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Martin Merbach Bikulturelle Paare1 - eaf-bund.de · PDF filedie Ehe die Voraussetzungen erfüllt, um in Deutschland dau-erhaft leben zu können. Im ersten Fall hat einer der Partner

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Wann ist ein Paar ein bikulturelles?Hinter den Begriffen der binationalen bzw. bikulturellen Fa-milie verbergen sich vielfältige Formen der kulturellen Mi-schung. Die amtliche Statistik, die Eheschließungen nur im Hinblick auf die Staatsbürgerschaft der Partner erfasst, reicht nicht aus, um das bikulturelle Leben in Deutschland zu erfas-sen, denn die Staatsbürgerschaft bildet nicht die kulturelle Di-mension einer Partnerschaft ab.

Folgende Konstellationen illustrieren beispielhaft die bikultu-relle Vielfalt: • eine in Russland geborene Aussiedlerin mit deutscher Staats-bürgerschaft heiratet einen gebürtigen Deutschen• eine türkeistämmige Deutsche, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, heiratet einen türkischen Mann, der seine Sozialisation in der Türkei erfahren hat • ein Deutscher türkischer Herkunft lebt mit einer Deutschen zusammen, die über keine Migrationserfahrung verfügtetc.

Eine Ehe oder Partnerschaft zwischen einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Mann mit türkischer Staats-bürgerschaft und einer deutschen Frau ist eine vollkommen andere als eine Ehe zwischen einem türkischen Mann, der ei-ne deutsche Frau - z. B. während ihres Urlaubs in der Türkei - kennenlernt, zu ihr nach Deutschland kommt und erst über die Ehe die Voraussetzungen erfüllt, um in Deutschland dau-erhaft leben zu können.

Im ersten Fall hat einer der Partner zwar eine andere Staats-bürgerschaft und eine unterschiedliche kulturelle Herkunft, ist aber hier aufgewachsen, spricht in der Regel die deutsche Sprache, hat eine Ausbildung in Deutschland genossen, kann mit den gesellschaftlichen Regeln umgehen und verfügt über ein von der Ehe unabhängiges Aufenthaltsrecht. Für diese Partnerschaft spielen möglicherweise kulturelle Unterschiede eine bedeutende Rolle.

Im zweiten Beispiel besteht ein Abhängigkeitsverhältnis in der Partnerschaft aufgrund der aufenthaltsrechtlichen Rahmen-bedingungen. Weitere Aspekte wie die Situation als Einwan-derer, das Erlernen einer fremden Sprache und fremder Spiel-regeln, die emotionale Integration dieser Regeln sowie die be-rufliche Eingliederung stellen eine solche Partnerschaft vor ganz andere Herausforderungen als die zuerst genannte.

Inwieweit bikulturelle Verbindungen für die Partner be-sonders strapaziös sind, hängt im Wesentlichen von ihren

persönlichen und kulturellen Voraussetzungen ab und von den Rahmenbedingungen, unter denen eine solche Verbin-dung eingegangen und gelebt wird. Faktoren wie die Zugehö-rigkeit zur gleichen sozialen Schicht und der Bildungsgrad der Partner können zum Beispiel das Repertoire an Gemeinsam-keiten erhöhen, auf die das Paar zurückgreifen kann, um ein gemeinsames Leben zu gestalten.

Auch die Deutungsangebote, die den Paaren zur Verfügung stehen, um die jeweiligen Konstellationen, für die es kaum Vorbilder gibt, zu verarbeiten, spielen hierbei eine bedeutende Rolle. Die besonderen Herausforderungen bikultureller Part-nerschaften soll nun an einem Fall verdeutlicht werden.

„Ich lasse mich nicht von Dir bestimmen…“ Beate und AhmedBeate und Ahmed streiten sich oft wegen kultureller Proble-me. Zurzeit leben beide getrennt, weil Beate die ewigen Ausei-nandersetzungen nicht mehr ausgehalten hat. Sie hat Ahmed gebeten, auszuziehen. Vor einem halben Jahr hat er dann die Scheidung eingereicht. Als die Richterin beim Scheidungster-min die beiden fragte, ob sie denn sicher mit ihrer Entschei-dung sind, konnten sie nicht antworten und hatten das Gefühl, herausfinden zu wollen, ob und wie es weiter gehen kann. Die Scheidung wurde um ein halbes Jahr aufgeschoben.

