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Die Textvorlage wurde freundlich zur Verfügung gestellt von www.glaubensstimme.de (Andreas Janssen) MATTHIAS CLAUDIUS: BRIEFE AN ANDRES BRIEF AN ANDRES DIE ILLUMINATION BETREFFEND Wir haben hier heint Nacht Illumination gehabt, mein lieber Andres. Sieht Er, da hangen denn Lampen in allen Hecken und Bäumen, und sind solche Bogen und Säulen mit Lampen, und so'n S. Michael, der nach dem Lindwurm stößt, und die Gartenhäuser sind voll Lampen über und über, und dicht am Wasser sind Lampen, dass man die Fische kann spielen sehen, und gehn so viel Leut' aus Hamburg im Garten hin und her, sieht Er, und das heißt denn Illumination und ist recht kurios zu sehen, und kosten viel Öl. Ja, Andres, wir beide hätten unser Lebelang daran zu brennen gehabt, aber damit wär' keine Illumination geworden, Andres, und wer'n Öl denn so hat, sieht Er, der lässt'n denn so brennen. Dergleichen Illuminations nun sind nur für große Herren und Potentaten; doch kann unser einer's auch sehen, und Er hätt's auch sehen können, wenn Er nicht immer am unrechten Ort wär'. Ich hätt' 's Ihm wohl vorher melden können, aber ich dachte, 's wäre auch noch Zeit, wenn Er's nur nachher erführe. 's ist hier ein Prinz gewesen und eine Prinzessin, sieht Er, und darum hat's der gnädige Herr auch so schön gemacht, und die Kano- nen auch lösen lassen. Wollte doch, dass ich's Ihm vorher geschrieben hätte, so hätt' Er die Kanonen auch hören können. Doch, wenn Er leben soll, hat Er ja wohl noch Gelegenheit, Kanonen zu hören. Ich will's Ihm sonst auch schreiben, wenn wieder Illumination ist. BRIEF AN ANDRES Gott zum Gruß! Mein lieber Andres, wenn Er sich noch wohl befindet, ist's mir lieb. Was mich an- langt, so befind' ich mich itzo in Wandsbeck. Er wird's auch wohl vom Herrn Rektor gehört haben, dass der Kalendermacher und Sterngucker Tychobrahe zu seiner Zeit in Wandsbeck den Sternenlauf betrachtet hat, und dass dieser Tychobrahe eine Na- se von Gold, Silber und Wachs hatte, weil ihm von ohngefähr 'n Edelmann zu nächt- licher Weile eine von Fleisch abduellierte; ich tu' Ihm zu wissen, dass ich keine Na- se von Gold, Silber und Wachs hab', und dass ich folglich hier auch den Sternenlauf nicht betrachte. Übrigens ist mir in Ermangelung eines Bessern zu Ohren gekom- men, dass ihm seine Gertrud abgestorben ist. Da Er weiß, dass ich nicht ungerührt

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Die Textvorlage wurde freundlich zur Verfügung gestellt von

www.glaubensstimme.de (Andreas Janssen)

MATTHIAS CLAUDIUS: BRIEFE AN ANDRES

BRIEF AN ANDRES DIE ILLUMINATION BETREFFEND

Wir haben hier heint Nacht Illumination gehabt, mein lieber Andres. Sieht Er, da

hangen denn Lampen in allen Hecken und Bäumen, und sind solche Bogen und

Säulen mit Lampen, und so'n S. Michael, der nach dem Lindwurm stößt, und die

Gartenhäuser sind voll Lampen über und über, und dicht am Wasser sind Lampen,

dass man die Fische kann spielen sehen, und gehn so viel Leut' aus Hamburg im

Garten hin und her, sieht Er, und das heißt denn Illumination und ist recht kurios

zu sehen, und kosten viel Öl. Ja, Andres, wir beide hätten unser Lebelang daran zu

brennen gehabt, aber damit wär' keine Illumination geworden, Andres, und wer'n

Öl denn so hat, sieht Er, der lässt'n denn so brennen. Dergleichen Illuminations

nun sind nur für große Herren und Potentaten; doch kann unser einer's auch sehen,

und Er hätt's auch sehen können, wenn Er nicht immer am unrechten Ort wär'. Ich

hätt' 's Ihm wohl vorher melden können, aber ich dachte, 's wäre auch noch Zeit,

wenn Er's nur nachher erführe. 's ist hier ein Prinz gewesen und eine Prinzessin,

sieht Er, und darum hat's der gnädige Herr auch so schön gemacht, und die Kano-

nen auch lösen lassen. Wollte doch, dass ich's Ihm vorher geschrieben hätte, so hätt'

Er die Kanonen auch hören können. Doch, wenn Er leben soll, hat Er ja wohl noch

Gelegenheit, Kanonen zu hören. Ich will's Ihm sonst auch schreiben, wenn wieder

Illumination ist.

BRIEF AN ANDRES

Gott zum Gruß!

Mein lieber Andres, wenn Er sich noch wohl befindet, ist's mir lieb. Was mich an-

langt, so befind' ich mich itzo in Wandsbeck. Er wird's auch wohl vom Herrn Rektor

gehört haben, dass der Kalendermacher und Sterngucker Tychobrahe zu seiner Zeit

in Wandsbeck den Sternenlauf betrachtet hat, und dass dieser Tychobrahe eine Na-

se von Gold, Silber und Wachs hatte, weil ihm von ohngefähr 'n Edelmann zu nächt-

licher Weile eine von Fleisch abduellierte; ich tu' Ihm zu wissen, dass ich keine Na-

se von Gold, Silber und Wachs hab', und dass ich folglich hier auch den Sternenlauf

nicht betrachte. Übrigens ist mir in Ermangelung eines Bessern zu Ohren gekom-

men, dass ihm seine Gertrud abgestorben ist. Da Er weiß, dass ich nicht ungerührt

bleibe, wenn 'n Hund stirbt, den ich zum ersten Mal sehe, so kann er sich leicht

vorstellen, wie mir bei der Nachricht von diesem Todesfall geworden sein mag. Die

selige Gertrud hatt' ihre Nücken, aber 's reute sie doch gleich, und sie hatt' auch viel

Gutes und hätte wohl länger leben mögen, doch sie ist nun caput, und Er muss sich

zufrieden geben. Andres! unterm Mond ist viel Mühe des Lebens, Er muss sich zu-

frieden geben – ich sitze mit Tränen in den Augen und nag' an der Feder, dass un-

term Mond so viel Mühe des Lebens ist, und dass einen jedweden seine eigne Nü-

cken so unglücklich machen müssen!

ALLE WEGE, DIE ZU ETWAS ERNSTHAFTEM FÜHREN,

SIND NICHT GEBAHNT UND LUSTIG

Das ist auch meine Meinung: alle Wege, die zu etwas Ernsthaftem führen, sind

nicht gebahnt und lustig; und so gehe ein jeder den Weg, der ihm am meisten

frommt. Ein jeder ist sich selbst der Nächste, und muss selbst für sich antworten,

was gehen ihn andere Leute an! Darum gehe ein jeder seinen Weg, und tue, was

ihm am meisten frommt. Ich für meinen Teil finde meine Rechnung bei dem vor-

läufigen Planmachen, und der ängstlichen Geschäftigkeit nicht. Mir tut ein stiller

gehaltener Wunsch die besten Dienste. Und darum mache ich über die Fälle, die

kommen könnten, die Augen lieber zu, und hasse nur immer das Böse und entsage,

nach Luthers kräftiger Taufformel, dem Teufel und allen seinen Werken und allem

seinem Wesen, um so in mir dem Bösen überhaupt zu wehren und Abbruch zu tun.

Wenn dem großen Strom sein Wasser geschmälert wird, so vertrocknen die kleinen

Bäche, die aus ihm abfließen, von selbst. Und kommen denn die einzelnen Fälle, so

bestehe ich sie, so gut ich kann. Und geht es denn, wie es nicht gehen sollte, so

grämt mich das, aber ich zerreiße mich nicht, und lasse fünf grade sein. Dies ist

nicht so gemeint, als ob man sich gehen lassen, und nicht streiten und widerstehen

solle. Man soll freilich widerstehen „bis auf's Blut“, sagt die h. Schrift. Nur soll man

von sich nichts erwarten, keinen Gefallen an der Stärke seines Rosses haben, nicht

stark sein wollen, und lieber „stark sein, wenn man schwach ist.“ Wer sich voll-

kommen und ohne Sünde glaubt, der trotzt der Wahrheit, und „die Huren und Zöll-

ner mögen eher ins Himmelreich kommen“. Wer aber „an seine Brust schlägt und

auch die Augen nicht aufheben mag gen Himmel“, der gibt ihr die Ehre, und berei-

tet ihr den Weg. Demut ist der Grundstein alles Guten, und Gott bauet auf keinen

andern. Wir haben gesündiget, wir sind Fleisch und Blut: das müssen wir wissen,

und nicht aus dem Auge verlieren. Unsre Untugenden scheiden uns und Gott von

einander, und unser schwacher, toter Wille kann, sich selbst gelassen, die Kluft, die

dadurch zwischen Gott und uns befestigt ist, nicht durchbrechen, und Bahn zu ihm

machen. Er kann nur wünschen, nur wünschen und hoffen. Wenn Gott den Willen

lebendig macht, der hats umsonst; wir andern müssen durch innerliche Tätigkeit

Rat suchen, und unsern Willen stärken und üben. Denn nur im Willen ist Rat, und

sonst nirgends.

Ein jedweder hat wohl seine Art, den Willen zu stärken und zu üben. Doch ist allen

Ernst und Entschlossenheit not; denn die sinnliche Natur, die bei allen im Wege

steht, ist schwer zu überwinden. Ihr wachsen für einen abgehauenen Kopf drei an-

dere wieder; und der Mensch ist ihr Freund, und redet immer das Wort, und ist

behende und schlau, Künste und Auswege zu finden, um sie zu retten. Zum Exem-

pel, wenn eine Neigung in uns aufsteht, und man es fühlt und weiß, dass diese Nei-

gung dem bessern Gesetz in uns Gewalt tut, und dass sie mit ihm unverträglich ist,

so will man sich auf diese Unverträglichkeit nicht einlassen, und sucht beide Kräfte

mit Entschuldigungen und guten Worten hinzuhalten, dass sie sich nicht unmittel-

bar berühren, und an einander kommen. Der Weichling fürchtet Entscheidung, und

fliehet deswegen den Kampf. Man soll aber Entscheidung wollen, und in seiner

Kammer oder Nachts auf dem Lager, die zwei feindlichen Kräfte an einander brin-

gen, und sie in seinem Herzen gleichsam cohibieren, und sich so lange miteinander

bewegen, und mit einander ringen lassen, bis man sich aufrichtig bewusst ist, dass

das bessere Gesetz die Oberhand erhalten habe, und unsre wahre Meinung und un-

ser wahrer Sinn sei. Mit diesem ersten Sieg ist vieles, aber nicht alles gewonnen.

Dieser Sinn wankt wieder, und trübt sich wieder; aber er muss täglich und bei je-

dem Anlass wieder errungen und wieder gefasst werden, so oft und so lange, bis er

in unsrem Inwendigen einheimisch geworden, und so fest und beständig ist, wie in

dem Inwendigen einer Eiche der Trieb zu wachsen, den Wind und Wetter und ande-

re äußerliche Zufälle und Umstände hindern, aber, so lange die Eiche steht, nicht

vertilgen können. Wenn der Mensch das hat, wenn er mit Wahrheit sagen kann:

„ich will mir selbst nicht leben; ich hätte gern das Hohe und Gute; wenn mir das

aber nicht beschieden ist, das Niedrige und Böse will ich nicht: Knecht will ich nicht

sein“ – wenn der Mensch das, zu jeder Zeit, mit Wahrheit sagen kann, so ist er dem

guten Gewissen nahe, bis auf die im vorigen Leben begangenen Fehltritte und Ver-

gehungen mit ihren Folgen, bis auf die geschehene Beleidigung Gottes, die nicht

ungeschehen gemacht werden kann. Wenn wir nur einen rechtlichen Menschen be-

leidigt haben, so ist er beleidigt, und ein zartes Gemüt kann es nicht vergessen.

Reue und Zeit heilen wohl die Wunde, aber die Narbe bleibt, und fordert noch im-

mer etwas von uns. Was denn jene Beleidigung! „Für die Gesunden und Starken“ ist

kein Rat, denn die Gerechtigkeit Gottes ist unerbittlich. Aber für die Kranken hat

Gott hinter ihrem Rücken Gedanken des Friedens gehabt, und durch ein kündlich

großes Geheimnis seine Gerechtigkeit in seine Liebe eingewickelt. Die Ehebrecherin

ward nicht verdammt, und die große Sünderin durfte seine Füße küssen. In Summa,

mit jenem Sinn im Herzen und im Glauben an den Stiller unsers Haders kann der

Mensch, ohne hergestellt zu sein, ein gutes Gewissen haben, und ruhig abwarten,

dass ihm vom Himmel gegeben werde, was sich der Mensch nicht nehmen kann.

DAS HEISST ANTWORTEN!

Also ich soll Dir zum Anfang die Geschichte vom Zinsgroschen erklären! Dass ich

Dir etwas erklären soll, dünkt mich eben so, als wenn ich abends vom Lehnstuhl

vor meinem seligen Vater predigen musste. Indes ich bin zu Deinem Dienst. Aber

Andres, Du machst es mit Deinen Texten wie auf der Hochzeit zu Kana in Galiläa,

wo zuerst der geringere Wein gegeben ward. Die Pharisäer fahren hier freilich sehr

übel; was ist da eben für große Freude daran? Im Grund müssen sie einen doch

dauern. Und Christus und die Weltweisheit sind nicht Partie egal; man weiß vorher,

dass sie immer den kürzeren ziehen muss. Die Art freilich, wie unser Herr Christus

sie den kürzeren ziehen lässt, die ist überköstlich und macht alles gut; und so will

ich nur gleich anfangen, und weil Du die Geschichte doch so lieb hast, etwas weit-

läufiger sein, als sonst wohl nötig wäre.

„Da gingen die Pharisäer hin und hielten einen Rat, wie sie ihn fingen in seiner Re-

de.“

In diesem Rat ward ein Projekt beliebt: ihn sagen zu machen, dass dem Kaiser der

Zins nicht gebühre. Eigentlich waren die Pharisäer wider den Kaiser, hatten ihm

auch keinen Eid schwören wollen; aber der König der Wahrheit war ihnen noch

mehr zuwider, weil sie bei dem noch mehr zu verlieren hatten. Und so schickten sie

sich in die Zeit und machten eine Allianz mit dem Kaiser, um sich durch den gerin-

geren Feind den größeren vom Hals zu schaffen. Christus sollte sagen, es sei nicht

recht, dass man dem Kaiser Zins gebe, und dann war er verloren, meinten sie, und

scheinen sie auf die prompte Justiz in Kameralsachen gerechnet zu haben. Aber wie

macht man ihn das sagen? Die schlauen Füchse kannten sich und wussten, dass ei-

ne Wanne mit Wasser eher überfließt, wenn sie in Bewegung gesetzt ist. Deswegen

beschlossen sie weiter, ihm durch verstelltes Lob und Anerkennung seiner Kompe-

tenz das Herz vorher groß zu machen, seine Wahrhaftigkeit, seinen geraden Sinn

und sein Nichtachten der Person vor dem Volk zu loben, damit er geneigt würde,

gleich davon eine Probe gegen den Kaiser zu geben.

Das alles war hier nun freilich nicht angebracht; aber sie verstanden das nicht bes-

ser, und so sandten sie denn ihre Jünger und sprachen: „Meister, wir wissen, dass

du wahrhaftig bist und lehrest den Weg Gottes recht, und du fragest nach niemand;

denn du achtest nicht das Ansehen der Person. Darum sage uns, was dünket dich?

Ists recht, dass man dem Kaiser Zins gebe oder nicht?“ Und Herodes Diener muss-

ten gleich mitgehen, damit es bei dem Zeugenverhör desto weniger Weitläufigkeit

gäbe, oder als gute Freunde, die den Sieg mit ansehen und ausbreiten helfen soll-

ten. Ja! oder nein! – und in beiden Fällen siegten die Pharisäer. Denn sollte Christus

den Zins gutheißen und also dem Hauptprojekt ausweichen, so verdarb ers beim

Volk, das den Zins ungern bezahlte und von seinem Messias Befreiung von allem

fremden Joch erwartete. Die Sache war sehr klug angelegt und wäre ceteris paribus

gewiss zehn- gegen einmal durchgegangen. Hier, wie gesagt, gings nicht.

„Da nun Jesus merkete ihre Schalkheit, sprach er: Ihr Heuchler, was versuchet ihr

mich?“

Das war der freimütige, grade Sinn usw., den sie aus Schalkheit gelobt hatten,

wahrhaftig; aber anders, als sie erwarteten. Mathematisch gewiss waren wohl die

Pharisäer des guten Ausgangs nicht, denn sonst wären sie selbst gekommen und

hätten nicht ihre Jünger geschickt; indes hatten sie doch ohne Zweifel gute Erwar-

tungen, und sie haben ohne Zweifel den deputierten Jüngern in einem nicht gerin-

gen Ton von ihrer klugen Anlage und Erfindung gesprochen, und diese hatten ge-

wiss ihre heimliche Freude, dass Christus von dem allen nichts wisse und ihrem

ehrbaren Gesicht nicht ansehen werde, was hinter ihrer Frage stecke. Und du

kannst denken, wie sie erschrocken sind, als unser Herr Christus anfing zu spre-

chen und, seiner Gewohnheit nach, nicht dem Gesicht, sondern dem Herzen ant-

wortete.

„Da nun Jesus merkete ihre Schalkheit, sprach er: Ihr Heuchler, was versuchet ihr

mich? Weiset mir die Zinsmünze. Und sie reichten ihm einen Groschen dar. Und er

sprach zu ihnen: Wes ist das Bild und die Überschrift? Sie sprachen zu ihm: Des

Kaisers. Da sprach er zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott,

was Gottes ist.“

Andres, was ist doch für Sinn in allem, das aus seinem Munde kommt! Es vermahnt

mich damit so wie mit den Schachteln, wo immer eine in der anderen steht. Seine

Antwort kann wohl so ausgelegt werden: Ihr habt die Hoheit und den Schutz des

Kaisers anerkannt, und sein Geld in euren Taschen, so müsst ihr auch tun, was das

mit sich bringt! Und ich wüsste nicht, was der größte Staatsmann anders hätte sa-

gen können. Aber Christus war mehr als Staatsmann. „Wes ist das Bild und die

Überschrift?“

Er sprach hier zu Pharisäern, die auf Moses' Stuhl saßen, die zwar weder für sich

noch für andere aufschließen konnten, aber doch die Schlüssel der Erkenntnis an

einem großen Haken an der Seite trugen und sich mit dem Buchstaben des Geset-

zes, als die einzigen wahren Ausleger desselben, brüsteten. Christus verwies ihnen

bei einer anderen Gelegenheit diesen ihren blinden Stolz, dass sie meinten, das

ewige Leben in der Schrift zu haben, und nicht wüssten, wo sie es suchen sollten.

Hier war ähnliches. So große Ausleger des Moses mussten ja die Lehre von dem

Ebenbilde verstehen, und wo das hingehört, denn es war seine Hauptlehre. Wie

konnten sie dann fragen, ob der Zinsgroschen dem Kaiser gehöre, da sein Bild da-

rauf stand? Gott hatte den Menschen gemacht, ein Bild, das ihm gleich sei; der Kai-

ser hatte auch sein Bild machen lassen, und das war von Silber und stand auf der

Zinsmünze. Moses und die Propheten hatten Israel den Weg gelehret, sich vor

fremdem Joch und Zinsmünze zu bewahren, nämlich wenn sie an Gott, ihrem Ur-

bilde, von ganzem Herzen hingen und keine anderen Götter hätten neben ihm, usw.

„Wes ist das Bild und die Überschrift?“

Fühlst Du nicht den feinen Sinn? So war ein Zipfel ihnen vom Rock abgeschnitten,

ein Pfeil aus ihrem eigenen Zeughaus ihnen gewiesen – aber auch nur gewiesen.

Über das Ebenbild Gottes hatten die Eiferer für die Religion nichts zu fragen, wohl

aber über das silberne Ebenbild des Kaisers. Die Zinsmünze und das Geben oder

Nichtgeben derselben war im Grunde eine kleine und unbedeutende Angelegenheit,

die über ihre Glückseligkeit nichts entschied. Überhaupt war die ganze Frage über

das Recht und Unrecht der Zinsmünze eine sehr alberne Frage und gerade so viel,

als wenn ein Ehebrecher fragen wollte, ob es recht sei, die auf den Ehebruch gesetz-

te Strafe zu bezahlen. Du siehst, wie die Pharisäer eigentlich standen, und was von

allen Seiten für Anlass und Raum zu bitterer Antwort war, und Gott weiß, dass sie

hier nicht unverdient gegeben wäre. Aber er war zu gut, bitter zu sein. Auch war er

nicht gekommen, das letzte Wort zu behalten und über die Künste der Pharisäer

und Weltweisen zu triumphieren, sondern die Künstler selig zu machen; und das

treiben alle seine Handlungen und Reden. Er sagte: „So gebet dem Kaiser, was des

Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“

Wie unser Herr Christus, so waren auch seine Handlungen und Reden. In sich Gna-

de und Wahrheit und ewiges Gut, und auswendig armes Fleisch und Blut und

Knechtsgestalt. Wenn er des Jairus gestorbenes Töchterlein vom Tode auferwecken

will, spricht er: „Das Mägdlein schläft“ und nimmt sie, als ob sie wirklich nur

schliefe, bei der Hand und ruft: „Mägdlein, stehe auf“; und ihr Geist kam wieder

usw. Wenn er von der über alle Maße hohen Seligkeit seiner wahren Nachfolger

sprechen will, sagt er: „Wer mein Wort hält, der wird inne werden, ob meine Lehre

von Gott sei.“ So auch hier: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was

Gottes ist.“ Wie klein von außen! Und doch enthalten die Worte nichts Geringeres

für sie als einen und den einzigen Rat, aus aller ihrer Not zu kommen; denn außer

der Herstellung des Ebenbildes Gottes in ihnen war alles übrige löchrige Brunnen.

Aber nun noch inniger und Mann an Mann.

So wenig die Pharisäer es auch glaubten und wussten, so waren sie doch blind und

elend und brauchten Hilfe. Darum hofften sie auch, wiewohl mit Unverstand, auf

einen Messias und lehrten das Volk auf ihn hoffen. Der vor ihnen stand und mit

ihnen redete, war der große Heiland, der diese Hilfe brachte und sie und alle verirr-

ten Schafe vom Hause Israel in seine Arme sammeln wollte! Ihn verkennen sie und

wollen ihn mit Fragen über das Ebenbild des Kaisers überlisten und in Unglück

bringen. Und er … vergibt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun; und er weist

sie hin auf Hilfe, die ihnen so nahe war, und öffnet die Arme.

„Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“

Das heißt antworten! Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die du

gesogen hast! Und wir haben noch unsere verkehrten Begriffe vom Golde, vom

Menschen und dem Reiche Gottes. Was meinst Du, wenn wir das alles mit anderen

Augen ansehen könnten? Da würden wir erst seine Antwort verstehen und die Fülle

von Gnade und Wahrheit, die in ihr ist. Sieh, Andres, so geht er mit den Pharisäern

um. Willst Du aber sehen, wie sie selbst mit sich umgehen, so lies unter anderem

die Geschichte von dem Blindgeborenen, Johannes 9, vom 10. bis 34. Vers inklusive.

Ich weiß wohl, die Bibel liegt immer nicht weit von Dir; sie könnte doch aber grade

einmal in der anderen Kammer liegen, und so will ich herschreiben:

„Da sprachen sie zu ihm: Wie sind deine Augen aufgetan? Er antwortete und sprach:

Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Kot und schmierte meine Augen und

sprach: Gehe hin zu dem Teiche Siloah und wasche dich. Ich ging hin und wusch

mich und ward sehend. Da sprachen sie zu ihm: Wo ist derselbige? Er sprach: Ich

weiß nicht. Da führeten sie ihn zu den Pharisäern, der weiland blind war. Es war

aber Sabbat, da Jesus den Kot machte und seine Augen öffnete. Da fragten sie ihn

abermals, auch die Pharisäer, wie er wäre sehend geworden? Er aber sprach zu

ihnen: Kot legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin nun sehend. Da

sprachen etliche der Pharisäer: Der Mensch ist nicht von Gott, dieweil er den Sabbat

nicht hält. Die anderen aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zei-

chen tun? Und ward eine Zwietracht unter ihnen. Sie sprachen wieder zu dem Blin-

den: Was sagest du von ihm, dass er hat deine Augen aufgetan? Er aber sprach: Er ist

ein Prophet. Die Juden glaubten nicht von ihm, dass er blind gewesen und sehend

worden wäre, bis dass sie riefen die Eltern des, der sehend wurde, fragten sie und

sprachen: Ist das euer Sohn, von welchem ihr saget, er sei blind geboren? Warum ist

er denn nun sehend? Seine Eltern antworteten ihnen und sprachen: Wir wissen,

dass dieser unser Sohn ist, und dass er blind geboren ist. Wie er aber nun sehend

ist, wissen wir nicht; oder wer ihm seine Augen aufgetan hat, wissen wir auch

nicht. Er ist alt genug, fraget ihn; lasset ihn selbst für sich reden. Solches sagten

seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor den Juden. Denn die Juden hatten sich

schon vereiniget, so jemand ihn für Christum bekennete, dass derselbige in den

Bann getan würde. Darum sprachen seine Eltern: Er ist alt genug, fraget ihn. Da rie-

fen sie zum andernmal den Menschen, der blind gewesen war, und sprachen zu

ihm: gib Gott die Ehre; wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. Er antwortete

und sprach: Ist er ein Sünder, das weiß ich nicht; eines weiß ich wohl, dass ich

blind war und bin nun sehend. Da sprachen sie wieder zu ihm: Was tat er dir? Wie

tat er deine Augen auf? Er antwortete ihnen: Ich habs euch jetzt gesaget; habt ihr es

nicht gehöret? Was wollet ihr es abermal hören? Wollet ihr auch seine Jünger wer-

den? Da fluchten sie ihm und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses'

Jünger. Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat; diesen aber wissen wir nicht,

von woher er ist. Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen: Das ist ein wunder-

lich Ding, dass ihr nicht wisset, von woher er sei; und er hat meine Augen aufgetan.

Wir wissen aber, dass Gott die Sünder nicht höret; sondern so jemand gottesfürch-

tig ist und tut seinen Willen, den höret er. Von der Welt an ists nicht erhöret, dass

jemand einem geborenen Blinden die Augen aufgetan habe. Wäre dieser nicht von

Gott, er könnte nichts tun. Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in

Sünden geboren und lehrest uns? Und stießen ihn hinaus.“

Nicht wahr, ärger konnten sie doch sich nicht prostituieren? Und es fehlt nur noch,

dass sie eine Kommission von Naturkundigen und Ärzten niedergesetzt hätten, das

Faktum zu untersuchen und darüber ihre Bedenken einzugeben. Ich setze kein Wort

zum Text hinzu; und, die Wahrheit zu sagen, es dünkt mir das als die beste Metho-

de, wenn man nichts hinzusetzt, denn man verdirbt doch nur daran.

Dein usw.

DER JÜNGLING VON NAIN

„Und es begab sich darnach, dass er in eine Stadt mit Namen Nain ging: und seiner

Jünger gingen viel mit ihm, und viel Volks.“

„Als er aber nahe an das Stadttor kam: siehe, da trug man einen Toten heraus, der

ein einiger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Witwe, und viel Volks ging mit

ihr.“

„Und da sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: weine

nicht.“

„Und trat hinzu, und rührete den Sarg an: und die Träger stunden. Und er sprach:

Jüngling, ich sage dir, stehe auf.“

„Und der Tote richtete sich auf, und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mut-

ter.“

Man kann eine solche Geschichte nicht lesen, ohne die Mutter selig zu preisen und

den Toten und die Träger und alle Menschen, die dabei waren; aber doch sonderlich

die Mutter. Du weißt, Andres, wenn man ein Kind schwer krank hat, das man gerne

behalten will, wie man da geht und die Hände ringt und immer hofft, auch wenn

man nicht mehr kann und sollte. Man hofft noch immer und hört auch nicht auf, so

lange die Kranke noch lebendig und im Bette ist. Wenn sie aber auf dem Brett liegt,

wenn der Sarg kommt und die Träger, und die Tote herausgetragen wird, denn

muss man wohl aufhören, und bleibt denn nichts übrig, als hinter dem Sarg herzu-

gehen und zu weinen.

