kann mich in den Prozess ganz

reingeben. Bei Trauer reicht es meistens, sie ganz zu erleben, sich ganz reinzugeben, und sie gestaltet sich

weiter und bald ist was anderes dran. Man braucht nichts zu machen. Kennt ihr die Geschichte vom Ring für den chinesischen Kaiser?

In China gab es einmal einen glücklichen Yogi. Er war immer so glücklich, dass die Kunde bis an den Hof

des Kaisers von China kam. Der Kaiser ließ den Yogi holen. Er bat ihn, ihm doch das Geheimnis zu schen-

ken, was ihn so glücklich macht. Der Yogi gab es ihm nicht. Der Kaiser bot ihm so und so viel Pferde-

ladungen Gold. Der Yogi weigerte sich – für Gold schon gar nicht. Er bot ihm sein halbes Reich. Nichts zu

machen, der Yogi blieb hart, er gab das Geheimnis nicht preis. Der Kaiser war verzweifelt.

Der Yogi geht fort. Zwei Wochen später erhält der Kaiser ein kleines Paket mit einem Briefchen des Yogi:

„Hier bekommst du ganz umsonst mein Geheimnis: Im Päckchen ist ein Ring. Immer wenn du unglücklich

bist, lies, was auf dem Ring steht. Das ist mein Geheimnis.“ Der Kaiser liest die Inschrift auf dem Ring:

„Auch das geht vorbei.“

Das ist der Punkt. Das ist das Zentrum von Buddhas Lehre: Wandel. Wandel bedeutet Dynamik, bedeutet

Selbstbefreiung, bedeutet Leerheit, keine Substanz. – Auch das geht vorbei! – Das in allem zu erkennen, war

das Geheimnis des Yogi.

Uns ist oft nicht klar, wie tief das geht mit dieser Wahrheit des Wandels, der prozesshaften Natur allen

Erlebens. Auch der Kaiser von China wurde glücklich. – Das weiß ich zwar nicht ganz genau, ich hab es

einfach dazugesagt…

Teilnehmer: Mir ist es mit diesen Bedingungen noch nicht ganz klar. Du hast gesagt, dass wir da heilsame

Impulse reingeben. Inwieweit muss ich da was kultivieren und auch was erzeugen von den Bedingungen oder ist das auch inhärent in der Welt?

Du gibst das hinein, was dir richtig erscheint. Zu Anfang ist das noch von einem Ichgefühl gesteuert, später

wird es dann spontan, und weil es die Situation braucht, antwortet das Mitgefühl, antwortet die Liebe darauf

verbunden mit Weisheit. Das ist dann gar nicht mehr mit einem Ich-Gefühl verbunden. Das bist immer noch

du, aber der, der du bist, hat dann gar kein Ich-Gefühl mehr. Da ist nicht mehr das Gefühl, aus einem

Zentrum heraus zu handeln, wo Wollen und Nicht-Wollen sind, sondern es ist ein Handeln aus dem Fluss des Seins heraus. Das bist immer noch du, aber ohne Fixierungen.

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Teilnehmer: Das war vorhin alles so einfach, ich dachte, es geht nur darum, zu sein. Aber jetzt muss ich

mich doch um rote Pfeilchen bemühen.

Oje, dann hat sich das jetzt geklärt?

Teilnehmer: Wenn ich mich in einer Situation befinde, wo ich einen Wutanfall habe und mir Vorwürfe

mache, dass ich die Wut nicht loswerde, ist es richtig verstanden, dass – wenn ich mir gewahr werde, dass

sich das, obwohl ich greife, immer noch weiter verändert – genau dieses Gewahrsein dazu führt, dass ich

das Greifen loslasse? Und dadurch kommen diese Kräfte ins Spiel, egal wie fest die Situation erscheint? Und je enger die Situation ist, desto mehr geht es darum, das wahrzunehmen?

Genau darum geht es: immer diese permanente Veränderlichkeit wahrzunehmen und sie sich entwickeln zu

lassen, sie zu nutzen und damit in Lösungen zu gehen. Das sind diese roten Pfeile in der Zeichnung, denn

darum brauchen wir uns nicht zu kümmern. Es ist erst einmal so, dass wir die grünen Pfeile unterlassen und

nicht alles noch schlimmer zu machen. Dann kann es sein, dass uns sogar was einfällt, was es besser macht. Und jetzt machen wir eine Pause, das macht es nämlich auch besser.

* * *

Der Geist, über den aufgeklärt wird, ist das „normale Bewusstsein“, das mal mehr, mal weniger in Be-

wegung ist, immer gewahr und blitzartig verstehend.

Karmapa stimmt uns zu, wir haben offenbar herausgefunden, was er hier beschreibt. Mal mehr und mal we-

niger in Bewegung – aber nie ohne Bewegung; nicht wirklich ruhig. Immer gewahr – das ist die dauerhafte

Qualität des Geistes – und blitzartig verstehend. Verstehen taucht auf; etwas setzt sich zusammen und wird

klar. Sinneswahrnehmungen sind auch so etwas. Sie sind Prozess, klar, aber ein Blitz ist auch Prozess. Sind

wir uns einig drüber, dass ein Blitz Prozess ist? – ein schneller Prozess. Und so ist auch die Geschwindigkeit

des Geistes unglaublich hoch. Die wesentlichen Dinge, die unser Leben entscheiden und führen, passieren

unglaublich schnell. – „Mag ich!“ – „Mag ich nicht!“, „Dort geht’s lang!“ – Das passiert normalerweise

sehr, sehr schnell; vorbegrifflich. Und es ist die Fähigleit des Geistes, in diesem nicht existierenden Moment,

im Jetzt, zu verstehen – unkompliziert, direkt, ohne dass es viele Zwischenschritte braucht.

Es wird die „Einheit von Klarheit und Leerheit“, – Erleben, dynamisch, nicht fassbar –

„Große Freude“ – Mahasukha – „Leerheit mit den vorzüglichsten aller Aspekte“ – eine Leerheit mit all den vorzüglichen Merkmalen der Fülle, mit all den Qualitäten des Erwachens –

… oder „Mahamudra“ genannt. Das ist mit „Mahamudra-Erkenntnis“ gemeint. Deshalb: Ohne über

irgendetwas zu meditieren, schweife nicht einen Augenblick davon ab und belasse das Gewahrsein

hellwach und natürlich.

Bleibe frei von Hoffnung und Furcht: Wer keine Hoffnungen auf gutes Gelingen hegt und keine Fehler

fürchtet, völlig entspannt bleibt und die Eigennatur des normalen Bewusstseins wahrt, wird in einem

Moment Mahamudra erkennen, die Einheit von Freude und Leerheit, wie die Mitte eines wolkenlosen

Himmels.

Macht das alles jetzt Sinn für euch?

Nun sind ruhiges Verweilen und intuitive Einsicht eine Einheit geworden, ausgezeichnete Erfahrungen

und Erkenntnisse sind entstanden: Du hast den Weg der Befreiung betreten, das Ziel ist erreicht! Leer

zu sein ist die Natur des Geistes, klar zu sein ist seine charakteristische Eigenschaft – und die Einheit

[dieser beiden Aspekte] ist sein Wesen. Er ist frei von allen komplizierenden Vorstellungen und Stand-

punkten wie gut und schlecht, Entstehen, Vergehen und Verweilen, Existenz und Nichtexistenz, Be-

ständigkeit und Unbeständigkeit. Unaussprechlich, unvorstellbar und unfassbar, ist er zugleich

erfahrbar, von Natur aus klar, hellwach, nackt, freudvoll, klar und nichtbegrifflich. Sein eigentliches

Wesen ist das große zeitlose Gewahrsein, die wahre Natur des Aus-sich-heraus-Entstandenen, das

wahre Sein all dessen, was erkannt werden kann. Dies ist reines Bewusstsein, Soheit, die Gleichheit

[aller Dinge], Große Freude, die Essenz der Sogegangenen, befreiende Weisheit, Allbewusstheit, das

letztendlich Wahre, die Leerheit mit den vorzüglichsten aller Aspekte.

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Das, worüber wir sprechen, das Phänomen des Erlebens, was wir auch Geist nennen, ist nur Geist im Sinne

der Nur-Geist-Schule:

Es ist „Nur-Geist“, weil alle Phänomene als Geist verstanden werden; der Große Mittlere Weg, da es

frei von allen Begrenzungen und ohne Mitte ist; – frei von allen begrenzenden Anschauungen, wie:

existiert, existiert nicht, beides zugleich, keines von beiden; der Große Mittlere Weg ist ohne Mitte, es ist nicht die Mitte zwischen Extremen.

… das Geheime Mantra, weil er von allen schwer zu verstehen ist; – deswegen geheim, selbst geheim; es

ist nicht geheim, weil es geheim gehalten wird, sondern diese Unterweisungen sind geheim, weil sie sowieso

niemand versteht; aus sicher heraus geheim –

… das Vajra-Fahrzeug, weil es jede Täuschung zerstört, – ein Vajra ist der Donnerkeil Indras, mit dem er selbst den Berg Meru spalten kann; deswegen das Wort 'zerstören', keine Chance für Täuschung –

… und der Dharmakaya, weil die Buddhanatur erkannt wird. – Der Dharma in uns, das ist unser Dhar-

makaya, das ist die Buddhanatur. Der Dharmakaya zeigt sich im Erleben, wenn alle Täuschung vorbei ist.

Kurz: Frei von allen Komplikationen dualistischen Greifens ist es non-duales zeitloses Gewahrsein, die

Gleichheit [aller Dinge] – der eine Geschmack der Leerheit –, Einfachheit, große Freude – dies ist die

Aufklärung über Mahamudra.

Kommt hier eine Ahnung davon an, was mit Mahamudra gemeint ist? Lest diese vier Absätze noch einmal

durch, all das sind Erklärungen zu Mahamudra.

Ich werde das noch einmal in anderen Worten erklären und gehe zurück zum Absatz, in dem es heißt: „Bleibe frei von Hoffnung und Furcht“:

Mahamudra-Praxis ist, frei zu bleiben von Hoffnung und Furcht; nicht zu meinen, irgend etwas müsste gelin-

gen in der Meditation, irgend etwas Schlimmes könnte passieren; ganz entspannt bleiben und immer mit der

Natur des eigenen Gewahrseins verbunden bleiben, aufgehen im Gewahrsein dessen, wie es ist. Da erleben

wir den eigenen Geist, so weit wie der Himmel, und ein Mittelpunkt ist so wenig zu finden wie die Mitte des

Himmels. Hier steht „wie die Mitte eines wolkenlosen Himmels“. Die ist nicht zu finden, ich glaube nicht,

dass ihr hier auf den Leim gegangen seid. – Wie die nicht zu findende Mitte eines wolkenlosen Himmels, das

ist Mahamudra-Praxis.

In der Mahamudra-Praxis sind Geistesruhe und Einsichtsmeditation vollkommen untrennbar. Ruhe und

Einsicht sind gleichzeitig. Und darin entsteht Mahamudra-Erkenntnis. Mahamudra-Erkenntnis ist ein tiefes

Verständnis, dass das, was wir Geist nennen, nirgendwo zu finden ist, nicht zu greifen ist, nicht zu fassen ist,

und dass gerade deswegen unaufhörlich Erleben stattfindet. Erleben, das nicht in Schubladen verpackt wird

von „existiert – existiert nicht“ oder den Verbindungen dieser beiden; keine Meinungen, keine Standpunkte

über das Erleben; nur das Erleben selbst. Das Erleben ist in sich selbst ausreichend, es braucht nicht fixiert

zu werden, benannt zu werden. Dieses Erleben ist jenseits der Begriffe von Beständigkeit – Unbeständigkeit.

Es entzieht sich der Beschreibung. Sein eigentliches Wesen ist das zeitlose Gewahrsein; ein Gewahrsein, in

dem keine Vorstellungen mehr von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft präsent sind. Es ist zeitlos und es

war immer schon so, ohne dass es einen Anfang hätte und ein Ende. Dieses Gewahrsein ist einfach so und es

ist nirgendwo zu finden. Es nimnmt wahr, das ist das Einzige, was wir aussagen können. Es ist Wahrnehmen, kein Ding.

Die Mahamudra-Erkenntnis versteht das Sein, wie es ist: aus sich heraus entstehend, sich immer wieder neu

formend, in seiner Natur große Freude, frei von Leid. Es gibt kein Leid, das dem Erleben innewohnt. Den

Erscheinungen wohnt kein Leid inne, sie sind frei, offen, und der wache, fließende Geist ist gelöst darin, ist voller Freude in dem Sinn, ohne irgendwelche Spuren von Enge.

Das wird auch die Essenz der Sogegangenen genannt; das, was alle Tathagatas – alle Buddhas – verwirklicht

haben. Das ist Mahamudra, auch Prajnaparamita genannt, die befreiende Weisheit. Das ist das letztendlich

Wahre; das, was wir Leerheit mit den vorzüglichsten aller Aspekte nennen, dieses fließende, nicht fassbare

Sein mit den vorzüglichsten aller Qualitäten.

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Natürlich ist es nur Geist, weil alles als Geist und im Geist erfahren wird. Es gibt gar nichts anderes im Erle-

ben. Und es braucht keine Benennungen, keine Standpunkte. Es braucht zwischen den extremen philoso-

phischen Standpunkten keine künstliche Mitte gefunden zu werden. Das Erleben der Natur des Seins lässt all

diese Standpunkte hinter sich, sie werden irrelevant. Wen interessiert es denn überhaupt, ob etwas existiert

oder nicht? Es gibt gar niemanden, der sich noch dafür interessiert. Das sind Fragen, die vom hoffenden,

befürchtenden Intellekt aufgeworfen werden. Sie stellen sich dem, der im Erleben wirklich aufgeht, nicht

mehr.

„Frei von allen Komplikationen dualistischen Greifens ist Mahamudra non-duales zeitloses Gewahrsein, die

Gleichheit [aller Dinge]“ – dieser eine Geschmack, der alles Erleben durchzieht. Es ist Einfachheit, frei von

Komplikationen; ganz, ganz einfach, zutiefst einfach; einfacher geht’s gar nicht.

Das waren die letzten Absätze in anderen Worten. Wenn man es zwei Mal hört, geht es vielleicht noch tiefer.

Meditation: Ruhen im natürlichen Sein

Wir vertrauen diesem sogenannten Geist. Wir vertrauen, dass sich unser Geist von selbst entknotet; dass er

genau weiß, wie er sich entknotet – wie eine Schlange, die sich natürlich weiterschlängelt. Es geht weiter im Erleben und der Knoten löst sich. –

* * *

Es ist zudem das Segeln in der Hingabe, die den entscheidenden Punkt berührt hat. Es ist die Erfül-

lung der nie innehaltenden Gebete. Es ist das Sich-Niederlassen im unmittelbar empfangenen Segen.

Es ist nicht mehr verborgen, sondern offenbar und du bist nicht mehr getrennt davon. Das Inne-

wohnende ist nun unverschleiert und nackt zu erkennen – dies ist die Aufklärung zum Basis-

Mahamudra, das nun erreicht wurde.

Na, wie ist denn das mit der Hingabe? Wann berührt die Hingabe den entscheidenden Punkt? Wie ist das

denn? Welchen Punkt muss sie denn berühren?

Teilnehmer: Hingabe im Entstehen und Vergehen, untrennbar; ohne zu glauben, dass es existiert.

Ja, wie würde denn jemand anders das noch ausdrücken? Wann berührt Hingabe den entscheidenden Punkt?

Teilnehmer: Sich ganz reingeben ins Erleben; aufgehen.

Ja genau, sich ganz ins Erleben reingeben. Das ist, glaube ich, was dein Vorredner auch meinte. Aufgehen, ja.

Teilnehmer: Völlig loslassen

Was musst du da loslassen?