Beate ist 35 Jahre und kommt aus Deutschland, ihr Mann ist 32 Jahre alt und stammt aus dem Irak. Ahmed und Beate ha-ben sich in einer Disko kennengelernt und dann ab und zu lose getroffen. Ahmed war zu der Zeit Austauschstudent und Be-ate arbeitete als Krankenschwester. Aufgrund seines illegalen Status nach dem Austauschjahr ist Ahmed in Abschiebehaft gekommen, wo ihn Beate regelmäßig besucht hat. Sie hat ihm angeboten, ihn zu heiraten, damit er in Deutschland bleiben kann, was er aber ablehnte. So wurde er in den Irak abgescho-ben. Dort sollte er seine Cousine heiraten, die ihm schon seit Kindertagen versprochen gewesen ist. In dieser Trennungs-zeit merkten beide, was sie einander bedeuten und für einan-der fühlen. Sie riefen sich täglich an. Schließlich vereinbar-ten sie zu heiraten, und so kam Ahmed ein zweites Mal nach Deutschland. Nach fünf Jahren bekamen beide einen Sohn. Danach gab es zwei Schwangerschaftsabbrüche.

Beate wuchs ohne Geschwister auf. Ihr Vater verließ die Fa-milie, als sie sechs Jahre alt war. Anfangs gab es noch lo-sen Kontakt zu ihm, aber aufgrund ständiger Streitereien zwi-schen den Eltern und später auch zwischen dem Vater und ihr,

Bikulturelle Paare1

Martin Merbach

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kam es zum Abbruch der Beziehung, als Beate zwölf Jahre alt war. Erst im Erwachsenenalter suchte sie wieder Kontakt zu ihm. Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Kran-kenschwester. Aus einer früheren Beziehung mit einem türki-schen Mann hat sie eine 13-jährige Tochter.

Ahmed hat zwei ältere Brüder und zwei ältere Schwestern. Seine Eltern sind seit über 30 Jahren glücklich verheiratet. Er hat im Irak Abitur gemacht, einen Beruf gelernt und ein Stu-dium begonnen. Seine Abschlüsse sind in Deutschland nicht anerkannt. Beate ist seine erste gelebte Beziehung.

Ahmed und Beate streiten sich in der gegenwärtigen Situa-tion über die Kindererziehung vor allem der älteren Tochter, die Ahmed ebenfalls als sein Kind betrachtet. Sie sind un-terschiedlicher Meinung, ob die Tochter Jungen treffen oder abends ausgehen darf. Generell fühlt Ahmed seine Kultur und Religion zu wenig gesehen. Beate widerspricht und sagt, dass sie kein Schweinefleisch essen, dass sie den Jungen beschnei-den ließen, worauf Ahmed kontert, dass sie nicht religiös sei. Ein Ungleichgewicht entsteht auch in der Rollenverteilung. Beate geht arbeiten und sorgt für das Haushaltseinkommen, während Ahmed die Rolle des Hausmanns hat, was ihm nicht gefällt. In dem Trennungshalbjahr hatte er erstmals ein eige-nes von ihr unabhängiges Einkommen. Beide fühlen sich in dieser Zeit wohler.

Beates und Ahmeds PartnerwahlAhmed und Beate lernen sich unter schwierigen Umständen kennen. Ahmeds Aufenthalt ist zu dieser Zeit befristet und er hat nach dem Studium kaum eine Zukunftsperspektive in Deutschland. Da er schon verlobt ist, denkt er auch nicht an eine Beziehung zu einer Deutschen. Auch Beate möchte zu Be-ginn einfach nur eine Freundschaft. Sie scheint den Mann als Freund interessant zu finden und stellt ihn sich eigentlich nicht als Lebenspartner vor. Interessant in dieser Phase des Kennenlernens von Ahmed und Beate ist, dass beide keine Be-ziehung wollen. Die beiden scheinen sich so unähnlich sein, dass sie sich gar nicht als mögliche Partner sehen. Ahmed ist ohnehin versprochen, für ihn ist klar, wer seine Partnerin sein soll. Beate könnte sich an ihre gescheiterte Beziehung zu ih-rem türkischen Ex-Mann erinnert fühlen und mit dem Bezie-hungsthema vorerst abgeschlossen haben. Andererseits könn-te sie auch versucht sein, offene Fragen dieser Beziehung mit einem Mann aus einem ähnlichen Kulturkreis zu lösen, oh-ne dass zwangsläufig eine Beziehung daraus entstehen muss.

