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Medienpreis Bildungs- journalismus Die Preisträger 2019

Medienpreis B i l d u n g s - j ournalismus · 2019. 10. 23. · Auf dem Weg zum Einkaufen trifft die Autorin die Mutter von Nike, einem Mädchen mit Down-Syndrom, das bis vor kurzem

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Medienpreis Bildungs- journalismus

Die Preisträger

2019

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2 Inhalt

KATEGORIE

TEXT06 1.Preis:MartinSpiewak

07 2.Preis:PaulMunzinger

08 3.Preis:TahirChaudhry

KATEGORIE

AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA10 1.Preis:HannaMöllers

11 2.Preis:ArminHimmelrath

12 3.Preis:UrsulaVoßhenrich

03 Vorwort

04 DieJury

DOKUMENTATION

DIE BEITRÄGE IM ORIGINAL18 MartinSpiewak:Werschafftesnachoben?

24 PaulMunzinger:EineKlassefürsich

30 TahirChaudhry:Hauptschüler

40 Marie-CharlotteMaas:Knast-Elite

44 FilmeundHörstücke

46 DerMedienpreis47 DeutscheTelekomStiftung/Kontakt

KATEGORIE

KURZBEITRAG14 Preisträgerin:Marie-CharlotteMaas

KATEGORIE

NACHWUCHS16 Preisträgerin:SabineFischer

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GuteJournalistenmüssennichtnurhervorragendformulierenkönnen,siebenötigendarüberhinausauchandereKompetenzen:KritischesDenkenundUrteilskraftgehörendazu,außerdemKreativität.UndsicherauchResilienz,dennRecherchenkönnenmühsamsein,undnichtjedeführtamEndezurExklusiv-Story,dieeinenMissstandaufdeckt,oderzurpreisgekröntenReportage.

AlsDeutscheTelekomStiftungsindwirüberzeugtdavon,dassdiegenanntenüberfachlichenFähigkeitenundEigenschaftenkünftignichtnurfürJournalisten,sondernfüralleMenschenwichtigseinwerden.UminunsererdigitalisiertenWelteineguteArbeitzubekommen.UmamgesellschaftlichenLebenteilhabenundesmitgestaltenzukönnen.Deshalbwerdenwirunsabsofortnochstärkerdafürengagieren,dassschonKinderundJugendlichesieerwerben.

DievierFrauenundvierMänner,diewirindiesemJahrmitdemMedienpreisBildungsjournalismusauszeichnen,habenindieserHinsichtkeinenNachholbedarf,dasistsicher.IhreherausragendenBeiträge,mitdenensiesichgegenüber100andereBewerberdurch-gesetzthaben,stellenwirIhnenindieserPublikationvor.AllenPreis-trägern2019giltmeinherzlicherGlückwunsch.

IhrThomasdeMaizière

Vorwort

Dr. Thomas de Maizière

VorsitzenderDeutscheTelekomStiftung

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4 Die Jury

Hans Werner Kilz (Vorsitz)

ehem.ChefredakteurSüddeutscheZeitungundDERSPIEGEL

Dr. Mai Thi Nguyen-Kim

Chemikerin,Wissenschaftsjournalistin(„Quarks“)undYouTuberin(maiLab)

Prof. Dr. Andrea Platte

TechnischeHochschuleKöln,ProdekaninderFakultätfürAngewandteSozialwissenschaften

Prof. Dipl.-Chem. Holger Wormer

TechnischeUniversitätDortmund,InstitutfürJournalistik

Dr. Jan-Martin Wiarda

freierBildungs-undWissenschaftsjournalist(u.a.Tagesspiegel,DIEZEIT,SüddeutscheZeitung),Blogger,AutorundModerator

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TEXTMartin SpiewakPaul MunzingerTahir Chaudhry