Das ,was ich möchte; meinen Geist zu manipulieren, ihn in eine bestimmte Richtung drängen.

Ja, alles loslassen, was manipulierend ist, was ich möchte, was ich anstrebe.

Teilnehmer: Ich glaube dann, wenn die Trennung wegfällt. Wenn es nicht dieses Ich, dieses Duale gibt – ein

paar Sekunden –, dann wird es warm und heiß, man macht aber gleich wieder ein Konzept. Es ist sehr

kraftvoll; erst fällt die Trennung weg und dann gibt es eben keine zwei mehr. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.

Wenn die Hingabe so weit geht, dass die Trennung sich auflöst, dann hast du das Gefühl, es hat den ent-

scheidenden Punkt berührt. Ist es das, was du sagen möchtest?

Sie ist ja gar nicht da. Sie löst sich nicht mal mehr allmählich auf, sie ist schon gar nicht da.

Okay, in der wirklichen Hingabe ist keine Trennung zu spüren.

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Teilnehmer: Es ist so eine Gewissheit in diesem Erleben, denn man segelt ja auch in dem Vertrauen und der

Gewissheit, dass uns was trägt. Ich würde mich nicht ins Segeln begeben, wenn ich so ein Vertrauen nicht hätte und auch Gewissheit.

Also ein Segeln in tiefer Gewissheit, in tiefem Vertrauen.

Teilnehmer: Ich könnte mir vorstellen, dass ich etwas weggeben müsste in einer Situation, wo ich denke,

dass ich sehr daran hänge.

Ja, was könnte denn das sein, was du weggeben müsstest?

Ganz viel, mein Auto und ...

Ich weiß nicht, ob du durch das Weggeben von deinem Auto den entscheidenden Punkt berühren würdest.

Wenn ich sehr daran hängen würde und denke, ich würde es dringend benötigen und sage: „Nein, das war meins!“

Also wenn es das „mein“ betrifft. Dann ist der entscheidende Punkt berührt. Da stimme ich mit dir überein. Immer wenn es das Zentrum der Ich-Identifikation berührt, dann ist der entscheidende Punkt berührt.

Teilnehmer: Die Widerstände aufgeben und in dem bleiben, was ist.

Ja, okay.

Teilnehmer: Für mich ist die Hingabe so mit der Freude verheiratet, aber jetzt gar nicht mehr im Sinne von

benennen. Das kommt einfach, es ist also gar nicht mehr benennbar, es passiert.

Hm, Hingabe und Freude sind eins quasi, ja, nicht mehr benennbar.

Teilnehmer: Wenn ich im Guru-Yoga das Verschmelzen mit dem Lehrer so erleben würde, dass die Erkennt-nis da wäre, dass es von Anfang an niemals getrennt war.

Wunderbar, ja. Kann gut sein, dass Karmapa das zunächst mal so gemeint hat, denn die Hingabe-Praxis ist

der Guru-Yoga – Guru-Yoga untrennbar verbunden mit Mahamudra. Dann segeln wir in diesem Vertrauen,

in der Gewissheit, wie vorhin erwähnt, und berühren den entscheidenden Punkt; da, wo es um „meins“ geht,

um dieses Ich, Ich … und um Kontrolle. Und dann übergeben wir uns, wir vertrauen uns dem Erleben an,

dem Entstehen und Vergehen, das es ja nicht gibt. Es geht um das, wo keine Kontrolle mehr möglich ist. Das

ist gemeint. Diese Kontrolle, dieses Kontrollbedürfnis wird losgelassen. Ich glaube, ihr habt alle ungefähr

das gemeint.

Teilnehmer: Für mich ist in dem Segeln in der Hingabe doch auch noch irgendetwas Absichtsvolles drin.

Segeln ist ja nichts Unabsichtliches, es ist ja nicht, dass ich nichts mehr tue. Da gibt es immer noch etwas Absichtsvolles, das sich in der Hingabe auch dann wieder erlöst.

Ihr müsst wissen, dass mit „segeln“ hier im Text nicht das Segeln mit einem Schiff gemeint ist. Das gab es in

Tibet nicht. Es ist das Segeln wie ein Adler. Wir segeln in der Hingabe mit ganz minimalen Flügelverän-

derungen. Wir segeln, wir lassen uns tragen, das heißt der Guru übernimmt die Praxis; der Buddha meditiert

in uns. Wir können völlig vertrauen, völlig abgeben und es muss dann noch den entscheidenden Punkt berüh-

ren, sich ganz zu übergeben, sich ganz anzuvertrauen; alles Wollen, Manipulieren und so weiter ganz tief zu lassen. Dann hat es den entscheidenden Punkt berührt.

„Es ist die Erfüllung der nie innehaltenden Gebete.“– Diese Gebete sind nicht die bewusst gesprochenen

Gebete, das ist hier nicht gemeint. Es ist unser ständiges Streben nach Glück; unser ständiges Wunschgebet glücklich und frei zu sein. Diese Sehnsucht ist erfüllt. Wir sind ins Wunsch erfüllende Juwel eingetreten.

„Es ist das Sich-Niederlassen im unmittelbar empfangenen Segen.“– Sich niederlassen bedeutet soviel wie

Einkehr. Man kehrt ein, hält Einkehr, man findet nach Hause in den unmittelbar – direkt jetzt gerade –

empfangenen Segen. Eine andere Art und Weise das auszudrücken: Es ist nicht durch das Ich geschaffen. Es

ist nicht produziert. Es ist nicht gestaltet. Das Sich-Niederlassen ist ja nun mal das Aufhören des Tuns. Wir

lassen uns nieder und könnten sagen, wir sitzen im Segen. Und der ist einfach da. Wo kommt denn der her?

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Teilnehmer: Von überall.

Von überall.

Teilnehmer: Vielleicht durch den Wunsch der noch höher entwickelten Bodhisattvas.

Dass die höher entwickelten Bodhisattvas den Segen schicken, oder so etwas?

Nein, ich meine, wenn die sich was wünschen, das hat ja mehr Kraft, als wenn wir gewöhnliche Bodhisattvas

uns was wünschen. Und durch deren Wünsche kommt der Segen von den drei Juwelen, denke ich.

Ja, das ist die Erklärung auf einer Ebene. Wenn der Segen von den drei Juwelen oder durch die Wünsche der

Bodhisattvas kommt, wo kommt er denn eigentlich her? Wenn du noch eine Ebene tiefer gehst – wenn er aus

dem Buddha kommt, aus dem Dharma oder aus dem Sangha, das sind die drei Juwelen – aber wo kommt er eigentlich her?

Keine Ahnung.

Aber andere haben vielleicht eine Ahnung. Die trauen sich vielleicht auch.

Teilnehmer: Aus der Natur des Geistes.

Genau da kommt der Segen her. Der Segen kommt aus der Natur des Geistes und aus dem Dharmakaya, aus

dem, wie die Dinge sind. Wir lassen uns auch im Segen der Buddhas und Bodhisattvas nieder; der Segen

regnet wie auf uns herab, umgibt uns, umhüllt uns überall, durchdringt alles. Aber der Segen ist in Gegen-

wart der Buddhas und Bodhisattvas nur deshalb so stark, weil ihr Geist in seiner Natur verweilt. Da kommt

der Segen her. Immer wenn Praktizierende in der Natur des Geistes aufgehen, ist Segen spürbar. Da kommt

der Segen her, nicht aus dem Ich, nicht aus den Worten, aus den Wünschen der Bodhisattvas, die etwas zum

Wohl der Lebewesen wünschen, sondern aus dem Strömenlassen dessen, wie es ist. Da kommt der Segen

her. Das heißt, wenn wir uns niederlassen im unmittelbar empfangenen Segen, dann ist das ein Aufgehen im

Segen der Natur des Seins. Und was auch immer noch ein bisschen nach Ich schmeckt, empfängt diesen

Segen, wird davon durchdrungen und stellt kein Problem mehr da.

„Es ist nun nicht mehr verborgen, sondern offenbar und du bist nicht mehr getrennt davon. Das Inne-

wohnende ist nun unverschleiert und nackt zu erkennen.“– Beide Sätze beziehen sich auf das Innewohnende. Was ist denn das jetzt wieder?

Teilnehmer: Buddhanatur.

Ja, die Buddhanatur ist gemeint. Was ist denn die Buddhanatur?

Dass ich die Natur des Geistes erkenne.

Das ist die Natur des Geistes mit ihren Qualitäten, mit all ihrer Fülle von Qualitäten. Das ist jetzt nicht mehr

verborgen. Es ist nicht mehr verborgen, was unsere eigene wahre Natur ist. Es ist offenbar und ich bin nicht

mehr getrennt davon. Das heißt, dieses Ich, das Befreiung erlangen wollte, das irgendwo hingelangen wollte,

hat endlich so weit losgelassen, dass es Einkehr gefunden hat in seiner eigenen Natur. Die Buddhanatur ist nun unverschleiert und nackt zu erkennen.

„Dies ist die Aufklärung zum Basis-Mahamudra, das nun erreicht wurde.“ – Basis-Mahamudra, diejenigen aus den letzten Jahren, die schon da waren: Was ist die Basis?

Teilnehmer: Die Natur des Geistes.

Die Natur des Geistes, mit ihren Qualitäten, die Buddhanatur, das ist die Basis. Basis-Mahamudra ist die

Basis, mit der wir starten. Wir haben alle als Basis, als unser Potential, das gesamte Potential des Erwachens

in uns. Das ist unsere Basis. Das ist die Natur des Geistes in uns mit allen Qualitäten. Und was ist der Weg,

Weg-Mahamudra? Ihr habt doch da so ein schlaues Gebet im roten Umschlag. Was ist der Weg? Weg-Mahamudra, Pfad-Mahamudra?

Teilnehmer: Hören, kontemplieren und meditieren?

Ja, das tut gut auf dem Weg: hören, meditieren, kontemplieren. Und was bewirkt das? Was bewirkt dieser

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Weg, den Dharma zu lernen, zu kontemplieren, zu studieren?

Teilnehmer: Das sind die Weisheitsaspekte irgendwann.

Ja, das sind die Weisheitsaspekte.

Teilnehmer: Der Weg zur Buddhaschaft.

Das ist der Weg zur Buddhaschaft. Das wäre dann die Frucht, Buddhaschaft wäre die Frucht und der Weg

legt die Buddhanatur frei. Die Basis wird durch den Weg freigelegt und wird zur Frucht als das Erwachen.

Das Potential des Erwachens wird über den Weg der Reinigung aller Schleier freigelegt, enthüllt sich und

wird zur Frucht. Das sind Basis-Mahamudra, Pfad-Mahamudra und Frucht-Mahamudra.

Die Basis ist bereits in uns, das ist das Innewohnende. Der Pfad, der Weg, legt die Basis frei und das ist dann

die Frucht. In jedem ist die Buddhanatur vorhanden. Wir müssen allerdings einen Weg gehen, um sie frei zu

legen, weil sie ist noch nicht so ganz aktualisiert, noch nicht verwirklicht. Und wenn sie verwirklicht ist,

nennt man das die Frucht.

Teilnehmer: Das Erkennen.

Das Erkennen, das Darin-Aufgehen ist die Frucht; ganz Buddha sein.

Teilnehmer: Ist das Erkennen der Natur des Geistes das, was manchmal auch mit Stromeintritt beschrieben wird?

Das ist das erste Erkennen der Natur des Geistes, das eine Gewissheit hinterlässt. Und dann kommt noch der

ganze weitere Weg bis zur vollen Buddhaschaft. Frucht-Mahamudra ist ist dann das volle Erwachen, wenn es

ganz freigelegt ist. Das erste Erkennen der Natur des Geistes mit dieser starken Gewissheit, die da auftritt, das ist eine Etappe auf dem Weg.

Karmapa schreibt weiter:

Das Wesen des Pfad-Mahamudra wurde gesehen.

Was ist das Wesen des Pfad-Mahamudra, das hier gesehen wurde? Das ist eine etwas ungewöhnliche Art

sich auszudrücken, was ist es denn?

Teilnehmer: Ich glaube ein Aspekt ist, erst einmal die Schleier als solches zu erkennen; diese Trennung zu bemerken, dass da die Basis ist und dass Schleier existieren.

Genau, zu erkennen, dass die Basis von Schleiern verdeckt wird. Aber das ist die Voraussetzung. Damit

haben wir noch nicht ganz das Wesen des Pfad-Mahamudra gesehen. Geh jetzt noch einen Schritt weiter, was entdecken wir da?

Teilnehmer: Das Wesen ist, dann diese Schleier zu reinigen.

Genau, das Pfad-Mahamudra reinigt dann die Schleier. Und was im Mahamudra ist es denn, was die Schleier reinigt?

Teilnehmer: Im Prinzip die Natur des Geistes selbst.

Ja, das ist völlig richtig. Und wie finden im Pfad-Mahamudra Zugang zur Natur des Geistes? Du bist ganz

nah dran, ich weiß, du sitzt wie auf der Leitung. – Das ist die Praxis des natürlich gelösten Seins. Das Wesen

des Pfad-Mahamudra ist die Praxis des natürlich gelösten Seins. Dadurch kommen wir in Verbindung mit

der Natur des Geistes, was die Schleier reinigt und die Basis hervorkommen lässt. Das ist damit gemeint. Das Wesen des Pfad-Mahamudra ist das natürlich gelöste Sein.

Teilnehmer: Was mir jetzt so abgeht, ist die Hinwendung zum Kollektiven, die Bodhisattva-Aktivität. Ist die nicht auch Teil des Weges?

Ja, die kommt dann im nächsten Kapitelchen. Das ist jetzt gerade nicht Thema, aber klar, das ist Teil auch

des Weges. Natürlich. Wir können auch sagen: im Bodhicitta aufzugehen. Absolut richtig.

Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage. Mir gehen immer im Kopf diese Begriffe Hingabe, Aufgabe herum.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Die tauchen ja auch z.B. immer bei den Sufis auf, oder bei den christlichen Mystikern. Und ich frage mich

gerade, inwieweit ist dieser Zustand, der da beschrieben wird, verschieden vom Mahamudra. Ist das Mahamudra oder ist das eine Vorstufe? Kann man das gleichsetzen?

Hingabe-Praxis gibt es in allen Religionen, und vom Aufgeben der Ichbezogenheit hört man auch speziell

bei den Sufis ganz viel. Das ist ja eine Haltung, die etwas bewirken soll, und es stellt sich die Frage: Wo

hinein geben wir auf? Worauf richtet sich die Hingabe aus? Es kann manchmal absolut identisch sein. Es

kann sein, dass sie auch dadurch Mahamudra erfahren. Gerade bei den Sufis gibt es einige Stellen – auch in

den Texten und in den Berichten –, die vermuten lassen, dass es um dieselbe Erfahrung der Natur des Geistes

geht. Bei den Christen gibt es hier und da auch solche Hinweise. Aber oft bleibt die Hingabe in einer Dualität

stecken. Die Hingabe bleibt begrenzt und vermischt sich mit dem Glauben daran, dass die Gnade von außen

kommt und führt dadurch nicht wirklich in diese Mahamudra-Erkenntnis. Ich kenne den Sufismus nicht gut

genug, um sagen zu können, ob es auch dort häufiger in der Dualität stecken bleibt, aber ich habe Passagen

gelesen, die ahnen lassen, dass es sich um ein wirkliches Aufgehen in der Natur des Seins handeln könnte.

Da müssen wir immer genau hinschauen. Die Worte können ähnlich sein. Wir müssen einfach schauen, was

gemeint ist, was für Erfahrungen dahinter stehen.

Was den buddhistischen Weg so auszeichnet, ist, dass es vom ersten Entstehen der Erkenntnis der Natur des

Geistes bis zum kompletten Erwachen ganz viel Unterstützung gibt. Da liegt noch ein großer Weg vor uns.