Die anfängliche Vorstellung einer Freundschaft ändert sich je-doch, als Ahmed nach dem Studium in Abschiebehaft kommt und sie von seiner Hilflosigkeit berührt ist und ihn regelmä-ßig besucht. Nach Ahmeds Abschiebung spüren beide, dass sie einander etwas bedeuten. Es beginnen lange Telefonate, in

denen Ahmed und Beate sich entschließen, ein Paar zu wer-den. Hier wird aus Beates Sicht ein Thema der Partnerschaft bereits deutlich – sie ist bewegt von seiner Hilflosigkeit. Sie wählt einen Mann in einer abhängigeren, hilflosen Position, den sie umsorgen kann. Da in ihrer Biografie bis dato kein sol-cher Mann vorkam, stellt sich die Frage, was Beate vermeidet. Über Ahmeds Prozess des Lossagens von der Cousine und der Entscheidung für Beate lässt sich nur spekulieren. Spannend ist, dass er nicht nur die zukünftige Braut wechselt, sondern auch das Konzept der Partnerwahl – er fällt eine Entscheidung ohne die Zustimmung seiner Familie.

Bei der Partnerwahl ist zudem bemerkenswert, dass Beate zum zweiten Mal einen Partner mit einem muslimischen Hinter-grund wählt. Hier wäre nachzufragen, welche Stereotype sie mit Partnern aus diesem kulturellen Raum verbindet. In Bezug auf Ahmed wäre zu diskutieren, ob in seiner soziokulturellen Gruppe abgesehen von seiner Cousine, noch andere Frauen als Braut in Frage gekommen wären, inwieweit also er überhaupt genügend Partner aus seiner soziokulturellen Gruppe zur Ver-fügung hatte.

Liebe oder Vernunft?Spannend in Bezug der Paarwerdung Beates und Ahmeds ist auch, dass in den Familien der beiden zwei Konzepte der Part-nerwahl zum Tragen kommen: Liebe oder Vernunft? Da dieses Phänomen häufig im Kontext bikultureller Partnerschaften diskutiert wird, soll hier näher darauf eingegangen werden.

Jede Gesellschaft kennt die Liebe. Sie ist nicht ein Produkt westlicher Kultur, aber diese Kultur hat Liebe mit der Insti-tution der Ehe und Familie verknüpft. Partnerwahl beruht hier überwiegend auf der Individualität der Gefühle, auf frei-er Wahl und auf Selbstbestimmung. In nicht-westlichen Kul-turen werden Ehen häufig nach rationalen Kriterien geschlos-sen, die familiäre Reproduktion steht dabei im Vordergrund. Der Soziologe Karl Otto Hondrich (2004) hat dazu in seinem Aufsatz „Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft“ sehr anschau-lich beschrieben, dass westliche Gesellschaften, während sie in der Sphäre der Produktion sich höchster Rationalität ver-schrieben haben, sich in ihrer Reproduktion ganz der Emotio-nalität anheimgeben.2

Die Liebe scheint so alt wie die Menschheit. Sie lässt sich be-reits in den frühesten Überlieferungen finden. Als Motiv für die Paarwerdung ist sie hingegen ein modernes Phänomen, wahrscheinlich erst seit der Individualisierung und Aufklä-rung denkbar und damals auch nur einer bestimmten Klasse vorbehalten. Für breite Schichten der Gesellschaft wurde sie erst seit der Romantik interessant. Rationale Aspekte wie wirtschaftliche Motive hingegen schei-nen schon immer die Paarwerdung zu beeinflussen, allerdings

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in unterschiedlicher Intensität. Ein Spezialfall der rationalen Ehe ist die arrangierte Ehe. Bei arrangierten Ehen heiraten zwei Familien und nicht zwei Personen. Die Eltern beider Part-ner sind demzufolge mit-verheiratet und müssten im Fall ei-ner Trennung mit-geschieden werden. Teile der indischen Ge-sellschaft verfolgen dieses eher rationale Konzept der Partner-schaft. In der Sonntagsausgabe der Times of India beispiels-weise gibt es einen großen Teil mit Heiratsannoncen. In diesen Anzeigen bewirbt sich die gesamte Familie der Braut mit ei-nem Foto der Heiratskanditatin sowie Angaben zu Studien und Berufen der männlichen Familienmitglieder um die Hand des Bräutigams.