Preisträger

KATEGORIE

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EinerseitsgiltdieBundesrepublikalseinesderIndustrieländer,indenenKindernausunterenSchichtendersozialeAufstiegbesondersschwerfällt.AndererseitsschaffenimmermehrSchülerdenSprungaufsGymnasium,unddieStudierendenquotesteigtseitJahren.WieistdieserWiderspruchzuerklären?HabendieverschiedenenAnstrengungenfürmehrBildungsgerechtigkeitvielleichtdochgefruchtet?UndwasistBildungsgerechtigkeitüberhaupt?DiesenFragengehtderAutorineinemEssaynach.SeinAusgangspunktistdersogenannte„Bildungs-trichter“,eineStudie,dieregelmäßigdieBildungsbeteiligungsquotenberechnetundmitihrenoffenbareindeutigenZahlenbesondersgutdarstellt,wieErfolgschancenvomElternhausabhängen.DerAutorerhältdieMöglichkeit,dieRohdatendesneuenBildungstrichtersexklusivvorabzusichten,undnutztdieZeitbiszurVeröffentlichungfürumfang-reicheRecherchen:ErliestwissenschaftlicheStudien,durchforstetStatistiken,sprichtmitBildungsforschernundSoziologen.DabeiergibtsicheinweitausfacettenreicheresBildalszunächstangenommen.

Martin Spiewak

Wer schafft es nach oben?Erschienen in DIE ZEIT am 9. Mai 2018

KATEGORIE TEXT | 1. Preis

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DieJurysagt:

Martin Spiewak gelingt es, kom-plexe Erkenntnisse der Bildungs-forschung anschaulich und leser - nah aufzubereiten, ohne zu triviali-sieren. Dabei verzichtet er bewusst auf den Einsatz von Protagonisten, drückt auch nicht auf die Tränen-drüse. Stattdessen setzt er ganz auf seine analytischen Fähigkeiten und auf starke Sprachbilder. Hochrele-vant. Brandaktuell. Preiswürdig!

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IneinerZeit,daSchuleneigentlichdasgemeinsameLernenallerKinderanstreben,entscheidetsicheinGymnasiuminUnterhachingbeiMünchenfüreinenanderenWeg.ZumSchuljahresbeginn2018/2019führteseineHochbegabtenklasseein.VierMädchenundzwölfJungenerhaltenhierabsofortbesondereFörderung.DasBudgetistgrößeralsindenanderenKlassen,dieZahlderSchülerdeutlichgeringer.Istdasgerecht?,fragtsichderAutor,alserzumerstenMalvonderneuenKlassehört.SchließlichprägenheuteBegriffewieChancen-gleichheit,InklusionundIntegrationdiebildungspolitischeDebatte.ZudemwarBegabtenförderungmaleinWort,dasmanbessernichtzulautaussprachinDeutschland.FürseineGeschichteüberdie5fdesLise-Meitner-GymnasiumsbegleitetPaulMunzingerzweiSchülerundihreFamilienübereinenlängerenZeitraum.MehrmalsisterzuGastimUnterricht,besuchteineInformationsveranstaltungfürinteressierteEltern,sprichtmitExperten,Lehrern,derSchulpsychologin.UndnähertsichsodemThemaBildungsgerechtigkeitvomanderenEndedesSpek-trumsan.SeineSeite-Drei-ReportagegerätzumPorträteinerganzbesonderenKlasse,erzähltamBeispielzweierKinder.

Paul Munzinger

Eine Klasse für sichErschienen in der Süddeutschen Zeitung am 25. Februar 2019

KATEGORIE TEXT | 2. PreisDieJurysagt:

Paul Munzinger beherrscht das journalistische Handwerkszeug aus dem Effeff. Seine Reportage ist stilistisch hochklassig, über-zeugend erzählt und zieht den Leser von der ersten Zeile an in ihren Bann. Mit der Wahl seiner Protagonisten beweist der Autor zudem, dass Begabtenförderung ein Thema für alle gesellschaft-lichen Schichten ist.“

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EswirdvielberichtetüberdieMängelunseresBildungssystems,überBildungsverliererundüberSchulformen,diesozialeUngleichheitverstärken.Dochdiewenigsten,diesichjournalistischdamitbefassen,habenesameigenenLeiberfahren.TahirChaudhry,freierReporterbeiderSüddeutschenZeitungundehemaligerHauptschüler,weiß,worübererschreibt.FürdieWochenendausgabederSZreisterinseineVergangenheitundbesuchtseinealteSchuleinSchleswig-Holstein.ErberichtetübereigeneErfahrungen,undermachtsich13JahrenachdemAbschlussaufdieSuchenachseinendamaligenMitschülern.ÜberFacebookspürtersieauf.Fünfsindbereit,ihreGeschichtenmitihmzuteilen,MaximilianundChristoph,Sandra,JulianundRoberto.EssindGeschichtenvonGlückundUnglück,vonKarrierenundSackgassen,vomÜberlebenundauchvomSterben.Wassieallemiteinandergemeinhaben?SieerzählendieGeschichtevomScheiternderSchulformHaupt-schule.SinnbildlichdafürstehtdieÜberschriftaufderTitelseitedesAbschlussheftesvondamals.ÜberdemGruppenfotoderSchülerprangtingroßenLettern:„Arbeitsamtwirkommen!!!“