So ausführliche Hilfestellungen für diesen weiteren Weg scheint es in den anderen Traditionen nicht zu

geben. Da ist diese Erkenntnis da, und das scheint es dann zu sein. Es ist eine der Stärken der buddhistischen

Geistesschulung, dass sie nicht nur bis dahin führt – das ist der erste große Teil des Weges – sondern von da

noch weiter.

Teilnehmer: Meine Frage geht auch ein bisschen in diese Richtung. Theoretisch könnte man ja auch die

Natur des Geistes, dieses Klare und Leere, erkennen ohne ethischen Regeln zu befolgen. Es ist ja so eine

Ebene, wo man diese Prozesshaftigkeit erkennt und so weiter. Wofür brauche ich Liebe und Mitgefühl? Ich

könnte doch eigentlich auch ein Schurke sein und trotzdem praktizieren. Dann würde sich mir diese Ebene doch eigentlich auch erschließen?

Ich kann auf die Frage gern eingehen. Ist es eine Frage, die du aus persönlicher Betroffenheit stellst?

Ja, sicher, schon. Diese letztendliche Ebene betreffend fehlte mir immer die Qualität von Liebe und Güte

oder Gutsein. Ich habe gedacht, dieses Leere, Klare, diese reine Natur, die beschrieben wird und die ich auch praktiziere, ist an sich ja erstmal neutral.

Ja, da hast du recht.

Teilnehmer: Dieser Weisheitsaspekt, wenn man sich diese Prozesse anschaut und erkennt, hat ja erstmal

etwas Neutrales. Wieso also Liebe und Mitgefühl? Ist dahinter auch was Grund-Gutes oder Liebe?

Schauen wir uns das doch mal an. Jeder Schritt im Entwickeln von Geistesruhe und von Einsicht ist mit

einem fortschreitenden Auflösen der Ich-Illusion verbunden, des Haftens an „meinen“ Vorstellungen, die

normalerweise den Geist aufwühlen, verschleiern. Jeder einzelne Schritt bis in das Verwirklichen des Letzt-

endlichen ist damit verbunden, dass wir diese selbstbezogene Kontrolle immer mehr aufgeben, uns hineinge-

ben. Im gleichen Maße wie wir das tun, verschwinden die Impulse, Negatives zu tun, weil schädliches Han-

deln immer auf Ichbezogenheit beruht. – Wir wollen etwas, wir wollen etwas nicht, Ärger treibt uns, Profit-

Denken treibt uns, alle diese starken ichbezogenen Motivationen. Während wir diese Ichbezogenheit ent-

spannen, zeigen sich in uns – und da wird jetzt gar nicht viel drüber gesprochen – solche Qualitäten von

Güte, Wohlwollen, Mitgefühl. Diese Qualitäten werden immer mehr, weil wir so offen sind und gar keine

eigenen Ziele verfolgen. Sie breiten sich aus, werden immer stärker und erleichtern die Praxis. Das ist der

Zusammenhang.

Diese Qualitäten werden hier nicht erwähnt, denn dieser Text widmet sich dem Untersuchen, wie der Geist

funktioniert. Aber das ist die Basis, auf der diese Praxis beruht; eine ethische Basis, erst einmal nicht zu

schaden, sich selbst gegenüber heilsam zu handeln und anderen gegenüber heilsam zu handeln. Das ist die

Basis, bevor wir überhaupt anfangen zu kontemplieren und so weiter. Das ist das Fundament, auf dem wir

uns bewegen.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Die Meditations-Sitzungen sind zunächst dem Beruhigen und dann dem Erforschen des Geistes gewidmet,

aber ein anderer Teil der Meditations-Sitzungen – über den hier nicht gesprochen wird – ist der Entwicklung,

dem Zulassen von Liebe und Mitgefühl gewidmet. Und zwischen den Meditations-Sitzungen ist all unsere

Energie dem Wohl aller gewidmet. Also das, was wir Ansammeln von Verdiensten nennen, Aufbauen von

positiver Kraft, das ist die Hauptaktivität zwischen den Meditations-Sitzungen.

Und das ganze Paket zusammen macht die Praxis aus. Vor jeder Sitzung wird nicht nur die Zuflucht, sondern

das Bodhisattva-Versprechen gesprochen, nach jeder Sitzung wird gewidmet. All das wurde ganz zu Anfang

des Textes, in den vorbereitenden Übungen, besprochen. Aber jetzt dreht sich die Ausführung nur um das

Untersuchen des Geistes. Und jemand, der schädliche Absichten hat, wird nicht in diese Erkenntnis hinein-finden.

Mir ist die Verbindung nie so klar gewesen, aber jetzt ist sie mir klar. Man kann das ja letztendlich nur erkennen, wenn man das Ego loslässt.

Genau, ersetzen wir doch Ego durch Ichbezogenheit. Das ist näher dran am Sinn dessen, was gemeint ist. Da

ist kein teuflisches Ego, sondern da sind immer nur Bewegungen der Ichbezogenheit, sich immer wieder im Zentrum zu fühlen, etwas für sich haben zu wollen, mich ständig auf „mich“ zu beziehen. Das löst sich auf.

Teilnehmer: Man hat ja auch das ganze Karma am Hals. Es geht ja auch um die ganzen negativen Wirkun-

gen, bzw. dass nicht die heilsamen Umstände da sind, dass man den Freiraum hat dafür. Ich nehme mal an, das geht nicht, wenn man nicht selbst heilsam drauf ist.

Du kannst es ja nachvollziehen. Du weißt ja, wie deine Meditation aussieht, wenn du gerade ein bisschen

nichtheilsam drauf bist – aufgewühlt oder völlig fertig, keinerlei Klarheit, keine Konzentration, kein Durch-

blick. So sieht es aus, wenn wir verstrickt sind. Das Nichtheilsame hat sofortige, mittelfristige und langfristi-

ge Auswirkungen. Die Belastung durch unsere emotionalen Verstrickungen muss natürlich abnehmen, damit

wir klarer schauen können.

Teilnehmer: Wenn man wieder ein bisschen mehr Erkenntnis hat, dass man etwas klar gesehen hat, und man

nicht mit Stolz darauf reagiert, dann kommt ja auch diese Liebe von alleine. Wenn man es dann einmal

gesehen hat, dann berührt einen das, wie einfach es im Grunde genommen ist. Man wünscht dann den ande-ren auch, dass sie das erfahren, dass es so simpel ist. Und dann kommt es eigentlich von alleine.

Ja, genau! Das ist eine zusätzliche Quelle von Liebe und Mitgefühl, so wie es im Mahamudra-Gebet steht.

Wenn wir erkennen, wie einfach es ist, dass eigentlich in allen die Buddhanatur innewohnt und es doch so

einfach wäre, Zugang dazu zu haben, dann entsteht ein großes Mitgefühl für all die, die so kämpfen und so

nach dem Glück suchen und dieses gelöste Sein nicht kennen. Und das führt zu einem ganz natürlichen

großen, starken Mitgefühl – dauerhaftes Mitgefühl.

Teilnehmer: Es ist ja such das Gefühl von Getrenntsein, das sich löst.

Auch das.

Dann ist ja Mitgefühl auch nur ein anderer Ausdruck dafür, dass die Trennung weg ist.

Genau.

Das hat euch natürlich beschäftigt, diese Frage nach dem Mitgefühl wurde ganz deutlich. Wir haben – wie

ich es angekündigt habe – den Weisheitsaspekt betont und ihr hungert nach einem gewissen Ausgleich. Das

ist ganz verständlich, ganz normal und gehört mit dazu. Deswegen ist es gut, dass wir diese Verbindung noch

einmal aufgezeigt haben.

Gendün Rinpoche definierte samten, dhyana – das, was wir meditative Versenkung nennen – einfach so,

dass es stabiles Bodhicitta bedeutet. Sam auf Tibetisch ist eigentlich die Motivation, der Wunsch, die

Absicht, und ten heißt stabil. Das fünfte Paramita heißt auf Tibetisch samten, meditative Stabilität. Und

eigentlich sagt Gendün Rinpoche: „Wenn ihr meditiert, haltet das Bodhicitta stabil! Dann werdet ihr nie

Probleme beim Meditieren haben. Es gibt gar kein Hindernis. Alle Hindernisse beim Meditieren entstehen

aus der Ichbezogenheit. Wenn ihr im Bodhicitta verweilt, in diesem offenen, mitfühlenden Verbundensein,

dem Sein zum Wohle aller – selber inbegriffen –, dann entstehen keine Hindernisse. Dann könnt ihr einfach

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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sein und die Praxis vertieft sich von selber.“

Samten. Sam steht für die Bodhicitta-Motivation und ten bedeutet stabil – stabile Bodhicitta-Motivation als

Definition für das, was meditative Stabilität ausmacht. Als Gendün Rinpoche uns das erklärt hat, hat es mich

als jungen Praktizierenden voll erreicht, und ich habe es mir zu Herzen genommen. Ich habe mir die Vier

Unermesslichen – „Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen wir frei

von Leid und dessen Ursachen sein. Mögen wir niemals von wahrer, leidfreier Freude getrennt sein. Mögen

wir bei Nah und Fern, frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verweilen.“ – zum Herzen

meiner Meditations-Praxis gemacht. Mit diesen vier Wünschen habe ich praktiziert.

Hinein zu finden in diese Schwingung von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut ist Bodhicitta. – Wir,

das große Wir, wir alle! Da hinein zu gehen, das ist Bodhicitta. Das macht die Meditation so einfach, so

stabil: immer wieder das in uns zu nähren, dass wir gar nicht für uns selber hier sitzen. Wir sitzen im

Verbunden-sein mit allen, für alle. Worum geht es? – Die Liebe fließen lassen. Und das stammt von Buddha

Shakyamuni. Es lassen sich im Pali-Kanon über dreißig Stellen finden, wo das auch so beschrieben ist, dass

die Vier Unermesslichen die beste Eintrittspforte in meditative Stabilität sind, auch in die Erkenntnis und in

die Befreiung. Das ist der eigentliche Königsweg in die meditative Praxis. Es gibt auch den Königsweg der

Hingabe, aber dieser hier wird bereits im Pali-Kanon in vielen Stellen beschrieben. – Samten. 2.500 Jahre später beschreibt Gendün Rinpoche genau das: darin stabil zu verweilen ist der Königspfad der Meditation.

Nehmt das in euer Herz! Es wird dann plötzlich so einfach. Auf dieser Grundlage können wir dann so

schauen, betrachten und untersuchen, wie wir uns das während dieses Kurses erarbeitet haben. Da drin wird

das Ganze leicht. Und wir meditieren immer mit der Haltung: „Es geht nicht um mich!“, „Ich meditiere nicht

für mich!“ – Ich brauche nichts Spezielles aus der Meditation für mich, die Meditation braucht mich nicht

glücklich zu machen. Darum geht es gar nicht! Ich trete einfach in das Sein ein, wie es ist, verbunden mit allen, und komme was wolle, ich bin da, präsent, offen. Mögen alle glücklich sein!

Dieser Satz reicht: „Mögen alle glücklich sein!“ – Ich nenne das in letzter Zeit „das große Wir“; in das Wir

einzutreten. Es gibt den Egoismus, es gibt den Altruismus als Heilmittel zum Egoismus, und jenseits des

Altruismus gibt es das große Wir. Das ist kein Heilmittel mehr, das ist so, wie es ist. Wir sind eben so verbunden miteinander.

Jetzt rundet sich das Ganze für uns. „Das Wesen des Pfad-Mahamudra wurde gesehen.“ – Das gelöste,

natürliche Sein im großen Wir als Mitte, um die Schleier aufzulösen.

Halte es nun so aufrecht, denn damit erlangst du Gewissheit über Frucht-Mahamudra. – Damit er-langst du Gewissheit über das Erwachen. Das ist die Frucht, ganz das zu sein, was wir eigentlich sind.

Nun hat sich der Zweck der menschlichen Existenz erfüllt. – Könnt ihr es spüren? Traut euch!

Teilnehmer: Ja!!!!!!

Ja, traut euch! Spürt es! Genau, atmet auf! … In diesem einfachen Sein. –

Du hast den Weg der Befreiung betreten und dem Daseinskreislauf ein Ende gesetzt: Vortrefflich!

Nun meditiere voller Freude. Es ist wichtig, das dauerhaft zu kultivieren.

Es ist gemeint, das wach zu halten; das frisch zu halten. Immer wieder das Verbundensein, das Wir, und das

Hineinschauen in das Erleben; im Erleben immer in die Frische zu gehen; da, wo es gerade entsteht; da, wo

jetzt gerade das Erleben stattfindet; jetzt! Immer wieder. Zu bemerken, dass nichts fest ist. Nichts hat irgend-

eine Substanz, alles gestaltet sich ständig neu. Da haben wir die Möglichkeit mitzugestalten – aus dem

großen Wir heraus. … Und dann wird – ohne dass wir es merken – aus unserem Weg der Befreiung ein Weg

der Befreiung für alle. Das passiert dann einfach. Zunächst sind wir sehr damit beschäftigt, die eigenen Schleier aufzulösen und mit der Zeit merken wir: Das spielt gar nicht mehr so die Rolle.

Dies waren die Aufklärungen durch Schauen auf den Geist in Ruhe und Bewegung und die

Aufklärungen über Erscheinungen als Geist, Geist als Leerheit, Leerheit als spontanes Vorhandensein,

spontanes Vorhandensein als selbstbefreiend, sowie die Aufklärungen über Mahamudra und den

Dharmakaya in Form eines Fingerzeigs.

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Die Metapher des Fingerzeigs kennt ihr? „Schaut mal, da hinten das Thangka von Tara!“ Ja, ihr macht es

richtig. Ihr schaut nicht mehr auf den Finger, ihr schaut dahin, wo der Finger hinzeigt. Die Worte sind nur

Fingerzeige. Wir müssen da hinschauen, wo die Worte hindeuten. Was niemand zeigen kann, da müssen wir

hinschauen, hinfühlen.

Indem du deine Praxis auf diese Weise beständig aufrechterhältst, bringe sie zum Abschluss. Gebe

dich dabei nicht mit intellektuellem Flickwerk zufrieden, sondern übe so, dass du dir aufgrund direk-

ter Erfahrung vollkommen sicher bist. Dies war der achte Punkt.

Das ist es, was ich jedem von uns wünsche: dass wir praktizieren, bis wir vollkommen sicher sind. Jeder

Einzelne von euch: Wisst ihr jetzt, wie ihr das macht? Habt ihr überhaupt das Bedürfnis, vollkommen sicher zu werden?

Ja!!

Ist euch jetzt klar, wie ihr das angehen könnt? Bis morgen Mittag ist Zeit, diese noch Fragen zu klären. Wer

sich noch nicht so ganz sicher ist, könnte ja den Text noch einmal von Anfang an durchgehen. Da werden so

manche Etappen übersprungen, nicht? Vielleicht sollten wir die nacharbeiten. Ich habe zwar alles gelehrt,

wir sind bereits im vierten Jahr, in dem wir uns mit diesem Text befassen, und im nächsten Jahr kommt der

fünfte Teil, das Vertiefen der Praxis. – Vielleicht machen wir davon morgen noch ein Stück, und nächstes Jahr geht es dann weiter.

Worum geht es eigentlich? Schaut mal: Meint ihr wirklich, ihr kommt drum herum, die vorbereitenden

Übungen zu praktizieren? – Nein, ich glaube es nicht. Auf irgendeine Art müssen diese Qualitäten, die das

Meditieren so leicht machen, gestärkt werden. Sie müssen hervorgelockt werden. Das lässt sich zwar mit

anderen Methoden auch machen, klar. Man muss nicht unbedingt 100.000 Mal mit Verbeugungen den

Fußboden schrubben. Es gibt auch andere Wege, aber das ist ein guter Weg. Einige von euch haben sie ja ge-

macht, manche zweimal? – Niemand. – Viele von den Lamas, die euch unterrichten, haben die Verbeugun

gen zweimal, dreimal, viermal gemacht. Das ist gar nicht viel. Aber da ist eine Energie dahinter. Wenn ihr euch das auch wünscht, denkt mal drüber nach. Das könnte Sinn machen.