Partner in arrangierten Ehen sehen sich unter Umständen zum Zeitpunkt der Eheschließung das erste Mal. In diesem Moment kann man sicherlich nicht von Liebe sprechen, diese kann aber im Laufe der Beziehung entstehen, da es im gemeinsamen Tun, morgens beim Frühstück oder abends im Bett, eine An-näherung gibt. Arrangierte Ehen überspringen zu Beginn so-mit eine mögliche Verliebtheitsphase. Diese kann aber später im Lauf der Beziehung nachgeholt werden. Das Zusammenle-ben in diesen Partnerschaften basiert auf gegenseitigem Res-pekt. Im klassischen und sehr traditionellen Rollenverständnis schuldet der Mann der Frau die Versorgung, sie ihm die Kin-der. Das Fehlen der Liebe wird somit nicht zum Scheidungs-grund, das Fehlen von Respekt schon. Bei arrangierten Ehen scheint es emotional weniger Konflikte zu geben. Dafür gibt es andere Konflikte, da bei einer arrangierten Ehe die psycholo-gische Ebene, beispielsweise die Charaktere der Partner, tren-nend sein können. Weitere Konflikte könnten aufgrund repro-duktiver Probleme entstehen. Da sich in der arrangierten Ehe zwei Familien miteinander verbinden, kommt dem Nachwuchs als Weiterexistenz der Familie eine besondere Bedeutung zu. Aber auch in die Entstehung und Lösung von Konflikten sind die Herkunftsfamilien stärker eingebunden.

Für die westlichen Gesellschaften scheint die arrangierte Ehe nicht aushaltbar zu sein. Nicht selten bekommt so eine Ver-bindung dann das Label der Zwangsheirat oder der Unterdrü-ckung. Für eher traditionelle Gesellschaften hingegen geht die westliche Liebesheirat mit erhöhten Scheidungsraten einher und ist ein Symbol des Werteverfalls.

In bikulturellen Beziehungen treffen, wie bereits erwähnt, oftmals rationale und irrationale Weltsichten aufeinander. So-mit stellt sich den Partnern in diesem Kontext die Frage nach den Motiven der Partnerwahl. War es Liebe oder Vernunft? Natürlich lassen sich auch hier Ähnlichkeiten zu monokultu-rellen Paaren finden, wenn zum Beispiel Partner aus unter-schiedlichen Schichten heiraten. Trotzdem ist diese Frage dort nicht so existentiell für die Lebensgrundlage eines der Part-ner. Doch zurück zu Ahmed und Beate.

Beates und Ahmeds weitere EntwicklungUm einen gemeinsamen Lebensort zu haben (da es für Beate in Ahmeds Land keine Perspektive gibt), müssen beide heiraten. Aus einer kurzen Ausgehfreundschaft, anschließender Ge-fängnisbesuchs- und Telefonbeziehung ist nun eine Partner-schaft geworden, die relativ wenig Zeit hatte, sich im Alltag zu bewähren. Ahmed erlebt quasi über Nacht einen doppelten Rollenwechsel: Er wird nicht nur Ehemann, sondern auch Va-ter einer Tochter. Aus dem männlichen Freund, der sie viel-leicht umflirtete, wird für Beate nun der Mann, der seine Posi-tion als Versorger und Vater wahrnehmen will. Diese Position ist aber in der Kleinfamilie bereits durch Beate besetzt. Ihr Fa-milienleben lief eigentlich ganz problemlos, und für sie gibt es keine Notwendigkeit, dies zu ändern. Beate scheint es nun, als ob sich ihr Mann über Nacht um 180 Grad gedreht hätte. Die ständigen Konflikte über die Alltagsregelungen und die Erzie-hungsfragen machen beiden das Paarleben schwer.