DieJurysagt:

KATEGORIE TEXT | 3. Preis

Tahir Chaudhry wählt für seinen Hauptschul-Abgesang den an- schaulichen Zugang über Por- träts. Dabei kommt er seinen Pro-tagonisten sehr nah, beschönigt nichts, führt aber auch niemanden vor. Gleichzeitig gelingt es ihm, seine eigene Geschichte unspekta-kulär und ohne Betroffenheit einzu-weben. Ein starker Text, der durch-gängig mit offenen Karten spielt.

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Tahir Chaudhry

HauptschülerErschienen in der Süddeutschen Zeitung am 27./28. Oktober 2018

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AUDIO/VIDEO/ MULTIMEDIA

Hanna MöllersArmin HimmelrathUrsula Voßhenrich

Preisträger

KATEGORIE

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AufdemWegzumEinkaufentrifftdieAutorindieMuttervonNike,einemMädchenmitDown-Syndrom,dasbisvorkurzemdieselbeGrundschul-klassebesuchtewieihrSohn.DieMuttererzähltihr,dassNikeeinsamgewesenunddeshalbaneineprivateFörderschulegewechseltsei.WenndasgemeinsameLernenvonbehindertenundnichtbehindertenKindernschonineinerkleinen,kuscheligenGrundschuleschiefläuft,fragtsichdieAutorin,wieverhältessichdannerstimGroßen?SiebeginntfüreinenFilmzurecherchierenundlerntAmeliekennen.Die14-JährigegehttrotzihresDown-SyndromsaufeineGesamtschuleundfühltsichdortsehrwohl.Eskannalsogelingen.AberunterwelchenBedingungen?UndwaspassiertmitdenInklusionskindern,wennsiedieSchuleverlassen?IhrzweiterProtagonist,dergeistigbehinderteLukas(18),träumtdavon,alsLokführerbeiderBahnzuarbeiten.DochseineChancen,denTraumzurealisieren,sindgering.HannaMöllers’Filmzeigtanschaulich,dassInklusioneinlangerProzessist,derzehnJahrenachDeutschlandsRatifikationderUN-Behindertenrechtskonventionscheinbargeradeerstbegonnenhat.

DieJurysagt:

KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 1. Preis

Hanna Möllers’ packend erzählter und wunderschön fotografierter Film beleuchtet das Thema Inklu-sion außergewöhnlich vorurteils-frei und realistisch. Dabei hält die Autorin der Gesellschaft ein ums andere Mal den Spiegel vor. Berührend, auf welch einfühl-same Weise sie sich ihren Prota-gonisten nähert. In jeder Hinsicht sehenswert!

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Hanna Möllers

Das Märchen von der Inklusion – eine Bilanz nach 10 Jahren

Produziert von Radio Bremen, gesendet in Das Erste am 21. Januar 2019

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AlsArminHimmelrathdenAuftragfüreineSendungzumThemaSchul-wechselerhält,erinnertersichaneinBuchdesSoziologenHeinzBude.Darinbeschreibtdiesereindrücklich,wiedieVision,ja,BesessenheitvonderbestenBildungfürihreKindervieleElternantreibt.Himmel-rathwilldasPhänomen,dasBudemitdemBegriff„Bildungspanik“umschreibt,besserverstehen.ErstürztsichindieRechercheundsprichtmitMenschen,dieausganzunterschiedlichenPerspektivenaufdasThemablicken:DaistdieMutter,diesichnichtdamitabfindenwill,dassihrSohneineAbsagevonseinemWunsch-Gymnasiumerhaltenhat;dieLeiterineinerVorzeigeschule,dieratlosist,wiemandasVerfahrenfairergestaltenkönnte;dieAnwältin,diealleTrickskennt,mitdenenElterndenersehntenPlatzfürihrKinderzwingenwollen–bishinzurAnmel-dungvonScheinwohnsitzen;undderBildungsforscher,derwissenschaft-lichuntersucht,warumsichElternüberhauptfürdieseundgegenjeneSchuleentscheiden.AusalldiesenStimmenkomponiertderAutoreinenHörfunkbeitrag,demesamEndesogargelingt,soetwaswieHoffnungzuvermittelnunddievonBildungspanikgestresstenElternzuentlasten.

KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 2. PreisDieJurysagt:

Armin Himmelraths kurzwei-liges Stück zeigt eindringlich den Irrsinn eines Systems, in dem Eltern sogar bereit sind, sich strafbar zu machen, damit ihr Kind die vermeintlich beste Bildung erhält. Der Autor führt den Hörer gekonnt durch seine Story und wählt genau die rich-tigen O-Töne aus. So geht Radio!

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Armin Himmelrath

Schulwechsel, Elternpanik, Kinderfrust: Von der Suche nach der perfekten Schule

Gesendet im Deutschlandfunk am 4. Februar 2019

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ImFrühjahr2018werdenmehrereFällevonantisemitischemMobbinganBerlinerSchulenbekannt.DieSchulenreagierenteilshilflosdarauf.InderRedaktionstelltsichUrsulaVoßhenrichdieFrage,welcheMöglichkeitenLehrkräftehaben,aufsolcheVorfällezureagieren,präventivzuarbeitenundmitdenKindernToleranzzuüben.WelchesFachistderrichtigePlatzdafür?Wastun,wenndiegroßePolitik–etwadieFlüchtlingskriseoderderNahostkonflikt–plötzlichaufdemkleinenSchulhoflandet?MitdiesenFragenimGepäckbesuchtdieAutorindreiGrundschuleninBerliner„Problemvierteln“,nimmtamReligions-undLebenskundeunterrichtteil,erfährtaber,dassToleranzdurchausauchinMathematikeinThemaseinkann.SielerntKonfliktlotsen-ProgrammeundHarmonie-InselnkennenundbegleitetdieSchüleraufeineExkur-sioninsJüdischeMuseum.IhrFazit:UmeingutesschulischesUmfeldfürdieKinderzuschaffen,brauchtesdasEngagementallerBetei-ligten–vonPädagogen,SekretärinnenundHausmeistern,ErziehernundEltern.DochangesichtseinesLehrkräftemangels,dernichteinmalmehrmitQuereinsteigernauszugleichenist,fehltesdafürhäufigschlichtanPersonalundZeit.

DieJurysagt:

KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 3. Preis

Ursula Voßhenrich entwirft mit viel Liebe zum Detail ein posi-tives Bild von der Grundschule als erstem Bildungsort, der so viel mehr leistet, als bloß Bildung zu vermitteln. Während im Land die Intoleranz zunimmt, zeigt ihr Stück, wie und wo man ansetzen muss, um ein friedliches Zusammenleben von Nationalitäten, Kulturen und Religionen zu erreichen.

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Ursula Voßhenrich

Dritte Stunde Toleranz. Wertevermittlung in der Grundschule

Gesendet im rbb Kulturradio am 1. Juli 2018

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Marie-Charlotte MaasPreisträgerin

KATEGORIE

KURZBEITRAG

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DieIdeezuihrerGeschichtekommtderAutorinbeimAnschaueneinerFernsehserieüberHäftlingeineinemUS-amerikanischenGefängnis,diehinterGitternalsHausmeisterkolonneeinfachePutz-undRepara-turarbeitenübernehmen.KannmandieZeitimGefängniseigentlichauchsinnvollnutzen,fragtsiesich,etwazumStudieren?IhreAnfangsre-chercheergibt:Ja,allerdingsnuranwenigenOrteninDeutschland.SienimmtKontaktzurJVAWürzburgauf,einerVorzeige-Einrichtung–undwirddirekteingeladen.VorOrtmüssenHandy,HandtascheundManteldraußenbleiben,mitnehmendarfsienurBlockundStift.AufdemWegzum„Studierenden-Trakt“durchläuftsieendloseGänge,jedeTürwirdeinzelnauf-undhinterihrwiederzugeschlossen.AberdasmulmigeGefühl,dassiezunächstnichtunterdrückenkann,verfliegtschnell.DieInsassensindaufgeschlossenundfreundlich,bietenihrgleichKaffeeanundsindbereit,ihreGeschichtenzuerzählen.NacheinpaarMinutenhatdieAutorinfastvergessen,wosieist.DochdiezentralenFragenstehenweiterhinimRaum:WerhatinDeutschlandeinRechtaufBildung?UndkannmanseinenAnspruchdaraufverwirken?