Die Witwe zu Nain scheint auch keinen andern Rat gewusst zu haben, und sie hoff-

te wohl auch nicht mehr, als sie, hinter der Leiche her, aus dem Stadttor ging. Und

es würde ihr auch nicht anders als uns andern ergangen sein, ihr Kind wäre einge-

senkt und mit Erde beschüttet worden, und sie hätte allein wieder zurückgehen

müssen, wenn nicht unser lieber Herr Christus grade des Wegs hergekommen wäre,

und sie ihm mit der Leiche begegnet wären. Und darum ist es eben so groß und er-

freulich, dass er einmal auf Erden gewesen ist, und Menschen das Glück haben

konnten, ihm zu begegnen.

„Und als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: weine

nicht.“

Es ist immer etwas über alle Maßen zartes und großmütiges in dem Benehmen

Christi. Wer nicht helfen kann, hat gewöhnlich Mitleiden, und wer Mitleiden hat,

kann gewöhnlich nicht helfen. Auch ist mancher mitleidig, weil die Reihe auch an

ihn kommen kann, weil er den andern braucht, oder ihm Verbindlichkeit hat usw.

Hier ist das alles ganz anders. Auch, nach dem ersten Ansehen hatte die Witwe

Recht, Mitleiden von Christus zu erwarten und zu fordern; nach der Wahrheit aber

war ein anderes Verhältnis zwischen ihm und ihr. Vor ihm war sie, was wir alle

sind: undankbare Kinder, eine ungeratene Tochter, die ihres Vaters Haus mutwillig

verlassen und sich selbst unglücklich gemacht hatte; und Christus war der Vater,

der ihr nachgegangen war, um das verlorne Kind aufzusuchen, und der sie nun hier

in einer elenden Hütte mitten unter den bittern Folgen ihrer Vergehung antraf. Sie

musste sich schämen, ihm vor die Augen zu kommen, und hatte nichts als Vorwürfe

zu erwarten, und verdient. Aber, „als sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen,

und sprach zu ihr: weine nicht.“ Und das war ihm noch nicht genug. Er wollte nicht

allein vergeben und vergessen, sondern auch in der gegenwärtigen Lage und Verle-

genheit Rat schaffen. „Und er trat hinzu, und rührete den Sarg an, und die Träger

stunden.“

Vermutlich kannte die Witwe den Herrn Christus nicht und wird also in ihrem

Schmerz nach dem Rabbi und seinem „weine nicht!“ wohl nicht sonderlich hinge-

hört haben. Sie hat gewiss den Sarg mit keinem Auge verlassen und von dem Rabbi

nichts erwartet – noch nicht, als er hinzutrat und den Sarg anrührte und dem Jüng-

ling aufzustehen gebot.

Als aber der Kopf aus dem Sarge empor kam, als der einzige Sohn sich aufrichtete

und anfing zu reden und ihr wieder gegeben wurde … Andres, wie wird sie da den

wunderbaren Rabbi angesehen, sich vor ihn auf die Erde hingeworfen und ihm

Hände und Füße geküsst haben.

Und was meinst Du die Umstehende? Lukas sagt: „es kam sie alle eine Furcht an,

und preiseten Gott etc.“; und das scheint mir sehr natürlich. Denn, so rührend die

Scene auch immer sein möchte, so musste doch das höhere Interesse die Oberhand

gewinnen. Man verliert die Witwe aus den Augen und zittert und preiset Gott: dass

es also wahr ist, dass im Tode nur das Gehäuse und die Hülse zerfällt; dass der

Geist des Menschen nach dem Tode übrig bleibt, und man wahrhaftig auf Wieder-

sehen rechnen kann.

Andres! die in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und

herfürgehen… Aber auch die Toten, die nicht in den Gräbern sind, werden die

Stimme des Sohnes Gottes hören und herfürgehen. Sein Reich war nicht von dieser

Welt. Ob er gleich Herr und Meister der sichtbaren Natur war, und seine Lehre über

alles wohltätig auch für dies Leben ist, und er selbst im Leiblichen immer und bei

aller Gelegenheit half und diente, so war doch dies eigentlich sein Feld und Gebiet

nicht. Er war gesetzt über das Unsichtbare und ein Pfleger der heiligen Güter. Und

alle seine sichtbare Werke und Wunder waren nur seine kleinere und Neben-Werke,

die er verrichtete und tat, um die Menschen über die größeren zu belehren, und

ihnen durch das, was sie sahen, die Augen zu öffnen über das, was sie nicht sahen.

Als er dort zu dem Gichtbrüchigen sprach: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden

sind dir vergeben“; so wird der Gichtbrüchige selbst zwar wohl inne worden sein

und gewusst haben, was das sei, wenn Christus einem Menschen seine Sünden

vergibt; aber die Schriftgelehrten, die umher standen, wussten es nicht, und hatten

deswegen ihre Bedenklichkeiten. Und Christus sagte: „Auf dass ihr wisset, dass des

Menschen Sohn Macht habe, auf Erden die Sünden zu vergeben, sprach er zu dem

Gichtbrüchigen: stehe auf, hebe dein Bette auf und gehe heim. Und er stund auf

und ging heim.“

So auch hier. Die Auferweckung eines Toten ist freilich ein großes Werk; aber es

gibt noch ein größeres. Wie Geist und Willkür größer und edler ist, als Leib und Me-

chanismus, so ist auch die Auferweckung des geistlichen Jünglings zu Nain, oder die

Herstellung unsers Geistes in seine ursprüngliche Herrlichkeit ein ander Werk. Aber

dies hohe und eigentliche Werk Christi ist unsichtbar. Damit wir aber wüssten, dass

er der von der Welt her erwartete und von allen guten Menschen begehrte Held und

Helfer sei und Macht habe, den erstorbenen Geist des Menschen zu wecken, so

weckte er Leiblich-tote. Und die das hörten und um die Wahrheit bekümmert wa-

ren, die wussten, weil niemand die Werke tun kann, dass er sei ein Lehrer von Gott

kommen, und gingen zu ihm, um bei ihm Rat und Trost für ihre Seele zu finden.

Menschen können keinen geben, was sie auch sagen und versprechen. Sie können

von der Leiche wohlreden, können sie kleiden und mit Blumen schmücken, ihr den

Kopf und die Hände zurecht legen etc.; aber tot ist tot, und sie bleibt stille und

stumm im Sarge liegen. Wenn aber Christus den Sarg anrühret, so richtet der Tote

sich auf und fängt an zu reden. Durch Worte und Floskeln wird aus dürrem Winter-

holz kein grünes; wohl aber durch ein gleichartiges Leben.

DIE GESTALT DES VORGÄNGERS DER WAHRHEIT

Guten Tag, lieber Andres, und fröhliche Ostern.

Es ist mir sehr lieb, dass Du mich über Johannes den Täufer zu Hilfe rufst. Nicht

zwar, weil ich eben sonderlich helfen kann, sondern weil ich so gerne von ihm

spreche und sprechen höre. Du schreibst, dass er Dir so groß vorkommt, und Du

kannst Dir doch nicht recht sagen, warum. Das ist recht gut, Andres. Man weiß oft

gerade dann am meisten, wenn man nicht recht sagen kann, warum.

Dass nun Johannes der Täufer uns groß vorkommt, ist kein Wunder. Seine ganze

Geschichte von der Stunde des Räucherns an bis an das „Haupt auf einer Schüssel“

ist sehr sonderbar; und es ist uns im Sinn, was von sicherer Hand von ihm gesagt

ist. Und die Stelle sonderlich, wo er stehet, trägt zu seiner Glorie bei. Denn je mehr

Zusammenhang mit Christus und je näher um und an ihn, desto größer. Nun hän-

gen freilich alle wahren Weisen und Männer Gottes seit der Welt Anfang mit Chris-

tus zusammen, wie die Ströme und Flüsse mit dem Meer. Petrus und Paulus sagen

das mit klaren Worten, und die große Unterredung auf dem heiligen Berge „über

den Ausgang zu Jerusalem“ gibt es wohl zu verstehen. Aber Johannes der Täufer

steht in der sichtbaren Welt zunächst und unmittelbar vor ihm und zieht also zu-

nächst den Blick auf sich. Also groß vorkommen muss er. Die Außen- und Um-

Werke, wenn ich so sagen darf, fallen sehr in die Augen. Seine innerliche eigene

Größe aber fällt nicht so sehr in die Augen, und deswegen will es mit dem Warum

nicht fort. Sie ist aber darum nicht weniger groß.

Schon das mit dem König Herodes, dass er den nicht sich selbst von dem nahen

Heil ausschließen und verkommen lassen wollte und lieber seinen Hals daran wag-

te, schon das spricht für ihn. Es ist eine leichte und schlechte Kunst, Andres, den

Königen und Fürsten zu trotzen und ihrem verkehrten Willen, wenn sie einen ha-

ben, einen anderen verkehrten Willen entgegenzusetzen. Aber, wenn ein Mann, der

sich besserer Dinge und des göttlichen Willens bewusst ist, wenn der nicht das Sei-

ne, sondern das des Königs sucht und ihn auf seinem Thron und mitten unter sei-

nen Gewaltigen straft und schilt, wenn er so unglücklich ist, Übles zu tun – das ist

ein anderes Ding.

Du weißt, was Johannes der Täufer für Vorteile davon gehabt und wie er sich nicht

geweigert hat. Dies nun aber will ich ihm so hoch nicht anrechnen. Ich kann es

nicht so groß und schwer finden, dass er und alle die Leute, die das Glück gehabt

haben, Christus näher zu kennen, dass sie sich für Ihn haben köpfen und sengen

und brennen lassen können. Das könnte man für Ihn wohl hinterm Berge tun, und

wenn man nur die Evangelisten gelesen hat. Aber dass Johannes der Täufer auf

ebenen Wege so treu sein, dass er so durch die Menschen hingehen und sich durch

nichts als die gute Sache treiben lassen, dass er die Wahrheit immer so über alles

achten und so fest im Auge behalten, dass er so demütig sein und unter allen Um-

ständen bleiben konnte usw., kurz, dass er so klein war und dass die menschliche

Natur sich in ihm gar nicht rührte – das ist schwer! Andres. Das ist groß! Und von

dieser Seite kann man die Gestalt Johannes des Täufers nicht lange und andächtig

genug ansehen, in allem, was die Schrift von ihm sagt.

Er sollte vor dem Herrn hergehen, dass er seinen Weg bereite. Mehr sollte und mehr

konnte er freilich nicht. Wer Sonnenstrahlen machen will, der ist ein Quacksalber

und kennt weder sich noch die Sonne; wer aber die Berge und Hügel, die ihr im

Wege stehen, abträgt und erniedrigt, der treibt ein wahres Werk und ein sehr gro-

ßes. Aber er fasst auch ein heißes Eisen an, denn er wird Vater und Mutter und sei-

ne eignen Hausgenossen wider sich erregen, wenn er Gott zum Freunde haben will.

Es ist kein Heil außer dem Heil, und die Götzenbilder müssen umgestoßen und

weggetan werden. Andres, schlage an Dein Herz! Da steckt das Geheimnis und da

muss, das Nichts ist, Etwas werden und zunichte werden, was Etwas ist. Denn die

Wahrheit hat alles und es fehlt ihr nichts als eine Herberge, als Platz und Raum für

ihre Herrlichkeit.

Aber wir wollen die Gestalt des Vorgängers der Wahrheit ansehen. Als die Nachricht

von ihm als dem Boten des Heils aus der Wüsten nach Jerusalem und der Gegend

umher gelangte, gingen sie hinaus: brillante Dinge, um einen Mann in weichen

Kleidern zu sehen. Du kannst denken, dass Johannes wohl gewusst habe, wie sie

ihn erwarteten und lieber gehabt hätten; aber er stand da in seinem Rock von Ka-

melhaaren und predigte Buße.

Das Volk war in dem Wahn und dachten alle in ihren Herzen von Johannes, ob er

vielleicht Christus wäre; er war wirklich Elias und wohl mehr als ein Prophet. Und

als die Deputierten von Jerusalem, Priester und Leviten, zu ihm kamen, und ihn

fragen: wer bist du? „Bekannte und leugnete er nicht und er bekannte: ich bin nicht

Christus“. Bist Du Elias? Und er sprach: „Ich bins nicht“. Bist Du ein Prophet? Und

er antwortete: „Nein!“ usw.

Die Stadt Jerusalem ging zu ihm hinaus und das ganze jüdische Land und alle Län-

der am Jordan und ließen sich taufen von ihm im Jordan und bekannten ihre Sün-

den. Und nun kamen vollends die Lichter und Angesehenen im Volk, viele Pharisäer

und Sadduzäer, öffentlich dazu. „Und als er sie kommen sah, sprach er zu ihnen: Ihr

Otterngezücht, wer hat denn euch gewiesen, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrin-

nen werdet? Sehet zu, tut rechtschaffene Früchte der Buße.“ usw.

Die um ihn standen, sahen ihn an und hielten ihn für einen Mann vom Himmel,

der alles wisse und in Händen habe, hielten seine Predigt für lauter himmlische Ge-

sichte und Offenbarung und seine Taufe für eine Geistes- und Wunder-Taufe. Und

er sagte: „Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Him-

mel. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Wer vom

Himmel kommt, der ist über alle. Ich taufe mit Wasser; aber nach mir kommt einer,

der wird euch mit Feuer und dem heiligen Geist taufen, das ich nicht wert bin, dass

ich seine Schuhriemen auflöse.“

Lebe wohl, Du lieber Andres, usw.

ER WILL WOHL BLEIBEN, WAS ER IST

Es geht mir ebenso, Andres, wenn ich in der Bibel von einem alten und neuen Bun-

de, von einer Konnexion und einem Verkehr zwischen dem höchsten Wesen und

unserm Geschlecht lese; ich mache auch oft das Buch zu und falte die Hände: dass

die Menschen vor Gott so hoch geachtet und wert sind!

Es drückt einen das freilich nieder in den Staub; aber man kriegt zu gleicher Zeit

Respekt vor sich selber und wittert Morgenluft – und man kann und kann den Mitt-

ler zwischen beiden nicht genug ansehen und lieben und möchte ihn für andere mit

lieben, die es nicht besser wissen. Der Mensch kann die Wahrheit verkennen, ver-

achten und aufhalten; aber wie umwegs oder verkehrt er es auch treibe, so irrt er

sich nur, und mitten in solchem Treiben suchet und meinet er sie. Er kann ihr'r

nicht entbehren; und es ist nicht möglich, wenn sie ihm erscheint, dass er sein

Haupt nicht vor ihr beuge. Irren ist menschlich, Andres! Aber die Wahrheit ist un-

schuldig. Sie ist immer bereit und immer wert und wird auch wohl am Ende recht

behalten.

Aber es macht Dir graue Haare, schreibst Du, unsern Herrn Christus verkannt und

verachtet zu sehen. – Du liebe, gerechte Seele, mag es doch; wer sie um ihn trägt,

der trägt mit Ehren graues Haar. Zwar seinetwegen brauchst Du Dir keine wachsen

zu lassen. Er will wohl bleiben, was er ist. So viele ihrer die Wahrheit nicht erken-

nen und nutzen, die haben des freilich Schaden; aber was kann es ihr schaden, ob

sie erkannt und genutzt wird oder nicht? Sie bedarf keines, und es ist die Größe

und Herrlichkeit ihrer Natur, dass sie immer bereit ist, von Undank nicht ermüdet

wird und wie die aufgehende Sonne mit den Wolken und Dünsten ringt, um sie zu

reinigen und zu vergolden.

Lass sie denn ringen, Andres; und brich Dir auch, um was Du nicht ändern kannst,

das Herz nicht. Wer nicht an Christus glauben will, der muss sehen, wie er ohne ihn

raten kann. Ich und Du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und

halte, weil wir leben, und uns die Hand unter den Kopf lege, wenn wir sterben sol-

len; und das kann er überschwenglich, nach dem, was von ihm geschrieben steht,

und wir wissen keinen, von dem wir's lieber hätten.

Keiner hat je so geliebt, und so etwas in sich Gutes und in sich Großes, wie die Bibel

von ihm saget und setzet, ist nie in eines Menschen Herz gekommen und über all

sein Verdienst und Würdigkeit. Es ist eine heilige Gestalt, die dem armen Pilger wie

ein Stern in der Nacht aufgehet und sein innerstes Bedürfnis, sein geheimstes Ahn-

den und Wünschen erfüllt. Wir wollen an ihn glauben, Andres, und wenn auch

niemand mehr an ihn glaubte. Wer nicht um der andern willen an ihn geglaubt hat,

wie kann der um der andern willen auch aufhören, an ihn zu glauben? Nur eine so

zarte, überirdische Gestalt ist gar zu leicht verändert und verstellt, und sie kann von

Menschenhänden sozusagen nicht berührt werden, ohne zu verlieren. Deswegen ist

auch immer des Zankens und Streitens über ihn unter den Menschen kein Ende

gewesen.

Von allen den Streitern sind die, welche die Bibel aufrecht halten und doch alles

Übernatürliche natürlich machen und mit ihrer Philosophie belegen und reimen

wollen, unstreitig die schwächsten; denn sie haben weder Verstand noch Mut und

sind nicht Fisch noch Fleisch. Dazu sind sie immer in Not und kommen nicht zum

Ziel, denn es ist viel schwerer, die Vernunft gegen die Offenbarung, als die Offenba-

rung gegen die Vernunft zu retten; und wenn sie zum Ziel kommen, so haben sie

nichts. Wer menschliche Weisheit sein lässt, was sie ist, sich aber bescheidet, dass

es eine größere gebe, und Gott Mittel und Wege haben könne, davon der Mensch

nicht weiß, und dass eine Offenbarung über unsre Einsichten sein müsse, und das

Unbegreifliche an ihr kein Flecken, sondern, wenn sie sonst das Gepräge göttlicher

Liebe trägt, grade ihr Wahrzeichen und ihre Schöne sei; der ist besser daran und

kann allen den Zänkereien unbekümmert zusehen und indes in seine Scheuern

sammeln. Alles muss allerdings zusammenhängen und wird sich auch wohl reimen

lassen, wenn die Data bekannt sind. Die Spekulanten lassen es sich nicht träumen,

dass das brillanteste Feld der Spekulation hinter der Kirchmauer liege.

Doch dem sei, wie ihm wolle, Andres; wir glauben der Bibel aufs Wort und halten

uns schlecht und recht an das, was die Apostel von Christus sagen und setzen. Die

ihn selbst gesehen und gehört haben und an seiner Brust gelegen sind, die sind ihm

doch näher gewesen als wir und die Glosse. Und was auch bisher unter den Gelehr-

ten erfunden sein mag, und wie gut sie auch wissen und verstehen mögen; so

scheint es doch, die Wahrheit zu sagen, dass die Apostel es besser wissen und ver-

stehen müssten.

FREISEIN IST EIN ANDER DING ALS AN SEINER KETTE REISSEN UND RÜTTELN

Als die Leute in dem Markt der Samariter, bei denen unser Herr Christus Herberge

bestellen ließ, ihn nicht annehmen wollten, sprachen seine Jünger Jakobus und Jo-

hannes: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und ver-

zehre sie, wie Elias tat. – Und das nimmst Du so übel und kannst es den beiden

Jüngern nicht vergeben noch vergessen! Du freust einen, Andres! Aber ich kann auf

meinen Jakobus und Johannes nichts kommen lassen, und ich muss ihnen bei Dir

das Wort reden und ihre Ehre retten.

Vorläufig darf man über das „Feuer vom Himmel fallen lassen“ so ängstlich nicht

sein, denn es hat damit gute Wege; und wer es kann fallen lassen, der wird schon

wissen, was er zu tun und zu lassen hat. Über Handlungen höherer Ordnung kön-

nen wir nicht urteilen, und so müssen wir auch nicht darüber urteilen wollen. Die

Sache, wovon hier geredet wird, ist bloß menschlich, und da will ich, wie gesagt,

versuchen, die Donnerskinder mit Dir auszusöhnen. Erstlich hatten sie das Exem-

pel des Elias vor sich, den sie noch kürzlich in sehr glorreichen Umständen gesehen

hatten; und dann suchten sie ihres Meisters Einwilligung, und natürlich auch seine

Kraft. Doch Du pflegst zu sagen: Schweige von einem andern oder setze Dich ganz

an seine Stelle. Wir wollen uns denn hinsetzen. Es sitzt sich ohnedas an der Stelle

so gut.

Christus war mit den Jüngern auf der Reise nach Jerusalem. Er reiste hier eigentlich

in Angelegenheiten der Samariter und tat diese Reise wie alle das andre, um sie und

alle Menschen sanft zu betten und ihnen eine ewige Herberge zu bereiten. Zwar das

mochten die Jünger, ob er ihnen gleich verschiedentlich darüber gesprochen hatte,

doch vielleicht noch so ganz nicht begriffen haben. Aber sie waren doch zwei, drei

ganze Jahre mit ihm umhergezogen und hatten gesehen, dass er nicht seinetwegen

umherzog und nicht gekommen war, sich dienen zu lassen; dass er nichts als Gutes

lehrte und Gutes tat, links und rechts und ohne Ansehn der Person, und dass er

sich nicht zweimal bitten ließ und jedem, der sein bedurfte, mit Liebe und Freund-

lichkeit zuvorkam. Dazu war es jetzt das letztemal, dass er ihre Herberge brauchte,

denn die Zeit war erfüllet, dass er sollte von hinnen genommen werden, und er

ging hier der Schmach und dem Tode entgegen. – Und nun wird ihm das Nachtlager

versagt, und seine Boten werden abgewiesen … Andres, kannst Du es den Jüngern

übelnehmen, wenn sie da unwillig wurden? Der ist kein schlechter Mann, dem die

Galle überläuft, wenn er so Gutes mit Undank belohnen und Recht und Billigkeit

mit Füßen treten sieht!

Und nimm nun noch dazu die Anhänglichkeit und Liebe, womit die Jünger ihrem

Herrn und Meister zugetan waren und anhingen. Wem alles gleichviel und einerlei

ist, der hat gut sprechen. Aber wem es an etwas gelegen und in der Brust nicht hohl

ist, dem ist anders zumute als den Eiszapfen am Dache des Toleranztempels. Das

Herz hat auch seine Rechte und lässt nicht mit sich spielen wie mit einem Vogel.

Überhaupt ist es nicht unrecht: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Und schilt mir den

Mann nicht, der für Recht und Billigkeit stehenbleibt und die Hand ans Schwert

legt. Etwas von dem Drei-Männer-Trotz, der sich auf nichts in der Welt als auf sich

selbst und seine gute Sache stützt, und doch vor der Gewalt und Menge nicht beu-

gen will, ist nicht so übel. „Unser Gott“, sagten sie, „kann uns wohl erretten. Und

wenn er es auch nicht tun will; so sollt ihr dennoch wissen, dass wir das Goldene

Kalb nicht anbeten wollen.“ Kurz, wie es an den drei Männern edel war, dass sie an

Feuer nicht dachten, so war es an den beiden Jüngern nicht unedel, dass sie daran

dachten. Freilich Christus bedräuete sie; und wer das „Feuer vom Himmel“ in sei-

ner Hand unter seinem durch und durch gewirkten Rock zurückhalten und verber-

gen und sich vor Freund und Feind wie ein Verbrecher hinführen lassen konnte,

damit der Wille des Vaters im Himmel geschehe; der konnte dräuen, und vor dem

hatten die Jünger sich zu schämen, dass sie nicht wussten, wes Geistes Kinder sie

waren. Aber ich will auch wissen, dass sie vor einem jeden andern Geist sich nicht

zu schämen hatten, und dass der Geist des Christentums nicht ohne Ursache ein

Geist der Herrlichkeit genannt wird. Gut ist ein ander Ding als edel; und Freisein

ein ander Ding als an seiner Ketten reißen und rütteln. Edle Menschen gibt es von

Natur, aber gut ist niemand als der einige Gott, und wen der gut gemacht hat.

WAS EDEL IST

(Fortsetzung des Briefes „Freisein ist ein ander Ding als an seiner Kette reißen und

rütteln“)

Ich soll Dir das weiter auseinandersetzen – .

Edel ist: Ahndung der Heimat; das Gute in Feindes Land; der König im Gefängnis.

Wer Freude am Guten hat und gerne gut wäre, und mit sich kämpft und streitet,

dass er's sei, der ist ein edler Mann. Was soll ich Dir viel auseinandersetzen? Du

weißt ja, besser als ich, wie es geht. Man will gern immer – das Eitle nicht lieb ha-

ben, unparteiisch sein, nicht böse werden, wenn man beleidigt wird, geistlich ge-

sinnt sein usw.; aber man kann es nicht. Wenn auch auswendig, so geht es doch

inwendig nicht rein ab. Und, wenn auch das Feld behalten wird, so ist darum doch

kein Friede. Der Feind bleibt im Lande, und man muss mit dem Gefangenen sich

placken und plagen.

All' Fehd' ein Ende, und rein Haus machen: das ist die Weisheit Gottes, welche die

Edeln gelüstet zu schauen, die Weisen wissen, und die Toren verachten. Edel ist al-

so nicht gut; aber es ist darum edel und nichts gemeines, und ihm gebührt Ehre

und Achtung von jedermann, wo es sich sehen lässt.

Von den Mund-Edeln, die nämlich nur von Edel und Gut sprechen und schreiben,

tiefgelehrt oder ungelehrt, ist hier die Rede nicht. Die werden gar nicht mitgezählt.

Ohne Kampf und Verleugnung gibt es keinen Adel und wahren Wert für den Men-

schen, und ohne Kampf kennet er die Kluft nicht, die in unserm Inwendigen zwi-

schen Wollen und Sein, zwischen Edel und Gut, befestigt ist, und kann sie nicht

kennen. „Die auf dem Meer fahren, die sagen von seiner Fährlichkeit – . Daselbst

sind seltsame Wunder, mancherlei Tiere und Walfische: durch dieselben schiffet

man hin.“

Erfahrung machet den Meister. Und nur die, welche sich in den Defileen und Laby-

rinthen jener großen Kluft versucht und mit den seltsamen Wundern und mancher-

lei Ungeheuern vor den Toren des Friedens gekämpft und sich selbst daran gewagt

haben, nur die können wissen: ob es dort Mühe und Fährlichkeit hat, und ob man

dort eines heiligen Zweiges bedarf oder nicht. Und es wäre sehr lustig zu sehen,

wenn ein Stubenzeichner einen solchen edlen Ritter und Veteran, der unter den

Waffen an Ort und Stelle grau geworden ist, aus seinen Landkarten zurechtweisen

und eines bessern belehren wollte. Du siehest denn, welchen Leuten die Religion

gleichgültig und entbehrlich bedünken kann, und welchen Leuten sie unentbehr-

lich und heilig ist; und dass diese, alle Komplimente bei Seite gesetzt, sich ihrer

Anhänglichkeit und Achtung nicht zu schämen brauchen.

Leb wohl, Andres.

MEHR VON UNSEREM HERRN CHRISTUS

Du möchtest gern mehr von unserem Herrn Christus wissen – Andres, wer möchte

das nicht? Aber bei mir bist Du an der falschen Adresse. Ich bin kein Freund von

neuen Meinungen und halte fest am Wort. Ich hasse sogar das Kopfzerbrechen an

Religionsgeheimnissen, denn ich denke, sie sind eben darum Geheimnisse, damit

wir sie nicht wissen sollen, bis es an der Zeit ist. Wenn wir ihn nicht selbst sehen

können, Andres, so müssen wir denen glauben, die ihn gesehen haben. Mir bleibt

nichts anderes übrig.

Was in der Bibel von ihm steht, all die herrlichen Sachen und herrlichen Geschich-

ten sind freilich nicht er, sondern nur Zeugnisse von ihm, nur Glöckchen am Lei-

brock, aber doch das Beste, was wir auf Erden haben, und so etwas, das einen

wahrhaftig freut und tröstet, wenn man hört und sieht, dass der Mensch noch was

anderes und Besseres werden kann, als er, sich selbst überlassen, ist.