Da Ahmeds Abschlüsse nicht anerkannt werden, kann er auch die von ihm gewünschte Position nicht einnehmen. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und unterstützt zu Hause sei-ne Frau durch Hausarbeiten, fühlt sich dabei aber nicht ganz wohl. Beates Sehnsucht nach einem starken Mann, an den sie sich anlehnen kann, erfüllt sich nur bedingt. Sie hat zwar ei-nen starken Geliebten, aufgrund seiner mangelnden Kenntnis-se der deutschen Sprache sowie des deutschen Systems ist sie aber oft in der Verantwortung, für ihn Dinge zu organisieren. Dies erledigt sie auch teilweise gern, da sie sich somit weni-ger mit Ahmed auseinandersetzen muss. Das Leben läuft nach Beates Regeln.

Je entscheidungsstärker also Beate in der Beziehung wird, des-to weniger Verantwortung kann Ahmed übernehmen, er fühlt sich frustriert und kann nicht die Position des Familienober-haupts einnehmen. Je mehr sich Ahmed allerdings zurück-zieht, desto mehr ergreift Beate die Initiative bei allen Ent-scheidungen.

In der Erziehung der Kinder, besonders der pubertierenden Tochter, eskalieren die Konflikte (Schwellensituation). Ahmed möchte hier einen Anteil mittragen und hat auch in diesem Bereich einen großen Erfahrungsschatz, da er aus einer Groß-familie stammt. Die Erziehungsfragen scheinen für ihn an sein generelles Rollenverständnis gekoppelt zu sein und be-kommen somit ein starkes Gewicht. Oder anders ausgedrückt: Hätte Ahmed eine stabilere Position als Versorger der Fami-lie, müsste er nicht so rigide in der Durchsetzung seiner Werte sein. Für Beate ist die Erziehung der Tochter ein hochsensibles Thema. Ihrem Kind möchte sie keine traditionellen Rollenvor-bilder vermitteln. Bei ihr schwingt hier zusätzlich mit, dass sie sich von ihrem Mann dominiert fühlt und das keinesfalls für ihre Tochter möchte.

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In diesem Spannungsfeld entsteht in Beate das Gefühl, dass sie letztlich nur des Aufenthalts wegen geheiratet wurde, wäh-rend Ahmed sich ausmalt, wie einfach doch das Leben mit einer Frau aus dem arabischen Kulturkreis ist (Kulturalisie-rung). Diese Gefühle und Gedanken verhindern eine konst-ruktive Auseinandersetzung des Paares, nämlich darüber, dass sich Beate einen scheinbar starken Mann suchte, den sie in der schwachen Position ließ, während Ahmed sich eine star-ke Frau wählte, die ihn bemutterte, um dann gegen diese zu rebellieren.

Das Trennungsjahr lässt beiden ihre Positionen klarer werden. Ahmed gewinnt an Selbstvertrauen, nutzt dies aber nicht, um bestimmte Konflikte anders auszuhandeln, sondern geht mit dem gewonnenen Selbstbewusstsein in die Konfrontation. Be-ate lebt ihr „altes“ Leben ohne Partnerschaft und merkt, um wie vieles leichter dieses Leben und wie anstrengend das Le-ben mit Ahmed war. Andererseits können beide in dieser Situ-ation wieder mehr Zuneigung füreinander zulassen. Das spürt auch die Richterin und fragt folgerichtig, ob sie sich der Schei-dung auch sicher sind.

Der Umgang mit KulturIn der Fallbeschreibung fällt auf, dass das Paar öfters Kultur als Erklärung für seine Probleme anbringt. Bereits zur Anmel-dung beschreibt Beate kulturelle Probleme in ihrer Paarbezie-hung. Ahmed betont später, dass seine kulturellen Werte zu wenig in der Beziehung geschätzt werden, worauf Beate kon-tert damit, dass Essgewohnheiten und Beschneidung doch Ah-meds Vorstellungen entsprechen oder entsprachen.

Ahmed betont daraufhin, dass Beate nicht religiös sei und in der Erziehung der Kinder seine Werte nicht beachtet werden. Wenn Ahmed und Beate sich nun gegenseitig ihre Kulturen vorwerfen, dann müssen sie sich einerseits nicht mit eige-nen Themen beschäftigen. Aus Beates Perspektive könnte dies sein, ob sie auch Versorgung annehmen kann und sich ihrem Mann in diesem Bereich anvertrauen mag. Für Ahmed könnte das bedeuten, ob er diese Rolle annehmen will. Als Paar kön-nen sie andererseits in ihren Diskussionen sehr gut die Aus-einandersetzung, was eigentlich das Gemeinsame ihrer Bezie-hung sein könnte, vergessen. Kultur funktioniert hier dann als Ablenkung von einem Paarthema und als Schutz vor Ver-änderung.