Wie ist es denn mit den Guru-Yogas bestellt? Wie viele von euch praktizieren denn Guru-Yoga? – Einige. –

Ja, schön! Guru-Yoga ist sehr, sehr wesentlich. Es macht Mahamudra leicht. Wir praktizieren Guru-Yoga auf

Buddha Shakyamuni oder auf einen anderen Meister, eine andere Meisterin als Vorbild für Bodhicitta – für

beide Bodhicittas, relatives und letztendliches. Wir lassen uns tief inspirieren und dann verschmilzt der Lama

mit uns und wir praktizieren weiter in der Einheit mit dem Guru, mit dem Buddha in uns, und das macht die Praxis leicht. Dann segeln wir in der Hingabe, und das ist tägliche Praxis.

Es gibt noch andere Möglichkeiten. Wir können unsere Praxis von Liebe und Mitgefühl so stark werden

lassen wie bei der Hingabe-Praxis. Da geht es im Guru-Yoga drum, die Hingabe so stark werden zu lassen,

bis sich die Wahrnehmung verändert. Das ist der springende Punkt beim Guru-Yoga. Die Wahrnehmung

ändert sich und wir beginnen, die Welt wie mit den Augen des Lamas, mit den Augen eines Buddha wahrzu-

nehmen. Auch bei der Liebe-und-Mitgefühl-Praxis geht es darum, nicht nur ein bisschen Liebe und Mitge-

fühl zu praktizieren, sondern so intensiv zu praktizieren, dass sich unsere Wahrnehmung ändert, dass wir in

eine Herzens-Wahrnehmung kommen und wie mit einem befreiten Herzen wahrnehmen. Darin meditieren wir dann. Auch das ist eine wunderbare Eintrittspforte in Mahamudra, in diese Praxis.

Teilnehmer: Ich finde beim Thema „Hingabe“ ist es ja so wie bei Weisheit. Ich kann ja nicht so einfach sagen: „Jetzt habe ich Hingabe.“ Das entwickelt sich ja. Ich kann sie ja nicht einfach so hervorrufen.

Doch, das kann man.

Wie geht das?

Durch ganz intensives Beten, das kommt vom Herzen und es gibt Methoden, um Hingabe, Liebe und Mit-

gefühl authentisch hervorzubringen. Man muss sich aber darauf einlassen. Man muss echt vom Herzen her

beten, aus der Seele heraus beten. Es dauert gar nicht lange und du spürst, wie die Hingabe stärker und

stärker wird, die Öffnung und die Bereitschaft alles zu zeigen, alles offen zu legen und innere Führung zu

erfahren. Das ist die Kraft des Gebetes. Das geht. Die Hingabe fällt nicht einfach so vom Himmel, wir kön-

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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nen etwas dafür tun. Und wir können natürlich mit authentischen Meistern zusammen zu leben. Da wird

auch Hingabe aktiviert, aber mithilfe der zusätzlichen Gebete wird die Hingabe befreit von der Person, die

in uns Hingabe stimuliert und wird universeller. Sie weitet sich aus und ist nicht so fixiert auf die Person, die

in uns die Hingabe stimuliert.

Ich spreche oft von Lama Gendün, weil er mein Lehrer ist, aber durch Lama Gendün versteht man den Geist

aller Buddhas und Bodhisattvas. Das ist nur wie ein Tor, durch das wir eintreten in den Geist aller Bodhi-

sattvas. Das geht. Es ist wirklich so, wie es beschrieben wird. Man betet so vom Herzen her, dass sich uns

alle Härchen aufstellen und wir ganz berührt sind und ganz tief innerlich loslassen. Dann meditiert man darin, und das sind Momente von ganz authentischem natürlichen Sein.

Teilnehmer: Wenn dir das so schwerfällt, könntest du Wunschgebete praktizieren. Es gibt ganz viele

Wunschgebete von erleuchteten Meistern.

Teilnehmer: Ich verstehe das schon mit dem Beten vom Herzen, aber das kann man ja auch nicht jeden Tag. Ich kann das nicht in jeder Sitzung.

Das sagst du so. Ich glaube, man muss sich die Zeit nehmen. Ich verstehe, was du sagst, und es ist auch total

ehrlich und es berührt mich. Aber tatsächlich muss ich dir sagen: Doch, man kann es jeden Tag! Es ist mög-

lich, aber man muss sich die Bedingungen dafür geben. Man muss sich die Zeit nehmen, es braucht nicht viel

Zeit, aber es braucht die Zeit, wo wir wirklich bereit sind, uns einzulassen. Und es ist möglich, jeden Tag

und zwar mehrfach täglich.

Teilnehmer: Soll man die Vorbereitenden Übungen am besten der Reihenfolge nach machen?

Ja, in der einen oder anderen Reihenfolge. Ich hab' damals die erste Serie mit Dorje Sempa angefangen und

dann erst die Verbeugungen mit Zuflucht gemacht. Das hat Kalu Rinpoche mir damals so gegeben, diese Reihenfolge gibt es auch. Es gibt nicht die eine Reihenfolge, in der man sie unbedingt machen muss.

Teilnehmer: Gibt es eine neue Fassung der Vorbereitenden Übungen ? Ich hab sie vor ca. fünfzehn Jahren

gemacht.

Es gibt einen neuen Praxistext und es gibt das Buch dazu – „Das Licht des Wahren Sinnes“ –, in dem alles

zu den Vorbereitenden Übungen steht, was man braucht. Dann braucht man noch die mündlichen

Erklärungen. Da hat sich in der Zwischenzeit schon viel verändert, es steht nun gutes Material zur

Verfügung. Ich habe das Buch so zusammengestellt, dass es alles enthält, was ich mir damals gewünscht

hätte und was ich mir auch als Lehrer gewünscht habe, als ich es schon unterrichtet habe. Mit der Zeit hat

das dann dieses schöne, runde Buch gegeben.

Ich habe damals das Ngöndro gemacht, ohne viel darüber zu wissen, keine Ahnung.

Das ist schade! Hier sind so viel Lehrer, die das erklären können, die es selber mehrfach praktiziert haben.

Wie auch immer ihr es angeht, auch wenn ihr einfach sagt: „Okay, ich bleibe bei meiner Praxis der stillen

Meditation!“, dann geht da wenigstens ein bisschen systematisch vor und schaut, dass ihr wirklich Geistes-

ruhe entwickelt und dann in dem ruhiger werdenden Geist schaut, was die Natur des Erlebens ist. Schaut

diesen Text oder besser noch den „Ozean des Wahren Sinnes“ durch, in dem derselbe Karmapa etwas aus-

führlicher beschreibt, worum es geht. Ackert es durch, nehmt euch die Zeit. Wenn ihr Gewissheit haben

wollt, es ist möglich. Es braucht Einsatz. Das Tolle hierbei ist, dass es nicht so ist, wie wenn man ins Fitness-

Center geht, dann wieder Pausen hat und alles wieder verliert, sondern man kann wirklich sogar im Älter-

werden noch von seiner Lebenserfahrung profitieren und versteht mit wachsender Erfahrung immer besser,

immer klarer; es wird offenkundiger. Dann haben wir hoffentlich vor dem Tod diese Gewissheit, sodass wir

völlig gelassen sterben können.

* * *

Einige fühlen sich inspiriert, die Vorbereitenden Übungen noch einmal anzugehen. In diesem Text steht zwar

alles drin, aber wie macht man das? Es braucht die Begleitung von einem erfahrenen Praktizierenden, einer

erfahrenen Praktizierenden. Alle Lamas hier im Haus können euch diese Erklärungen geben. Es ist klar, dass

es mehr braucht als nur das Lesen von diesen Texten und dann einfach loszulegen. Es gibt auch persönliche

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Unterweisungen von Gendün Rinpoche dazu, die dann zum rechten Zeitpunkt zur Verfügung gestellt

werden. Und es braucht immer wieder Gespräche mit dem betreuenden Lama, wie sich die Praxis

entwickelt. Denn man praktiziert am Anfang, in der Mitte und am Ende der Niederwerfungen anders.

Anfang Mandala, Mitte Mandala, Ende Mandala – man praktiziert anders. Man muss sich anpassen an die

eigene sich entwickelnde Praxis, das sich entwickelnde Verständnis. Es ist nicht so, dass man eine Praxis von

Anfang bis Ende auf die gleiche Art und Weise durchzieht. Es ist wichtig, da Betreuung zu haben. Einige

von euch kommen ja aus dem Ole-Mandala oder haben dort mit den Niederwerfungen angefangen. Weil dort

die Lehrer dünn gesät sind, haben manche ihr Ngöndro abgeschlossen, ohne je mit einem Lehrer darüber

sprechen zu können. Sie haben es mit einem Minmum an Unterweisungen durchgezogen. Das macht nicht so

viel Sinn; je besser wir verstehen, was wir tun, desto mehr Früchte haben wir auch von der Praxis. Wir

können darauf achten, dass wir die Qualität in der Praxis wirklich fördern und weniger auf die Quantität

achten, auf die Qualität unserer Präsenz, auf unsere innere Ausrichtung, Motivation, Hingabe; wie wir mit der Reinigungspraxis umgehen, usw.

Ich wollte das nur kurz ansprechen, weil es in der Pause Thema war. Sucht euch einfach gegeignete Bedin-

gungen, wie z.B. hier in den Hütten. Dann hält man die Praxis zu Hause aufrecht und wechselt zwischen

Kurz-Retreats und täglicher Praxis. Egal, ob ihr dann Shine-Praxis oder Lhagtong-Praxis macht, die Anbin-

dung an Lehrer ist essentiell, ohne das geht es nicht. Nur aus Büchern kann man den Dharma nicht verstehen.

Auch wenn man noch so viele CDs hört – das hilft zwar immens –, es ersetzt nicht das Gespräch zum rechten Zeitpunk, wo aus der Fülle des Gehörten gerade das heraus gefiltert wird, was jetzt gerade ansteht.

Ich möchte euch noch den nächsten Teil vorlesen:

Bemerkungen zum Aufbau der Erklärungen

Dies waren die Aufklärungen zur Hauptübung: Ruhiges Verweilen und Intuitive Einsicht. Dabei sind

zuerst alle Übungen zum Betrachten [des Geistes] zu machen. – Das waren die Punkte eins bis vier im Lhagtong, das Untersuchen, Erforschen.

Danach, im nächsten Schritt, sind hier, wenn zu allen [Übungen] die Erfahrungen entstanden sind, die

Aufklärungen alle zusammen gegeben. – Das sind die Kapitel fünf bis acht, die wir in diesem Kurs ge-macht haben.

Es wäre auch möglich gewesen, die Aufklärungen jeweils einzeln passend zur jeweiligen Erfahrung zu

geben. – Also zuerst zu sagen: „Wie untersuche ich das und welche Erfahrungen entstehen dabei?“ und dann die Erklärzungen dazu zu geben.

Doch hier wurden zunächst alle Übungen gebündelt, ungeachtet der vielen Worte [durch Wiederho-

lungen], und erst danach die zu den vollständigen Erfahrungen passenden Aufklärungen gebündelt

gegeben. Die beiden Passagen wurden also voneinander getrennt, wie aufeinanderfolgende Punkte

zum Abhaken. Würden die Aufklärungen gleich am Anfang gegeben, bestünde die Gefahr, aufgrund

der Aufklärungen den Halt zu verlieren und jemand zu werden, der den Dharma zwar kennt, aber

unempfänglich ist.

Jemand, der meint zu wissen, ist in der Praxis am allerschwersten zu führen, denn er weiß ja schon. Ihr alle

seid sehr intelligente Menschen, möglicherweise auch sehr redegewandt und belesen. Dann kann es sein,

dass die Lehrerin, die euch führt, gar nicht so redegewandt und gar nicht so belesen ist wie ihr, aber die

innere Erfahrung hat. Versucht einmal, als Lehrer so jemanden zu führen. Das ist ganz schön schwierig, weil

das viele Buchwissen, das viele Gehörte unter Umständen den Geist ziemlich unempfänglich gemacht hat für das, worum es eigentlich geht.

Redegewandtheit ist kein Zeichen für Erkenntnis. – Auch was mich angeht. Ich bin redegewandt, das habt ihr

sicherlich gemerkt, aber das war ich schon als Kind. Das ist keine Frucht der Dharmapraxis. Das ist zwar

zusätzlich noch geschult worden, aber bitte verwechselt das nicht. Die beiden haben nichts miteinander zu

tun. Es ist ganz wichtig, sich das klar zu machen. Die Fähigkeit, sich mit Worten auzdrücken, entsteht durch

bestimmte Bedingungen, hat sicher mit Kindheit, Familie und Jugend zu tun, vielleicht mit früheren Leben,

aber es ist nicht etwas, das notwendigerweise durch tiefe Erkenntnis entsteht. Man kann ganz schön herum-

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stottern; man hat die Erkenntnis gemacht, findet aber die Worte nicht so recht. Das kann man lernen, wird

aber deswegen nicht unbedingt zum großen Pädagogen.

Also passen wir auf, dass wir nicht einfach nur lesen, die Sachen innerlich abhaken und dann meinen, dass

dies die Gewissheit wäre, von der Karmapa hier spricht, weil das intellektuelle Verständnis so klar geworden

ist, dass es das Gefühl von Gewissheit erzeugt. Die Gewissheit, von der hier gesprochen wird, hat Gendün

Rinpoche so beschrieben: „Selbst wenn der Buddha das Gegenteil behaupten würde, wären wir sicher und

würden die Dinge um keine Spur anders sehen.“ Von dieser Art Gewissheit ist hier die Rede. Sie muss ange-

sichts des Todes tragen, eine innere Gewissheit. Sie darf nicht schwanken.

Um das zu verhindern, habe ich die Aufklärungen in dieser Weise gegeben.

Um zu verhindern, dass jemand unempfänglich wird, hat Karmapa die Aufklärungen in dieser Weise gege-ben. Erst die Übungen, damit die Erfahrungen gemacht werden, und dann die weiter gehenden Erklärungen.

Diese Punkte sind die Hauptpraxis.

Ich stehe jetzt vor der Wahl, wie ich hier weiter mache. Klar, wir haben noch zwei Seiten vorbereitet, aber da

ist so viel Stoff drin, dass ich mich entschlossen habe, für heute hier aufzuhören.

Meditation

Ganz eins werden mit dem Erleben. –

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sausen lassen. –

Alles Beschäftigtsein mit irgend etwas einfach lassen. –

* * *

Am letzten Vormittag empfiehlt es sich einen Ausblick zu geben, wie man die Praxis im Alltag integrieren

kann. Ich war hin- und hergerissen, ob ich mit den Unterweisungen im Text weitermachen soll oder ob ich

frei sprechen und euch erklären soll, worum es geht. Tatsächlich schreibt Karmapa im nächsten Abschnitt genau die Dinge, die ich euch hätte erzählen müssen. Deswegen machen wir noch ein Stück weiter im Text.

Dritter Teil: Schlussbemerkungen zum Vertiefen der Übung

1. Von ganzem Herzen auf diese Weise weiterpraktizieren

Es ist klar, dass es uns allen ein Anliegen ist, mit der stillen Meditation weiterzumachen und Geistesruhe und

intuitive Einsicht zu vertiefen. Beide Aspekte der Praxis brauchen Vertiefung, sodass wir zuverlässig jeder-

zeit in Geistesruhe finden können und zuverlässig jederzeit das Wesen des Geistes erfahren und anschauen können. Das ist unser Ziel.