Und was in der Bibel von ihm steht, das habe ich mehr als einmal gelesen und

nehme es so, wie es da steht, ohne etwas dazuzutun und ohne etwas wegzuneh-

men. Willst Du also davon mit mir schreiben und sprechen, so gut ich es kann und

salvo meliori judicio; von Herzen gern! Ich weiß für mich nichts Lieberes und Er-

freulicheres als von Hilfe und Errettung, und wems anders ist, der muss nie in Not

gewesen sein noch andere darin gesehen haben. Ruft doch ein Weib, das ihren ver-

lorenen Groschen wiedergefunden hat, ihre Freundinnen und Nachbarinnen und

spricht: „Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich

verloren hatte.“ Und was ist das für eine Not, aus der man mit Geld errettet werden

kann!

Besinnst Du Dich noch unserer ersten Schiffahrt, als wir den neuen Kahn probier-

ten und ich mitten auf dem Wasser herausfiel? Ich hatte schon alles aufgegeben

und dachte nur daran, wie mir der Tod schmecken und was meine arme Mutter sa-

gen würde; da sah ich Deinen ausgestreckten Arm herkommen und hakte ein! Und

ich seh ihn noch immer, Andres, wenn ich nur deinen Namen lese oder oft nur auf

ein großes A stoße. Im Grunde war Deine Hilfe nur ein Palliativ, denn was damals

ohne Dich das Wasser getan hätte, das werden nun die anderen Elemente noch tun,

und Du wirst mich nicht retten. Aber ich kann doch den Arm nicht wieder verges-

sen, und ich glaube, dass er bei unserer innigen Freundschaft die Hand viel mit im

Spiel habe. Das ist hier einmal mit uns nicht anders: Not lehrt beten, und Hilfe und

Errettung erfreut!

Und nun ein Erretter aus aller Not, von allem Übel! Ein Erlöser vom Bösen. Und nun

ein Helfer, wie die Bibel den Herrn Christus darstellt, der umherging und wohltat

und selbst nicht hatte, wo er sein Haupt hinlege; um den die Lahmen gehen, die

Aussätzigen rein werden, die Tauben hören, die Toten auferstehen und den Armen

das Evangelium gepredigt wird; dem Wind und Meer gehorsam sind, und der die

Kindlein zu sich kommen ließ und sie herzte und segnete; der bei Gott und Gott

war und wohl Freude daran haben konnte, der aber an die Elenden im Gefängnis

gedachte und verkleidet in die Uniform des Elends zu ihnen kam, um sie mit sei-

nem Blut frei zu machen; der keine Mühe und keine Schmach achtete und geduldig

war bis zum Tode am Kreuz, damit er sein Werk vollende; der in die Welt kam, um

die Welt selig zu machen, und der darin geschlagen und gemartert wurde und mit

einer Dornenkrone wieder hinausging!

Andres, hast Du je was Ähnliches gehört, und fallen Dir nicht die Hände am Leib

nieder? Es ist freilich ein Geheimnis, und wir begreifen es nicht; aber die Sache

kommt von Gott und aus dem Himmel, denn sie trägt das Siegel des Himmels und

trieft von Barmherzigkeit Gottes…

Man könnte sich für die bloße Idee wohl brandmarken und rädern lassen, und wem

es einfallen kann zu spotten und zu lachen, der muss verrückt sein. Wer das Herz

auf der rechten Stelle hat, der liegt im Staube und jubelt und betet an. Sprich und

schreibe also mir davon, Du mein herzlieber Andres, wie und was Du willst, und ich

will Dir keine Antwort schuldig bleiben.

Dein usw.

POSTSKRIPT

Es gibt einige Leute, Andres, die alles bekehren wollen und mit der Bibel in der

Hand hinter jedem hochfahrenden Geist und Taugenichts herlaufen. Das soll aber

nicht sein und ist ärgerlich anzusehen; wo auch der Fehler stecke. Die Lehre Christi,

die nicht einer wert ist zu hören, mag allerdings allen Menschen gepredigt werden,

und wers nicht besser haben will, der mags bleiben lassen.

Unser Herr Christus spricht auch gar anders über die Jüngerschaft. „Wer ist unter

euch, der einen Turm bauen will und sitzet nicht zuvor und überschlägt die Kosten,

ob ers habe hinauszuführen, auf dass nicht, wo er den Grund gelegt hat und kanns

nicht hinausführen, alle, die es sehen, fangen an, seiner zu spotten, und sagen: die-

ser Mensch hub an zu bauen und kanns nicht hinausführen. Also auch ein jeglicher

unter euch, der nicht absaget allem, das er hat, kann nicht mein Jünger sein.“ Und

in seiner Instruktion an seine ausgehenden Apostel: „Wo ihr aber in eine Stadt oder

Markt gehet, da erkundiget euch, ob jemand drinnen sei, der es wert ist, und bei

denselben bleibet, bis ihr von dannen ziehet; und wo euch jemand nicht annehmen

wird noch eure Rede hören, so gehet heraus von demselbigen Hause oder Stadt und

schüttelt den Staub von euren Füßen.“

Und nun erwarte ich Deine weiteren Befehle.

OHNE IHN SIND WIR JA WIEDER UNS SELBST GELASSEN

Freilich gibt es Leute, Andres, die den Teufel leugnen; die, wie Doktor Luther sagt,

„keine Sünde, kein Fleisch, keinen Teufel, keine Welt, keinen Tod, keine Gefahr,

keine Hölle haben, das ist, an nichts davon glauben, ob sie wohl bis über die Ohren

darin stecken.“

Die ganze Natur und Religion supponieren einen Teufel; Christus wird vom Teufel

versucht, treibt Teufel aus, und seine Apostel sagen, dass er gekommen sei, die

Werke des Teufels zu zerstören. Und nun tritt einer auf und meint, es sei kein Teu-

fel! Das bedarf doch wohl keiner Antwort. Weiter sagst Du von den Wundergaben

und dem Heiligen Geist, und dass die aufgehört hätten, weil sie, nachdem das

Christentum gegründet sei, nicht mehr nötig wären!

Das von den Wundergaben versteh' ich nicht, und Du musst Dich an die Theologen

wenden. Aber in die Gründung des Christentums und die Unnötigkeit des Heiligen

Geistes kann ich mich nicht finden. Mich dünkt, der Heilige Geist ist immer nötig,

und wenn der fehlt, fehlt alles. In Summa, ich glaube einfältig mit der christlichen

Kirche, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen

Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, dass der Heilige Geist zur Besserung je-

des einzelnen Menschen unentbehrlich sei und dass es ohne ihn keine Besserung,

kein Leben und keine Seligkeit gebe.

Ohne ihn, Andres, sind wir ja wieder uns selbst gelassen. Und von da gingen wir

aus, dass wir, uns selbst überlassen, nichts können, wir mögen sein Juden oder

Heiden oder wer wir wollen; denn in Christo gilt nicht „Beschneidung noch Vor-

haut“, nicht Bischofsmütze noch Doktorhut, nicht Zwingli noch Luther, sondern

eine „neue Kreatur“, wie St. Paulus sagt. Die Wiedergeburt ist, wie Johannes am 3.

zu sehen ist, ein Geheimnis, und die Meister in Israel kannten sie nicht alle, auch

nicht einmal vom Hörensagen.

Dein usw.

SIE SASSEN UM IHN UND SAHEN IHN AN UND SEHNTEN SICH NACH SEINEM LEIB

UND BLUT

Es ist immer so, Andres, die Hauptpunkte einer Religion sind verhüllt und zuge-

deckt; und so ist das heilige Abendmahl allerdings ein Geheimnis. Dafür haben es

die Anhänger Christi von Anfang an genommen, und dafür nimmt es auch Luther.

Auch pflegten die ersten Christen es gerne geheimzuhalten, und noch in den Zeiten

des öffentlichen christlichen Gottesdienstes musste die übrige Versammlung abtre-

ten.

Wie es nun überhaupt mit Geheimnissen ist: wer sie nicht weiß, der erklärt sie, und

wer sie erklärt, der weiß sie nicht. Erzwingen und mit Gewalt nehmen lassen sie

sich nicht; wer sie aber zu verdienen sucht und sich den Besitzer zum Freunde zu

machen weiß, der erfährt sie bisweilen. Darum wollen wir ehrerbietig und demütig

vor der Tür dieses hochheiligen Geheimnisses stehenbleiben und die Außenseite

ansehen, schlecht und recht, und wie die Bibel sie gibt. Sie liegt jedermann offen

und ist, so wie der ganze letzte Abend und Abschied – wie in dieser Welt nichts an-

ders; wie denn auch ein solcher Abend und Abschied in dieser Welt nur einmal ge-

wesen ist. Wie Christus selbst sagt und die ganze Christenheit glaubt, bezieht das

Alte Testament sich auf das Neue.

So hohe geistige Ideen wie die von himmlischen Gütern, von einer unsichtbaren

Befleckung und einem geistlichen Fall, die geschehen waren, von unsichtbarer Rei-

nigung und einem Wiederhersteller, die versprochen war und zu seiner Zeit kom-

men werde usw., konnten unter den ersten Menschen, die den großen Begebenhei-

ten näher waren, wohl von Mann zu Mann fortgepflanzt werden; sie würden aber

mit der Zeit für die Welt erloschen und verloren gewesen sein, wenn sie nicht von

den alten Weisen und Propheten unter einer sinnlichen Hülle öffentlich vor die Au-

gen gebracht und beständig gehalten worden wären. Moses war vor allen andern ein

solcher Weiser und Prophet, und er knüpfte diese Hüllen, um ihnen desto mehr In-

teresse zu geben, an die politische Geschichte seines Volkes, damit es ihnen „ein

Zeichen sei in ihrer Hand und ein Denkmal in ihren Augen, auf dass des Herrn Ge-

setz sei in ihrem Munde, dass der Herr sie mit mächtiger Hand aus Ägypten geführt

habe“. – Und man kann den mosaischen Gottesdienst, außer dem, was er in sich

war, als die allervollkommenste Prophezeiung ansehen, die wir von Christus haben.

Die Schrift sagt auch, dass hinfort kein Prophet in Israel aufgestanden sei wie Mose;

und Moses redete noch auf dem Berge mit Christus über den Ausgang, welchen er

sollte erfüllen zu Jerusalem. Die heiligen Schriften des Neuen Testaments drücken

sich sehr bestimmt darüber aus, dass der Leib und das Blut Christi das Reinigungs-

und Erlösungsmittel für den gefallenen Menschen sei.

„Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, aber den Leib hast du mir zubereitet.“

„Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“

„Nun aber hat er euch versöhnet mit dem Leibe seines Fleisches durch den Tod.“

„Und wisset, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöset seid von eu-

rem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als

eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.“

„Moses hat euch nicht Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das

rechte Brot vom Himmel.“

„Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel kommen; wer von diesem Brot essen

wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein

Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt.“

„Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohns und trinken sein Blut, so

habt ihr kein Leben in euch.“

Wir mögen nun verstehen oder nicht verstehen, was der Leib und das Blut Christi

sei; nach der Bibel muss der Mensch sie genießen und ihrer teilhaftig werden, wenn

er genesen will. Und so hatte Moses ein Osterlamm angeordnet, das genossen wer-

den musste, und mit dessen Blut „beide Pfosten an der Tür und die Oberschwelle

bestrichen wurden, dass der Würgeengel vorübergehe“. So waren Opfer und ein

Hohepriester, der am Versöhnungstage mit Blut ins Heilige ging usw. Diese Hüllen

und Schatten der himmlischen Güter bestanden noch zu Christi Zeiten, und nun

war die große Stunde gekommen, wo sie ausgedienet hatten, und das wesentliche

Opfer, das durch jene bedeutet war, selbst geopfert werden sollte.

„Wir haben auch ein Osterlamm, Christus für uns geopfert.“

„Am Ende der Welt ist Christus einmal erschienen, durch sein eigen Opfer die Sün-

de aufzuheben.“

„Christus ist kommen, dass er sei ein Hohepriester der zukünftigen Güter, durch

eine größere und vollkommenere Hütte, die nicht mit der Hand gemacht ist, das ist,

die nicht also gebauet ist. Auch nicht durch der Böcke oder Kälber Blut, sondern er

ist durch sein eigen Blut einmal – in den Himmel selbst – eingegangen und hat eine

ewige Erlösung erfunden.“

Entweder, oder! Wir müssen die Bibel zerreißen oder festhalten an dem Bekenntnis:

„Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden“; wie es auch bisher

beim Genuss gesagt und geglaubt wird. Dass die ganze Sache über unsre Einsicht ist

und wir sie nicht verstehen, ist nicht wider sie. Denn sie soll nicht Menschenwitz

und -werk sein und wird in unserer und in den Traditionen aller Völker, wo davon

dunkler oder heller geredet wird, als höheren Gehalts und Ursprungs gegeben. Und

wenn in dieser Sache ein Wille erscheint, der mit unbegreiflicher Erbarmung will,

so kann es nicht befremden, wenn kein Verstand ihm gewachsen ist. Übrigens ge-

nießen wir jeden Tag und Augenblick Wohltaten, die wir nicht verstehen. Wir wer-

den geboren und gesäuget und holen Odem und verstehen nichts. Wir verstehen

auch die leibliche Medizin nicht, die wir einnehmen, und doch hilft sie uns und

rettet uns bisweilen das Leben. Der Kunstverständige versteht sie und weiß sie zu-

zurichten. Und darum ist ein Unterschied zwischen einem Weisen und einem

Nichtweisen. Die Nichtweisen mögen unwahr und ohne Grund sein; aber die Sache

kommt von guter Hand.

Aber ich komme wieder zu dem letzten Abend, wo er seinen Vertrauten über das,

was bevorstand, und über das neue Gesetz und Testament die nötige Auskunft ge-

ben und Abschied von ihnen nehmen wollte. Andres, der Abschied des Sokrates aus

der Welt war sehr schön und rührend; auch als Sokrates mit seinen Jüngern ausge-

redet hatte und den Giftbecher nun ansetzte und trank, weinten sie und warfen

sich an die Erde. Aber hier ist mehr als Sokrates; hier ist die Herrlichkeit Gottes;

und man will vergehen, so wie er, dem Tode geweiht und schon gesalbt zu seinem

Begräbnis, in den großen gepflasterten Saal hineintritt und sich neben dem Oster-

lamm hinsetzet. „Mich hat herzlich verlangt“, sagte er zu den Zwölfen, „dies Oster-

lamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide.“

Wie er hatte geliebt die Seinen, so liebte er sie bis ans Ende. Man kann sich nicht

satt daran lesen: wenn er, der solch ein Werk zu vollbringen und solch einen Kelch

zu trinken vor sich hatte, noch bei der letzten Mahlzeit den Johannes an seiner

Brust zu Tische sitzen lässt und den Jüngern Bissen eintaucht und gibt; wenn er so

bekümmert von dem Jünger spricht, der ihn verraten werde, den Verräter aber nicht

nennen will und nur ihn selbst fühlen lässt, dass er sein Geheimnis wisse; wenn er

dem Petrus, der sich vermaß, von dem Hahn sagt, der nicht zweimal krähen werde;

wenn er hingehen will, den Jüngern die Stätte zu bereiten; wenn er sie Freunde

nennt; wenn sie ihn wiedersehen sollen, und ihr Herz sich freuen, und ihre Freude

niemand von ihnen nehmen soll usw. usw.

Doch in diesem heiligen Kreise war nicht bloß von einem Abschied von Freunden,

sondern von größeren Dingen die Rede. Und er unterrichtete seine Boten und die

künftigen Lehrer der Welt noch einmal von dem Geheimnis des Reiches Gottes:

eins mit dem Vater, das ist das Ziel; er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben;

und niemand komme zum Vater als durch ihn; wenn er nicht hingehe zum Vater, so

komme der Tröster nicht zu ihnen; wenn er aber hingehe, wolle er ihn senden, den

Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgehet und den die Welt nicht kennet und

nicht empfangen kann; und der werde bei ihnen bleiben ewiglich und in ihnen

sein, und sie würden dann alles wissen, und ihre Bitten würden geschehen.

Aber eine Lehre, die solche Verheißungen und Macht dem Menschen gibt, konnte

missverstanden werden. Damit aber die Jünger wüssten, was sie meine und wes

Geistes Kind sie sei; stand der Herr und Meister, als „er wusste, dass ihm der Vater

alles hatte in seine Hände gegeben, und dass er von Gott kommen war und zu Gott

ging“, auf, legte seine Kleider ab, nahm einen Schurz und umgürtete sich, goss Was-

ser in ein Becken und wusch ihnen die Füße.

Wie wird Dir, Andres, wenn Du ihn Fußwaschen und mit dem Schurz und dem Be-

cken in der Hand von einem Jünger zum andern gehen siehst? Und wenn man dann

an die und jene denkt, die sich nach seinem Namen nennen! Aber sie sind auch

nicht sein und können sich nennen, nach wem sie wollen. Keiner, und hätte er aller

Sterne Lauf erfunden und trüge Kron' und Zepter und wär' ein Herr der ganzen

Welt, wenn er nicht das alles und sein eigen Leben für ihn vergessen kann; der ist

sein nicht wert. Seine Lehre war nicht für diese Welt, und ihre Haupt-Seiten sind

darüber hinaus und unsichtbar. Weil sie aber doch in dieser Welt sein sollte, so

musste sie eine sichtbare haben, und die Welt wissen, wes sie sich zu ihr zu verse-

hen habe. Und der Stifter gab dies Beispiel der Demut und Entäußerung und setzte

die Liebe als das Kenn- und Wahrzeichen seiner Jünger.

So groß und hehr nun auch alle diese Belehrungen und Eröffnungen waren, und so

viel erfreuliches Licht auch daraus den Jüngern über das neue Gesetz und Testa-

ment aufgehen musste, so blieb doch der Stein auf ihrem Herzen, und es fehlte

noch ein Aufschluss. Er hatte in der Schule zu Kapernaum, als er von den Kräften

seines Leibes und Blutes redete, den Genuss derselben ausschließlich als das Mittel

des Lebens und einer ewigen Vereinigung mit ihm gesetzet; und nun wollte er hin-

gehen zum Vater, von ihnen weg, und wo sie ihm nicht folgen konnten.

Natürlich war ihr Herz, wie die Schrift sagt, voll Trauer worden, weil er solches zu

ihnen geredet hatte. Und Du kannst denken, Andres, sie saßen um ihn und sahen

ihn an und sehnten sich nach seinem Leib und Blut. Lege Deine Stirne auf die Erde.

Und „er nahm das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach:

Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen

den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Neuen Testaments, wel-

ches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“.

Das sagte er, und mehr hat es ihm nicht gefallen zu sagen. Und darauf ging er hin-

aus, den Hass und die Verachtung der Welt zu verdienen und ihnen „das gute Werk

zu erzeigen von seinem Vater, um welches sie ihn steinigen“.

ÜBER DAS GEBET

Es ist sonderbar, dass Du von mir eine Weisung über Gebet verlangst; und Du ver-

stehst's gewiss viel besser als ich. Du kannst so in Dir sein, und auswendig so ver-

stört und albern aussehen, dass der Priester Eli, wenn er Dein Pastor Loci wäre,

Dich leicht in bösen Ruf bringen könnte. Und das sind gute Anzeichen, Andres.

Denn wenn das Wasser sich in Staubregen zersplittert, kann es keine Mühle trei-

ben, und wo Klang und Rumor an Tür und Fenstern ist, passiert im Haus nicht viel.

Dass einer beim Beten die Augen verdreht etc. finde ich eben nicht nötig, und halte

es für besser, natürlich zu beten. Aber man muss einen deshalb nicht verlästern,

wenn er nicht heuchelt; doch wenn einer groß und breit beim Gebet tut, darüber

muss man lästern, scheint mir – es ist nicht auszustehen. Man darf Mut und Zuver-

sicht haben, aber nicht eingebildet und selbstklug sein; denn weiß einer sich selbst

zu raten und zu helfen, so ist es ja das kürzeste, dass er sich selbst hilft. Das Hände-

falten ist eine feine äußerliche Zucht und sieht so aus, als wenn sich einer auf Gna-

de und Ungnade ergibt und die Waffen streckt etc.. Aber das innerliche heimliche

Hinhängen, Wellenschlagen und Wünschen des Herzens, das ist nach meiner Mei-

nung beim Gebet die Hauptsache, und darum kann ich nicht begreifen, was die Leu-

te meinen, die nichts vom Beten wissen wollen. Das ist doch so, als wollten sie sa-

gen, man solle nichts wünschen oder man solle keinen Bart und keine Ohren ha-

ben. Das müsste ja ein hölzerner Bube sein, der seinen Vater niemals etwas zu bit-

ten hätte, und der erst einen halben Tag in den Büchern suchte, ob er es zu der Ext-

remität kommen lassen wolle oder nicht. Wenn Dein Wunsch Dir innerlich nahe

geht, Andres, und warmer Komplexion ist, so wird er nicht lange anfragen, er wird

Dich übermannen wie ein starker, gewappneter Mann, wird sich kurz und gut mit

einigen Lumpen von Worten bekleiden und am Himmel anklopfen.

Aber das ist eine andere Frage, was und wie wir beten sollen. Kennt jemand das

Wesen dieser Welt, und trachtet er ungeheuchelt nach dem, was besser ist, dann

hat es mit dem Gebet seine gewissen Wege. Aber des Menschen Herz ist eitel und

töricht von Mutterleibe an. Wir wissen nicht, was gut für uns ist, Andres, unser

liebster Wunsch hat uns oft betrogen! Und deshalb muss man nicht auf seinem

Wunsch bestehen, sondern blöde und diskret sein und es dem lieber anheim stel-

len, der es besser weiß als wir. Ob nun das Gebet einer bewegten Seele etwas ver-

mag und wirken kann oder ob der Nexus Rerum dergleichen nicht gestattet, wie ei-

nige Herren Gelehrte meinen, darüber lass ich mich in keinen Streit ein. Ich habe

allen Respekt vor dem Nexus Rerum, kann aber doch nicht umhin, dabei an Simson

zu denken, der den Nexus der Torflügel unbeschädigt ließ und bekanntlich das gan-

ze Tor auf den Berg trug. Und, Andres, ich glaube, dass der Regen wohl kommt,

wenn es dürre ist, und dass der Hirsch nicht umsonst nach frischem Wasser schreit,

wenn einer nur recht betet und recht gesinnt ist.

Das „Vater unser“ ist ein für allemal das beste Gebet, denn Du weißt, wer es ge-

macht hat. Aber kein Mensch auf Gottes Erdboden kann es so nachbeten wie er es

gemeint hat; wir verkrüppeln es nur von ferne, einer noch immer armseliger als der

andere. Das schadet aber nicht, Andres, wenn wir es nur gut meinen; der liebe Gott

muss so immer das Beste tun, und der weiß, wie es sein soll. Weil Du es verlangst,

will ich Dir aufrichtig sagen, wie ich es mit dem „Vater unser“ mache. Ich denke

aber, es ist so nur sehr armselig gemacht, und ich möchte mich gerne eines Besse-

ren belehren lassen.

Sieh, wenn ich beten will, so denke ich erst an meinen seligen Vater, wie der so gut

war und mir so gerne geben mochte. und dann stell ich mir die ganze Welt als mei-

nes Vaters Haus vor; und alle Menschen in Europa, Asien, Afrika und Amerika sind

dann in meinen Gedanken meine Brüder und Schwestern; und Gott sitzt im Him-

mel auf einem goldenen Stuhl und hat seine rechte Hand über das Meer und bis ans

Ende der Welt ausgestreckt, und seine Linke ist voll Heil und Gutem, und die Berg-

spitzen umher rauchen – und dann fang ich an:

Vater Unser, der du bist im Himmel.

Geheiligt werde dein Name.

Das verstehe ich nun schon nicht. Die Juden sollen besondere Heimlichkeiten von

dem Namen Gottes gewusst haben. Das lasse ich aber gut sein und wünsche nur,

dass das Andenken an Gott und eine jede Spur, aus der wir ihn erkennen können,

mir und allen Menschen über alles groß und heilig sein möge.

Zu uns komme dein Reich.

Hierbei denke ich an mich selbst, wie es in mir hin und her treibt und bald dies

bald das regiert, und dass das alles Herzquälen ist und ich dabei auf keinen grünen

Zweig komme. Und dann denke ich, wie gut es für mich wäre, wenn doch Gott al-

lem Streit ein Ende machen und mich selbst regieren wollte.

Dein Wille geschehe

wie im Himmel also auch auf der Erde.

Hierbei stelle ich mir den Himmel mit den heiligen Engeln vor, die mit Freuden

seinen Willen tun, und keine Qual rührt sie an, und sie wissen sich vor Liebe und

Seligkeit nicht zu retten und frohlocken Tag und Nacht; und dann denk ich: Wenn

es doch auch auf Erden so wäre!

Unser täglich Brot gib uns heute.

Ein jeder weiß, was täglich Brot heißt und dass man essen muss, so lange man in

der Welt ist und dass es auch gut schmeckt. Daran denke ich dann. Auch fallen mir

wohl meine Kinder ein, wie die so gerne essen mögen und so flugs und fröhlich bei

der Schüssel sind. Und dann bete ich, dass der liebe Gott uns doch etwas zu essen

geben wolle.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Es tut weh, wenn man beleidigt wird, und die Rache ist dem Menschen süß. Das

kommt mir auch so vor, und ich hätte wohl Lust dazu. Da tritt mir aber der Schalks-

knecht aus dem Evangelium unter die Augen; und mir entfällt das Herz, und ich

nehme mir vor, dass ich meinem Mitknecht vergeben und ihm kein Wort von den

hundert Groschen sagen will.

Und führe uns nicht in Versuchung.

Hier denke ich an allerhand Beispiele, wo Leute unter diesen und jenen Umständen

vom Guten abgewichen und gefallen sind, und dass es mir nicht besser gehen wür-

de.

Sondern erlöse uns von dem Übel.

Mir sind die Versuchungen noch im Sinn und dass der Mensch so leicht verführt

werden und von der geraden Bahn abweichen kann. Zugleich denke ich aber auch

an alle Mühe des Lebens, an Schwindsucht und Alter, an Kindesnot, Kaltenbrand

und Wahnsinn und das tausendfache Elend und Leid, das in der Welt ist und die

armen Menschen martert und quält, und da ist niemand, der helfen kann. Und Du

wirst finden, Andres, wenn die Tränen nicht vorher gekommen sind, hier kommen

sie gewiss, und man kann sich so von Herzen heraussehnen und in sich so betrübt

und niedergeschlagen werden, als ob gar keine Hilfe wäre. Dann muss man sich

aber wieder Mut machen, die Hand auf den Mund legen und wie im Triumph fort-

fahren:

Denn dein ist das Reich, und die Kraft,

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

ÜBER DAS BÜCHERSCHREIBEN

Mein lieber Andres,

Ich habe das Leichdornpflaster erhalten, die Würzpillen aber nicht, arbeite auch itzo

an einem Buch, das ich dem Druck übergeben will. Er glaubt nicht, Andres, wie ei-

nem so wohl ist, wenn man was schreibt, das gedruckt werden soll, und ich wollt'

ihm die Freude auch 'nmal gönnen. Er könnte etwa das Rezept zu dem Pflaster her-

ausgeben, etwas vom Ursprung der Leichdörner herräsonnieren und am Ende einige

Errata hinzutun. Sieht Er, 's kommt bei einer Schrift auf den Inhalt eben nicht groß

an, wenn nur Schwarz auf Weiß ist; einige loben's doch, und am Ende lässt sich von

Leichdörnern und Pflaster schon was schreiben. Ich besinne mich, dass es Ihm in

der Schule immer so schwer ward, die Commata und Puncta recht zu setzen. Sieht

Er, Andres, wo der Verstand halb aus ist, setzt Er ein Comma; wo er ganz aus ist, ein

Punctum, und wo gar keiner ist, kann Er setzen, was Er will, wie Er auch in vielen

Schriften findet, die herauskommen. Was Er seinem Buch für einen Titel geben

will, dass muss Er wissen; meins heißt: secum portans, und ich kann Ihm nichts

weiter davon sagen, als dass es Anfang und Ende hat.

Sein Diener.