DieJurysagt:

KATEGORIE KURZBEITRAG | Preisträgerin

Marie-Charlotte Maas’ wirkungs-volles Feature ist ein Paradebei-spiel dafür, dass man auch in der Bildung originelle und span-nende Themen entdecken kann. „Knast-Elite“ nimmt den Leser mit in eine Welt, über die man jenseits von Filmklischees kaum etwas weiß, und sorgt dabei für mehr als nur einen Aha-Effekt.

Marie-Charlotte Maas

Knast-EliteErschienen im UNI SPIEGEL am 14. April 2018

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Sabine FischerPreisträgerin

KATEGORIE

NACHWUCHS

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EinkaltgestelltesKrisengebiet,einvererbtesTraumaundeineAtmo-sphärederAussichtslosigkeit:WerimnordirischenBelfastaufwächst,kenntstellenweisenichtsalsStacheldrahtundMisstrauen.UndweildieElternindenkonfessionellgeprägtenGebietenauchJahrenachdemKarfreitagsabkommenihrenHassaufdiejeweilsandereCommu-nitynichtüberwundenhaben,sterbenihreKinderdenBildungstod.ImprotestantischenArbeiterstadtteilShankill,woBildungohnehinnieeinhohesGutwar,istdieChancenlosigkeitderHeranwachsendenheutebesondersoffensichtlich:DieSuizidratensindhoch,dieSchulabbre-cherzahlenenorm,esgibtProblememitDrogenundGewalt.SabineFischer,VolontärinderStuttgarterZeitung/StuttgarterNachrichten,willdieprekäreBildungssituationjungerNordirenmittenimreichenWest-europainFormeinerMultimedia-Reportagedarstellen.UnddabeiauchdieFolgendesBrexitbeleuchten.DennmitdemAustrittGroßbritan-niensausderEuropäischenUniondrohtnichtzuletztvielenEU-finan-ziertenBildungsprojekteninNordirlanddasAus.

DieJurysagt:

KATEGORIE NACHWUCHS | Preisträgerin

Mit dem Brexit entscheidet sich Sabine Fischer für ein brandak-tuelles Thema, will dieses jedoch aus einer ganz anderen Perspek-tive erzählen, als es bislang in deutschen Medien erzählt wird. Ihr Recherchekonzept ist gut durchdacht, die Wahl ihrer Protagonisten stimmig. Auf das Ergebnis ihrer Arbeit darf man gespannt sein.

Sabine Fischer

Bildung zwischen gestern und morgenKonzept für eine Multimedia-Reportage

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DIE BEITRÄGE IM ORIGINAL

DOKUMENTATION

Martin Spiewak

Wer schafft es nach oben? Seite18

Paul Munzinger

Eine Klasse für sich Seite24

Tahir Chaudhry

Hauptschüler Seite30

Marie-Charlotte Maas

Knast-Elite Seite40

Filme und Hörstücke Seite44

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ein„ChancenlandDeutschland“.SindwirdiesemWunschlandindenvergangenenJahrenirgendwienähergekommen?Kannesdiesüber-hauptgeben?

WENN BILDUNGSCHANCEN VON EINER ZUR NÄCHSTEN GENERATION VERERBT WERDENEsgibteinhäufigbenutztesSymbolfürdieungerechteVerteilungvonStartchanceninDeutschland:densogenanntenBildungstrichter.DasSchaubildstelltdieungleichenAussichten,eserstaufsGymnasiumundspäteraufdieHochschulezuschaffen,fürzweiGruppengegen-über:fürKinderausAkademikerfamilienundfürsolche,derenElternnichtstudierthaben.ImmerwenneinePolitikerin,einJournalistoderWissenschaftlerdarlegenmöchte,wieBildungschancenhierzulandevoneinerzurnächstenGenerationvererbtwerden,kommtderBildungs-trichterinsSpiel.ErstelltvomDeutschenZentrumfürHochschul-und

DasLebenhältvieleUngerechtigkeitenparat,diegrößtegleichzuBeginn.ObmanineinereicheoderarmeFamiliehineingeborenwird,gebildeteoderungebildeteElternhat,beeinflusstsogutwiealles:wasmanlernt,wiemanarbeitetundlebt,wannmanstirbt.Andersausge-drückt:DasgrößteLebensrisikosinddieeigenenEltern.