Diese stille Praxis braucht aber eine Einbettung in andere Formen der Praxis, die unser Herz stimulieren –

die Hingabe – und in Formen der Praxis, in denen wir kontemplieren – Vergänglichkeit, Tod, kostbares Men-

schendasein usw. Wir brauchen diese einbettenden Praktiken, die unsere Herzensenergien ins Fließen brin-gen, und wenn die im Fließen sind, dann ist der beste Moment zum Meditieren.

Was nun das Meditieren angeht, schreibt der Karmapa:

Wenn im ausgeglichenen Verweilen das Gewahrsein so stabil bleibt, dass es sich zu Unabgelenktheit

ausweitet, dann ruhe unmittelbar darin.

Wenn unsere Meditation also ganz stabil wird und wir in gar kein Greifen mehr hineingezogen werden, dann gibt es nichts weiter zu tun.

Wenn dann aber in der Nachmeditation Abgelenktheit auftaucht, dann wechsle [immer wieder] ab

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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zwischen ausgeglichenem Verweilen [in Meditation] und dem Wahren der Unabgelenktheit [in der

Nachmeditation].

Hier geht es also darum, in der Aktivität unabgelenkt mit dem Wesentlichen verbunden zu bleiben – eigent-

lich im Mahamudra zu bleiben. Karmapa schreibt für Praktizierende, die in ihrem Alltag so viel Zeit haben,

dass sie, sobald sie merken, dass sie in ihrer Aktivität wieder in ein Greifen hineingeraten und ablenkt sind,

sich sagen können „Okay, und nun zurück in die Praxis!“, sich wieder hinsetzen, entspannen, loslassen.

Wenn sie wieder im Loslassen angekommen sind, dann wieder in die Aktivität. Das ist mit Wechsel von

Meditation und Nachmeditation gemeint.

Im normalen Alltag – für die meisten von euch – sieht es so aus, dass es Meditation gibt und der Hauptteil

des Tages die Nachmeditation ist – alles außer dieser einen Stunde –, und dann kommt wieder die

Meditation. Die Phase zwischen den Meditationen ist also relativ lang. Was wir aber aus dieser Passage für

uns ableiten können, ist, dass wir versuchen, häufiger den Fuß in die Tür zu kriegen und zwischendurch eine Pause einzulegen, eine Pause des totalen Entspannens und Zur-Ruhe-Kommens.

Das geht auch bei Berufstätigen, einige Berufe favorisieren das. Wer zum Beispiel in einem therapeutischen

Beruf ist, kann die Pausen von einem Patienten bis zum nächsten nutzen. Klar, man braucht fünf Minuten für

Toilette, Tür aufmachen, Hände schütteln usw., aber man kann es sich so einteilen, dass fünf Minuten blei-

ben, um sich hinzusetzen, sich fallen zu lassen, ganz in Ruhe wieder in die Offenheit des Geistes einzutreten

und sich auf den Nächsten einzustellen, der kommt. Auch andere Berufe haben die Möglichkeit dieser Fünf-

Minuten-Pausen. Nutzt sie! Und wenn ihr schon berentet seid, nutzt eure Zeit! Rentner sind bekannt dafür,

dass sie mehr zu tun haben als vorher, als sie selber noch in der Arbeit waren. – Ist der Hammer, oder? Wo

geht die Zeit hin?

Also: Fuß in die Tür kriegen und direkt darauf achten, dass sich viele kleine Meditationsphasen ergeben.

Idealerweise ist eine Meditationsphase so lang, dass sie uns ermöglicht, ganz zur Ruhe zu kommen und in

diese offene Weite des Geistes zu finden; darum geht es. Wie lang das braucht, müsst ihr selber

herausfinden. Für die meisten wird es vielleicht eine Viertelstunde sein, fünf Minuten sind echt kurz. Aber

wer es schafft, sich selber runterzufahren, so wie mit dem Fahrstuhl, der kann das mit einem Atemzug. Das

können wir, nicht wahr? Das können wir lernen, wir brauchen nicht zu denken, dass es ewig braucht.

Ein weiterer Hinweis, auch wenn wir noch nicht so weit sind mit unserem Verständnis:

Kontempliere den Tod und die Unbeständigkeit: Der Geist, der sich angesichts des Todes und der-

gleichen fragt: „Wer stirbt? Der Körper, die Rede oder der Geist?“ – dieser denkende Geist ist es, der

stirbt.

Das ist nicht die klassische Art der Kontemplation über den Tod. Der denkende Geist, genau das wird nicht

mehr sein; genau das müssen wir hinter uns lassen. Denkt daran und geht mit eurer Entspannung, mit eurem

Gewahrsein in die Tiefen des nichtbegrifflichen, nichtdenkenden Geistes. Dort ist euer wahres Zuhause. Das

ist, was nach dem Tod weitergeht. Genau dieser denkende Geist ist es, der stirbt.

Indem du die Natur des Geistes, der stirbt, erkennst, wirst du frei vom Festhalten an Beständigkeit

und Unbeständigkeit, da es sich dabei nur um geistige Benennungen handelt.

Wow! Das ist nochmal ein ganz anderes Kontemplieren von Vergänglichkeit und Tod. Merkt Ihr? Hier wird

kontempliert, was denn wirklich im Tod übrigbleibt. Spielen denn da Beständiges und Unbeständiges über-

haupt noch eine Rolle? Das Einzige was bleibt, ist dieses Grundgewahrsein, in dem zwar in seinem dualis-

tischen Aspekt feine Spuren des jetzigen Lebens und der vorherigen Leben aktiv sind, aber das in seinem

befreiten Aspekt die Natur des Erwachens ist. Das ist, was bleibt. Der ganze – sagen wir salopp – Kokolores

unserer jetzigen Existenz muss zurückgelassen werden. Verlagsprojekte, Stiftungsprojekte, Bücher, Unter-

weisungen, Wissen, Freundschaften, … all das muss zurückgelassen werden. Was bleibt, ist nur das Eigent-liche.

Okay, alles andere sind nur geistige Benennungen, das sind nur Bezugspunkte, Fixpunkte für uns, um uns irgendwie sicher zu fühlen. Es gibt aber keine wirkliche Sicherheit.

Kontempliere in ähnlicher Weise all die Nachteile von Samsara – klassische Kontemplation, das uner-

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messliche Leid in Samsara zu meditieren; aber jetzt geht es um eine ganz andere Kontemplation dieser Nach-

teile von Samsara – und du wirst verstehen, dass Samsara und Nirwana [so wenig verschieden] sind wie

der Berg hier und der Berg dort drüben im Traum.

Zwei Berge sind sich schon recht ähnlich – sie erscheinen noch verschieden, aber in ihrer traumgleichen

Natur sind sie völlig identisch. Kontempliere die Nachteile von Samsara, und du wirst sehen, es hat gar

keine Nachteile. Das ist eine neue Art, die Nachteile von Samsara zu kontemplieren. Es hat Nachteile aus der

Perspektive des Ich-Anhaftens. Da runzelt man die Stirn und sagt: „Ist doch ziemlich daneben, dieses

Samsara.“ Blickt man aber auf das Wesen der Dinge, auf das Wesen des Erlebens, so hat schmerzhaftes,

leidvolles Erleben dieselbe Natur wie freudvolles Erleben und wie erwachtes Erleben. Kontemplieren wir

also die Nachteile von Samsara nochmal neu. Der größte Nachteil von Samsara ist, dass wir seine Natur nicht erkennen. Man könnte eigentlich sagen, das ist der einzige Nachteil.

Außerdem kultiviere mit ganzem Herzen Liebe und Mitgefühl, indem du alle Lebewesen als deine

Eltern verstehst.

Gibt es dazu noch irgendwas zu sagen? Nein, oder? Das ist tief und einfach; immer gleich anwenden: „Hallo,

ihr seid meine Eltern.“ Wir sind füreinander viele Male Vater und Mutter gewesen und wir kümmern uns

umeinander als wären wir eine große Familie. Darum geht es. Wir sind in unzähligen Familienbanden

miteinander verbunden über viele, viele Leben. Und selbst wenn wir das gar nicht so merken, so können wir

es uns doch vorstellen, denn schließlich sind wir ja für andere Menschen Familie. Du – [spricht einen

Treilnehmer an] – bist für gewisse Menschen Familie; du bist Sohn, Bruder usw. Du brauchst ja gar nicht

unbedingt Familie für mich zu sein, ich brauche darüber ja gar keine Gewissheit zu erlangen, aber ich kann

mir klar machen, dass du einigen Menschen so lieb bist, wie mir meine eigenen Brüder lieb sind oder wie ich

meinen Eltern lieb bin oder war. Das kann ich mir klar machen und dann sagen: „Warum mache ich

eigentlich so einen künstlichen Unterschied? Warum gebe ich den Menschen, die ich als meine Familie

betrachte, so große Aufmerksamkeit und warum kümmere mich nicht im gleichen Maße um die Familie des Nachbarn? Um die Familie desjenigen, der vor mir sitzt, den ich treffe?“

Wir können mit unserer Praxis in eine Richtung gehen, wo wir sagen: „Wir sind eine große Familie.“ Wir

können das mit jedem, den wir treffen, machen; mit jedem auf dem Planeten. Wir können die Tiere miteinbe-

ziehen und auch die anderen Lebewesen. Das ist die große Familie. Und diejenigen, die an vergangene

Leben glauben, können sich klar machen, dass wir schon so viele Male gelebt haben, dass wir tatsächlich

Familie füreinander sind; von früher her.

Wir sind auch Feinde, wir haben uns auch bekriegt, geschlagen, umgebracht usw. Auch das ist Familie. Alle

wollen wir glücklich sein, alle wollen wir Leid vermeiden, alle wollen wir eigentlich Einkehr halten im

eigenen Geist, und darin sind wir bereits Familie. Es ist doch gar nicht so wichtig, ob wir diese Blutsbande

miteinander haben. Das ist doch gar nicht so wichtig. Wir sind ja Familie im selben Anliegen des Herzens:

Alle wollen glücklich sein, aber kaum jemand weiß, wie er es anstellen soll. Darin sind wir Familie. Wenn

wir krank sind, geht’s uns allen schlecht; sterben müssen wir auch alle. Mit Hunger und Durst, Hitze und Kälte haben wir uns doch alle rumzuschlagen, allein darin sind wir doch schon Familie.

Das sollten wir also immer wieder von ganzem Herzen kultivieren. Ich würde jeden Tag einen Moment dafür

verwenden und so eine kleine Kontemplation einbauen. Das könnte ja der Moment sein, wo wir diese vier

Unermesslichen kontemplieren: „Mögen wir alle glücklich sein …“

Ebenso kultiviere Bodhicitta in Streben und Anwendung bis zum [tatsächlichen] Geist des Erwachens;

Bis der tatsächliche Geist des Erwachens entsteht. Der tatsächliche Geist des Erwachens ist das letztendliche

Bodhicitta. Das ist das Erkennen der Natur des Geistes mit all den damit verbundenen Qualitäten. Bis dahin

lassen wir uns von Liebe und Mitgefühl, von dem im letzten Satz die Rede war, motivieren, es wirklich

anzustreben, alle Lebewesen von Leid zu befreien und sie ins Erwachen zu führen und diesen Wunsch

umzusetzen. Das ist das Anwenden. Das ist das Bodhicitta der Anwendung, dass wir uns tatsächlich so

verhalten, so praktizieren und uns so einbringen in diese Welt, dass wir dazu beitragen, dass Menschen

glücklich sind; dass alle Lebewesen glücklicher werden und erwachen können; dass wir etwas tun in diese

Richtung, unser kleines bisschen dazu beitragen.

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…erkenne seine Natur und verweile ungekünstelt darin.

Die Natur, das Wesen des Bodhicitta ist dasselbe Wesen wie die Natur des Geistes, nichts anderes. Auch der

erwachte Geist ist klar, leer, d.h. nicht fassbar, dynamisch usw.

Dadurch verstehst du, dass seine Erscheinungsform der strahlende Geist des Erwachens und sein

Wesen frei von schweifenden Vorstellungen ist, und dass es nichts zu tun gibt. Ruhst du in [diesem

Verständnis], dann werden Leerheit und Mitgefühl untrennbar.

Karmapa fordert uns hier auf, dass – wenn wir Liebe und Mitgefühl praktizieren – wir auch Liebe und

Mitgefühl, also Bodhicitta in Streben und Anwendung auf ihre wahre Natur hin untersuchen. Das wahre

Wesen von Liebe und Mitgefühl ist wiederum die Natur des Geistes, sodass wir auch nicht im Vergegen-

ständlichen von Liebe und Mitgefühl hängen bleiben und auch das in seiner traumgleichen Natur erkannt wird. … Dann werden Mitgefühl und Leerheit – Mitgefühl und Weisheit – untrennbar.

Fragen der Teilnehmer

Teilnehmer: Du hast hier vor Jahren einen Karma-Pakshi-Kurs gemacht, ich habe vorher ein paar Jahre

Karma Pakshi praktiziert, dann kam der Kurs und nach ein paar Monaten habe ich mit Karma Pakshi

aufgehört, weil ich festgestellt habe, dass ich gnadenlos werde. Ich wurde unheimlich hart. Dann habe ich

Amithaba gemacht, weil ich dachte: Karma Pakshi – zornvoll – und Amithaba – friedlich. Nach ein paar

Jahren bin ich brav geworden, und jetzt merk ich warum. Wenn dieser gewisse Aspekt nicht da ist, dann

wird’s halt kalt. Ich habe zwar das Gefühl gehabt, dass ich extrem klar sehe, aber wie ein Messer, nicht wie

Manjushri mit seinem Schwert, sondern wie mit einer Axt. Wenn das fehlt, was du ansprichst, dann brauch

ich gar nichts machen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich da meine Meditation verändert hat, weil ich das

stärker mit berücksichtige.

Jetzt wäre es wirklich an der Zeit; du könntest diese Praktiken nochmal aufsuchen. Da können wir dann

wirklich so aufgehen in dieser Einheit von Mitgefühl und Weisheit. Da ist so eine weiche, liebevolle, nicht strafende Weisheit, die unglaublichen Raum lässt für all die Verirrungen der Menschen usw.

Ich treff‘ mich immer mit Karma Pakshi, wenn hier Mahakala gemacht wird.

Wunderbar! Sehr schön.

Andere Bemerkungen?

Teilnehmer: Ich habe eine Verständnisfrage zur Wiedergeburt, weil ich das nicht so ganz verstehe. Wenn

sich beim Tod das alles auflöst, all dieseGedanken usw., dann müsste sich ja auch das Ich auflösen, weil es

sich ja auch aus Gedanken und Identifikationen zusammensetzt. Wenn sich das alles auflöst und nur noch

dieses ursprüngliche Gewahrsein bleibt, was ist es, was da ins nächste Leben geht?

Wenn das so wäre, wie du beschreibst, dann würde nichts ins nächste Leben gehen. Wenn sich alles in dieses

ursprüngliche, zeitlose Gewahrsein auflöst, kommt es nicht zu einer Wiedergeburt; es sei denn aufgrund von

Bodhicitta, dass man da noch Impulse setzt. Tatsächlich habe ich vorhin aber gesagt, dass in diesem Grund-

gewahrsein Spuren des Ich-Anhaftens aktiv sind, wenn es noch nicht ganz von diesem Geist des Erwachens,

von Erkenntnis durchdrungen ist. Aus diesen karmischen Spuren, die im Grundgewahrsein, diesem dualisti-

schen Gewahrsein immer noch aktiv sind, entstehen die Projektionen, die zur nächsten Wiedergeburt führen.