In diesem Kontext ist auch noch von Bedeutung, dass jede Partnerschaft als Gemeinschaft beschrieben werden kann, in der eine eigene (neue) Wirklichkeit geschaffen werden muss. Die Herausforderungen der modernen Partnerschaften gegen-über früheren (traditionellen) Paarbeziehungen sind demnach, dass die Partner aus unterschiedlichen „face to face“-Kontak-ten, also aus unterschiedlichen Bezugssystemen stammen.

Diese sind bei bikulturellen Partnerschaften nochmals „frem-der“, größer oder unterschiedlicher. Wie schaffen es nun sol-che, aus unterschiedlichen Konstruktionssystemen stammen-de Paare, eine neue Wirklichkeit zu bauen? In einer bikulturellen Partnerschaft begegnen sich häufig zwei Referenz- oder Konstruktionssysteme, die relativ unverbun-den sind und zwischen denen es keine größeren Schnittmen-gen gibt. In der modernen Wissenspsychologie werden solche Konstruktionssysteme auch als mentale Modelle, kognitive Schemata oder Skripte bezeichnet. Ohne auf die feinen Un-terschiede zwischen diesen Begriffen hier näher eingehen zu wollen, wird mir als exemplarisches Beispiel der Begriff des mentalen Modells etwas genauer erläutert.

Mentale Modelle und deren VeränderungMentale Modelle sind subjektive Funktionsmodelle für techni-sche, physikalische und auch soziale Prozesse sowie komple-xe Gegebenheiten. Da wir die Entitäten der Welt seriell ken-nenlernen, also in kleinen aufeinanderfolgenden oder unab-hängigen Einzelschritten, müssen die wahrgenommenen De-tails vom Gehirn erst zu Ganzheiten zusammengefügt werden. Die so entstehenden mentalen Modelle weisen eine gegenüber der Wirklichkeit reduzierte Komplexität auf, wodurch die Be-standteile der Welt für das Arbeitsgedächtnis – mit seiner sehr begrenzten Kapazität – verarbeitbar werden. Bei lernfähigen Lebewesen bleibt ein Teil der Wahrnehmungen im Gedächt-nis – zumindest die „wichtigen“, dem Überleben dienenden. In diesen Erfahrungen können nun Muster erkannt und aus die-sen wiederum Regeln abgeleitet werden. Mit der Zeit entstehen so mentale Repräsentationen der individuell relevanten Aus-schnitte der Welt.

Die Wahrnehmung variiert dabei durch die individuellen Ge-dächtnisinhalte, Stimmungen und Denkprozesse des Wahr-nehmenden, die zum Aufbau des mentalen Modells benutzt werden – daraus resultiert, dass jedes Wesen eine eigene Wahrnehmung hat. Mentale Modelle werden benötigt um In-formationen, die neu aufgenommen werden sollen, überhaupt erst in einen Kontext einordnen zu können und somit verste-hen und bewerten zu können. Mit der Neuaufnahme von In-formationen und Eindrücken werden dann die Möglichkeiten zur Abbildung der Realität in einem mentalen Modell für zu-künftige Wahrnehmungen konstant erweitert, es tritt also ein Lerneffekt ein.

In diesem Zusammenhang beschreibt Piaget3 zwei Prozesse, die Assimilation und die Akkommodation. Assimilation meint das Zuordnen einer Wahrnehmung zu einem bereits vorhan-denen Wahrnehmungsschema, das bereits für ähnliche Wahr-nehmungen verwendet wird. Dadurch wird eine Wahrneh-mung verallgemeinert und als bekannt eingestuft. Akkom-modation bedeutet die Anpassung der inneren Welt durch

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Schaffen eines neuen Wahrnehmungsschemas. Wenn eine be-stimmte Wahrnehmung nicht in die bestehenden Schemata eingeordnet werden kann (Assimilation), modifiziert das In-dividuum bestehende Schemata oder schafft neue, passt also sein Inneres an die sich verändernde Außenwelt an.