ÜBER DIE ASTRONOMIE

Mein lieber Andres,

Seine Astronomie hat Er wohl mit Haut und Haar wieder vergessen? Ich weiß noch,

's pflegt Ihm hart einzugehen, was Herr Ahrens uns von Triangeln und Zirkeln vor-

machte, und doch mocht ich Ihn damals schon lieber leiden. Herr Ahrens wusste

wohl alles auf 'n Fingern, und Er konnte nichts begreifen; aber dagegen konnt' Er

auch in seiner Einfalt so 'ne ganze halbe Stund' einen hellen Stern ansehn und sich

so in sich darüber freuen, und das konnte Herr Ahrens nicht, und darum mocht' ich

Ihn lieber leiden, sieht Er! und darum schreib' ich Ihm auch diesen Brief, weil

übermorgen Abend recht was schön's am Himmel zu sehn ist. 's wird nämlich der

Abendstern eine Stund' nach Sonnenuntergang – wenn reine Luft ist, versteht sich –

groß und hell am Himmel dastehen, im Westen, und dicht unter ihm zur Linken der

Jupiter und zur Rechten der Mond. Wie das zusammenhängt, dass die drei schönen

Himmelslichter so dicht neben einander stehen, das mag Herr Ahrens demonstrie-

ren; Er aber soll vor seine Tür heraustreten, und nach meinem lieben Mond und

den beiden freundlichen Sternen hinsehn, und, was Ihm, wenn Er nun so vor seiner

Tür steht und hinsieht, Andres, was Ihm denn durch 'n Sinn fahren wird, sieht Er!

das gönnt Ihm sein alter Schulkam'rad, und davon weiß Herr Ahrens Nichts. Leb' Er

wohl, Andres, und vergess' Er nicht die Tür zu riegeln, wenn Er wieder h'reingeht.

Den 11ten Febr. 1774

ÜBER DIE NEUE THEOLOGIE

Du reibst Dir auch die Stirne, Andres, über den Unfug mit der Bibel, und dass die

Menschen „sich so bald abwenden lassen auf ein ander Evangelium, so doch kein

andres ist, ohne dass etliche sind, die uns verwirren und wollen das Evangelium

Christi verkehren.“

Im Anfang, als die etlichen hervorrückten, wollte ich meinen Augen nicht trauen

und dachte, dass dabei irgend eine andre Absicht, die ich nicht absehen könne, hin-

ter dem Berge halte. Man hat, unbesehen, Achtung für gelehrte Leute; und ich

konnte nicht glauben, dass es möglich sei, so leichtsinnig und unverschämt zu sein,

andern Leuten, die doch auch Menschenverstand haben, solche Sachen zu bieten

und als Weisheit auszugeben; noch weniger, dass man einer bestehenden Religion

so ins Angesicht Hohn sprechen dürfe. Wie gesagt, ich dachte, hinter dem Berge hal-

te etwas, das ich nicht absehen könne.

Aber es hält nichts hinter dem Berge, es hält alles vor dem Berge und vor Augen,

und ist, worauf ihrer so viele und von allen Parteien ausgehen, mehr oder weniger,

nichts anders als ihre Vernunft in der Religion den Meister spielen zu lassen und

alles, was sie nicht begreifen und darin allein die Religion und der Glaube besteht,

heraus zu tun, um in den Zeiten der Vernunft auch ihres Orts nicht müßig zu sein

und ihre Ehre in Sicherheit zu bringen.

Und da nehmen sie nun alles zu Hülfe, Gelehrsamkeit und Wohlredenheit, Alter-

tümer und Sprachgebrauch, Akkommodation und babylonische Teufel, Volkssinn

und Volksunsinn, um den offenbaren Verstand und die klaren Worte der heiligen

Schrift unmündig und aus Weiß Schwarz zu machen. Und andere, die noch wohl

lieber beim Weißen blieben, laufen mit, weil sie den Wert ihrer Sache nicht kennen,

und es ihnen an Kraft und Mut fehlt, den Verdacht der alten Einfalt und des Zu-

rückbleibens auf sich zu laden.

„O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, dass ihr der Wahrheit nicht

gehorchet? - Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr's nun im Fleisch vollenden?“

Aber Andres, Du bist der Meinung, es sei immer solcher Unfug gewesen; man solle

schweigen und zusehen, bis auch dieser Schwindel wie der Revolutionsschwindel

vorübergehe und sie aus Schaden klug werden.

Der Meinung bin ich aber nicht. Es ist wohl immer solcher Unfug gewesen, aber er

ist doch mit mehr Zurückhaltung getrieben worden, und so nahe ist er uns noch

nicht gekommen. Und schweigen ist freilich das sicherste und bequemste, auch die

meiste Zeit das gescheuteste; aber ich denke, in einer Sache, die alle Menschen so

nahe angeht, kann man nicht zu früh und zu viel widersprechen; ich denke, in einer

solchen Sache darf kein ehrlicher Mann schweigen und die Pluralität scheuen, er

muss unverhohlen seine Meinung sagen und vorlieb nehmen, was darauf folgt.

Wäre ein religiöses Parlament, so ließe man eine förmliche Protestation gegen die

Ministerialpartei in die Parlamentsregister einrücken für Welt und Nachwelt; denn

man muss sich schämen, ein Zeitgenosse gewesen zu sein, wo solche Acte passiert

sind. Die Menschen sind doch einmal unwissend und blind über das Unsichtbare,

sie kennen doch ihren unsterblichen Geist nicht und wissen ihm keinen Rat; Gott

weiß einen und promulgiert eine Arzenei, die sich bei Tausenden bewährt hat und

sich bei allen bewährt, die sie nach Vorschrift gebrauchen – und da kommen sie

und wollen Gott meistern und seine Arzenei nach ihrem Dispensatorio einrichten

und ändern!… Kann es einen größern Unsinn geben? Und können sie es für die

verantworten, die durch sie verführt werden, die Arzenei Gottes ungebraucht zu las-

sen und ihren Quacksalbereien nachzulaufen?

„Ich tue euch aber kund, lieben Brüder“, sagt der Apostel, „dass das Evangelium, das

von mir geprediget ist, nicht menschlich ist. Denn ich habe es von keinem Men-

schen empfangen noch gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi.“

Wenn das Christentum weiter nichts wäre, als ein klares, allen einleuchtendes Ge-

mächte der Vernunft, so wäre es ja keine Religion und kein Glaube; und warum wä-

re denn gesagt, dass die Welt den Geist des Christentums nicht sehe und nicht ken-

ne, und wie hätte seine Einführung unter den Menschen so viel Widerspruch und

Blut kosten können?

Und das, wozu tausend Jahre Zeit nötig gewesen sind, um es allgemein in Europa

einzuführen, wofür die Könige und Fürsten so viel gekämpft und gestritten und es

als das Glück ihrer Länder angesehen, wofür unsere Väter und Vorfahren so viel ge-

litten und Leib und Leben gewagt und hingegeben haben, und was wir alle, ein je-

der von uns, heilig zu halten und zu bewahren mit Mund und Hand gelobt und ver-

sprochen haben, was unsere Seelen selig machen kann, – das sollten wir uns ohne

Schwertschlag, unter dem Schein der Aufklärung und einer bessern Einsicht, un-

vermerkt und unter der Hand nehmen und aus den Händen winden lassen … das

sei ferne! das wolle Gott nicht! das werden unsere Könige und Fürsten nicht wollen;

das wird keiner wollen, der sich und die Seinen lieb hat.

Was aber auch werden mag, Andres, Dir und mir soll es niemand nehmen, weder

Schwachheit noch Klugheit, weder Süß noch Sauer. Wir wollen es, nach Mosis Rat,

„in unsere Seelen fassen, und zum Zeichen auf unsere Hand binden, dass es ein

Denkmal vor unsern Augen sei; wir wollen es unsere Kinder lehren und davon re-

den, wenn wir im Hause sitzen oder auf dem Wege gehen, wenn wir uns niederle-

gen und wenn wir aufstehen“. Dabei bleibt's, Andres. Leb wohl.

VOM GEWISSEN UND GESETZ

An Andres.

Freilich gehört wohl das Wort Gewissen in die Klasse der Worte, von denen Pascal

sagt, dass ein jeder ihre Bedeutung von Natur wisse, und durch Erklärung auch

nicht mehr davon erfahren könne. Indes kann doch eins und andres zur Erklärung

versucht werden. Alles Gewissen ist Bewusstsein, aber alles Bewusstsein ist noch

nicht Gewissen. Es gibt kein Gewissen ohne den Baum der Erkenntnis Gutes und

Böses. So kann man von einem Engel des Himmels nicht sagen, dass er Gewissen

habe; denn er kennt nur ein Gesetz, das Gesetz des Guten. Selbst von Gott kann

man es nicht sagen. Gott kennt zwar das Böse, aber es besteht nicht vor ihm, und er

hat eine Wagenburg um sich her, dadurch es in Schranken gehalten, und alle Ge-

meinschaft mit ihm abgeschnitten wird. Nur der Mensch hat zwei Gesetze in sich,

eins, wie Paulus sagt, im Gemüt und eins in den Gliedern: das eine, der inwendige

Mensch oder das verständige Gesetz, das in sich unbeweglich ist, und Lust hat an

dem Unbeweglichen, dem Unsichtbaren, dem Unvergänglichen, und das andere, das

sinnliche Gesetz, das in sich beweglich ist, und dem Beweglichen, dem Sichtbaren,

dem Vergänglichen anhangt, und nichts vernimmt vom Geiste Gottes. Wie Feuer

und Wasser, so lange sie in ihrer Natur bleiben, unverträglich sind, so sind es diese

zwei Gesetze im Menschen. Und darum ist der Mensch, vom Weib geboren, inner-

lich im Streit, und ist kein Friede in seinen Gebeinen, denn er soll Herr sein des

sinnlichen Gesetzes, und nicht Knecht, und er weiß, wie ihm zu Mute ist. Das Be-

wusstsein dieser Knechtschaft ist böses Gewissen überhaupt. Gutes Gewissen ist

Bewusstsein dieser Nichtknechtschaft und liegt in der Mitte zwischen bösem Ge-

wissen und der Freiheit oder der Herstellung des Menschen. Doch dies alles sind

nur Worte, und der Mensch fühlt am besten, was Gewissen ist. Wenn er es nicht

fühlt, desto schlimmer für ihn. Zu seiner Zeit hat das Gewissen notwendig in ihm

gestammelt, und war es in seiner Gewalt, ihm die Zunge zu lösen oder zu lähmen.

Denn wenn ein Mensch auf die Bewegungen seiner bessern Natur nicht achtet, oder

wenn er der geringern die volle Gewalt lässt, so spricht das Gewissen nach und nach

leiser und schweigt endlich gar. Doch schweigt es nur, und wacht einmal plötzlich

und schrecklich wieder auf. Im Herbst ist die Witterung unruhig, im Winter ist sie

ruhiger, wann nämlich und weil nun die Kälte einmal die Oberhand über die Wär-

me erhalten hat. Aber die Wärme ist keineswegs vernichtet; sie schläft nur, und

stößt, wenn sie plötzlich von der Sonne geweckt wird, die Kälte desto gewaltsamer

von sich. Der Bösewicht kann seinem Schicksal nicht entgehen. Das Gewissen hängt

an seinem Wesen, und folgt ihm aus einer Welt in die andere. Und bis es erwacht,

ahndet und nagt ihn immer was ihm bevorsteht. Cromwell und seine Gefährten

schäkerten über den Königsmord, und machten einander beim Unterschreiben des

Todesurteils schwarze Bärte. Aber ihm ahndete in der Folge doch nichts Gutes: er

schlief zuletzt keine zwei Nächte hinter einander in demselben Bette und Zimmer;

und wir sind nicht dabei gewesen, als ihm jenseits widerfuhr, was ihm diesseits

ahndete. Die heilige Schrift lehrt und bestätigt auch das plötzliche und schreckliche

Erwachen eines bösen Gewissens. Aber wie sie überhaupt unterrichtet, nicht so-

wohl durch Lehrsätze, als durch Geschichte und Tatsachen, die kräftiger wirken und

mehr zu Herzen gehen, so auch hier. Nimm nur gleich, was sie von Judas, dem Ver-

räter, erzählt, als ihm über das, was er getan hatte, die Augen aufgingen. Er lief in

der Angst seines Herzens umher, suchte Trost im Tempel, gestand und bekannte

den Hohenpriestern und Ältesten, dass er unschuldig Blut verraten habe, brachte

ihnen die Silberlinge wieder, und warf sie, als die Buben sie nicht annehmen woll-

ten, vor sich hin in den Tempel, um ihrer nur los zu sein, ob ihm das vielleicht Lin-

derung schaffen könnte. Aber es schaffte ihm keine, und er verließ den Tempel

eben so trostlos wieder, und ging wieder hin, wo er hergekommen war. Und als er

nirgends Trost fand, und sich nicht länger ertragen konnte, griff er zum Strick, und

erhenkte sich. Und er ist mitten entzwei geborsten, und alle seine Eingeweide aus-

geschüttet; ob vielleicht die nun in ihm eingeschlossene Angst ihm den Leib ge-

sprengt hat, oder eine andre und gewöhnliche Ursache. Denn die Evangelisten er-

zählen in ihrer Geschichte diesen Vorgang nicht, und Petrus führt ihn uns kurz und

beiläufig an. –

VOM GLAUBEN

Der Mensch kann glauben; aber er kann nicht glauben, was er will. Sein Glauben

hängt an Ursachen, die von seinem Wissen und Willen verschieden, und nicht al-

lerdings in seiner Gewalt sind. Man kann, wie das kananäische Weib, wenig wissen

und großen Glauben haben; und, wie die Pharisäer, viel wissen und doch nicht

glauben usw.

Davon schrieb ich Dir, vor einiger Zeit, einen Brief und schloss ihn so: „Darum sehe

ich die Geschichten, wo vom Glauben die Rede ist, fleißig an und merke auf den

Sinn solcher Leute, um daraus zu lernen; nicht was ich noch wissen muss, um glau-

ben zu können; sondern was ich noch vergessen, mir aus dem Sinn schlagen und

von mir abtun muss, damit der Glaube recht an mich haften könne.“ – Und nun

willst Du, dass ich Dir auch schreibe, wie ich die Geschichten angesehen, und was

ich an dem Sinn solcher Leute gemerkt habe.

Lieber Andres, Du hast gewiss schon selbst angesehen und gemerkt; und auf Deiner

Einfalt ruhet ein Segen, der andern Orts fehlt. Indes wir schlagen uns einander

nichts ab, und so will ich an ein paar Geschichten Probe geben. Zuerst von dem

Hauptmann zu Kapernaum, der eigentlich ein Heide war, und „solchen Glauben

hatte, als in Israel nicht funden worden.“

Dieser Hauptmann lag nun zwar in einer Gegend in Quartier, wo unser Herr Chris-

tus seine meisten Wunder getan hat; aber die Anhänger und Erzähler und Ausbrei-

ter dieser Wunder waren aus dem geringen Volk. – „Glaubt auch irgend ein Oberster

und Pharisäer an ihn? Sondern das Volk, das nichts vom Gesetz weiß, ist verflucht.“

– Daraus dann abzunehmen ist, was die Honoratiores von Christus und von denen,

die ihm nachliefen, dachten, oder wenigstens ihrer Ehre gemäß hielten, zu sagen.

Und er, der Hauptmann, war Offizier in einer Armee, welche alle großen Reiche in

Afrika, Europa und Asien überwältigt und, was sich widersetzte und nicht beugen

wollte, zu Boden geworfen hatte.

Nun kann dies freilich von verschiedenen Seiten angesehen werden; aber man

weiß, von welcher Seite es der Mensch ansieht, und dass es sehr natürlich ist, sich

des zu überheben, sonderlich bei und unter einem Volk, das sein Ansehen in der

Welt verloren hatte und mit seiner alten väterlichen Sitte und Religion den aufge-

klärten und hochfahrenden Römern, vom Landpfleger an bis zu dem geringsten

Trossbuben, zum Gespött und Gelächter diente.

Es war denn gar nicht in dem Charakter eines solchen Römers, bei einem Juden,

dem Wundermann des geringen Volks, Hülfe und Rat zu suchen. Wenn seine Feld-

ärzte keinen Rat wussten, so war kein Rat in der Welt, und der arme gichtbrüchige

Knecht konnte verzagen und sterben. Er taugte so im Felde nicht mehr. Wäre nun

der Hauptmann zu Kapernaum ein so gesinnter Hauptmann gewesen, so hätte er

nicht geglaubt und nicht glauben können. Wie lauten denn bei ihm die Worte? „Ich

bin ein Mensch, dazu der Obrigkeit untertan.“ Er verachtete die Überwundenen

nicht, er „hatte das Volk der Juden lieb“, hatte ihnen sogar, nach dem Lukas, ihre

Schule erbauet. Und als sein Knecht zu Hause lag und gichtbrüchig war und „große

Qual hatte“, konnte er ihn ohne Hülfe nicht lassen und schämte sich nicht, sie, wo

sie war, zu suchen; ging selbst zu dem jüdischen Wundertäter in den Flecken vor

allen Leuten und erkannte ihn an und bat ihn um Hülfe – und bekümmerte sich

nicht darum, was die Honoratiores und die anderen Offiziers dazu sagen und den-

ken würden: „Herr, mein Knecht lieget zu Hause, und ist gichtbrüchig und hat große

Qual.“

Vermutlich dachte er, Christus würde, wie mehrmals geschehen war, durch ein All-

machtswort auf der Stelle helfen und ihm sagen: gehe hin, dein Knecht lebet. Und

das war alles, was er dem Wundertäter zumuten und von ihm annehmen konnte.

Als aber Christus zu ihm sprach: „ich will kommen und ihn gesund machen“ – das

verdiente er nicht, das war zu viel für einen Mann wie er: „Herr, ich bin nicht wert,

dass du unter mein Dach gehest, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht

gesund.“

Man sieht hier keine Spur, dass dieser Hauptmann sondre Einsicht und Wissen-

schaft hatte, mehr als andre; aber er hatte nicht, was andern im Wege ist. Stolz,

Selbstsucht, Eigendünkel sind dem Glauben zuwider; er kann nicht hinein, weil das

Fass schon voll ist. Wer sich selbst erhöhet, sagt die heilige Schrift, der wird ernied-

riget werden; wer aber sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.

Dasselbe, wie nämlich ein demütiger, nach Gott dürstender Sinn dem Glauben of-

fen stehe und ihn an sich ziehe, lehret und prediget noch handgreiflicher die schö-

ne Geschichte, Act. 10, von dem Hauptmann Cornelius, die wir uns aufsparen wol-

len, wenn ich zu Dir komme. Und dasselbe bestätiget auch die Geschichte des kan-

anäischen Weibes. Ihre „Tochter war vom Teufel übel geplaget“, und als unser Herr

Christus in die Gegend Tyri und Sidon kam, ging sie aus derselbigen Grenze, und

schrie ihm nach und sprach: „Ach Herr, du Sohn David's, erbarme dich mein“, und

hörte nicht auf, hinter ihm her zu schreien.

– „Und er antwortete ihr kein Wort.“ –

Schon das hätte ihr hart scheinen können. Sie hatte von Christus gehört, dass er

helfen könne und oft geholfen hatte; sie war ihm voll Hoffnung und Vertrauen über

die Grenze nachgegangen und hatte ihn herzlich gebeten – und was sie bat, war

nichts unbilliges, etc. Manche Mutter wäre hier vielleicht irre und kalt geworden;

aber das kananäische Weib wird nicht irre und kalt. Sie bleibt fest und unbeweglich

in ihrem Glauben: er kann helfen, und er wird helfen. Bisher hatte sie ihm nur von

ferne nachgeschrien; nun kam sie und fiel vor ihm nieder und sprach: „Herr, hilf

mir!“

„Herr, hilf mir!“ – Man kann diesen Schrei eines zerrissenen Mutterherzens nicht

ungerührt und ohne Teilnahme hören und erwartet aus dem holdseligen Munde

Christi ein gütiges und erfreuliches Wort für sie. Aber er antwortete und sprach: „Es

ist nicht fein, dass man den Kindern das Brot nehme und werfe es für die Hunde.“

Wer je in Not und Verlegenheit war und in der Angst an jemand, zu dem er Vertrau-

en hatte, eine Bitte wagte und abschlägige Antwort erhielt, der weiß, wie eine sol-

che Antwort tut, wenn sie auch mit Glimpf und guter Wendung gegeben wird.

Wenn man aber bei der Gelegenheit noch Unangenehmes und Hartes hören muss,

das schmerzt und verwundet tief und hört sich nicht gelassen an. Hält man auch

äußerlich die Empfindlichkeit zurück, so fühlt man sich doch in sich unwillig, nie-

dergeschlagen und beleidigt. Auch der natürlich gutgesinnte Mensch kann nicht an-

ders. Die Natur nimmt übel. Bei dem kananäischen Weibe nichts von alle dem. Ihr

Herz ist gediegen und fix, und die flüchtige Natur und Empfindlichkeit ist abe. Sie

hört den Mann Gottes, den sie so herzlich gebeten hatte, die harten Worte ausspre-

chen und wird nicht beleidigt. Sie hatte geglaubt, dass ein solcher Mann für alle

Menschen sei, und dass alle, die in Not sind und Hülfe brauchen, gleiches Recht an

und zu ihm hätten. Nun das aber nicht ist, nun sie hört, dass die Juden die Kinder

sind, und ihnen das Brot gehört, tritt sie gleich zurück. Sie kann denn kein Brot ver-

langen, verlangt auch kein Brot.

„Aber doch essen die Hündlein von den Brosamen, die von ihrer Herren Tische fal-

len.“ –

Da antwortete Jesus und sprach: „O Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie

du willt.“ Und, Andres, es geschieht gewiss einem jedweden, wie er will, wenn er so

gesinnt ist, und wenn er so glaubt. „Wer zweifelt“, sagt Jakobus, „der ist gleich wie

die Meereswoge, die vom Winde getrieben und gewehet wird. Solcher Mensch den-

ke nicht, dass er etwas von dem Herrn empfangen werde.“ Ein solcher war Petrus.

Der vertraute gleich den Worten Christi und glaubte und „ging auf dem Wasser,

dass er zu Jesu käme.“ Als er aber den starken Wind sahe, erschrak er und hub an zu

sinken. Jesus aber ergriff ihn, und sprach zu ihm: „O du Kleingläubiger, warum

zweifeltest du?“

Du wunderst Dich, Andres, dass solche Erfahrungen so selten sind, und dass so we-

nig Glauben in der Welt ist! – Du besinnst Dich nicht, sonst würdest Du Dich nicht

wundern. Christus sagte, was nicht oft genug wiederholet werden kann, zu den

Pharisäern: „Wie könnet ihr glauben, die ihr Ehre von einander nehmet, und die

Ehre, die von Gott allein ist, suchet ihr nicht.“

Wenn man das bedenkt und dann aufrichtig in seinen eignen Busen greifet und um

sich her das Wesen und Treiben unter Gelehrten und Ungelehrten ansieht; wenn

man bedenkt, wie nach dem Beispiel der Hauptmänner von Kapernaum und Cäsa-

rien und des kananäischen Weibes der Mensch gesinnt sein muss, um glauben zu

können: so weiß man, woran man ist, und wundert sich nicht mehr. Auch kann hin

und wieder etwas der Art geschehen, ohne dass es bekannt wird. Denn der Glaube

ist nicht laut. Er spricht bei sich selbst: „möchte ich nur sein Kleid anrühren etc.“

und „tritt von hinten zu ihm“. Und, wenn er gesund worden ist, so ist ihm das hei-

lig, und er mag es sich selbst kaum gestehen. –

Was Du über die ersten Christen, die von dem Nero um ihres Bekenntnisses willen

gemartert und getötet wurden, und über uns, wenn wir in jenen Zeiten gelebt hät-

ten usw., am Ende Deines Briefes schreibst, Andres, das hat mich recht gerühret. –

Du lieber, herziger, bescheidener Andres! Aber Du irrst Dich über Dich selbst. Deine

Ergebung, Dein Beten für den Nero und Deinen Widerwillen gegen alle Selbstge-

walt, wenn sie auch in Deiner Macht wäre, gebe ich Dir gerne zu. Aber Deine Zag-

haftigkeit, wenn die Reihe an Dich gekommen wäre, kann ich Dir nicht zugeben.

Freilich man denkt nicht immer gleich, und ist einem an Ort und Stelle anders zu

Mut als auf seiner Stuben; und darum muss man auch nicht in jenen Zeiten gelebt

haben wollen. Aber, wenn wir damals gelebt hätten: Du wärest nicht gelaufen, das

weiß ich; und Du hättest Dein Leben nicht teuer geachtet.

Wer über diese Welt hinaussieht und sich der andern bewusst ist, der vergilt nicht

Böses mit Bösem und trotzt nicht; aber er fürchtet auch nicht und erschrickt nicht.

– Können sie doch nur den Leib töten und mögen die Seele nicht töten! Und was ist

denn der Leib und das Leben, wenn von Christus die Rede ist. Nein, Andres, Du wä-

rest nicht gelaufen. Du hättest vor dem Nero das gute Bekenntnis unverhohlen be-

zeuget und Deinen Kopf hingehalten. Und wenn ich den hätte fallen sehen – ich

stehe für nichts; wer wird sich vermessen. Aber mich dünkt, ich hätte mein Hals-

tuch gelöst und dem Nero gesagt: hast du denn nur einen Segen, Tyrann; segne

mich doch auch.

Ade, lieber Andres, und schreibe bald wieder.

VON DER MYTHOLOGIE

Du möchtest gern den Sinn der unterirdischen Unternehmungen in der Mythologie

der alten Völker wissen, und warum doch die großen heroischen Menschen, die

feurigen Sucher und Liebhaber der Wahrheit, in die Unterwelt heruntergestiegen

sind. Ich denke, Andres, weil sie, was sie suchten, hier oben nicht haben finden

können. Wer hier sein Genüge findet, der muss mit unvollkommener, sichtbarer,

veränderlicher und vergänglicher Natur genug haben. Wenn also eine vollkommene,

unsichtbare, unveränderliche und unvergängliche Natur der Freund war, den ihre

Seele liebte, so mussten sie ihn anderswo suchen gehen. Seine Fußstapfen fanden

sie in dem Sichtbaren und Vergänglichen wohl, aber ihn fanden sie da nicht. Doch,

warum grade unter der Erde die Veredelung sein selbst suchen?

Wird doch nichts in der Luft gesäet! Samen und Tierarten legen in der Erde die

Schale ab, ehe sie ihre neue Gestalt und Existenz erhalten. Gehen doch auch die

Menschen leiblich in die Erde, ihren Staub abzuschütteln und der Wahrheit näher

zu kommen. Vielleicht, dass daher ein Bild genommen ist; oder, weil das Weizen-

korn, ehe es Frucht bringt, zuvor ersterben und also einen Schritt rückwärts, herun-

ter, tun muss; oder, weil die Weisen sich fügen wollten in die Ideen der Welt, die

dort Schätze vermutet und sucht; oder, weil der ihrige da gefunden wird, wo es

Mühe kostet hinzukommen, und wo nicht ein jeder von Hause aus hinsehen kann.

Vielleicht ist's auch noch anders, Andres, ich weiß nicht; aber mich dünkt, wenn wir

hätten erfinden sollen, wir hätten auch die Schwärmer in der Luft, und die wahren

ernsthaften Liebhaber unter der Erde suchen lassen.

Offenbar muss man von Erde und Himmel und von allem, was sichtbar ist, die Au-

gen wegwenden, wenn man das Unsichtbare finden will. Nicht, dass Himmel und

Erde nicht schön und des Ansehens wert wären. Sie sind wohl schön und sind da,

um angesehen zu werden. Sie sollen unsere Kräfte in Bewegung setzen, durch ihre

Schöne an einen, der noch schöner ist, erinnern und uns das Herz nach ihm ver-

wunden. Aber, wenn sie das getan haben, denn haben sie das ihrige getan, und wei-

ter können sie uns nicht helfen.

Der Mensch ist reicher als sie, und hat, was sie nicht geben können. Alles, was er

um sich her Leben haben sieht, stirbt; und er weiß von Unsterblichkeit. Er sieht in

der sichtbaren Natur nichts als Zeitliches und Örtliches; und er weiß von einem

Ewigen und Unendlichen. Er sieht nur Mannichfaltigkeit, lauter Zerstreutes und

Zerstückeltes; und doch will er immer Einen, unter Eins fassen, aus Einem herlei-

ten usw. Wie und woher könnten ihm solche heterogene und bewundernswürdige

Dinge kommen, wenn sie nicht aus ihm selbst kämen und in ihm nicht etwas Hete-

rogenes und Bewundernswürdiges wäre?