Wenn dieses Grundgewahrsein voll befreit ist von dem Greifen, den Identifikationen, die auf subtile Weise

darin aktiv sind, dann findet keine weitere Wiedergeburt statt. Das hast du schon richtig verstanden, nur hast

du das Grundgewahrsein per se mit erwachtem Gewahrsein oder zeitlosem, ursprünglichem Gewahrsein

gleichgesetzt. Aber dieses Grundgewahrsein, zu dem ihr vielleicht hier und da schon mal Zugang hattet, hat

noch leichte dualistische Spuren – leichte oder intensive. Es ist durchdrungen von dieser Dualität und von

der Ich-Bezogenheit, und da gibt es genug Kräfte, die dann wieder ein Aufflackern in eine nächste Existenz

hinein bewirken. Ihr könntet euch vielleicht wirklich mal zumuten, Unterweisungen dazu zu bekommen,

wenn es unterrichtet wird. Das sind die Unterweisungen zu Namshe-Yeshe – dualistisches Bewusstsein und zeitloses Gewahrsein, dieses Grundgewahrsein –, wo das sehr schön beschrieben wird.

Ich wollte mal fragen, wie wichtig es ist, eine gewisse Achtsamkeit, eine gewisse Präsenz zu halten? Weil du

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manchmal sagst, man muss immer so einen kleinen Faden der Achtsamkeit haben und mir ist aufgefallen,

wenn ich den nicht habe, drifte ich ab in eine Projektion. Ich dachte dann immer, ich wäre weg, aber ich

habe mir das dann mal genauer angeguckt, ich bin dann einfach irgendwo anders: in dem, was ich mir

gerade so vorstelle. Weil es ist ja unbewusst und in dem Moment halte ich das alles für total wirklich und

habe keine Chance, das zu bearbeiten oder mir anzugucken oder ein Fließen reinzubringen oder irgendwie

zu erkennen, was da wirklich los ist. Und jetzt denke ich mir, dass man immer so ein bisschen gewahr sein

sollte und das sagt ja auch der erste Abschnitt so.

Ja, das sehe ich auch so, das unterschreibe ich. Was du gerade beschreibst, ist ganz wichtig und absolut

essentiell. Ohne diese kontinuierliche Achtsamkeit geht es zunächst mal nicht. Und diese Achtsamkeit ent-

wickelt sich, sie wird feiner, sie wird gewahrer. Sie kriegt nicht nur mit, was passiert, sondern auch wie es

geschieht, wie es auftaucht, wie es im Prozess ist, wie die Natur des Erlebens ist. Es geht vom Was zum Wie,

aber das sind Prozesse, die innerhalb der Achtsamkeit stattfinden. Also: volle Kraft voraus in die Achtsam-

keit.

Aber nicht so angestrengt. Ich finde, wenn man es zu angestrengt macht, dann braucht man auch einen Aus-gleich, und wenn man dann entspannen will, denkt man wie so herum.

Ja, nicht zu angestrengt. Zu angestrengt ist zu angestrengt.

Oder vergegenwärtige dich mittels der Vasenermächtigung unter den vier Ermächtigungen als

Buddha-Aspekt (Yidam) in einer beliebigen der vier Vorgehensweisen des Visualisierens.

Dazu müsst ihr natürlich einiges erklärt bekommen. Wenn ihr eine größere Einweihung, Ermächtigung oder

Initiation bekommt, so hat sie vier Stufen. In der ersten Stufe wird euch erklärt, wie ihr euch selber als

Yidam visualisieren könnt; z.B. als Medizin-Buddha. Stellt euch vor, ihr seid blau mit der Aurura-Pflanze in

der Hand, der Nektarschale im Schoß, im Gewand, umgeben von anderen Medizin-Buddhas und ihr werdet

ermutigt, Vertrauen in eure Natur als Medizin-Buddha zu entwickeln. Man nennt die erste Ermächtigung

Vasenermächtigung, weil uns dabei die Vase auf den Kopf gesetzt wird und wir auch etwas Nektar in die

Hand bekommen. Wir trinken davon mit dem Auftrag, uns in dem Moment als z.B. Medizin-Buddha

vorzustellen.

Hier sagt Karmapa: „Konzentriere dich darauf, wirklich als Tara, Medizin-Buddha, Tschenresi und derglei-

chen in dieser Welt zu sein. Bleibe in deinem Vertrauen als Yidam, als Buddha. Und du kannst dabei egal

welche der vier Vorgehensweisen der Visualisierung benutzen.“ – Man kann eine Visualisierung auf einmal

entstehen lassen, in einem Doppelschritt, einem Dreierschritt und einem Fünferschritt. Die Details brauchen

euch nicht zu interessieren. Es gibt da einen stufenweisen Prozess, wo man erst noch die Keimsilbe visuali-

siert, dann das Attribut, aus dem Attribut mit der Keimsilbe entsteht dann die Gottheit und so weiter. Wie auch immer ihr es gelehrt bekommt, so macht ihr es einfach im Rahmen eurer Yidam-Praxis.

Wie viele von euch praktizieren denn schon mit einem Yidam? Ja … das sind doch schon fast fünfzehn, zwanzig. Ich ermutige euch, das wirklich in den Alltag hineinzunehmen.

Lass in deiner Meditation das Gefäß (die Welt) und seinen Inhalt (die Lebewesen) als Gottheiten

erscheinen und die Geräusche als Mantras und betrachte ihr wahres Wesen.

Wir visualisieren alle Wesen auch als Gottheiten, als Buddhas, nicht nur uns selbst. Das ist ganz wichtig. Nie

bin ich nur selbst Yidam, alle sind gleichzeitig auch Yidam. Ansonst würden wir eine ganz seltsame Praxis

machen, wo es plötzlich einen Unterschied zwischen uns und den anderen gibt.

„Die Geräusche erscheinen als Mantras“ bezieht sich auf den spontanen Klang der Natur des Seins. Das

heißt nicht, dass wir irgendwie versuchen müssten, im Rauschen der Bäume OM MANI PEME HUNG zu

hören. Nein, das ist nicht nötig, die können durchaus anders klingen. Aber alle Geräusche instruieren uns

über die Natur des Seins, über das Wesen des Geistes. Was ist das wahre Wesen von Hören? Es ist dasselbe,

was wir das Wesen des Geistes nennen, und in diesem Sinne betrachten wir alle Geräusche als Mantra-Boten

der Natur des Seins.

„Und betrachte ihr wahres Wesen“: Betrachte das wahre Wesen deiner Yidam-Visualisation, das wahre

Wesen der Mantras und der Geräusche, aller Lebewesen. Betrachte mit Hilfe der Yidam-Praxis immer das

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wahre Wesen von dem, was du erlebst.

Und kultiviere dabei die Praxis der Einheit (von Entstehungs- und Vollendungsphase, in der du frei

von begrifflichem Denken die Entstehungsphase mit dem Mahamudra und mit erhellender Klarheit

verbindest).

Die Klammer hier steht bereits im tibetischen Text. Es handelt sich um eine Einfügung, die später vorgenom-

men wurde, damit die Leser verstehen, was Karmapa hier mit Einheit meint. – Ich verstehe, dass das für viele von euch erstmal fremde Begriffe sind. Lehnt euch innerlich einfach zurück:

Entstehungsphase bedeutet, dass wir eine Vorstellung entstehen lassen. Wie hier zum Beispiel die Vor-

stellung eines reinen Landes mit Yidam-Gottheiten, also mit Buddhas in diesem reinen Land. Das nennt man

die Entstehungsphase.

Die Vollendungsphase ist, zu sehen, was die wahre Natur dieser Vorstellung ist: Sie ist substanzlos, leer,

fließendes Erleben und jederzeit selbstbefreiend, also immer wieder sich selbst auflösend, immer wieder in

ein neues Erleben übergehend.

Die Entstehungsphase und die Vollendungsphase gleichzeitig als Einheit zu praktizieren bedeutet, dass ich

mir bei allem Anwenden von Methoden bewusst bin, dass das, was ich gerade erlebe oder scheinbar erzeuge,

keinerlei Substanz hat. Und dadurch erkenne ich – mittels des bewussten Entstehenlassens von

Vorstellungen – die Natur aller Vorstellungen, aller Geistesbewegungen, aller Gedanken und Gefühle. Das

bewusste Hervorbringen oder Entstehenlassen von Vorstellungen hilft mir, die Natur der spontan

entstehenden Vorstellungen zu verstehen.

Aktivität – Handlungsweisen des Mahamudra

1. Aktivität von Samantabhandra

Auch während du gehst, schläfst, sitzt, sprichst – das heißt in allen Aktivitäten und zu allen Zeiten –

erkenne die wahre Natur und gehe in Mahamudra auf.

Eingerichtet Entstehen und Vollenden oder Geistesruhe und Einsicht in ihrer Untrennbarkeit zu

praktizieren, ist zudem [die Aktivität von] Samantabhadra.

Das ist ein Standardausdruck. Die Aktivität von Samantabhadra ist, die Einheit von Ruhe und Einsicht, von

Entstehen und Vollenden zu praktizieren. Das ist eine Form, wie Mahamudra-Praktizierende unterwegs sind, was sie zum Herz ihrer Praxis machen.

Karmapa stellt uns jetzt vier verschiedene Aktivitäten, Handlungsweisen des Mahamudra vor. Im Mahamu-

dra wird unterschieden zwischen drei Aspekten: Sicht, Meditation und Aktivität.

Ich sollte mich das nächstes Jahr daran erinnern, euch diese Grundlagen des Mahamudra mal als Struktur zu erklären. Das würde sich ja anbieten, da wir dieses Mal bis Lhaktong gekommen sind.

Sicht ist das, worum wir uns dieses Mal gekümmert haben. Dieser Kurs, diese Überrtagung dient dem Ent-

wickeln eines tiefen Verständnisses von dem, was die Dinge sind. Wir entwickeln eine tiefe Sicht, ein Sehen

von dem, wie es ist. Und diese Sicht, die ihr hoffentlcih jetzt weiterentwickelt habt oder entwickelt habt,

muss dann in die Meditation hinein gebracht werden. Das haben wir in diesem Kurs fast gar nicht gemacht.

Wir haben sehr wenig meditiert, das ging gar nicht. Es ist jetzt eure Aufgabe, diese Sicht wach zu halten und in die Meditation hinein zu bringen.

Die Meditation wird diese Sicht in euch ausweiten, wieder entstehen lassen, zu einem tieferen Verstehen

werden lassen. Eure Sicht wird zu einer intuitiven Sicht werden und nicht eine intellektuelle Sicht bleiben.

Sie wird in euch Resonanz finden, sich klären und es euch ermöglichen, auf ganz gelöste Art und Weise zu meditieren.

Im nächsten Schritt geht es dann darum, aus dem Meditieren ins Handeln zu gehen. Das nennt man Aktivität.

Deswegen sind diese Instruktionen auch im Schlussteil. Karmapa hat sich bis hierhin um Sicht und Medita-

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tion gekümmert, und jetzt kommen ein paar Hinweise, wie wir ins Handeln gehen.

Die erste Möglichkeit ist, in die Aktivität von Samantabhadra einzusteigen und in allem, was wir tun, die

Einheit von Geistesruhe und Einsicht zu wahren, die Einheit und Untrennbarkeit von Entstehungs- und

Vollendungsphase, also dem Entstehen von Vorstellungen und dem Gewahrsein ihrer wahren Natur, indem

sie sich vollenden oder auch auflösen.

2. Geheime Aktivität

Ist das – die Aktivität von Samantabhadra – stabil geworden, praktiziere mit Gewahrsein an furchtein-

flößenden Orten – an Kraftplätzen, an Orten, die Angst machen, wo Emotionen hochkommen –, wobei du

Sicht, Mediation und Verhalten geheim hältst. Das ist die Geheime Aktivität.

Das heißt, ich erzähle den Leuten gar nicht, dass ich gerade dabei bin zu praktizieren. Ich gehe ins Büro, an

meinen Arbeitsplatz; das ist ein Kraftplatz, nicht? Die Paarbeziehung ist ein explosiver Kraftplatz, oder mal

ein österlicher oder weihnachtlicher Familienbesuch. Wir gehen an den Kraftplatz. Wir wissen, was wir tun,

erzählen aber niemandem, dass wir jetzt gerade – auf der Familienfeier ober bei der Teambesprechung am

Arbeitsplatz – praktizieren. Das kriegt niemand mit. Wir bleiben so natürlich, wie es irgendwie geht. Das ist

unsere persönliche private Praxis. Und ja nicht darüber sprechen! Dann kommt da Stolz rein oder so ein

Angeben, dass wir mit unserer Praxis angeben oder auch, dass wir unsere Unsicherheit unnötig ausbreiten

und Hindernisse bekommen, indem wir über unsere Praxis sprechen. Das braucht niemand zu wissen. Des-

wegen heißt es „geheime Aktivität“, weil wir an herausfordernden Orten, in herausfordernden Situationen

praktizieren, ohne dass es andere mitbekommen. Dafür müssen wir schon einen rechten Grad an Stabilität haben.

3. Aktivität in der Menge

Ist das stabil geworden, ohne dass du abschweifst, dann übe dich, indem du dich unters geschäftige

Volk mischst und das zu deinem Weg machst. Das ist die Aktivität in der Menge.

Wenn man also richtig stabil geworden ist und seine Aktivität an den Kraftplätzen schon aufrechterhalten

kann, dann geht man in noch größere Herausforderungen hinein; dort wo richtig was los ist, wo die Anfor-

derungen nur so einprasseln, und praktiziert dort weiter. Ihr könnt dann z.B. Koordinatoren in einem

Dharma-Projekt werden, oder … oder … oder. Also in einer Funktion, wo man nicht zur Ruhe kommt – Ge-

schäftsleitung übernehmen oder die Stundenpläne für das Kollegium ausarbeiten. Es gibt immer wieder so

heiße Posten, um die sich eigentlich alle gerne drücken möchten, weil dort alles zusammenläuft und man

ständig im Wechselspiel des Habenwollens und Nicht-Habenwollens der verschiedenen beteiligten Personen

ist.

Das wäre also eine verschärfte Form der Aktivität, wo wir – wenn wir da im Mahamudra bleiben wollen – schon richtig weit sind.

Teilnehmer: Weil wir bei Liebe und Mitgefühl bleiben wollen.

Bei Liebe und Mitgefühl. Ist das was anderes als Mahamudra?

Nein, …

Es ist erst mal näher, nicht? Liebe und Mitgefühl, das hört schon eher machbar an, aber Mahamudra ist dann

schon ein bisschen schwieriger. Aber bleiben wir erst mal in Liebe und Mitgefühl. Das ist auch schon viel.

Bleiben wir erst mal gelassen. Allein schon die Herausforderung, gelassen zu bleiben, ist immens.

Teilnehmer: Ich kenne das. In der Menge ist es meistens dann so, dass man in der Arbeit den Dharma prak-tizieren darf und der Zoff, der dann da abläuft …

Das ist für all diese Situationen so. Wir sind umgeben von Menschen, die so sind, wie sie sind. Ja, da findet

unsere Praxis statt.

Da wird dann aber erwartet: Jetzt sag doch mal was! Man soll da ja immer auf irgendeine Art und Weise eine Beziehung …

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Ja natürlich! Das ist ja gemeint damit! Du kannst dich nicht zurücklehnen, du musst handeln, du musst sofort

antworten, du bist wirklich mit anderen Leuten unterwegs. Da hast du keine Zeit, zwischendurch mal auszu-büchsen und kurz nochmal irgendwo anders Mahamudra zu praktizieren. ON THE SPOT!