In bikulturellen Partnerschaften können die mentalen Model-le der einzelnen Partner, wie bereits angedeutet, sehr unter-schiedlich sein. Wie gehen nun die Partner mit solchen Di-vergenzen um? Bei bewusstseinsnahen oder einer Reflexion zugänglichen Vorstellungen der Partner, beispielsweise über Alltagsabläufe wie Essenzubereitung oder die Gestaltung ei-nes Familienfestes, ist es möglich, die mentalen Modelle zu kommunizieren und durch Assimilations- und Akkommo-dationsprozesse zu erweitern oder anzupassen. Diese Anpas-sungsprozesse setzen allerdings voraus, dass es ein Verständ-nis für das Durchführen von Alltagshandlungen gibt, dass so-zusagen überhaupt ein mentales Modell für Essenzubereitung bei beiden Partnern vorhanden ist. Ahmed und Beate haben beispielsweise beide ein mentales Modell von dem Befeiern der Kinder in der Familie. Lediglich die Bräuche und der Termin der Feste unterscheiden sich. Beate möchte lieber den Geburts-tag der Kinder mit deren Freunden feiern, für Ahmed spielt der Namenstag der Kinder als Fest mit den Verwandten eine Rolle. Da aber beide aber ein Konzept von solchen Festen besitzen, wäre es möglich, miteinander über den Ablauf und den Zeit-punkt zu reden, sich aneinander anzugleichen.

Schwieriger wird es bei bewusstseinsfernen oder verinnerlich-ten Inhalten, die der Kommunikation schwer oder gar nicht zu-gänglich sind. Beide Partner könnten zwar ein mentales Mo-dell über Liebe in Partnerschaften haben, dieses könnte aber so automatisiert sein, dass ein Austausch darüber nicht mög-lich ist und es somit keine Veränderungsprozesse geben kann. Es könnte sein, dass Beate sich von ihrem Mann sprachliche Liebesbekundungen wünscht, während ihr Mann ihr durch Alltagshandlungen, dass er ihr beispielsweise das Frühstück zubereitet, seine Liebe zeigen will. Diese beiden mentalen Mo-delle von Liebe könnten derart verinnerlicht sein, dass sie nur schwer kommunizierbar wären. Das Paar würde beim Thema Liebe immer eine Unzufriedenheit spüren, könnte diese aber nicht aus eigener Kraft beheben.

Es ist aber auch vorstellbar, dass nur einer der Partner zu ei-nem bestimmten Thema ein mentales Modell besitzt, wäh-rend der andere in diesem Bereich ohne ein Modell auskommt. Zum Beispiel könnte einer der Partner (Beate) die individuel-le Selbstentwicklung als Vorstellung in sich tragen und ein mentales Modell dazu entwickelt haben, während der andere (Ahmed) stark seinen familiären Bezügen verhaftet ist und ei-ne Reflexion über das eigene Ich kaum möglich ist. Auch hier ist es wahrscheinlich, dass die mentalen Modelle beider Part-ner kaum einer Veränderung unterliegen werden – dass die

Referenz- oder Konstruktionssysteme der Partner relativ un-veränderlich nebeneinander stehen bleiben.

Kurze Zusammenfassung und AusblickBeim Lesen dieses Falls fällt auf, dass Beate und Ahmed sich hinsichtlich ihres Partnerschaftskonzepts, ihres Rollenverhal-tens, bestimmter Alltagsgewohnheiten, Kindererziehung und Zusammenleben unterscheiden. Sie heiraten, ohne vorher groß gemeinsame Zeit verbracht zu haben, haben keine gemeinsa-me Muttersprache, drücken möglicherweise ihre Gefühle an-ders aus, sind bestimmten Stigmatisierungen ausgesetzt. Der eine Partner gehört einer Mehrheitskultur an, während der an-dere Partner eine Migrationsgeschichte hat. Hierbei handelt es sich um Differenzen, die teilweise kulturell mitbestimmt sind und die die bikulturelle Partnerschaft vor andere Vor-aussetzungen setzt als monokulturelle Partnerschaften. Wel-chen Einfluss diese Aspekte auf die Paardynamik haben, ist jedoch nicht eindeutig vorherzusagen. Paare, die über ausrei-chend kommunikative Kompetenzen verfügen, könnten die-se Unterschiede konstruktiv diskutieren, Kompromisse finden oder die Unterschiedlichkeit aushalten. Andere Paare wieder-um, die klare Rollenmodelle besitzen, könnten in diesen Rol-lenmodellen leben, ohne darüber groß diskutieren zu müssen. Und schließlich wird bei einem dritten Typ von Paarbeziehun-gen diese Unterschiedlichkeit zur Trennung führen.