Selbst die Weisheit und Ordnung, die der Mensch in der sichtbaren Natur findet,

legt er mehr in sie hinein, als er sie aus ihr herausnimmt. Denn er könnte ihrer ja

nicht gewahr werden, wenn er sie nicht auf etwas, das er in ihm hat, beziehen

könnte, sowie man ohne Maß nicht messen kann. Himmel und Erde sind für ihn

nur eine Bestätigung von einem Wissen, deß er sich in sich bewusst ist, und das

ihm die Kühnheit und den Mut gibt, alles zu meistern und aus sich zu rectifizieren.

Und mitten in der Herrlichkeit der Schöpfung ist und fühlt er sich größer als alles,

was ihn umgibt, und sehnt sich nach etwas anderm.

Andres, der Mensch trägt in seiner Brust den Keim der Vollkommenheit und findet

außer ihr keine Ruhe. Und darum jagt er ihren Bildern und Conterfei's in dem

sichtbaren und unsichtbaren Spiegel so rastlos nach und hängt sich so freudig und

begierig an sie an, um durch sie zu genesen. Aber Bilder sind Bilder. Sie können,

wenn sie getroffen sind, sehr angenehm überraschen und täuschen, aber nimmer-

mehr befriedigen. Befriedigen kann nur das Wesen selbst, nur freies Licht und Le-

ben – und das kann ihm niemand geben, als der es hat.

Gott befohlen, Andres.

Dein etc.

VON WEGEN EINER GEWISSEN VERMUTUNG

Es ist mir angenehm, aus Jost seinem Frachtzettel zu vermerken, dass Du willens

bist, Dich wieder zu verheiraten. Glück zu! lieber Andres.

Das Heiraten kommt mir vor wie 'n Zuckerboltje oder -bohne; schmeckt anfangs

süßlicht, und die Leute meinen denn, es werde ewig so fortgehen. Aber das bisgen

Zucker ist bald abgeleckt, sieht Er, und denn kommt inwendig bei den meisten 'n

Stück Assa foetida oder Rhabarber, und denn lassen sie 's Maul hängen. Bei Dir nun

soll's nicht so sein! Du sollst, wenn Du mit dem Zucker fertig bist, eine wohlschme-

ckende kräftige Wurzel finden, die Dir Dein Lebelang wohltut! Wie ich Dich kenne,

und Deine Wirtschaft mit der seligen Gertrud angesehen habe, bin ich auch über-

zeugt, es werde so gehen; Du müsstest denn gar an einen Höllbesen geraten sein,

und der gibt es nicht viele. Die Weiber sind geschmeidige gute Geschöpfe, und

wenn Du von einer hörst, die ihrem Manne krumme Sprünge macht, kannst Du al-

lemal zehn gegen eins wetten, dass er sich gegen sie nicht betrage, wie's einem

christlichen Ehemann wohl zusteht.

Schreib's mir ja vorher, wenn die Hochzeit ist; denn wir wollen selbst kommen, und

ich will Dir auch einen Hochzeitbrief schreiben und Dir darin eins auf meiner Harfe

singen und spielen. Heißt so viel, ich will Dir aus alter Liebe 'n Carmen machen,

denn das begreifst Du wohl, dass man in einem Briefe nicht singen, noch auf der

Harfe spielen kann, und pflegt man dergleichen poetische Redensarten zu nennen,

die in Prosa immer am unrechten Orte stehen.

Leb wohl, lieber Andres, und grüße Deine Braut von meinentwegen, und schick mir

ihren Schattenriss, wenn's auch nur mit einer Kohle gemacht ist, ich will's Dir zu-

lieb aufhängen, und Du kannst Dich dadurch insinuieren; denn sie haben's gerne,

dass man ihren Schatten nehme. Noch einmal, leb wohl, Herr Bräutigam, Gott gebe

Dir eine gute Frau, und schreibe bald, oder ich verharre etc.

WELCHE GESCHICHTEN MIR DIE HERRLICHSTEN DÜNKEN

Du fragst, welche Geschichten mir die herrlichsten dünken? Alle, Andres, alle! …

ein jedes Wort, das aus seinem Munde gegangen ist, eine jede Bewegung seiner

Hand … seine Schuhriemen sind mir heilig. Und wer kann sich was wollen dünken

lassen? Wenn er sagt: „Friede sei mit euch“, so haben wir unser ganzes Leben zu tun

und werden es wohl im Himmel erst verstehen lernen, was das einzige Wort Friede

in seinem Munde heißt. Andres, Du kannst denken, dass alles, was ihn angeht und

was er gesagt und getan hat, viel Sinn und Bedeutung habe; und dass wir zu klein

sind, über die Herrlichkeit der Geschichten zu richten. Indes machen sie doch, wie

sie da stehen, auf unser Herz verschiedenen Eindruck; und da, muss ich sagen,

freuen mich die am meisten, wo er vom ewigen Leben spricht und von einem Trös-

ter, den er senden will; wo er den Blinden die Augen auftut; wo er die Seinen liebt

bis ans Ende und mit ihnen das Abendmahl hält, und wo er Tod und Teufel meis-

tert.

Denk einmal, Andres, wenn der Teufel, der so mächtig ist, und der nur Freude da-

ran hat, zu quälen und alles um sich her elend zu machen, wenn der freie Hand und

niemand über sich hätte; was würde aus der Welt und uns armen Menschen wer-

den! Muss es einen denn nicht freuen, wenn man sieht, dass er einen Übermann

hat, und dass gerade der sein Übermann ist, der da half und gesund und selig mach-

te alle, die zu ihm kamen, und des Barmherzigkeit kein Ende hat? Und der Tod? Er

ist doch schrecklich, Andres, und der Wurm am Zaum krümmt sich vor ihm, denn

er nimmt uns alles. Wenn Du nun siehst, dass unser Herr Christus zu Nain einen

Toten erweckt, den sie zu Grabe trugen, und zu Bethanien einen, der schon vier Ta-

ge im Grabe gelegen war usw., wenn Du ihn nun von Hütten des Friedens sprechen

hörest, wo wir unseren Anselm wiedersehen sollen, und wo die guten und from-

men Menschen aller Zeiten und Völker sollen versammelt werden; wenn Du ihn

nun sagen hörst, dass, wer an ihn glaubt, nicht sterben soll, ob er gleich stürbe; –

freut Dich das nicht, Andres? Und wünscht Du nicht von Herzen, an ihn zu glauben?

Aber „der Glaube ist nicht jedermanns Ding“, und er steht nicht so zu Gebot,

Andres. Die Apostel selbst, die um ihn waren, und die gesehen und gehört hatten,

„sprachen zu dem Herrn: stärke uns den Glauben“. Ich sehe an dem kananäischen

Weiblein und anderen Exempeln, dass man wenig wissen kann und großen Glauben

haben; und an der Pharisäern usw., dass man viel wissen kann und doch nicht glau-

ben. Christus sagte zu den Pharisäern: „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre vonei-

nander nehmet“, und Paulus spricht von „Menschen von zerrütteten Sinnen, un-

tüchtig zum Glauben“ usw.

Daher sehe ich die Geschichten, wo vom Glauben die Rede ist, fleißig an und merke

auf den Sinn solcher Leute, um daraus zu lernen: nicht was ich noch wissen muss,

um glauben zu können, sondern was ich noch vergessen, mir aus dem Sinn schlagen

und von mir abtun muss, damit der Glaube recht an mir haften könne.

Dein usw.

WO ER IST, IST DAS GELOBTE LAND

Sein Reich ist nicht von dieser Welt – darum hassten ihn die Juden und verfolgten

und töteten ihn. … Lass uns nicht verdammen, Andres! Es ist himmelschreiend,

was sie getan haben, und davon ist nicht die Rede. Aber unser Herr Christus gibt

keinem das Recht, den ersten Stein aufzuheben, als der rein ist. Und wer ist rein?

Wir sollen nicht liebhaben die Welt und was in der Welt ist; wir sollen unser eige-

nes Leben hassen und verlieren, und es soll geistlich bei uns gerichtet sein. Nicht

verdammen, Andres!

Es ist sehr recht und wahr von Dir geschrieben, Andres, dass man ihn so innig lie-

ben und so mit ganzem Herzen an ihm hangen kann, weil er so durchaus und über

alles gut ist; auch ist das sehr recht und wahr, dass einen die Menschengestalt an

ihm so wunderbar freuet. Aber, dass Du so gerne im Gelobten Land sein möchtest!

Es dünkt einem freilich so, Andres, als wäre von den Wegen, die er gewandelt, von

den Bergen, auf denen er mit seinen Jüngern gesessen ist, noch der Segen nicht

wieder genommen; als werde man auf dem Ölberge noch Spuren seines Nachtla-

gers, auf dem Tabor noch Strahlen seiner Verklärung finden; als stehe, wo er die

Stadt ansah und über sie weinte, wo er niederkniete und betete, wo er das heilige

Abendmahl einsetzte, wo er gekreuzigt und gestorben ist, noch immer ein Kreis En-

gel und gelüste, in das Geheimnis hineinzuschauen, und bewache den Ort; kurz, als

sei er uns im Gelobten Land näher. Wir wissen aber, dass er einmal auf Erden er-

schienen ist, sichtbar, damit alle Menschen wüssten, dass er sei und wes sie sich zu

ihm zu versehen haben; und dass er unsichtbar allenthalben ist. Und wo er ist,

Andres, ist das Gelobte Land.

Wie gesagt, solche Empfindungen, so lieblich und lobenswert sie sind, können zu

weit führen, und sie sind nicht die Sache. Uns und unserem verdorbenen Willen

aufrichtig entsagen und seinen Willen tun, das ist die Sache; und es ist in keinem

anderen Heil. Gott sei mit Dir, mein lieber Andres, und besuche mich bald.

ES WARD IHNEN GESAGT, DER SCHLÜSSEL SEI ZUM AUFSCHLIESSEN UND DIE

ZEIT SEI KURZ

Es war einmal ein Edler, des Freunde und Angehörige durch ihren Leichtsinn um

ihre Freiheit gekommen und in fremdem Lande in eine harte Gefangenschaft gera-

ten waren. Er konnte sie in solcher Not nicht wissen und beschloss, sie zu befreien.

Das Gefängnis war fest verwahrt und von inwendig verschlossen, und niemand hat-

te den Schlüssel. Als der Edle sich ihn nach vieler Zeit und Mühe zu verschaffen

gewusst hatte, band er dem Kerkermeister Hände und Füße und reichte den Gefan-

genen den Schlüssel durchs Gitter, dass sie aufschlössen und mit ihm heimkehrten.

Die aber setzten sich hin, den Schlüssel zu besehen und darüber zu ratschlagen. Es

ward ihnen gesagt, der Schlüssel sei zum Aufschließen, und die Zeit sei kurz. Sie

aber blieben dabei, zu besehen und zu ratschlagen; und einige fingen an, an dem

Schlüssel zu meistern und daran ab- und zuzutun. Und als er so nun nicht mehr

passen wollte, waren sie verlegen und wussten nicht, wie sie ihm tun sollten. Die

andern aber hatten's ihren Spott und sagten, der Schlüssel sei kein Schlüssel, und

man brauche auch keinen.

DIE WAHRE FURCHT GOTTES MUSS EMPFINDUNG, MUSS WAHRHEIT IN UNS SEIN

„Lasset uns die Hauptsumma aller Lehre hören; fürchte Gott und halte seine Gebo-

te, denn das gehöret allen Menschen zu.“

Dieser Spruch steht in Salomos Büchlein zu Ende aller andern Sprüche, wie der

Morgenstern der zuletzt aufgeht und schöner und herrlicher ist als alle Sterne die

vor ihm hergehen. Die Hauptsumma pflegt gewöhnlich am Ende zu stehen, und also

ist diese Stellung des Spruchs natürlich. Vielleicht kann sie aber auch noch eine

Nebenabsicht haben. Salomo macht anderswo die Bemerkung, dass einem ein Narr

nicht glaube wenn man ihm nicht auch sagt was in seinem Herzen ist. Nun gibt es

aber Leute die alles lästern was sie nicht begreifen, die sich zu klug dünken zu glau-

ben, und zu dumm sind zu wissen; arme Leute, welche die Vorteile beider Parteien

entbehren und für sich keinen andern haben, als dass sie ihr Lebelang diskutieren,

und von Leuten die noch dümmer sind als sie für große Geister gehalten werden.

Diese Klasse von Menschen ist von jeher in der Welt gewesen und wird bis je und je

darin bleiben. Vielleicht nahm Salomo Rücksicht auf sie, wollte auch ihnen gern die

große Lehre zu Herzen bringen, dass Gottesfurcht die Quelle alles Guten sei. Er

wusste aber, dass er unvorbereitet damit bei ihnen wenig Glauben finden würde.

Daher schickt er verschiedene Sprüche mit Lehre die mehr in ihren Kram gehöret

voran, und nachdem er sich als Meister in ihrer eignen Kunst gezeigt und sich sol-

chergestalt ihr Vertrauen erworben hatte, rückt er mit der Hauptsumma aller Lehre

hervor:

Fürchte Gott und halte seine Gebote, denn das gehöret allen Menschen zu. Es gibt

manches Ding, will er sagen, manche Lehre zwischen Himmel und Erde, die sehr

dankenswert ist und ihre Interessenten in mehr als Einer Hinsicht zu großen Leu-

ten macht; aber das Alles und Eins, das eigentliche Ding, die Hauptsumma aller

Lehre ist Furcht Gottes, und die gehöret allen Menschen zu, ist des Menschen sein

Element, sein Beruf, sein Natur und Wesen.

Lieben Herren Subskribenten! Ich bin nicht was Salomo war, bin nicht König über

Israel, und ich bescheide mich gerne dass mir seine Weisheit noch mehr als seine

Krone fehlet; aber überzeugt bin ich lebendig, dass die Furcht Gottes die Quelle al-

les Guten sei, dass es da anfangen und sich da wieder endigen müsse, und dass al-

les was sich darauf nicht gründet und nicht damit besteht, wie groß es auch schei-

ne, doch nichts als Täuschung und Trug sei und unser Wohl nicht fördern möge.

Aber Furcht Gottes und Furcht Gottes ist zweierlei; und hier liegt der Knoten,

dadurch diese Lehre zweideutig und rätselhaft wird. Wir fürchten alle Gott, spre-

chen mit Ehrerbietung von ihm, hören mit Ehrerbietung von ihm sprechen etc.,

wollen ihn fürchten und tun uns wohl auch bei der und jener Gelegenheit mit sei-

ner Furcht einigen Zwang an, und übrigens bleibt's beim Alten. Solch eine Furcht

Gottes mag als eine feine äußerliche Zucht gelten, sonst aber ist sie der leibhafte

Bediente hinten auf der Kutsche. Der steht da auch als ein Schild dass honette Leu-

te im Wagen sind, gibt ein Zeichen dass die Wachen heraustreten, macht die Kut-

schentür auf und zu etc., und übrigens gehen die Bestien vor dem Wagen ihren ehr-

baren Trab oder wilden Galopp wohin sie wollen, und der Herr dahinten muss im-

mer mit fort und wird nicht gefragt. Wenn die Herrschaft recht gnädig ist, nimmt

sie ihn wohl bei einfallendem Regenwetter zu sich in den Wagen. Was soll solch ei-

ne Furcht Gottes? Was kann die für Wirkungen haben, und wie wäre sie die Haupt-

summa aller Lehre?

Das war aber auch nicht die Furcht Gottes der Altväter, die uns in der Schrift zum

Muster dargestellet werden. Denn bei denen war die Gottesfurcht nicht Bedienter

hinten auf dem Wagen, sondern Herrschaft und Kutscher zugleich. Ihnen war nichts

so innig und heilig als sie; nichts so sauer das sie ihretwegen nicht getan, nichts so

süß das sie ihretwegen nicht gelassen hätten. Joseph reißt sich aus den Armen eines

schönen Weibes los und lässt einen Mantel im Stich, weil er ein so groß Übel nicht

tun kann und wider Gott sündigen. Abraham schlachtet, als Gott zu ihm sprach,

seinen einzigen Sohn, und bekümmert sich nicht um sein Vaterherz und seine Ver-

nunft; – und so muss es sein wenn was draus werden soll. Und du, der du Gottes-

furcht schmähen willst, könne das; und denn komm und schmähe, so wollen wir

dir glauben. Sonst aber bist du nur ein Faselhans der nicht weiß wovon er spricht,

du magst lästern oder loben.

Die wahre Furcht Gottes muss Empfindung, muss Wahrheit in uns sein; denn ist sie

wohltätig mir ihren Einflüssen und wunderbar in ihren Wirkungen, mehr und an-

ders, als wir meinen oder verstehen. Wenn wir den Begriff von Gott nur bloß mit

der Imagination denken, dass er, wie die heilige Schrift uns lehret, der Schöpfer

und Erhalter der sichtbaren und unsichtbaren Welt sei, der erste und der letzte,

sein Stuhl der Himmel und die Erde seiner Füße Schemel, dass er in allem und

durch alles sei, von der Tiefe des Meeres bis an die Zinne des Himmels allein We-

sen gegenwärtig und nahe, dass seine gewaltige Hand alles hält und seine Augen

Tag und Nacht über alle seine Geschöpfe und sonderlich über alle seine Menschen,

auch hier über und um uns, unsichtbar offen stehen – wenn wir den Begriff nur

bloß mit der Imagination denken, so fährt er uns kalt durch und macht uns Gott

lieben und fürchten; was wird er tun, wenn er Empfindung und Wahrheit in uns

ist? Denn werden wir Gott nicht fürchten wollen, sondern wir werden ihn wahrhaf-

tig fürchten, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und aus al-

len Kräften, in allem unserm Tun und Lassen, wenn wir aufstehen und wenn wir zu

Bett gehen, um Mittag und um Mitternacht, wir schlafen oder wachen; wir werden

das Bild des Allerbesten, des Allerweisesten, des Allergerechtesten, des Allerwahr-

haftigsten, des Allerbarmherzigsten beständig wie unser Leben in uns tragen und

werden verwandelt werden in dasselbige Bild von einer Klarheit zu der andern. –

Und das Halten der Gebote Gottes wird unsre Freude sein und unser Glück zu-

gleich; denn was sind seine Gebote anders als eine Hand am Wege, als schwarze

und weiße Tonnen, die vor Verderben warnen und die sicherste Fahrt in das Land

des Heils weisen.

MATTHIAS CLAUDIUS:

BRIEFE AN ANDRES - VOM GEWISSEN

VOM GEWISSEN - ERSTER BRIEF

Ja wohl, lieber Andres, ist mir Deine Korrespondenz über das Gewissen willkom-

men. Ich wechsle gern Wort mit Dir und am liebsten über Dinge, die Freund und

Feind angehen. Schreibe nur oft und viel, und ich will Dir antworten, so gut ich

kann. Wenn wir auch über diese Materie nicht viel Neues schreiben und antworten

können; so kommt doch das Alte, was wir und alle Menschen davon wissen, bei der

Gelegenheit in Umlauf und Bewegung. Und das kann für uns nicht ohne Nutzen ab-

gehen. Natürlich werden bei dieser Korrespondenz Fälle vorkommen, wo nicht ge-

hehlt werden kann, und des Herzens Grund an Tag muss. Doch Du kennst bei mir

schon Hausgelegenheit, und ich will mich nicht schämen, Dich die zerbrochenen

Töpfe wieder sehen zu lassen. Ich erwarte denn Deine Briefe.

ZWEITER BRIEF

Freilich gehört wohl das Wort Gewissen in die Klasse der Worte, von denen unser

Freund „Pascal“ sagt, dass ein jeder ihre Bedeutung von Natur wisse und durch Er-

klärung auch nicht mehr davon erfahren könne. Indes kann doch eins und anders

zur Erklärung versucht werden. Alles Gewissen ist Bewusstsein; aber alles Bewusst-

sein ist noch nicht Gewissen. Es gibt kein Gewissen ohne den Baum des Erkenntnis

Gutes und Böses. So kann man von einem Engel des Himmel nicht sagen, dass er

Gewissen habe; denn er kennt nur ein Gesetz, das Gesetz des Guten. Selbst von

Gott kann man es nicht sagen. Gott kennt zwar das Böse; aber es besteht nicht vor

ihm, und er hat eine Wagenburg um sich her, dadurch es in Schranken gehalten und

alle Gemeinschaft mit ihm abgeschnitten wird.

Nur der Mensch hat zwei Gesetze in sich, eins, wie Paulus sagt, „im Gemüt“, und

eins „in den Gliedern“; das eine: der inwendige Mensch, oder das verständige Ge-

setz, das in sich unbeweglich ist und „Lust hat an dem Unbeweglichen, dem Un-

sichtbaren, dem Unvergänglichen“, und das andere: das sinnliche Gesetz, das in sich

beweglich ist, und dem Beweglichen, dem Sichtbaren, dem Vergänglichen anhangt

und nichts „vernimmt vom Geiste Gottes“.

Wie Feuer und Wasser, so lange sie in ihrer Natur bleiben, unverträglich sind: so

sind es zwei Gesetze im Menschen. Und darum ist der Mensch vom Weibe geboren

innerlich im Streit, und ist kein Friede in seinen Gebeinen; denn er soll Herr sein

des sinnlichen Gesetzes und nicht Knecht; und er weiß, wie ihm zu Mute ist. Das

Bewusstsein dieser Knechtschaft ist böses Gewissen überhaupt. Gutes Gewissen ist

Bewusstsein dieser Nicht-Knechtschaft und liegt in der Mitte zwischen bösem Ge-

wissen und der Freiheit, oder der Herstellung des Menschen. Doch dies alles sind

nur Worte, und der Mensch fühlt am besten, was Gewissen ist. Wenn er es nicht

fühlt, desto schlimmer für ihn. Zu seiner Zeit hat das Gewissen notwendig in ihm

gestammelt, und war es in seiner Gewalt, ihm die Zunge zu lösen oder zu lähmen.

Denn wenn ein Mensch auf die Bewegungen seiner bessern Natur nicht achtet, oder

wenn er der geringern die volle Gewalt lässt; so spricht das Gewissen nach und nach

leiser und schweigt endlich gar. Doch schweigt es nur und wacht einmal plötzlich

und schrecklich wieder auf.

Im Herbst ist die Witterung unruhig, im Winter ist sie ruhiger, wann nämlich und

weil nun die Kälte einmal die Oberhand über die Wärme erhalten hat. Aber die

Wärme ist keineswegs vernichtet; sie schläft nur und stößt, wenn sie plötzlich von

der Sonne geweckt wird, die Kälte desto gewaltsamer von sich. Der Bösewicht kann

seinem Schicksal nicht entgehen. Das Gewissen hängt an seinem Wesen und folgt

ihm aus einer Welt in die andre. Und bis es erwacht, ahndet und nagt ihn immer,

was ihm bevorsteht.

Cromwell und seine Gefährten schäkerten über den Königsmord und machten ei-

nander beim Unterschreiben des Todesurteils schwarze Bärte. Aber ihn ahndete

doch in der Folge nichts Gutes: er schlief zuletzt keine zwei Nächte hinter einander

in demselben Bette und Zimmer; und wir sind nicht dabei gewesen, als ihm jenseits

widerfuhr, was ihm diesseits ahndete.

Die heilige Schrift lehrt und bestätigt auch das plötzliche und schreckliche Erwa-

chen eines bösen Gewissens. Aber wie sie überhaupt unterrichtet, nicht sowohl

durch Lehrsätze, als durch Geschichte und Facta, die kräftiger wirken und mehr zu

Herzen gehen; so auch hier. Nimm nur gleich, was sie vom Judas, dem Verräter, er-

zählt, als ihm über das, was er getan hatte, die Augen aufgingen. Er lief in der Angst

seines Herzens umher, suchte Trost im Tempel, gestand und bekannte den Hohen-

priestern und Ältesten, dass er unschuldig Blut verraten habe, brachte ihnen die

Silberlinge wieder und warf sie, als die Buben sie nicht annehmen wollten, von sich

hin in den Tempel, um ihrer nur los zu sein, ob ihm das vielleicht Linderung schaf-

fen könnte. Aber es schaffte ihm keine, und er verließ den Tempel eben so trostlos

wieder und ging wieder hin, wo er hergekommen war. – Und als er nirgends Trost

fand und sich nicht länger ertragen konnte, griff er zum Strick und erhenkte sich.

Und er ist mitten entzwei geborsten und alle seine Eingeweide ausgeschüttet, ob

vielleicht die nun in ihm eingeschlossene Angst ihm den Leib gesprengt hat, oder

eine andere und gewöhnliche Ursache. Denn die Evangelisten erzählen in ihrer Ge-

schichte diesen Vorgang nicht, und Petrus führt ihn nur kurz und beiläufig an.

DRITTER BRIEF

Du hast Recht, Andres, die Frage: wie ein gutes Gewissen möglich sei, ist so leicht

nicht beantwortet; und je länger man darüber nachdenkt, desto schwerer und

schwieriger wird das Antworten. Mancher spricht von einem guten Gewissen, wenn

er sich keiner Schand- und Freveltat bewusst ist. Aber das gute Gewissen hängt

nicht sowohl mit einzelnen Handlungen, als mit der ganzen inwendigen Gestalt

und Verfassung des Menschen zusammen.

Adam war zum Bild Gottes erschaffen, und sein Gesetz war: Gott anzuhangen, und

ihn über alles zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen. Als er seine Freiheit miss-

brauchte und etwas anderm mehr anhing und vertraute, ward er dem sinnlichen

Gesetz unterworfen. – Und „er zeugte Söhne und Töchter, die seinem Bilde ähnlich

waren“. In dieser Verfassung des Menschen aber, wo er nämlich dem sinnlichen Ge-

setz unterworfen und untertan ist, in dieser Verfassung ist ein jeder Akt, in Gedan-

ken, Worten und Werken, dem bessern Gesetz in ihm zuwider und entgegen und

macht also böses Gewissen. Wie ist denn ein gutes möglich, und wie kann es bei

ihm statthaben?

VIERTER BRIEF

Allerdings! „Es ist nichts Verdammliches an denen, die nicht nach dem Fleisch

wandeln, sondern nach dem Geist.“ Aber so wandeln nur, und so können nur die

wandeln, die, wie Paulus sagt, „der lebendige Geist in Christo Jesu frei gemacht hat

von dem Gesetz der Sünde und des Todes“, die also wirklich hergestellt sind. Dahin

kann der Mensch kommen; und dazu ist er auf Erden. Aber dahin kommen wenige!

Die Menschen bekümmern sich nicht immer um das bessere Gesetz, und auch die

sich darum bekümmern und sich angelegen sein lassen, durch den Geist des Flei-

sches Geschäfte zu töten, auch die sind nicht los von dem Gesetz des Sünde und des

Todes und sind nicht geistlich gesinnt.

Man glaubt wohl in gewissen Augenblicken geistlich gesinnt zu sein und nur das

Unsichtbare lieb zu haben; aber die Täuschung währt nicht lange, und man wird

bald wieder inne, dass man eigentlich das Sichtbare und Zeitliche meine. Wie denn

Rat zu einem guten Gewissen? – Andres, für die Gesunden und Starken ist kein Rat,

denn die Gerechtigkeit Gottes ist unerbittlich. Aber für die Kranken.

Moses, nachdem er „Himmel und Erde über das Volk zu Zeugen gerufen und ihnen

geweissaget hatte, wie sie, wenn sie des Herrn vergäßen, unter die Völker zerstreuet

werden, ein geringer Pöbel unter den Heiden sein und den Göttern dienen würden,

die Menschenhändewerk sind, Holz und Stein, die weder sehen noch hören“, fährt

so fort: „Wenn du aber daselbst den Herrn, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du

ihn finden, wo du ihn wirst von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen. –

Denn der Herr, Dein Gott, ist barmherzig und wird dich nicht lassen noch verder-

ben.“ Als Adam gefallen war und „sich mit seinem Weibe vor dem Angesichte Got-

tes, des Herrn, unter die Bäume im Garten versteckte“, ließ Gott sich seine Furcht

und Reue rühren und versprach ihm, in seinem Verfall, den Helfer, der ihn herstel-

len sollte. Als „der verlorne Sohn in sich schlug und sich aufmachte zu seinem Vater

zu gehen, sahe ihn der Vater, als er noch ferne war, jammerte ihn, lief, fiel ihm um

den Hals, und küssete ihn“.