Teilnehmer: Ich kann dafür vielleicht ein Beispiel geben: Ich bin nach längerer Praxiszeit wieder zurück in

den Beruf gegangen und habe dort auch niemandem gesagt, dass ich praktiziere. Und das Feld, das ich mir

ausgesucht habe, war wahrscheinlich genau das entgegensetzte von dem, was man sich im Kloster vorstellt:

eine Krisenberatungsfirma mit Leuten aus GSG-9, Sondereinsatzkommandos, d.h. also Leute, mit denen ich

… ich wußte gar nicht, dass so etwas existiert. Und darin zu praktizieren – nicht Mahamudra, sondern

zumindest Gelassenheit –, das war eine große Herausforderung, vor allen Dingen dann auch zu sehen, dass

es kein Andocken in irgendeiner Weise gab bei diesen Leuten, die anscheinend gar nichts damit zu tun

haben. Und da im Mitgefühl und in der Liebe zu bleiben und darin sein zu können, das ist eine sehr große Praxis gewesen…

Ja, das ist ein gutes Beispiel.

… und dabei noch zu entdecken – das war für mich das Größte –, dass das wunderbare Leute sind und dass

ich gerade am Anfang überlegt habe: Kann ich das überhaupt? Die haben theoretisch auch mit Abwehr, mit

Waffen zu tun, die holen Leute aus Krisengebieten raus und das ist ein Einsatz, den sie aus ganzem Herzen

machen. Und gerade buddhistisch orientierte Menschen wollen damit nichts zu tun haben. Und im Gespräch

merkt man, dass sie – obwohl die so rauh wirken, vor allem die Männer – wirklich ganz viel Herz haben. Sie

sind das Immun-System unserer Gesellschaft. Ich habe da ganz viel Mitgefühlspraxis und Liebe entdeckt. Ich

bin aufgeregt, darüber zu sprechen. Diese Mission, mich in so eine Praxis reinzustellen und niemandem

davon zu sagen, was ich sonst mache und den ganzen Tag nur bei der Handlung zu sein, war ganz wertvoll.

– Und inzwischen praktizieren einige.

Danke.

4. Aktivität eines Heruka

Je nachdem wie stabil man ist, unterscheidet man große, mittlere und kleine [Aktivität]. Die große hat

keine spezifischen Merkmale, wenn du den großen Pfad der Verbindung erreicht hast und falls du es

aufwändig machst…

Für „aufwändig“ müssen wir noch ein besseres Wort finden. Gemeint ist: „Falls du ausführlich in diese Form der Praxis gehen kannst.“

Der große Pfad der Verbindung ist gekennzeichnet von einer enormen Geistesruhe. Es ist ganz, ganz stabile

Geistesruhe, in der bereits intuitive Einsicht durchschimmert. Das ist also das Ende der Praxis von Geistes-

ruhe, wo die Dhyanas erfahren werden – die Vertiefungen, Sammlungen – und immer wieder spontane Ein-

sichten auftauchen. Da gibt es keine spezifischen Merkmale, weil die Praxis da von dieser tiefen Geisteruhe

begleitet wird.

Vor der großen Aktivität gibt es eine kleine Annäherung mit ein bisschen Geistesruhe, ein bisschen Einsicht

und eine mittlere Aktivität mit einem bisschen mehr Geistesruhe und mehr Einsicht. Und wenn der Prakti-

zierende dann wirklich volle Geistesruhe zur Verfügung hat und ein aufkeimendes Verständnis des Geistes,

dann nennt man das die große Aktivität.

Wenn du das erreicht hast …

… dann praktiziere in der Aufmachung eines Heruka [die Handlungsweise eines Heruka], indem du

dich in heftige Umstände hineinbegibst, ohne im Geringsten daran zu denken, ob etwas essbar ist oder

nicht, sauber oder schmutzig, schlecht oder gut. So durchquerst du schrittweise den Pfad der Verbin-

dung und erreichst den Pfad des Sehens.

Der Pfad des Sehens ist der Stromeintritt, das tatsächliche Sehen; das stabile Sehen der Natur des Geistes mit

Gewissheit.

Der Ausdruck „Aufmachung eines Heruka“ stammt noch aus der Zeit, als in Indien die Yogis auf den

Leichenäckern praktiziert haben. Die sind kaum bekleidet über die Straßen Indiens gezogen, mit ihrer

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Schädelschale unterm Arm, der Knochentrompete im anderen, mit Knochen behängt. Man könnte sagen, so

wie heute die Punks rumlaufen. Sie waren die volle Provokation aber furchtlos – ganz im Unterschied zu den

Punks – im Kontakt mit der Welt, nur von Spenden lebend. Sie lebten nur von dem, was sie gefunden haben,

sammelten keine Vorräte an, hatten außer ihren Praxis-Utensilien nichts dabei.

Also: die kleinste Form des Rucksacks und sich ganz der Welt überlassen und überall, wo man hinkommt, zum Wohl der Situation wirken. Wo auch immer es notwendig ist. Das ist die Heruka-Aktivität.

Teilnehmer: Du hattest eben gesagt: Sicht, Meditation und Aktivität sind die drei Aspekte von Mahamudra-

Praxis.

Zuerst kümmern wir uns um das Entwickeln der Sicht, dann meditieren wir in der Sicht und dann bringen wir das, was in der Meditation entstanden ist, in die Aktivität. Das findest du im Mahamudra-Gebet wieder.

Der Nutzen dieser Praxis

Was dich angeht, siegst du über die Maras (die Gegenkräfte des Erwachens) und die über Kleshas

(verstrickende Emotionen) wie auch über das kleine Fahrzeug [einer begrenzten Motivation], was die

Allseits Siegreiche [Aktivität] darstellt. Was andere angeht, bewirkst du mit der großen Aktivität in

der Menge großes und weites Wohl der Lebewesen.

Damit ist also gemeint, dass man über die Maras und Kleshas sowie über mangelndes Bodhicitta siegt, dass

man sich befreit aus dem kleinen Fahrzeug einer begrenzten Motivation, nur um sich selber zu kümmern. Das nennt man die allseits siegreiche Aktivität.

Was andere angeht, bewirkst du mit der großen Aktivität in der Menge großes und weites Wohl der

Lebewesen. – Die Aktivität in der Menge wird wieder abgestuft in klein, mittel und groß. – So gilt auch für

das aktive Handeln, dass der Weg mittels Mahamudra gegangen wird.

Damit meint Karmapa: „So seht ihr, dass auch das Handeln zu Mahamudra wird.“ Es geht nicht nur ums

Meditieren, es geht ums Handeln. Der ganze Punkt des Dharma ist nicht etwa Meditation sondern Handeln

zum Wohl aller Lebewesen; da geht alles hin. Das andere ist nur Methode, es geht um das Sein in der Welt in

wechselseitiger Verbundenheit, im Austausch miteinander, im fürsorglichen Handeln für alle. Darum geht es: frei sein im Leben; alle zusammen.

Bei Menschen mit höchsten Fähigkeiten gibt es nichts weiterzuentwickeln, weil sie frei sind von den

Vorstellungen über Meditationsobjekt und Meditierer.

Menschen mit höchsten Fähigkeiten brauchen sich um die Erklärungen, die er gerade gegeben hat, nicht zu

kümmern, meint Karmapa damit. Da gibt es nichts weiterzuentwickeln, das ist bei denen spontan präsent.

Damit sind Lebewesen wie Sharmapa, Karmapa usw. gemeint, die quasi im vollen geistigen Besitz ihrer

Fähigkeiten aus vergangenen Leben geboren werden und nur noch ganz wenig brauchen, damit das wieder in

die volle Strahlkraft hineinfindet. Wir anderen brauchen schrittweise Erklärungen, weil unsere Praxis sich

schrittweise entwickelt. Und wir brauchen Erklärungen, wie man sie vertiefen und weiterentwickeln kann.

Außer diesen gibt es noch viele Arten, [die Übung] weiterzuentwickeln. Man erfährt sie mündlich von

den Lehrern.

Die Lehrer werden uns immer wieder darauf hinweisen, was für uns die nächsten Schritte sind. Wir brauchen

uns eigentlich gar nicht zu fragen, welche dieser vier Aktivitäten wir ausführen werden. Es geht immer um

den nächsten Schritt; so, wie wir in der Lage sind, das auch zu meistern, dass wir uns nicht überfordern, aber

herausgefordert sind, um uns weiterzuentwickeln. Darum geht es. Und da ist es gut, wenn wir im Austausch

mit den verschiedenen Lehrern bleiben. Wenn ihr die Gelegenheit habt, ein Gespräch mit Karmapa zu füh-

ren, so ist das eine andere Ebene, als wenn ihr mit einem von uns ein Gespräch führen könnt. Das muss man

einfach wissen. Es ist wichtig, dass man mit verschiedenen Lehrern im Austausch bleibt, um Hinweise für die eigene Praxis zu bekommen – mündlich. Das ist dann angepasst auf unsere Situation.

Bei diesem Ansatz zum Vertiefen der Übung – wie er hier vom 9. Karmapa gelehrt wird – verbindet man

das Abwechseln zwischen Meditation und Nachmeditation, den Weg des gemeinsamen Fahrzeugs, die Tradition des Mantra[yana] und die vier Handlungsweisen.

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Abwechseln zwischen Meditation und Nachmeditation. Mit Nachmeditation ist die Aktivität gemeint; man

verbindet dieses Abwechseln von Meditation und Aktivität miteinander. Es ist ganz wichtig zu sehen, dass

wir eigentlich in einem Wechsel sind. Die Meditation ermöglicht uns, wieder stärker zu uns zu finden, die

Sicht zu klären, Motivation zu klären. Damit gehen wir in die Aktivität, und bevor wir uns so recht in der

Aktivität verlieren, kehren wir wieder zurück in die stille Praxis, um unser Gewahr-Sein wieder zu stärken.

So werden wir allmählich stärker im Handeln, in der Nachmeditation, und können längere Phasen auch in

der Nachmeditation bleiben, ohne uns zu verlieren. Das ist der erste Aspekt, den Karmapa hier in diesem Kapitelchen schon beschrieben hat..

Wir gehen den Weg des gemeinsamen Fahrzeugs: Wir gehen den Weg der Unterweisungen, die für alle

buddhistischen Traditionen gemeinsam sind. Jemand, der aus der Thich-Nhat-Hanh-Richtung kommt, wird

merken, dass Vieles hier gemeinsam ist. Oder Theravada-, Vipasanna-Praktizierende werden denken: „Oh,

da ist ganz Vieles gemeinsam.“ Das nennt man die Unterweisungen des gemeinsamen Fahrzeugs.

Unterweisungen über Vergänglichkeit sind überall zu finden, über Nicht-Selbst, über Leerheit usw. Das sind die Unterweisungen, die allen gemeinsam sind.

Und dann gibt es spezifische Unterweisungen, die zur Tradition des Mantrayana gehören – tantrischer

Buddhismus. Yidam-Praxis, Guru-Yoga sind in den anderen buddhistischen Traditionen nicht zu finden. Wir

verbinden die Unterweisungen zum Mantrayana mit dem Abwechseln zwischen Meditation und Nachmedita-

tion und mit den Unterweisungen des gemeinsamen Fahrzeugs und üben die vier Handlungsweisen, wie eben

erklärt wurde: sukzessive. Wir gehen an unseren Kraftort und stellen uns den Herausforderungen; so sie uns nicht überfordern, stellen wir uns ihnen und wachsen daran.

Das ist der erste Punkt: Die Übung weiterentwickeln, indem man von ganzem Herzen auf diese Weise

praktiziert.

Das beendet die Unterweisungen für diesen Kurs.

Teilnehmer: Sind diese drei Aspekte – Sicht, Meditation und Aktivität – die gleichen, wie die drei Aspekte im

achtfachen Pfad?

Ja genau, die kannst du im achtfachen Pfad wiederfinden – Sicht, Meditation und Aktivität. Und es gibt hier

den zusätzlichen Aspekt, dass alles aus dem Blickwinkel des Erwachens geschieht, aus der Sicht des Er-

wachens: wie erwachtes Sein ausschaut, wie aus erwachter Sicht meditiert wird, wie aus erwachter Sicht

gehandelt wird. – Mahamudra-Sicht, Mahamudra-Meditation und Mahamudra-Aktivität.

Teilnehmer: Das doch auch so, wie in den drei Kye-Ho’s bei Karma-Pakshi beschrieben.

Ja, genau.

Hat es eine Analogie zu den Drei Worten des Garab Dorje.

Oh verflixt! Die sind mir grad entfallen. Die hab' ich zwar auch erhalten und sogar gelehrt. Was war das nochmal?

Erstmal die Natur des Geistes erkennen oder die Sicht erkennen. Dann dran bleiben und das Dritte ist, das

dann zur Hauptsache zu machen. So erinnere ich mich.

Dann könnte man dazu eine Beziehung herstellen. Die Sicht wäre das wirkliche Erkennen, dann treten wir

wirklich in die Sicht ein. Das Dabeibleiben wäre dann das Üben und Meditieren – bhawana, gom. Was wir

mit Meditation übersetzen ist ja oft einfach als Üben gemeint, ein Kultivieren von dem, was wir verstanden

haben und dann würde das in die Aktivität übergehen, das Stabilisieren. Man könnte da eine Beziehung

herstellen.

Meditation: Herzensatem

Wir spüren unseren Körper … alle Sinne sind offen … und inmitten all dieser Empfindungen spüren wir, wie

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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der Atem ein- und ausströmt. Wir spüren, wie sich der Brustkorb weitet und wieder senkt. –

Wir stellen uns vor, wie in unserem Herzchakra mitten in unserer Brust ein feines Licht entsteht, das sich

immer weiter ausweitet und zu einer Lichtsphre wird; zu einer Lichtsphäre, in der alle Farben des Regen-

bogens zu finden sind. –

Mit jedem Einatem und Ausatem verstärkt sich das Licht, es wird intensiver und es beginnt, mit dem Atem

zu strömen. … Es durchströmt unseren gesamten Brustraum, den Bauchraum und füllt mit dem Einatem

unseren ganzen Körper. Mit dem Ausatem geht es immer ein wenig weiter und leuchtet mehr und mehr. –

Es ist, als würden wir gebadet werden in diesem Lichtatem, der vom Herzen strömt. –

Und was immer uns schwer fällt in unserem jetzigen Leben, unsere Schattenseiten, unsere Emotionalität, all

das wird in dieses Licht hineingenommen, … ein liebevolles, warmes, annehmendes Licht. –

Mit dem Einatmen stellen wir uns vor, dass wir unsere eigenen Schwierigkeiten ganz und gar annehmen …

unsere eigene Unzulänglichkeit, Unvollkommenheit … so wie wir eben sind. –

Und mit dem Ausatmen lassen wir es einfach fließen; wohlwollend, gelöst, ohne irgendetwas zu vergegen-

ständlichen, ohne irgendetwas festzuhalten. Mit dem Einatmen öffnen wir uns im Herzen, wir nehmen ganz

und gar an, und mit dem Ausatmen lassen wir es einfach fließen. –

Wir setzen diesen Prozess fort bis wir unser jetziges Erleben, unser jetziges Sein, hier und heute, ganz und

gar annehmen können; bis es ganz und gar in dieses lichtvolle Bewusstsein hineingekommen ist; all unsere

Schrullen und Ecken und Kanten. … Aber gleichzeitig ist da so viel an Qualitäten zu spüren, so viel

Schönes, und vor allen Dingen ist da dieser Herzensatem, … ein liebevoll weises Annehmen und

Fließenlassen. –

Und dann können wir uns sogar vorstellen, dass wir eine Person vor uns einladen, jemanden aus unserem

nächsten Umfeld, den wir in diesen Herzensatem einbeziehen möchten. … Einatmend öffnen wir uns für die

Präsenz dieser Person … und ausatmend fließt das Licht hinüber zu ihr … und fließt von ihr wieder zurück

zu uns. … Tiefes, liebevolles Annehmen und tiefes, liebevolles Unterstützen – Annehmen und Unterstützen

im Wechsel; ein Lichtband, eine Lichtschleife, die uns verbindet … in allen Farben des Regenbogens, von

Herz zu Herz. –

Auch diese Person hat vielleicht Mühe, sich anzunehmen in ihren Unzulänglichkeiten, und das unterstützen

wir. Unser wohlwollender Atem unterstützt diese Annahme, wir schenken unsere Liebe, unser Mitgefühl. …

Mitfühlend atmen wir ein und liebevoll atmen wir aus. –

Damit gehen wir so weit, dass wir im Herzen diese Person ganz und gar annehmen können und ihr ganz und

gar unsere Unterstützung schenken können. –

Und dann bleibt schließlich einfach nur noch das Licht. … Unser ganzes Erleben wird Licht … und dann löst sich auch das auf. … Und darin verweilen wir ganz entspannt, ganz natürlich. –

* * *

Teilnehmer: In der Meditation wurde gesagt, wir sollen das Mitgefühl nicht vergegenständlichen. Bisher

habe ich es theoretisch so verstanden, dass Geist die Natur des Geistes selber ist und Mitgefühl ist. Wenn du

sagst, man soll das Mitgefühl nicht vergegenständlichen, dann wirkt das für mich so, als wenn das Mitgefühl ein weiterer Prozess wäre, der entsteht und vergeht.