Wie ging es nun mit Ahmed und Beate weiter – welchen Aus-weg fanden die beiden aus ihrer Unterschiedlichkeit? Mithil-fe einer Paarberatung wurde Ahmed und Beate in dem halben Jahr der richterlich angeordneten Bedenkzeit klar, dass ihre Paarbeziehung keine Zukunft haben konnte. Beate konnte im Beratungsprozess mehr verstehen, dass sie sich in der Ausei-nandersetzung über Erziehungsfragen sehr mit ihrer Tochter identifiziert hatte, dass es ihr auch sehr stark um ihre persön-liche Autonomie ging. Sie begriff, dass sie Ahmeds Verhalten oftmals nur aus diesem Blickwinkel betrachten konnte und dies nicht zu ändern bereit ist. Ahmed hingegen wurde deut-lich, dass bestimmte Werte für ihn sehr wichtig sind, die er in einer Paarbeziehung auch nicht bereit ist, zu diskutieren. Es wurde ihm klar, dass er keine Frau wollte, die einfach mit-machte und innerlich für mache Dinge nicht bereit war, son-dern sein Leben aktiv mitlebte. Dieses gegenseitige Verstehen der großen Unterschiedlichkeit löste eine gemeinsame Trauer, aber auch eine Erleichterung aus.

Beide verabredeten, engagierte Eltern zu bleiben, die gemein-sam für ihre Kinder sorgen. Sie fanden eine Lösung für die äl-tere Tochter, dass diese mit ihren 13 Jahren zu Geburtstags-feiern ihrer Mitschüler und Freundinnen gehen darf, auch wenn Jungen dort sind und wenn es um gemeinsames Lernen geht, dies auch mit Jungen tun darf. Gleichzeitig einigten sich Ahmed und Beate auf einen Erziehungsstil für den jüngeren

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Sohn, dass er beispielsweise einmal in der Woche eine Koran-schule besuchen und arabisch lernen wird. Sie nahmen sich vor – und hatten damit bereits begonnen – einen bestimmten Abend in der Woche als Familie zusammen zu verbringen und die Familienfeste gemeinsam zu begehen. Diese von beiden gefundene Lösung wirkte stimmig und beide verließen die Be-ratung als getrenntes Liebespaar und gemeinsames Elternpaar.

1 Grundlage dieses Beitrags bilden Auszüge aus dem Buch: Curvello, Tatiana und Merbach, Martin (2012). Psychologische Beratung bikultureller Paare und Familien. Anforderungen, Kompetenzen, Methoden. Frankfurt/Main: Brandes und Apsel

2 Hondrich, Karl Otto (2004): Liebe in den Zeiten der Weltge-sellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

3 Piaget, Jean (1975): Das Erwachen der Intelligenz beim Kin-de. Stuttgart: Klett.

Martin Merbach, Dr. rer. med., Dipl.-Psych., ist wissenschaft-licher Mitarbeiter und Dozent am Evangelischen Zentralinsti-tut für Familienberatung Berlin (Arbeitsschwerpunkte: Theo-rie und Methodik der Beratung, Paarberatung, interkulturelle Aspekte in der Beratungsarbeit), Paarberater in freier Praxis, wissenschaftlicher Referent und Psychologischer Berater beim Verband binationaler Familien Partnerschaften - iaf e.V. Ber-lin. Von 2009 bis 2012 war er Vorsitzender des Fachausschus-ses 2 der eaf „Bildung, Beratung und soziale Infrastruktur“.

Zum Weiterlesen: Lima Curvello, Tatiana und Merbach, Martin (2012): Psycho-logische Beratung bikultureller Paare und Familien. Anfor-derungen, Kompetenzen, Methoden. Frankfurt/Main: Brandes und Apsel