Sieh, Andres, da, und da allein, öffnet sich Aussicht zu einem guten Gewissen für

uns und für alle, die noch nicht hergestellet, sondern nur auf dem Wege zur Her-

stellung begriffen sind. Der Sklave kann sich seiner Kette nicht ledigen; aber er

kann unter der Kette in sich schlagen und zum Vater gehen wollen. Nur das ernstli-

che In-sich-schlagen, das Aufrichtig-zum-Vater-gehen-wollen steht dem Menschen

nicht so zu Gebot. Joh. 6,44. Dieser reine Sinn liegt im Herzen eines jedweden Men-

schen; und das Bewegliche kann durch das Unbewegliche überwunden und getötet

werden; aber der Brunn ist tief, und das Schöpfen ist kein leichtes und geringes

Werk. Indes konnte der Mensch in einer für ihn so wichtigen Angelegenheit nicht

untätig bleiben. Sein Wesen trieb ihn unwiderstehlich, sich nach Hülfe umzusehen

und umzutun.

Religion allein weiß hier von Hülfe. Und da alle Religionen von einer abstammen,

mittelbar oder unmittelbar, mehr oder weniger verstellt: so ist es kein Wunder, dass

in diesem Felde alle Tätigkeit der Menschen sich auf Religion bezieht, und alle ihre

Einrichtungen und Anstalten in diesem Stück religiösen Charakter, fast durchge-

hends, an sich haben. Zeno und seine Schule möchten etwa eine Ausnahme ma-

chen; denn Pythagoras hatte auch in religiösen Quellen geschöpft. Doch, wie dem

sei, die Menschen konnten in einer für sie so wichtigen Angelegenheit nicht untätig

bleiben. Und zwar bedurfte es hier vor der Hand keiner gelehrten und tiefsinnigen

Anleitung. Ein jedweder fühlte offenbar in sich, dass „die fleischlichen Lüste wider

die Seele streiten“, dass das sinnliche Gesetz dem verständigen Gesetz in ihm wi-

derstehe. Auch dachte und hoffte er vielleicht, dass durch Schwächung des Wider-

standes die Kraft sich heben, und jener reine Sinn zum Vorschein kommen würde,

und griff zum Werk.

Und so wurden denn je und immer Gymnosophisten, Jammabos, Stoiker, Mönche,

Eremiten, Asketen, Therapeuten, Styliten usw. Der Weg von innen heraus war nicht

bekannt, und so suchte der Mensch von außen hinein, und versuchte seine Kräfte.

Es ist sehr interessant, die Geschichte dieser Versuche, die zu allen Zeiten und un-

ter allen Völkern gemacht worden sind, zu studieren; zu sehen, wie die Menschen

auf so mancherlei Weise am Schloss gedrückt und gekehrt haben, bald mit mehr

Besonnenheit und Überlegung, bald mit weniger; aber doch immer in einer Angele-

genheit, die uns näher angeht, als manche Dinge, die hoch und weit berühmt sind.

Und ich erkenne Dich ganz, Andres, dass Du Dich nicht irren lässt, und Ernst dem

Kurzweil vorziehst.

Sprich denn immer mit mir von diesen Dingen. Ich bin auch nicht aufgeklärt und

suchte auch lieber die Wahrheit in Wüsten und Einöden, als bei den Sophisten. Ich

höre auch gerne die Jammabos auf dem Fusi und Fikoosan in der Einsamkeit klin-

geln; menschliche Stärke und menschliche Schwäche sind immer rührend und lehr-

reich. Ich will Dir denn folgen, wie Du in Deinen Briefen vorangehst. Deine Erfah-

rung, dass ein Entschluss, der Dir sonst Mühe machte, Dir nach einem Besuche im

Krankenhause leicht geworden, ist sehr richtig und wahr. Es geht andern Leuten

auch so; und darum suchen ernsthafte Gemüter oft, und sonderlich wenn sie mit

einer Neigung nicht fertig werden können, solche und ähnliche Eindrücke; und da-

rum sagt die heilige Schrift, dass es besser sei, ins Klag-Haus als ins Lach-Haus zu

gehen. Man weiß freilich wohl, dass die Welt ein Jammertal, und dass darin des

Leidens aller Art kein Ende ist; aber der sinnliche Eindruck wirkt gar anders und

macht eine Überzeugung, die man vorher nicht kannte. Wie denn überhaupt unsere

Einsichten und Begriffe allererst eigentliche Einsichten und Begriffe werden, wenn

die eigne Erfahrung hinzukommt.

Was Du bei dem Vor- und Fortrücken in dem Kampf gegen sich selbst vorschlägst,

ist nicht für die Anfänger. Die haben vor der Hand zu arbeiten, dass sie sich nur

zum Stehen bringen, und das Geringere das Bessere nicht mit sich fortreiße. Denn

wie die Eva, als sie sich mit der Schlange in ein Pro und Contra einließ, verloren

war, und wie alle Menschen, wenn sie sich mit Fleisch und Blut einlassen und be-

sprechen, so gut als verloren sind: so ist auf der andern Seite viel für sie gewonnen,

wenn sie nur ihre sinnliche Natur in kritischen Augenblicken anhalten können und

zum Stehen bringen, um mit der bessern Natur in Unterhandlung zu treten.

Ich besinne mich bei der Gelegenheit eines Griffs, den Du mir vor Jahren empfoh-

len hast: – wenn man von jemand etwas haben, ihn zu etwas bereden will, so ver-

dirbt man oft die Sache, wenn man ihm geradezu und mit Gewalt auf den Leib

rückt. Die ganze Natur widersteht dem Druck und bäumt sich dagegen. So bäumt

sich der Mensch auch gegen Gewalt, und es gelingt oft viel leichter und besser,

wenn man ihm von der Seite kommt, ihn mit Glimpf, guter Wendung, Vertröstung

etc. umgeht. – Dies, meintest Du, sollte man auch bei sich selbst anwenden. Und es

tut in gewissen Fällen wirklich gute Dienste, sonderlich dem augenblicklichen Aus-

bruch zu wehren, auch böse Gewohnheiten abzulegen etc. Gründlich heilen tut es

freilich nicht; aber es kann als ein Opiat dienen, bis die Kräfte sich gesammelt ha-

ben. – Nun zu Deinem Briefe von gestern.

Du scheinst ein großer Freund der vorläufigen Maßregeln zu sein und nimmst die

Leute in Deinen besondern Schutz, die alle Vorfälle im Leben, die kommen könn-

ten, sorgfältig berechnen und sich einen umständlichen Plan machen, wie sie sich

in jedem vorkommenden Fall benehmen, und was sie tun und lassen wollen. Ich

kann Dir das nicht tadeln. Der sinnliche Eindruck, sonderlich wenn er unerwartet

und unvorhergesehen kommt, ist sehr gefährlich; und es ist löblich und wohlgetan,

sich darauf zu rüsten und einen Plan zu machen. Aber ausgerichtet ist es damit

nicht. Ein solcher Plan wird zu Hause und fern vom Feinde gemacht, wo die Aus-

führung nicht so schwer dünkt. Aber im Felde und vor dem Feind ist es anders. Da

wird der Plan verrückt, und das macht missmutig, und weil es wieder und wieder

kommt, zuletzt niedergeschlagen und scheu vor Gott. Und das ist misslich und kann

von ihm entfernen.

Du meinst zwar, man sollte die Saiten nicht gleich zu hoch spannen und mit dem,

was man bestreiten kann, anfangen und nach und nach steigen. Das ist nun wohl

sehr wahr; aber bei vielen ist das nach und nach nicht angebracht, und Minerva, als

sie den Telemachus von der Calypso losmachen wollte, machte es anders und stürz-

te ihn von dem Felsen ins Meer. So haben auch die gedacht, die über ihren sinnli-

chen Menschen den Stab gebrochen und allem sinnlichen Genuss auf immer ent-

sagt haben. Dem und jenem Genuss entsagt man wohl, wenn die Tür zu andern of-

fen bleibt, oder wenigstens eine Zeit bestimmt ist; aber allem und auf immer, das

kann nicht ein jeder.

Es ist zwar der Welt Sitte, diese Leute und überhaupt alle Ordensstifter und Or-

densbrüder kurz und gut zu verachten und zu verdammen und sie der Schwärmerei,

der Eitelkeit, des Unsinns etc. zu schuldigen. Auch ist nicht ohne, dass bei vielen

von ihnen dergleichen mit eingeflossen ist, und dass Menschenkenntnis und Vor-

sicht bei der Aufnahme den meisten viele Mühe hätten ersparen können und erspa-

ren sollen. Aber Leichtgläubigkeit und überspannte Erwartung an der einen Seite,

und Nachgiebigkeit, Eile und Proselytensucht an der andern sind dem Menschen

natürlich. Und welche Gesellschaft, selbst die christliche von Anfang an nicht aus-

genommen, hätte diese Fehler nicht gemacht und dadurch ihren Verfall bereitet!

Wer so etwas unternimmt und nicht einen entschiedenen Trieb in sich hat und zu

erhalten weiß, der bringt notwendig sich und andre in Verlegenheit und kann

nichts anders als Unordnung, Unfug und Unwesen daraus kommen, wie die Erfah-

rung auch hinlänglich gelehrt und bestätigt hat. Und hier kann es allerdings nütz-

lich und nötig werden, dass eine weise Regierung zutrete. Denn wenn der Trieb

durch die Mühen und Verleugnungen herbeigeführt und geschafft werden soll, so

ist die Sache misslich und gerät selten. Führt aber der Trieb die Mühen und Ver-

leugnungen herbei, dass sie also mit Lust und Liebe getan werden, so gerät es bes-

ser. Der Trieb ist's, der Hunger und Durst nach Gott; „die Werke verzehren sich un-

ter Händen“. Dagegen liegt es am Tage, was ein solcher Hunger und Durst ausrich-

ten und zu Wege bringen kann, und was er in allen Zeiten und unter allen Völkern

ausgerichtet und zu Wege gebracht hat. Freilich nur selten, denn die wahren Heili-

gen sind die Diamanten gegen die ungeheure Menge Feldsteine. Eigentlich soll

niemand einen Orden zur Herstellung anderer Menschen stiften, als der selbst her-

gestellt ist und also seine Genossen in Wahrheit fördern kann. Und von einem sol-

chen gebührt uns nicht zu richten und zu reden. Doch wer möchte alle andre Or-

denstifter geradezu verachten und verdammen? Mögen sie auch unbesonnen und

überspannt zu Werk gegangen sein. Der Most gärt und braust und schäumt auch,

ehe er Wein wird. Und haben denn andre Menschen, Philosophen und Nicht-

Philosophen, sich immer besonnen, und nimmer überspannt, oder vielmehr, haben

sie sich nicht oft besonnen und umgespannt? Zwar viele, die verachten und ver-

dammen, meinen es so böse nicht; sie sprechen nur nach, weil sie sich schämen,

weniger als andre zu sein. Wer dieser Scham abgestorben ist, wer nichts ist, und

nichts sein will, der gibt sich preis um Nutzens willen, ist billig und kehrt zum Bes-

ten.

FÜNFTER BRIEF

„Die Speise fördert uns freilich nicht vor Gott. Essen wir, so werden wir darum

nicht besser sein; essen wir nicht, so werden wir darum nicht geringer sein.“ Aber

Gott gebraucht oft äußere Umstände, auf bessern Weg zu bringen, und begünstigt

durch Fügung solcher Umstände einen Menschen vor dem andern. Wenn nun einer,

der gerne hergestellt wäre, das siehet und hört, ihm aber in dem gewöhnlichen Le-

ben ein Tag nach dem andern hingeht, ohne dass er dem Ziel näher käme; wenn er

in der heiligen Schrift liest, dass die „Christo angehören, ihr Fleisch kreuzigen, samt

den Lüsten und Begierden“; dass „wer am Leibe leidet, aufhöre von Sünden“; dass

„Kreuz zu Gott führe“ usw., ihm aber kein Kreuz kommen will; so war es ihm doch

zu vergeben, wenn er, anstatt die Fügungen Gottes abzuwarten, selbst fügen und

Strenge gegen sich versuchen und fasten und beten wollte.

Viele Leute, Andres, verwerfen alles Fasten; aber darum ist es noch nicht verworfen.

Man verwirft gar leicht, was man nicht mag, und Missbrauch hängt sich allenthal-

ben an. Immer mäßig sein, sagen sie, ist besser als bisweilen fasten. Das mag wohl

wahr sein. Da aber die meisten Menschen immer nicht mäßig sind, so ist es doch

nicht übel, bisweilen sehen zu lassen, wer Herr im Hause ist, und zu erfahren, was

sich etwa, während einer solchen Interimsregierung, Neues darin ereignet. Auch ist

der Mensch oft in Gefahr und auf dem Wege, übermütig und mutwillig zu werden.

Einem solchen nun ist es nötig und nützlich, irgend einen Stein auf dem Herzen zu

haben. Und, wenn der liebe Gott das Schiff nicht befrachtet, so muss man Ballast

einnehmen. Es segelt sich besser und sicherer. Wie oft enthält sich ein Grübler, wie

Newton, um seinen Betrachtungen besser nachhängen zu können und darin weni-

ger gestört zu werden. Warum sollte denn ein anderer sich nicht enthalten, um sei-

ner Betrachtungen willen, die doch auch vielleicht nicht zu verachten sind? Im Es-

sen oder Nicht-essen kann freilich nichts liegen, das begreift sich ohne sonderli-

chen Aufwand von Tief- und Scharfsinn, und ein vorgeschriebener Fasttag, der halb

und mit Unlust und Widerwillen gehalten wird, kann freilich keine Wunderdinge

wirken. Aber die Priester und Regierungen aller Zeiten und Länder verordnen doch

solche Fasttage. Und gewöhnlich, welches sonderbar genug ist, gehen strenge Fas-

ten und Klage vor einem fröhlichen Feste vorher, wie bei den Juden die lange Nacht

vor der Laubrüst, bei den Türken der Ramadan vor dem Bairam, bei den alten Syrern

die Planctus und Ejulatus vor den Tripudiis am Adonisfest usw. Die Stifter müssen

doch dazu ihre Ursachen gehabt haben, auch etwa dergleichen Tage, nach Vorschrift

gehalten, nötig und nützlich gefunden und gute Folgen davon erwartet haben. Die

heilige Schrift führt auch mehrere Exempel an, wo gute Folgen damit verbunden

werden. Und Christus selbst schreibt die Art und Weise, wie gefastet werden soll,

umständlich vor und legt dem Fasten und Beten eine besondere Kraft bei.

Nun konnte, um wieder auf unsere Sonderlinge zu kommen, ein Mensch allerdings

auch unter Menschen Strenge gegen sich versuchen und in seinem Hause und bei

seinem Herd fasten und beten. Wenn er aber glaubte und überzeugt war, dass die

Herstellung in der Einsamkeit und Entfernung von der Welt leichter sei und weni-

ger Schwierigkeiten habe; wenn er „zuvor saß und die Kosten überschlug, ob er's

habe, hinauszuführen“, und denn durch Verleugnung aller Art versuchte, die gerin-

gere Natur in sich zu unterdrücken und die bessere zu heben: so sollte man ihn

doch nicht verachtet haben. Wenigstens hätte man solche Leute doch ehren sollen,

als die eigentlichen Pfleger und Förderer der praktischen Psychologie, deren ernst-

hafte Versuche und Erfahrungen andre Resultate und andern Bescheid versprechen

und geben können, als die Tischreden der Philosophen. Mangel und Entbehrung

stehen überhaupt dem Menschen besser an, als Überfluss und Fülle. Je weniger der

Mensch braucht, sagt Sokrates, desto näher ist er den Göttern. Und es gibt Gedan-

ken und Empfindungen, die auf fettem Boden nicht wachsen.

Auf der andern Seite ist bei diesen Wegen, wenn sie nicht zum Ziel führen, große

Gefahr, dass sie verdienstsüchtig und eingebildet machen. Die Natur will nicht um-

sonst arbeiten und gearbeitet haben, und das nicht allein bei den Einfältigen und

Unaufgeklärten, sondern auch, und eben so, bei den Klugen und Aufgeklärten. Dies

mag auch der Fall und Fehler bei den Stoikern gewesen sein. Ihre Gesinnungen und

Taten waren kühn und trefflich, die Opfer groß, die sie auf ihren philosophischen

Altar brachten; aber sie wollten das Feuer dazu mit ihrem Stahl und Stein anschla-

gen; sie wollten sich selbst helfen und geholfen haben, und das kann nicht gelin-

gen. Indes, ob sie sich gleich hierin irreten, griffen sie doch die Sache beim rechten

Ende an. Sie ließen sich's doch Ernst sein und kosten. Sie stiegen doch zu Pferde

und Wagen, oder machten sich zu Fuß auf den Weg, um ins gelobte Land zu kom-

men, wenn andere es sich bequemer machten und sich, ohne von ihrem Lehnstuhl

aufzustehen, hineinspekulieren wollen.

SECHSTER BRIEF

Grade das ist auch meine Meinung, Andres. Alle Wege, die zu etwas ernsthaftem

führen, sind nicht gebahnt und lustig; und so gehe ein jeder den Weg, der ihm am

meisten frommet. Ein jeder ist sich selbst der Nächste und muss selbst für sich

antworten, was gehen ihn andre Leute an? Darum gehe ein jeder seinen Weg und

tue, was ihm am meisten frommet.

Ich für meinen Teil, Andres, ich finde meine Rechnung bei dem vorläufigen Plan-

machen und der ängstlichen Geschäftigkeit nicht. Mir tut ein stiller gehaltener

Wunsch die besten Dienste. Und darum mache ich über die Fälle, die kommen

könnten, die Augen lieber zu und hasse nur immer das Böse und entsage, nach Lu-

ther's kräftiger Taufformel, dem Teufel und allen seinen Werken und allem seinem

Wesen, um so in mir dem Bösen überhaupt zu wehren und Abbruch zu tun. Wenn

dem großen Strom sein Wasser geschmälert wird, so vertrocknen die kleinen Bäche,

die aus ihm abfließen, von selbst. Und kommen denn die einzelnen Fälle, so beste-

he ich sie, so gut ich kann. Und geht es denn, wie es nicht gehen sollte, so grämt

mich das. Aber ich zerreiße mich nicht und lasse fünf grade sein.

Dies ist nicht so gemeint, als ob man sich gehen lassen und nicht streiten und wi-

derstehen solle. Man soll freilich widerstehen, „bis auf's Blut“, sagt die heilige

Schrift. Nur man soll von sich nichts erwarten, keinen Gefallen an der Stärke seines

Rosses haben, nicht stark sein wollen und lieber „stark sein, wenn man schwach

ist“. Wer sich vollkommen und ohne Sünde glaubt, der trotzt der Wahrheit, und

„die Huren und Zöllner mögen eher ins Himmelreich kommen“. Wer aber „an seine

Brust schlägt“ und auch „die Augen nicht aufheben mag gen Himmel“, der gibt ihr

die Ehre und bereitet ihr den Weg.

Demut ist der Grundstein alles Guten, und Gott bauet auf keinen andern. Wir ha-

ben gesündiget, wir sind Fleisch und Blut; das müssen wir wissen und nicht aus

dem Auge verlieren. Unsere „Untugenden scheiden uns und Gott von einander“,

und unser schwacher toter Wille kann, sich selbst gelassen, die Kluft, die dadurch

zwischen Gott und uns befestiget ist, nicht durchbrechen und Bahn zu ihm machen.

Er kann nur wünschen, nur wünschen und hoffen. Wem Gott den Willen lebendig

macht, der hat's umsonst; wir andern müssen durch innerliche Tätigkeit Rat suchen

und unsern Willen stärken und üben. Denn nur im Willen ist Rat und sonst nir-

gends. Ein jedweder hat wohl seine Art, den Willen zu stärken und zu üben. Doch

ist allen Ernst und Entschlossenheit not; denn die sinnliche Natur, die bei allen im

Wege steht, ist schwer zu überwinden. Ihr wachsen für einen abgehauenen Kopf

drei andre wieder; und der Mensch ist ihr Freund und redet ihr immer das Wort

und ist behende und schlau, Künste und Auswege zu finden, um sie zu retten.

Zum Exempel, wenn eine Neigung in uns aufsteht, und man es fühlt und weiß, dass

diese Neigung dem bessern Gesetz in uns Gewalt tut, und dass sie mit ihm unver-

träglich ist; so will man sich auf diese Unverträglichkeit nicht einlassen und sucht

beide Kräfte mit Entschuldigungen und guten Worten hinzuhalten, dass sie sich

nicht unmittelbar berühren und an einander kommen. Der Weichling fürchtet Ent-

scheidung und fliehet deswegen den Kampf. Man soll aber Entscheidung wollen

und in seiner Kammer, oder Nachts auf seinem Lager, die zwei feindlichen Kräfte an

einander bringen und sie in seinem Herzen gleichsam cohibieren und sich so lange

mit einander bewegen und mit einander ringen lassen, bis man sich aufrichtig be-

wusst ist, dass das bessere Gesetz die Oberhand erhalten habe und unsre wahre

Meinung und unser wahrer Sinn sei.

Mit diesem ersten Sieg ist vieles, aber nicht alles gewonnen. Dieser Sinn wankt

wieder und trübt sich wieder; aber er muss täglich und bei einem jeden Anlass wie-

der errungen und wieder gefasst werden, so oft und so lange, bis er in unserm In-

wendigen einheimisch geworden und so fest und beständig ist, wie in dem Inwen-

digen einer Eiche der Trieb zu wachsen, den Wind und Wetter und andre äußerliche

Zufälle und Umstände hindern und stören, aber, so lange die Eiche steht, nicht ver-

tilgen können.

Wenn der Mensch das hat, wenn er mit Wahrheit sagen kann: „ich will mir selbst

nicht leben; ich hätte gern das Hohe und Gute; wenn mir das aber nicht beschieden

ist, das Niedrige und Böse will ich nicht; Knecht will ich nicht sein“ – wenn der

Mensch das zu jeder Zeit mit Wahrheit sagen kann: so ist er dem guten Gewissen

nahe, bis auf die im vorigen Leben begangenen Fehltritte und Vergehungen mit ih-

ren Folgen, bis auf die geschehene Beleidigung Gottes, die nicht ungeschehen ge-

macht werden kann.

Wenn wir nur einen rechtlichen Menschen beleidigt haben, so ist er beleidigt, und

ein zartes Gemüt kann es nicht vergessen. Reue und Zeit heilen wohl die Wunde;

aber die Narbe bleibt und fordert noch immer etwas von uns. Was denn jene Belei-

digung! – „Für die Gesunden und Starken ist kein Rat, denn die Gerechtigkeit Got-

tes ist unerbittlich.“ – Aber für die Kranken hat Gott hinter ihrem Rücken Gedanken

des Friedens gehabt und durch ein kündlich großes Geheimnis seine Gerechtigkeit

in seine Liebe eingewickelt. – Die Ehebrecherin ward nicht verdammt, und die gro-

ße Sünderin durfte seine Füße küssen. In Summa, mit jenem Sinn im Herzen und

im Glauben an den Stiller unseres Haders kann der Mensch, ohne hergestellt zu

sein, ein gutes Gewissen haben und ruhig abwarten, dass ihm vom Himmel gegeben

werde, was sich der Mensch nicht nehmen kann.

SIEBENTER BRIEF

Nun, lieber Andres, Du kennst das Glück eines guten Gewissens; und will's Gott,

sind außer Dir noch viele, die dies Glück kennen und es heimlich genießen, ohne

dass andre Leute davon wissen. Denn ein gutes Gewissen im Menschen ist wie ein

Edelstein im Kiesel. Er ist wirklich darin; aber Du siehst nur den Kiesel, und der

Edelstein bekümmert sich um Dich nicht.

Mir wird allemal wohl, wenn ich einen Menschen finde, der dem Lärm und dem

Geräusch immer so aus dem Wege geht und gern allein ist. Der, denke ich denn, hat

wohl ein gutes Gewissen; er lässt die schnöden Linsengerichte stehen und geht vo-

rüber, um bei sich einzukehren, wo er bessere Kost hat und seinen Tisch immer ge-

deckt findet. Wehe den Menschen, die nach Zerstreuung haschen müssen, um sich

einigermaßen aufrecht zu erhalten!

Doch wehe siebenmal den Unglücklichen, die Zerstreuung und Geschäftigkeit su-

chen müssen, um sich selbst aus dem Wege zu gehen! Sie fürchten, allein zu sein;

denn in der Einsamkeit und Stille rührt sich der Wurm, der nicht stirbt, wie sich die

Tiere des Waldes in der Nacht rühren und auf Raub ausgehen. Aber selig ist der

Mensch, der mit sich selbst in Frieden ist und unter allen Umständen frei und un-

erschrocken auf und um sich sehen kann! Es gibt auf Erden kein größer Glück.

Andres! – Wer doch sich und andre darnach recht lüstern machen könnte!

MATTHIAS CLAUDIUS: LIEDER

ALLE GUTE GABE

Wir pflügen und wir streuen

den Samen auf das Land,

doch Wachstum und Gedeihen

steht in des Himmels Hand;

der tut mit leisem Wehen

sich mild und heimlich auf

und träuft, wenn heim wir gehen,

Wuchs und Gedeihen drauf.

Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn,

drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt,

und hofft auf ihn.

Er sendet Tau und Regen

und Sonn und Mondenschein

und wickelt seinen Segen

gar zart und künstlich ein

und bringt ihn dann behende

in unser Feld und Brot;

es geht durch unsre Hände,

kommt aber her von Gott.

Alle gute Gabe…

Was nah ist und was ferne,

von Gott kommt alles her,

der Strohhalm und die Sterne,

das Sandkorn und das Meer.

Von ihm sind Büsch‘ und Blätter

und Korn und Obst, von ihm

das schöne Frühlingswetter

und Schnee und Ungestüm.

Alle gute Gabe…

Er lässt die Sonn aufgehen,

er stellt des Mondes Lauf;

er lässt die Winde wehen

und tut die Wolken auf.

Er schenkt uns so viel Freude,

er macht uns frisch und rot;

er gibt dem Viehe Weide

und seinen Menschen Brot.

Alle gute Gabe…

BAUERNLIED

(Im Anfang war‘s auf Erden)

Der Vorsänger:

Im Anfang war‘s auf Erden

Nur finster, wüst, und leer;

Und sollt was sein und werden,

Musst es woanders her.

Refrain:

Alle gute Gabe

Kam oben her, von Gott,

Vom schönen blauen Himmel herab!

Vorsänger:

So ist es hergegangen

Im Anfang, als Gott sprach;

Und wie sich‘s angefangen,

So geht‘s noch diesen Tag.

Refrain:

Alle gute Gabe

Kam oben her, von Gott,

Vom schönen blauen Himmel herab!

BEI DEM GRABE MEINES VATERS

1.

Friede sei um diesen Grabstein her!

Sanfter Friede Gottes! Ach, sie haben

Einen guten Mann begraben,

Und mir war er mehr;

2.

Träufte mir von Segen, dieser Mann,

Wie ein milder Stern aus bessern Welten!

Und ich kann‘s ihm nicht vergelten,

Was er mir getan.

3.

Er entschlief; sie gruben ihn hier ein.

Leiser, süßer Trost, von Gott gegeben,

Und ein Ahnden von dem ew‘gen Leben

Düft um sein Gebein!

4.

Bis ihn Jesus Christus, groß und hehr!

Freundlich wird erwecken – ach, sie haben

Einen guten Mann begraben,

Und mir war er mehr.

DAS SCHÖNE GROSSE TAGGESTIRNE

1.

Das schöne große Taggestirne

Vollendet seinen Lauf;

Komm wisch den Schweiß mir von der Stirne,

Lieb Weib, und denn tisch auf!

2.

Kannst hier nur auf der Erde decken,

Hier unterm Apfelbaum;

Da pflegt es abends gut zu schmecken,

Und ist am besten Raum.

3.

Und rufe flugs die kleinen Gäste,

Denn hör, mich hungert‘s sehr;

Bring auch den kleinsten aus dem Neste,

Wenn er nicht schläft, mit her.

4.

Dem König bringt man viel zu Tische;

Er, wie die Rede geht,

Hat alle Tage Fleisch und Fische

Und Panzen und Pastet;

5.