Wie der Geist selbst auch – genausowenig das Mitgefühl vergegenständlichen wie den Geist selbst.

Also ist das ein- und dasselbe.

Ja, ja! Der Geist ist mitfühlend, keine Sorge. Mit Vergegenständlichen von Mitgefühl ist gemeint: „Ich muss

mitfühlend sein und bei Mitgefühl müssen mir die Tränen laufen und ich muss ideses und jenes erleben, …

Es ist einfach die Bereitschaft, mitfühlend einzugehen auf das, was ich erlebe, was zu erleben ist. Es ist so

einfach!

* * *

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9. Karmapa, „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“ Lama Tilmann, Möhra 2015

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Anhang

Erklärungen zur Zuflucht

Eigentlich könnt ihr Zuflucht nehmen, indem ihr euch innerlich vorstellt, dass der Buddha vor euch ist, ihr

euch drei Mal vor ihm verneigt und dabei sagt: „Ich möchte den Weg des Erwachens gehen und habe das notwendige Vertrauen.“ Dann könntet ihr eine der verschiedenen Zufluchtsformeln, die ihr kennt, sprechen.

Der Buddha hat die sogenannte Zuflucht in der einfachsten Form durch Fingerschnippen gegeben. Wenn

jemand Zuflucht nehmen wollte, sich also diesem Weg anschließen wollte und der Buddha sah, dass das

Karma desjenigen reif war, hat er einfach nur gesagt „Komm her mein Sohn“, „Komm her meine Tochter“

und hat geschnippt. Das ging sogar so weit, dass manche mit dem einfachen Fingerschnippen ihre Mönchs-ordination erhalten haben, also einen völligen Wandel ihres Status'.

Man berichtet, dass der Buddha in seinen späteren Jahren seine Schüler beauftragte, an seiner Stelle Zuflucht

zu geben. Es war vorgekommen, dass jemand, der beim Buddha Zuflucht nehmen wollte, auf dem Weg zum

Buddha unterwegs gestorben war. Ein alter Mann hatte es nicht mehr bis zum Buddha geschafft, woraufhin

der Buddha gesagt hat: „Das darf nie wieder vorkommen! Ihr müsst alle auch Zuflucht geben!“ Dann war die

Frage, wie man das macht.

Die erste Zuflucht war die Zuflucht in den Dharma, in die Lehren, in die Weisheit, ins Erwachen. Dann ent-

stand offenbar – der Buddha versuchte immer, sich selbst aus der Zuflucht heraus zu halten – die Zuflucht in

den Sangha. Es wurde auch ganz wichtig, in die Gemeinschaft Zuflucht zu nehmen, und auch in den Buddha

nahm man Zuflucht. Das ergab dann die dreifache Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha, wobei der

Buddha immer darauf Wert legte, dass man nicht seine Person verwechselte mit der eigentlichen Zuflucht.

Es geht um bodhi, um das Erwachen, um das, was der Buddha verkörpert. Darin nimmt man Zuflucht.

Wenn ihr euch überlegt, ob ihr Zuflucht nehmen möchtet, kommt noch der Faktor einer formellen Zeremonie

in Gegenwart von Zeugen dazu. Das macht diese innere Ausrichtung des Zufluchtnehmens zu einem sehr tief

verankerten Erlebnis. Ihr wisst dann unumstößlich bis ans Lebensende, wann ihr Zuflucht genommen habt,

und das geht tief hinein in euren Bewusstseinsstrom; so tief, dass es sogar im Bardo wieder aktiviert werden

kann, in der Nachtodphase. Die innere Ausrichtung ist so klar verankert, dass sie anspringt, wenn wir es

wirklich brauchen, um uns im Übergangsprozess auszurichten.

Zuflucht ist etwas Universelles, und es geht gar nicht darum, speziell Buddhist zu werden, mit Betonung auf

-ismus, Glauben oder Religion. Es geht darum, Dharmapraktizierende zu sein und wirklich den Weg des

Erwachens zu gehen. Buddhismus ist keine Religion, auch keine Philosophie sondern eine Wissenschaft und

ein Weg; eine Wissenschaft darüber, wie der Geist funktioniert, und wie es geht, ins Erwachen zu gehen, wie man wirklich den Geist befreit.

Von daher lade ich euch herzlich ein, Dharmapraktizierende zu sein – weiterhin zu sein; ich nehme an, dass

ihr das schon seid und dass das jetzt eine Gelegenheit ist, wo eure Absicht noch klarer verankert wird –, und auf dem Weg die buddhistischen Lehren und die Unterstützung der Gemeinschaft zu nutzen.

Sangha – Gemeinschaft – bedeutet hier: gemeinsam unterwegs auf dem Weg im Heilsamen, auf dem Weg

des Erwachens. Das ist etwas ganz Kostbares und ohne das schaffen wir den Weg nicht. Gemeinschaft bein-

haltet auch all die Lehrerinnen und Lehrer, sie gehören als Erste zur Gemeinschaft und dann all die anderen,

die den Weg auch schon kennen. Als Sangha kommen nur die in Frage, die den Weg wirklich schon kennen.

Obwohl wir uns alle auch Sangha nennen, sind aber das Zufluchtsjuwel nur die Befreiten, also die hohen

Bodhisattvas und Buddhas, sowie die monastische Sangha derer, die den Dharma wirklich zutiefst kennen,

ihn studieren, kontemplieren, meditieren. Darauf ist Verlass, darauf können wir uns verlassen.

Zuflucht in den Dharma zu nehmen, bedeutet, wir nehmen Zuflucht in die Unterweisungen – die geschriebe-

nen Unterweisungen und die gehörten Unterweisungen. Das nennen wir den Dharma der Worte. Das eigent-

liche Zufluchtsjuwel ist der Dharma der Verwirklichung; das, was die Worte beschreiben, was hinter den

Worten ist. Das ist der eigentliche Dharma, zu dem wir Zuflucht nehmen.

So ist es auch beim Buddha, wir nehmen Zuflucht in den äußeren Buddha, aber den kennt ja keiner von uns.

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Niemand von uns hat den historischen Buddha getroffen, Buddha ist für uns auch nur eine Vorstellung.

Worum es bei der Zuflucht in den Buddha geht, ist, Zuflucht zu nehmen in die Qualitäten des Erwachens, und die sind auch in uns. Letzten Endes findet sich die Zuflucht in uns.

Buddha ist in uns als das Erwachen, als die Qualität des Erwachens, Dharma ist in uns, als die Verwirk-

lichung der Natur des Seins und Sangha ist auch in uns, als die Fähigkeit, andere auf dem Weg zu unterstützen, die wir zunehmend entwickeln werden.

Habt ihr noch Fragen?

Teilnehmer: Wie sieht die Zeremonie aus?

Ich schneide euch so eine kleine Haarsträhne ab, ihr wiederholt dreimal das Zufluchtsgebet, verbeugt euch,

und ich erkläre euch, was mit der Zuflucht so einhergeht: die grundlegende Verpflichtung, niemandem zu

schaden …

Ist es das Zufluchtsgebet, das wir immer sprechen?

Nein, es ist etwas ausführlicher. Ich übersetze es euch dann noch, aber vom Sinn her ist es ähnlich. Es enthält keinen Teil, der mit Bodhicitta zu tun hat, es ist einfach nur die Zuflucht.

Ihr braucht nichts mitzubringen, aber es wäre schön, wenn ihr so eine spontane Geste machen könntet, z.B.

Blumen zu pflücken und auf den Altar stellen, oder irgendetwas Spontanes, was ihr den Buddhas als Aus-druck eurer Dankbarkeit darbringen wollt. Das könnt ihr dann einfach auf den Altar tun.

Ich habe nach dem, was ich heute gehört habe, das Gefühl, dass ich nicht genug Wissen zu habe, das wirk-lich zu machen. Das ist zwar ein Gedanke, aber...

Du kannst natürlich auch warten, bis du mehr weißt und dir sicherer bist. Was wir gestern und heute

erklären, das könnt ihr nicht wissen und ist auch gar keine Voraussetzung für die Zuflucht. Was du aber

schon wissen müsstest, ist, ob dich der Buddhadharma so inspiriert, dass du merkst: „Ja, das ist grundlegend

die Basis, auf der ich mein Leben aufbauen möchte.“ Und es ist gut zu wissen, dass sich Dharma überall

findet. Dharma findet sich in allen Religionen. In allem, was hilfreich ist, findet sich Dharma, d.h. wir

werden sehen, Dharma ist überall. Er umgibt uns schon seit unserer Kindheit, ohne dass wir es wissen. Der

Buddhadharma öffnet uns die Augen dafür, es jetzt auch wahrnehmen zu können. Das müsstest du geklärt

haben, du müsstest in dir sicher sein: „Doch, das ist die grundlegende Ausrichtung.“ Du kannst gerne auch

warten und einen späteren Zeitpunkt wählen. Es gibt Leute, die springen bei der ersten Begegnung mit dem

Dharma in die Zuflucht und lernen dann später, was sie gemacht haben. Andere lassen sich jahrelang Zeit,

und wenn die Zuflucht nehmen, sind sie so reif, wie ein Apfel, den man gerade noch auffängt, wenn er vom

Baum fällt. Es gibt wirklich diese unterschiedlichen Möglichkeiten und alle sind gut.

Buchvorstellung: Mahamudra & Vipassana

Retreat-Unterweisungen

Dieses Buch hier füllt eine Lücke. Das gab es bisher noch nicht, dass Mahamudra-Lehrer und Vipassana-

Lehrer gemeinsam ein Retreat unterrichtet haben. Das Buch haben wir so aufgebaut, dass wir die beiden 7-

Tage-Retreats, die wir zusammen geleitet haben, in einem Buch zusammengeführt haben als Instruktionen

für ein 14-tägiges Retreat. Da sind pro Tag drei Unterweisungen, am ersten Tag die Abendunterweisung zum

Anfang und am letzten Tag die Morgenunterweisung zum Ausklang des Retreats.

Die Idee dazu kam aus dem Tun, weil wir genau so unterrichtet haben. Fred von Allmen, seine Frau Ursula

Flückiger und ich haben jeweils abwechselnd unterrichtet und wir haben einander beim Unterrichten zuge-

hört. Wir sind im Unterreicht aufeinander eingegangen; man kann fast sagen, es war ein gemeinsamer Tanz

beim Unterrichten, bei dem wir uns aus der Mahamudra-Perspektive und der Vipassana-Perspektive den Ball

zugespielt haben. Es gibt auch ein Kapitel über die Unterschiede zwischen Mahamudra und Vipassana, und

ihr werdet sehen, es gibt viele Gemeinsamkeiten.

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Ich unterrichte dabei aus dem „Ozean des wahren Sinnes“, vom 9. Karmapa, der auch Autor unseres Textes

hier ist. Ihr werdet viele Erklärungen zu wesentlichen Passagen aus diesem Buch finden. Ich habe mich bei

dem Kurs auch darauf beschränkt. Fred und Ursula unterrichten aus der Vipassana-Tradition mit vielen Zita-

ten von verschiedenen Lehrern und aus dem, was sie als Essenz des Vipassana betrachten. Das ist also die

westliche Vipassana-Bewegung, wobei die beiden in der burmesischen Tradition, in der thailändischen Tra-dition und anderen Traditionen mit verschiedenen Lehrern geschult sind.

Fred selber ist auch Mahamudra-Praktizierender und war schon, ganz zu Anfang seiner Laufbahn, Schüler

von Geshe Rabten, der Anfang der 60er Jahre bereits in der Schweiz zu unterrichten begann und viele

Schüler hatte, darunter auch Steven Batchelor. Fred hat damals Tibetisch gelernt, zwar nicht sprechen, aber

er kennt die tibetischen Texte, kennt die Mahamudra-Tradition. Er ist selber als Bodhicitta-Praktizierender unterwegs.

Ursula hat in ihrer Praxis sehr starke Unterstützung durch Vipassana-Lehrer erfahren, die sehr nahe an der

Mahamudra-Tradition sind. Ihr kennt wahrscheinlich Ajahn Chah, als berühmtesten Namen, aber es gibt

auch andere, deren Unterweisungen kaum zu unterscheiden sind von Mahamudra-Unterweisungen. Und so war es möglich, dass wir drei uns in einer sehr harmonischen Weise gefunden haben.

Daraus ist dann – dank der Abschriften von den Aufzeichnungen – dieses Buch entstanden. Das erste Buch

überhaupt, soweit wir wissen, wo Mahamudra und Vipassana in einem Buch besprochen und erklärt werden,

und dann auch noch in einer Form, sodass man sich sagen kann: „Ich mache ein Retreat und nehme dieses

Buch mit. Ich mache das so wie hier. Ich praktiziere und dreimal am Tag lese ich ein Kapitelchen, um mich

zu inspirieren.“ Das ist nämlich etwas, was ich damals sehr geschätzt habe. Die Oldies unter euch können

sich vielleicht erinnern: Es gab ein Buch von Joseph Goldstein für einen Ein-Monats-Kurs, wo eine

Unterweisung pro Tag gegeben wurde. Das ist sogar wieder neu aufgelegt worden, ein Ein-Monats-

Vipassana-Retreat. Und das hat mich damals total inspiriert. Das war so etwas, was man in die eigene Praxis

mit herein nehmen konnte und dann in der Retreat-Atmosphäre bleibend so eine Unterweisung lesen konnte, um in seiner persönlichen Praxis weiterzumachen.

Dieses Format haben wir aufgegriffen mit drei Unterweisungen pro Tag, denn genauso fand das auch statt in

Beatenberg in der Schweiz. Und ihr findet darin auch – deshalb wollte ich das hier nochmal ankündigen –

Erklärungen zum Mahamudra vom 9.Karmapa, was ja ohnehin jetzt auch unser Thema ist.

Wir haben den Stil der mündlichen Erklärung in dem Buch beibehalten. Es ist also kein intellektuelles Buch

geworden. Ich habe immer frei gesprochen, Ursula und Fred haben sich sowohl mit Text vorbereitet, als auch

frei gesprochen, und dieser Charakter ist beibehalten worden. Nochmal herzlichen Dank an alle, die da

mitgeholfen haben. Und so verdanken wir dieses Buch wieder mal einem gemeinschaftlichen Einsatz, das ist

ja bei allen Dingen so. Es ist fast noch das Einfachste, den Unterricht zu machen. Das Abschreiben und

Bearbeiten der Texte ist dann noch viel, viel mehr Arbeit. Herzlichen Dank an die ganze Gruppe!

* * *