Und ist ein eigner Mann erlesen,

Von andrer Arbeit frei,

Der ordert ihm sein Tafelwesen

Und präsidiert dabei.

6.

Gott lass ihm alles wohl gedeihen!

Er hat auch viel zu tun,

Und muss sich Tag und Nacht kasteien,

Dass wir in Frieden ruhn.

7.

Und haben wir nicht Herrenfutter;

So haben wir doch Brot,

Und schöne, frische, reine Butter,

Und Milch, was denn für Not?

8.

Das ist genug für Bauersleute,

Wir danken Gott dafür,

Und halten offne Tafel heute

Vor allen Sternen hier.

9.

Es präsidiert bei unserm Mahle

Der Mond, so silberrein!

Und kuckt von oben in die Schale

Und tut den Segen h‘nein.

10.

Nun Kinder esset, esst mit Freuden,

Und Gott gesegn es euch!

Sieh, Mond! ich bin wohl zu beneiden,

Bin glücklich und bin reich!

DER MENSCH LEBT UND BESTEHET

Der Mensch lebt und bestehet

Nur eine kleine Zeit;

Und alle Welt vergehet

Mit ihrer Herrlichkeit.

Es ist nur Einer ewig und an allen Enden,

Und wir in seinen Händen.

Und der ist allwissend, Halleluja!

Und der ist heilig, Halleluja!

Und der ist allmächtig, Halleluja!

Ist barmherzig. Halleluja!

Amen, Amen! Halleluja! Amen!

Amen! Amen!

Ehre seinem großen Namen!

Halleluja! Halleluja! Amen! Amen!

DER MOND IST AUFGEGANGEN

Der Mond ist aufgegangen,

die goldnen Sternlein prangen

am Himmel hell und klar;

der Wald steht schwarz und schweiget,

und aus den Wiesen steiget

der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille

und in der Dämmrung Hülle

so traulich und so hold

als eine stille Kammer,

wo ihr des Tages Jammer

verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen?

Er ist nur halb zu sehen

und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen,

die wir getrost belachen,

weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder

sind eitel arme Sünder

und wissen gar nicht viel;

wir spinnen Luftgespinste

und suchen viele Künste

und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, lass dein Heil uns schauen,

auf nichts Vergänglichs bauen,

nicht Eitelkeit uns freun;

lass uns einfältig werden

und vor dir hier auf Erden

wie Kinder fromm und fröhlich sein.

Wollst endlich sonder Grämen

aus dieser Welt uns nehmen

durch einen sanften Tod;

und wenn du uns genommen,

lass uns in Himmel kommen,

du unser Herr und unser Gott.

So legt euch denn, ihr Brüder,

in Gottes Namen nieder;

kalt ist der Abendhauch.

Verschon uns, Gott, mit Strafen

und lass uns ruhig schlafen

und unsern kranken Nachbar auch.

EIN LIED

Ich bin vergnügt, im Siegeston

Verkünd es mein Gedicht,

Und mancher Mann mit seiner Kron

Und Szepter ist es nicht.

Und wär er’s auch; nun, immerhin!

Mag er’s! so ist er was ich bin.

Des Sultans Pracht, des Moguls Geld,

Des Glück, wie hieß er doch,

Der, als er Herr war von der Welt,

Zum Mond hinaufsah noch? –

Ich wünsche nichts von alledem,

Zu lächeln drob fällt mir bequem.

Zufrieden sein, das ist mein Spruch!

Was hülf mir Geld und Ehr?

Das, was ich hab, ist mir genug,

Wer klug ist wünscht nicht sehr;

Denn, was man wünschet, wenn man’s hat,

So ist man darum doch nicht satt.

Und Geld und Ehr ist obendrauf

Ein sehr zerbrechlich Glas.

Der Dinge wunderbarer Lauf

(Erfahrung lehret das)

Verändert wenig oft in viel,

Und setzt dem reichen Mann sein Ziel.

Recht tun, und edel sein und gut,

Ist mehr als Geld und Ehr;

Da hat man immer guten Mut

Und Freude um sich her,

Und man ist stolz, und mit sich eins,

Scheut kein Geschöpf und fürchtet keins.

Ich bin vergnügt, im Siegeston

Verkünd es mein Gedicht,

Und mancher Mann mit einer Kron

Und Szepter ist es nicht.

Und wär er’s auch; nun, immerhin!

Mag er’s! so ist er was ich bin.

EIN LIED UM REGEN

Der Erste

Regen, komm herab!

Unsre Saaten stehn und trauern,

Und die Blumen welken.

Der Zweite

Regen, komm herab!

Unsre Bäume stehn und trauern!

Und das Laub verdorret.

Der Erste

Und das Vieh im Felde schmachtet,

Und brüllt auf zum Himmel.

Der Zweite

Und der Wurm im Grase schmachtet,

Schmachtet und will sterben.

Beide

Lass doch nicht die Blumen welken!

Nicht das Laub verdorren!

Oh, lass doch den Wurm nicht sterben!

Regen, komm herab!

ICH DANKE GOTT

1.

Ich danke Gott und freue mich

Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe,

Dass ich hier bin! Und dass ich dich

Schön menschlich Antlitz habe.

2.

Dass ich die Sonne, Berg und Meer,

Und Laub und Gras kann sehen

Und abends unterm Sternenheer

Und lieben Monde gehen.

3.

Gott gebe mir nur jeden Tag.

So viel ich darf zum Leben,

Er gibt’s dem Sperling auf dem Dach;

Wie sollt‘ er’s mir nicht geben!

KRIEGSLIED

1.

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,

Und rede du darein!

’s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

2.

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blass,

Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

3.

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,

Verstümmelt und halb tot

Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten

In ihrer Todesnot?

4.

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,

So glücklich vor dem Krieg,

Nun alle elend, alle arme Leute,

Wehklagten über mich?

5.

Wenn Hunger, böse Seuch‘ und ihre Nöten

Freund, Freund und Feind ins Grab

Versammleten, und mir zu Ehren krähten

Von einer Leich herab?

6.

Was hülf mir Kron‘ und Land und Gold und Ehre?

Die könnten mich nicht freun!

’s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

MEIN NEUJAHRSLIED

Es war erst frühe Dämmerung

Mit leisem Tagverkünden,

Und nur noch eben hell genung

Sich durch den Wald zu finden.

Der Morgenstern stand linker Hand,

Ich aber ging und dachte

Im Eichtal an mein Vaterland,

Dem er ein Neujahr brachte.

Auch dacht‘ ich weiter: „so, und so,

Das Jahr ist nun vergangen,

Und du siehst, noch gesund und froh,

Den schönen Stern dort prangen.

Der ihm dort so zu stehn gebot

Muss doch gern geben mögen!

Sein Stern, sein Tal, sein Morgenrot,

Rund um mich her sein Segen!

Und bald wird seine Sonne hier

Zum erstenmal aufgehen!

Das Herz im Leibe brannte mir,

Ich musste stille stehen,

Und wankte wie ein Mensch im Traum

Wenn ihn Gesichte drängen,

Umarmte einen Eichenbaum

Und blieb so an ihm hängen.

Auf einmal hört ich’s wie Gesang,

Und glänzend stiegs hernieder

Und sprach, mit hellem hohen Klang,

Das Waldtal sprach es wieder:

Der alten Barden Vaterland!

Und auch der alten Treue!

Dich, freies unbezwungnes Land!

Weiht Braga hier aufs neue

Zur Ahnentugend wieder ein!

Und Friede deinen Hütten,

Und deinem Volke Fröhlichsein,

Und alte deutschen Sitten!

Die Männer sollen, jung und alt!

Gut vaterländ’sch und tüchtig

Und bieder sein und kühn und kalt,

Die Weiber keusch und züchtig!

Und deine Fürsten groß und gut!

Und groß und gut die Fürsten!

Die Deutschen lieben, und ihr Blut

Nicht saugen, nicht Blut dürsten!

Gut sein! Gut sein! ist viel getan,

Erobern, ist nur wenig;

Der König sei der bessre Mann,

Sonst sei der bessre, König!

Dein Dichter soll nicht ewig Wein

Nicht ewig Amorn necken!

Die Barden müssen Männer sein,

Und Weise sein, nicht Gecken!

Ihr Kraftgesang soll Himmel an

Mit Ungestüm sich reißen! –

Und du, Wandsbecker Leiermann,

Sollst Freund und Vetter heißen!

MATTHIAS CLAUDIUS: VERMISCHTES

BEKEHRUNGSGESCHICHTE DES – – – –

Der Mensch ist freilich mehr als Tier, aber er ist auch Tier und hat tierische Zufälle.

Das heißt, er hängt mehr oder weniger von seinem jedesmaligen Zustande ab, und

an den sinnlichen Eindrücken, die ihm gegenwärtig sind, und urteilt also, wenn der

Zustand verändert wird und er andere Eindrücke erhält, von den vorigen anders, als

er zuvor, wegen der Nähe, der Gewohnheit und dem Tumult seiner Sinne und Lei-

denschaften urteilen konnte; oder: seine Denkart kann von einem Punkt der Peri-

pherie zu dem entgegengesetzten übergehen und wieder zurück zu dem vorigen

Punkt, wenn die Umstände ihm den Bogen dahin vorzeichnen. Und diese Verände-

rungen sind nicht eben etwas Großes und Interessantes beim Menschen; aber jene

merkwürdige, katholische, transzendentale Veränderung, wo der ganze Zirkel un-

wiederbringlich zerrissen wird, und alle Gesetze der Psychologie eitel und leer wer-

den, wo der Rock von Fellen ausgezogen wenigstens umgewandt wird, und es dem

Menschen wie Schuppen von den Augen fällt, ist so etwas, dass ein jeder, der sich

des Odems in seiner Nase einigermaßen bewusst ist, Vater und Mutter verlässt,

wenn er darüber etwas Sicheres hören und erfahren kann. Fast alle Systeme, die

Menschen sich von gut und böse machen, sind Ephemera, Kinder des gegenwärti-

gen Zustandes, mit dem sie auch wieder dahinsterben; und der Fall ist äußerst sel-

ten, dass einer dem System, das er sich gemacht hat, unter entgegengesetzten Um-

ständen treu bleibe. Man kann daher allemal sicher zehn gegen eins wetten, dass

ein Delinquent, der auf den Tod sitzt, im Gefängnis andere Gesinnungen über gut

und böse äußern werde, als er geäußert hat, eh’ er hineinkam und als er noch in of-

fenem Meer schiffte; und es wäre also ein missliches Ding mit den Bekehrungsge-

schichten, und ein recht gutes, dass die Religion zum Beweis ihrer Wahrheit der De-

linquenten und ihrer Geschichten allenfalls entbehren kann. Überhaupt ist nicht zu

begreifen, wozu man sich mit den Freigeistern und Zweiflern so weitläufig in De-

monstrations abgibt, und von ihrer Freigeisterei und Zweifelsucht so viel Aufhe-

bens macht. Christus sagt ganz kurz: “Wer mein Wort hält, der wird inne wer- den,

ob meine Lehre von Gott sei.” Wer diesen Versuch nicht machen kann oder nicht

machen will, der sollte eigentlich, wenn er ein vernünftiger und billiger Mann wäre

oder nur heißen wollte, kein Wort weder wider noch für das Christentum sagen;

und ist er doch so schwach und eitel, dass er, wie Voltaire und Hume etc., ein biss-

chen Galanterieware zu Markt bringen muss, da könnte man ihn ungestört machen

lassen und sich nach ihm nicht umsehen.

EINE KORRESPONDENZ ZWISCHEN MIR UND MEINEM VETTER,

ANGEHEND DIE ORTHODOXIE UND RELIGIONSVERBESSERUNGEN

Hochgelahrter, hochzuehrender Herr Vetter!

Ich habe seit einiger Zeit soviel von biblischer und vernünftiger Religion, von or-

thodoxen und philosophischen Theologen etc. gehört, dass mir alles im Kopf rund-

um geht, und ich nicht mehr weiß wer recht und unrecht hat. Die Religion aus der

Vernunft verbessern, kommt mir freilich ebenso vor, als wenn ich die Sonne nach

meiner alten hölzernen Hausuhr stellen wollte; aber auf der andern Seite dünkt mir

auch die Philosophie 'n gut Ding, und vieles wahr was den Orthodoxen vorgeworfen

wird. Der Herr Vetter tut mir einen wahren Gefallen, wenn er mir die Sach' ausei-

nandersetzt. Sonderlich ob die Philosophie ein Besen sei, den Unrat aus dem Tem-

pel auszukehren; und ob ich meinen Hut tiefer vor einem orthodoxen oder philoso-

phischen Herrn Pastor abnehmen muss. Der ich die Ehre habe mit besonderem E-

stim zu verharren,

Meines Hochgelahrten

Hochzuehrenden Herrn Vetters

gehorsamer Diener und Vetter

Asmus.

ANTWORT

Lieber Vetter!

Die Philosophie ist gut, und die Leute haben unrecht die ihr sogar hohnsprechen;

aber Offenbarung verhält sich nicht zu Philosophie wie viel und wenig, sondern wie

Himmel und Erde, oben und unten! Ich kann's Ihm nicht besser begreiflich machen,

als mit der Seekarte die Er von dem Teich hinter seines sel. Vaters Garten gemacht

hatte. Er pflegte gern auf dem Teich zu schiffen, Vetter, und hatte sich deswegen

auf seine eigne Hand eine Karte von allen Tiefen und Untiefen des Teichs gemacht,

und danach schiffte er nun herum, und 's ging recht gut. Wenn nun aber ein Wir-

belwind, oder die Königin von Otahite, oder eine Wasserhose Ihn mit seinem Kahn

und mit seiner Karte aufgenommen und mitten auf dem Ozean wieder niederge-

setzt hätte, Vetter, und Er wollte hier nun auch nach seiner Karte schiffen das ginge

nicht. Der Fehler ist nicht an der Karte, für den Teich war sie gut; aber der Teich ist

nicht der Ozean, sieht Er. Hier müsste Er sich eine andre Karte machen, die aber

freilich ziemlich in blanco bleiben würde, weil die Sandbänke hier sehr tief liegen.

Und Vetter, schifft hier nur immer grade zu; auf'n Meerwunder mögt Ihr stoßen, auf

den Grund stoßt Ihr nicht. Hieraus mögt Ihr nun selbst urteilen, wieweit die Philo-

sophie ein Besen sei die Spinnweben aus dem Tempel auszufegen. Sie kann auf ge-

wisse Weise 'n solcher Besen sein, ja; mögt sie auch einen Hasenfuß nennen, den

Staub von den heiligen Statuen damit abzukehren. Wer aber damit an den Statuen

selbst bildhauen und schnitzen will, seht, der verlangt mehr von dem Hasenfuß als

er kann, und das ist höchst lächerlich und ärgerlich anzusehen. Paulus, der vieles in

der Welt versucht hatte, der auch 'n Sadduzäer und Fort Esprit gewesen und her-

nach eines andern war belehrt worden, bei allem seinen Enthusiasmus für das neue

System, doch aber in seinem Brief an die Römer die Dialektik noch so gut treibt und

versteht als einer: dieser alte erfahrne Mann sagt, und bringt darauf seine alten Ta-

ge in viel Arbeit und Fährlichkeit zu, und lässt sich fünfmal vierzig Streiche weniger

eins darauf geben, „dass der Friede Gottes höher sei denn alle Vernunft!“ – und so

'n Gelbschnabel will räsonieren.

Dass das Christentum alle Höhen erniedrigen, alle eigne Gestalt und Schöne, nicht

wie die Tugend mäßigen und ins Gleis bringen, sondern wie die Verwesung gar da-

hinnehmen soll, auf dass ein Neues daraus werde: das will freilich der Vernunft

nicht ein; das soll es aber auch nicht, wenn's nur wahr ist. Wenn dem Abraham be-

fohlen ward aus seinem Vaterlande und von seiner Freundschaft und aus seines Va-

ters Hause auszugehen in ein Land das ihm erst gezeigt werden sollte; meinst Du

nicht, dass sich sein natürlich Gefühl dagegen gesträubt habe, und dass die Ver-

nunft allerhand gegründete Bedenklichkeiten und stattliche Zweifel dagegen hätte

vorzubringen gehabt. Abraham aber glaubte aufs Wort, und zog aus. Und es ist und

war kein anderer Weg; denn aus Haran konnte er das gelobte Land nicht sehen, und

Niebuhrs Reisebeschreibung war damals noch nicht heraus. Hätte sich Abraham mit

seiner Vernunft in Wortwechsel abgegeben; so wäre er sicherlich in seinem Vater-

lande und bei seiner Freundschaft geblieben, und hätte sich's wohl sein lassen. Das

gelobte Land hätte nichts dabei verloren, aber er wäre nicht hineingekommen. Seht,

Vetter, so ist's und so steht's in der Bibel.

Da also die heiligen Statuen durch die Vernunft nicht wiederhergestellt werden

können; so ists patriotisch, in einem hohen Sinn des Worts, die alte Form unver-

letzt zu erhalten, und sich für ein Tüttel des Gesetzes totschlagen zu lassen. Und

wenn das ein orthodoxer Herr Pastor heißt; so könnt Ihr für so einen den Hut nicht

tief genug abnehmen. Sie heißen aber noch sonst was orthodox.

Nun lebt wohl, lieber Vetter, und wünscht Frieden, lasst Euch übrigens aber den

Streit und das Feldgeschrei kein Haar nicht krümmen, und braucht die Religion

klüger als sie. – Da steht mir Potiphars Weib vor Augen! Du kennst doch die Po-

tiphar? Diese sanguinische und rheumatische Person packte den Mantel, und Jo-

seph flohe davon. Über das Point saillant, über den Geist der Religion kann nicht

gestritten werden, weil den, nach der Schrift, niemand kennt als der ihn empfähet,

und denn nicht mehr Zeit zu zweifeln und zu streiten ist. In summa Vetter, die

Wahrheit ist ein Riese der am Wege liegt und schläft; die vorübergehen, sehn seine

Riesengestalt wohl, aber ihn können sie nicht sehen, und legen den Finger ihrer Ei-

telkeit vergebens an die Nase ihrer Vernunft. Wenn er den Schleier wegtut wirst du

sein Antlitz sehen. Bis dahin muss unser Trost sein, dass er unter dem Schleier ist,

und gehe Du ehrerbietig und mit Zittern vorüber, und klügle nicht lieber Vetter etc.

VORREDE DES ÜBERSETZERS 1782

( ….. ) dies Buch sei, was es wolle; es lässt die Welt-Angelegenheiten und zeitlich

Ding unangerührt, und predigt Verleugnung eigenen Willens und Glauben an die

Wahrheit, predigt die Nichtigkeit dieser Welt, die Blöde und Brechlichkeit der sinn-

lichen und körperlichen Natur im Menschen und die Hoheit seiner verständigen

Natur oder seines Geistes, und leitet und treibt auf allen Blättern von dem Sichtba-

ren zu dem Unsichtbaren, von dem Vergänglichen zu dem Unvergänglichen! und das

ist doch nichts Böses, und wer möchte das nicht gerne befördert haben? Und so ha-

be ich dies Buch übersetzt, und wer es dazu braucht, der tut sicherlich wohl; und

wer es zu eitler und törichter Absicht braucht, der tut nicht wohl, und mag sich be-

sinnen und klug werden. Wir Menschen gehen doch wie im Dunkeln, sind doch ver-

legen in uns, und können uns nicht helfen, und die Versuche der Gelehrten, es zu

tun, sind nur brotlose Künste. Auch ist das Gefühl eigener Hilflosigkeit zu allen Zei-

ten das Wahrzeichen wirklich großer Menschen gewesen, ist überdem ein feines

Gefühl, und vielleicht der Hafen, aus dem man auslaufen muss, um die Nordwest-

passage zu entdecken. Der Mensch hat einen Geist in sich, den diese Welt nicht be-

friedigt, der die Treber der Materie, die Dorn und Disteln am Wege mit Gram und

Unwillen wiederkäut, und sich sehnet nach seiner Heimat. Auch hat er hier kein

Bleiben und muss bald davon. So lässt es sich an den fünf Fingern abzählen, was

ihm geholfen sein könne mit einer Weisheit, die bloß in der sichtbaren und materi-

ellen Natur zu Hause ist. Sie kann ihm hier auf mancherlei Weise lieb und wert

sein, nachdem sie mehr oder weniger Stückwerk ist; aber sie kann ihm nicht genü-

gen. Wie könnte sie das, da es die körperliche Natur selbst nicht kann und sie ihn

auf halbem Wege verlässt, und, wenn er weggetragen wird, auf seiner Studierstube

zurückbleibt, wie sein Globus und seine Elektrisier-Maschine? Was ihm genügen

soll, muss in ihm, seiner Natur, und unsterblich wie er sein; muss ihn, weil er hie-

nieden einhergeht, über das Wesen und den Gang dieser körperlichen Natur und

über ihre Gebrechen und Striemen weisen und trösten und ihn in dem Lande der

Verlegenheit und der Unterwerfung in Wahrheit unverlegen und herrlich machen;

und wenn er von dannen zieht, mit ihm ziehen durch Tod und Verwesung, und ihn

wie ein Freund zur Heimat begleiten. Solch eine Weisheit wird freilich in keinem

Buch gefunden, wird nicht um Geld gekauft, noch mit Halbherzigkeit zwischen Gott

und dem Mammon. Zeuch deine Schuhe aus, denn da du aufstehest, ist ein heilig

Land! Aber sie ist, das wissen wir; und wer sich des Odems in einer Nase bewusst

ist, nimmt das zu Herzen, und wenn er sie in der sichtbaren und materiellen Natur

und in einem eigenen Dünkel nicht findet, lässt er sich guten Rat warnen und sucht

sie auf einem andern Wege.

PASSE-TEMS.

ZWISCHEN MIR UND MEINEM VETTER IN DER SCHNEIDERSTUNDE (TWILIGHT)

„Ich wollte, dass der Herr Vetter bei Kasse wäre; ich brauche ‘n Gulden Geld.”

„Etwa eine neue Kanone? Oder irgend eine schöne Erzstufe fürs Kabinet???

„Nein! Ich wollte mir den Kulmus kaufen. Das von der Weisheit geht mir so im Kopf

herum und von der Selbst-Erkenntnis, die dazu führen soll. Vetter, ich will und

muss den Menschen, will und muss mich selbst erkennen lernen.”

„Und das denkst du mit dem Kulmus zu zwingen?”

„Ja, der soll's beschrieben und gekonterfeiet haben, wie der Mensch innerlich ge-

staltet ist.”

„Nun denn, da ist 'n Gulden. Nur sei fleißig, und merke wohl! wie der Zwölffinger-

Darm und die Glans pinealis etc. etc. aussehen; denn du sollst uns diesen Winter,

wenn die langen Abende kommen, ein Collegium anatomicum lesen, und unser

Praesector und Kulmus werden. Aber höre, weil du's bist, muss ich dir eins sagen:

nämlich dass der obgedachte Zwölffinger-Darm und die Glans pinealis etc. etc., ob

sie gleich tief im Abdomine und Cerebro stecken, doch eben so äußerlich sind als

deine Nase.”

„Denn gehen der Darm und die Glans mich auch nichts an.”

„Warum nicht? – Es ist doch nützlich und angenehm, das zu wissen, und wenn du

gleich kein Doktor werden willst??”

„So glaubt der Herr Vetter in Ernst nicht, dass ich beim Kulmus das Innerliche se-

hen werde?”

„Du musst's versuchen. Nur wenn du etwa der Art nichts sehen solltest, dass du mir

nicht kommst und sagest: es sei auch nichts Innerliches! Denn dazu sind mir mein

Vetter und mein Gulden zu lieb. Um dich indessen vorläufig einigermaßen zu orien-

tieren, so merke wie folget: Was du mit deinen zwei Augen sehen willst, das muss

auch mit deinen zwei Augen können gesehen werden; was aber mit deinen zwei

Augen gesehen werden kann, das ist äußerlich; und was äußerlich ist, das ist nicht

innerlich.”

„So bin ich unrecht berichtet. Da hat der Herr Vetter den Gulden wieder.”

„Nicht doch, Vetter. Seht's an! Dazu habt Ihr ja Eure zwei Augen, dass Ihr damit an-

sehet, was Ihr damit sehen könnt. Auch möget Ihr aus dem Äußerlichen des Innerli-

chen wohl wahrnehmen, und vielleicht kluge Vermutungen machen. Ich sage nur

davon, dass das Innerliche selbst nicht mit euren zwei Augen gesehen werden kann,

und dass ihr sie, was das anlangt, sicher zumachen könnet, ohne etwas zu verlie-

ren.”

„Ist der Herr Vetter 'n Freund von Schwärmerei?”

„Bist du toll?”

„Aber, wo die zwei Augen aufhören, geht da nicht die Schwärmerei an?”

„Da sei Gott für! Das wäre der Wahrheit das Terrain sehr klein zuschneiden, oder

vielmehr ihr gar keins geben; denn ihr wisst, dass es Leute gibt, die da sagen: in

dem, was vor Augen ist, sei keine Wahrheit! Nein Vetter, die Schwärmerei fängt da

weder an, noch hört sie da auf; denn wenn Löwenhoeck oder Linneus Wunder-

Tierchen und Würmer sehen, die nicht da sind; so sind sie auch Schwärmer. Nur

auf dem andern Gebiet ist die Entscheidung nicht so leicht, weil es da mit dem Au-

genzeugnis und den Augenzeugen, in deren Mund bekanntlich die Wahrheit be-

steht, mehr Schwierigkeiten hat. Auch will ich dir zugeben, dass auf diesem Gebiet

kein Mangel an Schwärmerei sei, und dass da vieles für Wahrheit ausgegeben wer-

de, was Schwärmerei ist; und das taugt nicht, Vetter, und soll nicht sein. Aber du

kannst auch glauben, dass vieles da für Schwärmerei gehalten wird, das Wahrheit

ist; und das taugt noch weniger, und ist großer Verlust, nämlich für die, so es für

Schwärmerei halten, denn die andern verlieren nichts dabei.”

„Wie weiß ich denn aber, was Wahrheit und was Schwärmerei ist?”

„Hör'! Wer dir darüber was Gescheites sagen soll, der muss klüger sein als ich bin.

Sprechen und schreiben lässt sich viel von Schwärmerei; aber du weißt, wie das

denn so mit dem Sprechen und Schreiben ist. Das Allgemeine der Sache ist nicht so

schwer; und das hab' ich dir schon gesagt, und will's dir der Deutlichkeit wegen

noch einmal an einem Exempel vorhalten. Du liesest Zeitungen, weiß ich, ohne

eben ein großer Politikus zu sein. Da wirst du denn unter andern auch von deiner

Lieblingsfestung Gibraltar gelesen haben, dass sie den vorigen Herbst sehr warm

gehalten ward; und dass sie anfing, Mut und Tapferkeit ausgenommen, an allem

Mangel zu leiden, endlich dass Lord Howe den 11. September mit einer mächtigen

Flotte von England absegelte, um dem klugen Gouverneur zu bringen, was er nicht

hatte. Du kannst denken, dass die Soldaten zu Gibraltar, als sie die letzte Tonne

Pulver und Zwieback angebrochen hatten, fleißig werden nach Westen geguckt ha-

ben, und dass ein jeder von ihnen sehr geneigt gewesen ist, eine in der Ferne kreu-

zende französische oder spanische Fregatte für das erste Schiff von Barringtons Di-

vision zu halten.

Wenn nun das der Fall gewesen wäre, oder wenn den 7. oder 8. Oktober, als Howe

noch auf der Höhe von Lissabon mit den Stürmen kämpfte, ein Soldat zu Gibraltar

sich von den Wällen die Augen blind geguckt, und sich endlich eingebildet hätte,

die hilfreiche Flotte zu sehen?”

„Der wäre ein Schwärmer gewesen.”

„Und wenn dieser Soldat seinen Kameraden alles genau und haarklein beschrieben

hätte, Vorder- und Hinter-Treffen, Flaggschiffe und Transportschiffe, Kutters und

Fregatten etc. etc. und darauf geschworen hätte, dass er das alles wirklich sehe???”

„Wäre ein Schwärmer gewesen.”

„Und wenn er so lange hinaus ins Meer gezeigt und gefingert hätte, dass er sich ei-

nen Anhang gemacht, und die nun, wie er, das alles auch gesehen hätten?”

„Wäre ein Schwärmer gewesen.”

„Und wenn er vor Überzeugung eine Rations und Portions auf drei Tage, flugs und

auf einmal verzehrt und seiner Partei das nämliche geraten hätte, weil Howe vor der

Tür sei und mehr bringe? etc.”

„Wäre ein Schwärmer gewesen.”

„Gut das! Umgekehrt: Howe ist wirklich im Anzuge, und eine Schildwache hat Au-

gen, die eine halbe Meile weiter tragen, als die Augen der übrigen Garnison, wie das

ja mit den Augen verschieden ist. Und nun soll diese Schildwache die englische

Flotte in der halben Meile weiter wirklich daherkommen sehen???”

„Der wäre kein Schwärmer.”

„Und wenn die ganze Garnison, und alle berühmte Seher unter ihnen, und alle In-

genieurs und Konstabels, und die Magazin- und Proviant-Meister, und der Regi-

ments-Feldscheer und der Bibliothekar von Gibraltar, und selbst der alte mensch-

lich gesinnte Elliot nichts sahen?

„Wäre kein Schwärmer.”

„Die Garnison bestand etwa aus vier bis sechs tausend Mann; wenn ihrer hundert

tausend gewesen wären, die alle nichts sahen???”

„Wäre kein Schwärmer.”

„Und wenn sie alle über die Schildwache gelacht und demonstriert hätten, dass sie

toll und wahnsinnig sei? etc.”

„Wäre kein Schwärmer.”

„Also: nicht der mehr sieht als die andern, sondern der sich mehr einbildet zu se-

hen, als er wirklich sieht, der ist ein Schwärmer. Und merke noch an diesem Exem-

pel, dass der Ingenieur und Feldscheer und Bibliothekar und alle die hunderttau-

send Lacher auf gewisse Weise bona fide agieren und Recht haben können: denn sie

sahen wirklich nichts, und so weit ihr Auge reichte, war keine Flotte. Der Fehler ist

nur der, dass sie auch über die halbe Meile weiter richten wollten, wo ihre Augen

nicht mehr judices competentes waren.” (…..)

BRIEF VON MATTHIAS CLAUDIUS AN SEINEN SOHN JOHANNES

An meinen Sohn Johannes. (1799.)

Gold und Silber habe ich nicht; was ich aber habe, gebe ich dir.

Lieber Johannes!

Die Zeit kommt allgemach heran, dass ich den Weg gehen muss, den man nicht

wieder kommt. Ich kann dich nicht mitnehmen, und lasse dich in einer Welt zu-

rück, wo guter Rat nicht überflüssig ist. Niemand ist weise vom Mutterleibe an; Zeit

und Erfahrung lehren hier, und fegen die Tenne. Ich habe die Welt länger gesehen,

als du. Es ist nicht alles Gold, lieber Sohn, was glänzet, und ich habe manchen Stern

vom Himmel fallen und manchen Stab, auf den man sich verließ, brechen sehen.

Darum will ich dir einigen Rat geben, und dir sagen, was ich funden habe, und was

die Zeit mich gelehret hat. Es ist nichts groß, was nicht gut ist; und ist nichts wahr,

was nicht bestehet.

Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht hier nicht von ungefähr in dem

schlechten Rock umher. Denn siehe nur, alle andre Dinge hier, mit und neben ihm,

sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der Mensch ist sich bewusst, und wie ei-

ne hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorüber gehen. Alle Dinge mit und

neben ihm gehen dahin, einer fremden Willkür und Macht unterworfen; er ist sich

selbst anvertraut, und trägt sein Leben in seiner Hand. Und es ist nicht für ihn

gleichgültig, ob er rechts oder links gehe. Lass dir nicht weiß machen, dass er sich

raten könne und selbst seinen Weg wisse. Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die

unsichtbare siehet er nicht und kennet sie nicht. Spare dir denn vergebliche Mühe,

und tue dir kein Leid, und besinne dich dein. Halte dich zu gut, Böses zu tun. Hänge

dein Herz an kein vergänglich Ding. Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber

Sohn, sondern wir müssen uns nach ihr richten. Was du sehen kannst, das siehe,

und brauche deine Augen, und über das Unsichtbare und Ewige halte dich an Gottes

Wort. Bleibe der Religion deiner Väter getreu, und hasse die theologischen Kannen-

gießer.

Scheue niemand so viel, als dich selbst. Inwendig in uns wohnet der Richter, der

nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist, als an dem Beifall der gan-

zen Welt und der Weisheit der Griechen und Ägypter. Nimm es dir vor, Sohn, nicht

wider seine Stimme zu tun; und was du sinnest und vorhast, schlage zuvor an deine

Stirne und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein un-

schuldiges Kind; doch, wenn du seine Unschuld ehrst, löset er gemach seine Zunge

und wird dir vernehmlicher sprechen. Lerne gerne von andern, und wo von Weis-

heit, Menschenglück, Licht, Freiheit, Tugend etc. geredet wird, da höre fleißig zu.

Doch traue nicht flugs und allerdings, denn die Wolken haben nicht alle Wasser,

und es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, dass sie die Sache hätten, wenn sie

davon reden können und davon reden. Das ist aber nicht, Sohn. Man hat darum die

Sache nicht, dass man davon reden kann und davon redet. Worte sind nur Worte,

und wo sie so gar leicht und behende dahin fahren, da sei auf deiner Hut, denn die

Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen langsameren Schrittes.

Erwarte nichts vom Treiben und den Treibern; und wo Geräusch auf der Gasse ist,

da gehe fürbass. Wenn dich jemand will Weisheit lehren, so siehe in sein Angesicht.

Dünket er sich noch, und sei er noch so gelehrt und noch so berühmt, lass ihn und

gehe seiner Kundschaft müßig. Was einer nicht hat, das kann er auch nicht geben.

Und der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondern der ist frei, der

da wollen kann, was er tun soll. Und der ist nicht weise, der sich dünket, dass er

wisse; sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die

Sache des Dünkels genesen ist. Was im Hirn ist, das ist im Hirn, und Existenz ist die

erste aller Eigenschaften.

Wenn es dir um Weisheit zu tun ist, so suche sie und nicht das deine, und brich

deinen Willen, und erwarte geduldig die Folgen. Denke oft an heilige Dinge, und sei

gewiss, dass es nicht ohne Vorteil für dich abgehe und der Sauerteig den ganzen

Teig durchsäuere. Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint, und du

weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könne. Es ist leicht

zu verachten, Sohn, und verstehen ist viel besser. Lehre nicht andre, bis du selbst

gelehrt bist. Nimm dich der Wahrheit an, wenn du kannst, und lass dich gerne ih-

retwegen hassen; doch wisse, dass deine Sache nicht die Sache der Wahrheit ist,

und hüte, dass sie nicht in einander fließen, sonst hast du deinen Lohn dahin. Tue

das Gute vor dich hin, und bekümmre dich nicht, was daraus werden wird. Wolle

nur einerlei, und das wolle von Herzen. Sorge für deinen Leib, doch nicht so, als

wenn er deine Seele wäre. Gehorche der Obrigkeit, und lass die andern über sie

streiten. Sei rechtschaffen gegen jedermann, doch vertraue dich schwerlich.

Mische dich nicht in fremde Dinge, aber die deinigen tue mit Fleiß. Schmeichle

niemand, und lass dir nicht schmeicheln. Ehre einen jeden nach seinem Stande,

und lass ihn sich schämen, wenn er's nicht verdient. Werde niemand nichts schul-

dig; doch sei zuvorkommend, als ob sie alle deine Gläubiger wären. Wolle nicht

immer großmütig sein, aber gerecht sei immer. Mache niemand graue Haare, doch

wenn du Recht tust, hast du um die Haare nicht zu sorgen. Misstraue der Gestikula-

tion, und gebärde dich schlecht und recht. Hilf und gib gerne, wenn du hast, und

dünke dir darum nicht mehr, und wenn du nicht hast, so habe den Trunk kalten

Wassers zur Hand, und dünke dir darum nicht weniger. Tue keinem Mädchen Lei-

des, und denke, dass deine Mutter auch ein Mädchen gewesen ist. Sage nicht alles,

was du weißt, aber wisse immer, was du sagest. Hänge dich an keinen Großen. Sitze

nicht, wo die Spötter sitzen, denn sie sind die elendesten unter allen Kreaturen.

Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen achte, und gehe ihnen nach.

Ein Mensch, der wahre Gottesfurcht im Herzen hat, ist wie die Sonne, die da schei-

net und wärmt, wenn sie auch nicht redet. Tue was des Lohnes wert ist, und begeh-

re keinen. Wenn du Not hast, so klage sie dir und keinem andern. Habe immer et-

was Gutes im Sinn.

Wenn ich gestorben bin, so drücke mir die Augen zu, und beweine mich nicht. Ste-

he deiner Mutter bei, und ehre sie, so lange sie lebt, und begrabe sie neben mir.

Und sinne täglich nach über Tod und Leben, ob du es finden möchtest, und habe

einen freudigen Mut; und gehe nicht aus der Welt, ohne deine Liebe und Ehrfurcht

für den Stifter des Christentums durch irgend etwas öffentlich bezeuget zu haben.

Dein treuer Vater.

EINE PARABEL

Es war eine Zeit, wo die Menschen sich mit dem, was die Natur brachte, behelfen,

und von Eicheln und andrer harter und schlechter Kost leben mussten. Da kam ein

Mann, mit Namen Osiris, von Ferne her, und sprach zu ihnen: Es gibt eine bessere

Kost für den Menschen, und eine Kunst, sie immer reichlich zu schaffen; und ich

komme, euch das Geheimnis zu lehren. Und er lehrte sie das Geheimnis, und rich-

tete einen Acker vor ihren Augen zu, und sagte: „Seht, das müsst ihr tun! Und das

Übrige tun die Einflüsse des Himmels!” Die Saat ging auf, und wuchs, und brachte

Frucht, und die Menschen waren des sehr verwundert und erfreuet, und baueten

den Acker fleißig und mit großem Nutzen.

In der Folge fanden einige von ihnen den Bau zu simpel, und sie mochten die Be-

schwerlichkeiten der freien Luft und Jahrzeiten nicht ertragen. Kommt, sprachen

sie, lasst uns den Acker regelrecht und nach der Kunst mit Wand und Mauern ein-

fassen, und ein Gewölbe darüber machen, und denn da drunter mit Anstand und

mit aller Bequemlichkeit den Ackerbau treiben; die Einflüsse des Himmels werden

so nötig nicht sein, und überdem sieht sie kein Mensch. Aber, sagten andere: Osiris

ließ den Himmel offen, und sagte: „das müsst ihr tun! Und das Übrige tun die Ein-

flüsse des Himmels!” Das tat er nur, antworteten sie, den Ackerbau in Gang zu brin-

gen; auch kann man noch den Himmel an dem Gewölbe malen.

Sie fassten darauf ihren Acker regelrecht und nach der Kunst mit Wand und Mauern

ein, machten ein Gewölbe darüber, und malten den Himmel daran. – Und die Saat

wollte nicht wachsen! Und sie baueten, und pflügten, und düngten, und ackerten

hin und her – Und die Saat wollte nicht wachsen! Und sie ackerten hin und her.

Und viele von denen, die umher standen und ihnen zusahen, spotteten über sie!

Und am Ende auch über den Osiris und sein Geheimnis.

PRÄNUMERATIONS-ANZEIGE

( ….. ) Der Mensch lebet nicht vom Brot allein, das die Gelehrten einbrocken; son-

dern ihn hungert noch nach etwas Andern und Bessern, nach einem Wort, das

durch den Mund Gottes gehet. Und dieses Andre und Bessere, dies Wort, das uns

auf der Zunge schwebt, und wir alle suchen, ein jeder auf seine Art, finde ich zu

meiner großen Freude im Christentum, wie es die Apostel und unsere Väter gelehrt

haben. – Sollte ich damit zurückhalten und hehlen, weil es hie und da nicht die öf-

fentliche Meinung ist, und berühmte und unberühmte Leute es besser wissen wol-

len, und darüber spotten? Was kümmert mich berühmt und unberühmt, wo von

ernsthaften Dingen die Rede ist? Und was gehen Meinungen mich an, in Dingen,

die nicht Meinung sind, sondern Sache; frägt man auch den Nachbar, ob die Sonne

scheint? Und die berühmten Leute, die sich klug dünken, wissen zwar manches

besser; aber es könnte doch sein, dass sie nicht wüssten, was sie am Christentum

haben, und wie gut und klug sie, und alle Menschen, daraus werden könnten, wenn

der Schlösser so viel nutzte als das Schloss.

Es stehet nur wenigen an, dies große Thema zu dozieren; aber auf eine Art, und in

allen Treuen aufmerksam darauf zu machen; durch Ernst und Scherz, durch gut und

schlecht, schwach und stark und auf allerlei Weise, an das Bessere und Unsichtbare

zu erinnern; mit gutem Exempel vorzugehen, und taliter qualiter durch's factum zu

zeigen, dass man – nicht ganz und gar ein Ignorant, nicht ohne allen Menschenver-

stand – und ein rechtgläubiger Christ sein könne … das steht einem ehrlichen und

bescheidnen Mann wohl an. Und das ist am Ende das Gewerbe, das ich als Bote den

Menschen zu bestellen habe, und damit ich bisher treuherzig herumgehe, und al-

lenthalben an Tür und Fenstern anklopfe. Ich werde auch im siebenten Teil das

nämliche Gewerbe treiben, und fortfahren, meine ungeheuchelte und unbegrenzte

Achtung für das alte apostolische Christentum zu bezeugen und an den Tag zu le-

gen. Und, wahrlich, ich müsste nicht glauben, was ich glaube, und nicht wissen, was

ich weiß, wenn ich das nicht tun sollte, sonderlich zu einer Zeit, wo der apostoli-

sche Christus, an mehr als einem Ort, den Menschen aus den Augen gerückt, und

ein andrer untergeschoben wird, aus dem man nicht klug werden kann, und der

freilich keine Wunder tut und nichts ist; denn sie können ihn ja nicht mehr ma-

chen als sie sind, wenn sie ihn nach ihrer Vernunft modeln, und nicht lassen wol-

len, was er ist, und wie er uns von Gott gegeben worden. (…..)

VORREDE ZU DER ÜBERSETZUNG VON FENELONS WERKEN RELIGIÖSEN INHALTS

Der Mensch ist für eine freie Existenz gemacht, und sein innerstes Wesen sehnt

sich nach dem Vollkommnen, Ewigen und Unendlichen, als seinem Ursprung und

Ziel. Er ist hier aber an das Unvollkommne gebunden, an Zeit und Ort; und wird

dadurch gehindert und gehalten, und von dem väterlichen Boden getrennt. Und da-

rum hat er hier keine Ruhe, wendet und mühet sich hin und her, sinnet und sorgt,

und ist in beständiger Bewegung zu suchen und zu haben, was ihm fehlt und ihm in

dunkler Ahndung vorschwebt. Da er sich aber nicht anders, als in und mit seinem

Hindernis bewegen kann; so ist sein Mühen umsonst und vergebens, was er auch

tue und welchen Fleiß er auch anwende. Er kann, rundum in seinem Zirkel, Entde-

ckungen machen, viel und mancherlei finden, Schönes und Nützliches, Scharfsinni-

ges und Tiefsinniges; aber zu dem Vollkommnen kann er, sich selbst gelassen, nicht

kommen; denn er bringt, wie gesagt, gerade was ihm im Wege ist und hindert in

alles mit, was er beginnet und tut, und kann nicht über sich selbst hinaus. Soll er zu

seinem Ziel kommen; so muss für ihn ein Weg einer andern Art sein, wo das Alte

vergeht und alles neu wird, wo das Hindernis, das ihm im Wege ist und hindert und

das er selbst nicht abtun kann, durch eine fremde Hand abgetan; und er, nicht so

wohl belehrt, als verwandelt und über sich und diese Welt gehoben und so der voll-

kommnen Natur teilhaftig wird. Und diesen Weg, der das Geheimnis des Christen-

tums ist, lästern und verbessern die Menschen, und wollen lieber auf ihrem Bauch

kriechen und Staub essen.

Es ist aber darum nicht weniger groß und heilig, und darum nicht weniger wert,

dass wer sich des Odems in seiner Nasen bewusst ist alles für nichts achte und Va-

ter und Mutter verlasse, um hineinzuschauen und sein teilhaftig zu werden. Wenn

nun gleich hier mit „Weisheit“ und „Kunst“ nichts ausgerichtet ist, und die Gabe

Gottes nicht um Geld und um keine zeitliche Gesinnung verkauft wird, und der

Mensch nichts nehmen kann, es werde ihm denn vom Himmel gegeben; so kann er

sich doch, durch eine gewisse fortgesetzte Behandlung und Richtung seiner selbst,

empfänglicher machen, und der fremden Hand den Weg bereiten.

Von diesem Wegbereiten und Empfänglichmachen etc. handelt der Erzbischof

Fenelon in den hier übersetzten Werken, und teilt darin, nicht als ein Klügling und

Urteiler des Weges und als Menschen zu gefallen, sondern als einer, der die Sache

versucht hat und dem an seiner und anderer Menschen Seligkeit gelegen ist, seine

Erfahrungen und seinen Rat einfältig und unbefangen mit. Und es kann nicht feh-

len, ob er wohl eigentlich für die Christen seiner Konfession geschrieben hat und

die der andern, in einigen Punkten, verschiedener Meinung sind, dass nicht alle,

denen ein Kampf verordnet ist und die eine Hoffnung und einen Jesum Christum

haben, ihn gern und mit Nutzen lesen werden. Und vielleicht werden selbst von

den Nicht-Christen und Un-Christen, einige durch die Milde und den Ernst dieses

liebenswürdigen Schriftstellers veranlasst, ihren Weg noch einmal in Überlegung zu

nehmen, so sehr sie auch glauben, desselben gewiss zu sein.

Die Geschichte des griechischen Jünglings ist bekannt: der kam, auch seines Weges

und seines Glücks gewiss, das Haar nach dem Sinn der Zeit mit Rosen bekränzt in

den Hörsaal eines Weisen, der von dem unsterblichen Geist, der im Menschen ist,

und von seinem wahren Glück redete. Und als er ihm eine Zeitlang zugehöret hatte,

riss er heimlich und verstohlen eine Rose nach der andern herunter, und warf sie

an die Erde.

VALET AN MEINE LESER

Und somit will ich Feierabend machen, und von meinen Lesern Abschied nehmen,

und zu guter Letzt noch einmal Hand geben. Ich entschuldige mich über meine

Werke bei ihnen nicht. Ich bin kein Gelehrter, und habe mich nie für etwas ausge-

geben. Und ich habe, als einfältiger Bote, nichts Großes bringen wollen, sondern

nur etwas Kleines, das den Gelehrten zu wenig und zu geringe ist. Das aber habe ich

nach meinem besten Gewissen gebracht; und ich sage in allen Treuen, dass ich

nichts Bessers bringen konnte. Das Meiste ist Einfassung und Spielwerk, das als ein

Blumen-Kranz um meinen „Becher kalten Wassers” gewunden ist, dass er desto

freundlicher ins Auge falle. In diesem siebenten und letzten Teile habe ich des

Ernstes etwas mehr getan, und die Fahne etwas höher aufgezogen, dass man am

Ende sehe, von welcher Seite die Luft geht. Sollte ich nun damit unter den Herren

Gelehrten und Wortführern wieder böse Leute gemacht haben, so wäre mir das leid.

Aber ich konnte mich doch ihretwegen nicht genieren. Ich musste tun, was recht

ist, und was ich gleich in der Dedication vor dem ersten Teile dem bewussten

Freund versprochen habe; er soll nun bald kommen, und ich darf es mit ihm nicht

verderben. Am Ende wird ja was wahr und nützlich ist, auch wohl wahr und nütz-

lich bleiben, wenn es von den Gelehrten auch nicht gelobt wird.

Man ist nur einmal in der Welt, und ist nicht darin, ihr nach dem Sinne zu reden,

und Heckerlinge zu schneiden. Es schafft nicht, dass der Mensch mit niedergeschla-

genen Augen sitze, und sich räuspere und seufze; er soll die Augen frei aufschlagen

und frisch und fröhlich um sich sehen. Aber man kleinmeistert und lacht sich nicht

durch die Welt, und die sind übel berichtet, die da glauben und lehren, dass die

Menschen hier nichts anderes zu tun hätten, und dass sie hier so recht à leur aise

wären. Sehe doch einer nur an, wie sie in die Welt hereinkommen und wie sie wie-

der hinausgehen, wes Standes und Ehren sie sind! – Wer dazu lachen und sich das

aus dem Sinne schlagen, oder sich darüber mit den Kategorien etc. trösten kann, der

mag ein Philosoph sein; aber ein vernünftiger Mensch ist er nicht. Und auch zwi-

schen dem Herein und Hinaus, selbst wenn es am besten geht, was ist denn der

Mensch, und was hat er? – Er hat Himmel und Erde, Meer und Land, Berg und Tal,

Sonne und Mond etc. und die sind groß und herrlich; aber, recht beim Licht bese-

hen, ist alles, was man sieht, doch nur äußere Rinde und Kruste, schöne Kisten und

Kasten mit Kleinodien, zwischen denen der Mensch herumgeht wie ein Knecht, vor

dem der Herr sie verschlossen hat. Er fühlt wohl, dass es anders sein könnte; denn

was sind seine kühnen Vermutungen und seine Träume über den inwendigen Zu-

sammenhang und die verborgenen Triebfedern der Natur anders, als Zeichen und

Beweise seines Anrechts an ihre Erkenntnis? – Aber ein Anrecht ist sequestriert,

und er geht, neben dem Born des Lichts, hungrig und durstig nach Erkenntnis, und

muss es sich kalt und warm um die Nase wehen lassen, und mit allen Elementen

kämpfen, bis sie ihn wieder verschlungen haben. – Man tröstet sich mit der innerli-

chen Größe des Menschen, und gloriert über das Hohe und Göttliche seines Ver-

standes und seiner Vernunft. Ja wohl, ist der Mensch groß und göttlich; aber grade

hier ist es, wo einem das Glorieren vergeht und die Tränen in die Augen treten,

wenn man sieht und gewahr wird, dass das Große und Göttliche wider seine Natur

in uns gehemmt ist; und es sollte walten. Der Weg, den der Mensch in dem, was

Künste und Wissenschaften heißt, dazu einschlägt, ist lobenswert und edel; aber sie

sind höchstens, wofür sie auch in alten Zeiten nur gegolten haben, ein Weg und

nicht das Ziel; und wer sie für das Ziel nimmt und darin hängen bleibt, der verkauft

seine Erstgeburt um ein Linsengericht, der sattelt in der Wüste ab, um das Pferd zu

bewundern und bewundern zu lassen, mit dem er weiter und ins gelobte Land rei-

ten sollte, wo der Almosenpfleger wohnt. – Die Reinigung kann ja nicht in dem Ge-

brauche des Ungereinigten bestehen, und wenn der Eimer von eigner Weisheit voll

ist, kann ja keine andre hinein. Und darum muss, wenn was Gescheites werden

soll, alle eigne Weisheit und aller Selbstdünkel zu Kreuze kriechen und der sokrati-

schen Unwissenheit Platz machen.

Nur in der Niedre sammelt sich das Wasser, und dem Almosen gebührt ein Mann in

Lumpen, wie auch Ulysses erfahren hat; denn nicht als Held und Feldherr, sondern

in Bettlers Gestalt fand er seine Penelope wieder. So ist das Denken und die Denk-

kraft ja auch nur die Hälfte des Menschen, und noch dazu die unrechte Hälfte, mit

ihr die Veränderung und Besserung des Ganzen anzufangen, weil sie an und in sich

selbst fest steht. So wenig es von mir abhängt, Schwarz als Schwarz zu sehen, eben

so wenig hängt es von mir ab, den pythagorischen Lehrsatz z. E. wahr oder nicht

wahr zu finden. Aber der Wille, der kann wollen und sich ändern und so auf die

Denkkraft influieren. Und wer wie Gott wollen kann, der wird auch wie Gott den-

ken lernen, er sei gelehrt oder ungelehrt, ein Polyhistor oder ein Schuster. Also auf

eine gewisse Gestalt des inwendigen Menschen kommt es an, auf eine gewisse in-

nerliche Denkart, Fassung, Haltung etc., die man sich vorsetzen und darnach man

streben muss. Und da ist es, dünkt mich, von allem Übrigen abgesehen und wes

Glaubens man sonst auch sei, ein vernünftiger Rat: dass man sich eine Gestalt vor-

setze, die Stand hält und die man unter allen Umständen fest halten kann. Was vo-

rübergeht, ist ohne Zweifel nicht so gut, als was währt; und es schickt sich für den

Menschen nicht, andern und andern Sinnes zu werden, und wie ein Chamäleon die

Farbe zu ändern, je nachdem die Lichtstrahlen auf ihn fallen. Aber über eine Ge-

stalt, die Stand halte, und sich unter allen Umständen fest halten lasse, sind die

Meinungen sehr verschieden, und ein jeder denkt sie sich auf seine Art; der Welt-

biedermann so, und der Gymnosophist anders; und a priori und ohne Erfahrung hat

wohl noch niemals ein Mensch die rechte getroffen. Man stimmt immer zu hoch

oder zu tief, und muss denn, wenn die Erfahrung eintritt, umstimmen, und das gibt

viel Sorge und Mühe. Doch es ist ein köstlich Ding, dass das Herz, oder diese Ge-

stalt, fest sei; und man kann sich um eine solche nicht zuviel Mühe geben. Die Le-

ser werden aber finden, dass sie desto unfester ist, je mehr Sinnlichkeit in ihr ob-

waltet, und dass man sich also sauer werden lassen und manches versagen und aus

dem Sinne schlagen muss, um sie nach und nach davon zu säubern und fest zu ma-

chen. Diese Welt und die Dinge, die darin sind und zu ihr gehören, liegen uns nahe,

und die Natur hängt sich gerne an und sammelt sie; aber sie sind nur ein luftig We-

sen und ein trüglicher Schatz. Auch das Zeitliche und Sichtbare an uns selbst hat

nicht Bestand und Wert, ist nur ein brechlicher Verschlag, und inwendig wohnen

wir.

Was unsichtbar und geistig ist, das nur ist fest und ewig. Und der Art sind auch die

rechten Schätze, die der Rost nicht frisst, und die jene Gestalt unbeweglich und

feuerfest machen. Und die sammelt der Glaube. Aber Glaube ist in der gelehrten

Welt ein unbekannt Ding. Er existiert nicht in abstracto, und wo er in die Hand ge-

nommen wird, um besehen zu werden, da gebiert er nichts als Hader und Zank; wo

er aber in einem natürlichen Acker, in einem Menschen-Herzen, wohnet und wur-

zelt, da zeigt er wohl, was er ist und was er kann, und wie er hier dem Menschen

conveniere. Sehen wir's doch im Kleinen und in Dingen dieser Welt, wie ein

Mensch, der Glauben und Vertrauen zu sich und seiner Sache hat, mit Vollherzig-

keit und Sicherheit fährt, wie ihm alles von der Hand geht, und es mit ihm, gegen

den dürren, hagern, unschlüssigen Klügler, gar ein ander Leben und Wesen ist. Was

wird es denn sein mit einem, der ewigen unvergänglichen Dingen vertraut, der an

einen allgegenwärtigen souveränen Tröster, einen Stiller alles Haders, glaubt, und

eines neuen Himmels und einer neuen Erde wartet? – Der wird, auf dieser Erde,

den Fuß in Ungewittern und das Haupt in Sonnenstrahlen haben, wird hier unver-

legen und immer größer sein als was ihm begegnet, der hat immer genug, vergibt

und vergisst, liebt seine Feinde und segnet, die ihm fluchen; denn er trägt in die-

sem Glauben die bessre Welt, die ihn über alles tröstet, und wo solche Gesinnungen

gelten, verborgen in seinem Herzen, bis die rechten Schätze zum Vorschein kom-

men. – Wir sind nicht umsonst in diese Welt gesetzt; wir sollen hier reif für eine

andre werden, und man kann unsern Körper als ein Gradierhaus ansehen, wo das

wilde Wasser von dem guten geschieden werden soll. Es ist nur einer, der dazu hel-

fen kann, und dem sei Ehre in Ewigkeit. Gehabt euch wohl.