InDeutschlandschlägtdieHerkunftbesondersstarkaufdiepersönlicheZukunftdurch.DenHauptschuldigenkennenwirspätes-tensseitdererstenPisa-StudieausdemJahr2000:unsereSchulenundUniversitäten.Wiegutjemanddortdurchkommt,hinghierzulandestärkervomElternhausabalsinjedemanderenIndustrieland.DabeiverbindendieBundesbürgernichtsanderessosehrmitGerechtigkeitwieBildung.90ProzentvonihnenwollenlautdemAllensbacherInstitutineinemLandleben,indemKinderdiegleichenChancenhaben,unab-hängigvomElternhaus,vonderKitabiszurUni.DieneueBundesre-gierungkenntdieseSehnsucht.ImKoalitionsvertragversprichtsie

Wer schafft es nach oben?Sozialer Aufstieg sei in Deutschland kaum möglich, heißt es. Dennoch wächst die Zahl der Studenten von Jahr zu Jahr. Wie geht das zusammen? Erkundungen im Dschungel der Bildungssoziologie

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zuerstellen.Datensätze(Bevölkerungsstatistik,Mikrozensus,Studie-rendenbefragungen...)auszweiJahrzehntenmüssenmiteinanderverrechnetwerden.

DabeiverdeutlichendieFakteneinenormesGefälle.DiemagischeRelationlautet79zu27.Dasheißt,währendvon100KindernmitAkade-mikerelternsageundschreibe79sicheinenPlatzanderHochschulesichern,gelingtunterNichtakademikerkindernderAufstieggeradeeinmal27von100.RichterundÄrztinnen,LehrerinnenundJournalistenbringenfastdreimalhäufigerihrKindaufdieUnialsVerkäuferinnen,MalermeisterundBürokaufleute.„AuchderneueBildungstrichteroffenbarteinegroßesozialeSelektivitätbeimHochschulzugang“,sagtDZHW-ForscherinNancyKracke.VonBildungsgerechtigkeitkeineSpur.

ALLE FAHREN IM FAHRSTUHL NACH OBEN – DIE VON WEITER UNTEN KOMMEN ETWAS SCHNELLER HOCH2,85MillionenStudentensindheuteandeutschenUniversitätenundFachhochschuleneingeschrieben,sovielewieniemalszuvor.ImJahr2000haben29ProzenteinesJahrgangszustudierenangefangen,heutesindes43Prozent.NurindensiebzigerJahrengabeseineähnlicheBildungsexpansion.KritikersprechenschonvoneinemAkademiker-wahn.WiepasstdaszusammenmitderTatsache,dassderEintrittzurUniweiterhinsoexklusivist?NancyKrackesprichtvom„Fahrstuhl-effekt“.Akademiker-undNichtakademikerfamiliensitzendanachinunterschiedlichenAufzügen.Dabeidenachobenfahren,bleibteinAbstandgewahrt.

Wissenschaftsforschung(DZHW),werdenderTrichterundseineBotschaftinunzähligenBüchernundBroschürenübernommenundnachgedruckt.

NunstammendieletztenDatenschonvon2009.DeshalbhabendieForscherdesDZHWneueDatenerhoben.DieZEITkonntesievorabansehen.

ImGefolgederPisa-Ernüchterungistvielpassiert:DieZahlderSchüleraufdemGymnasiumwächstvonJahrzuJahr;Ganztags-schulensorgenfürmehrLernangebote;unzähligeInitiativen–Stipen-dien,Mentorenprogramme,Talentscouts–versuchenmehrArbeiter-undMigrantenkinderneinehöhereBildungzuermöglichen.SinddieseMaßnahmenerfolgreichgewesen?KannmanihrenEffektheutemessen?

DerersteBlickaufdenneuenTrichteristbrutalernüchternd:Eshatsichoffenbarfastgarnichtsgetan!WährendderAkademikernachwuchsdurcheinebreiteÖffnungvonderSchuleindieHochschulequasidurchrutscht,bleibtdieMehrheitderNichtakademikerkinderirgendwostecken.DieStudienanfängermiteinemakademischenFamilienhin-tergrundsindandenHochschulensogarinderMehrheit.MussdadieRedevomChancenlandnichtrealitätsfernerscheinen,jazynisch?

WerAntwortenaufdieseFragesucht,musssichmitBildungssozio-logieundEntscheidungspsychologiebefassen.UndermusssichindieTiefenderStatistikbegeben,wosovielemoderneMissverständnisseundManipulationenihreWurzelhaben.GenaudastundieForscherdesDZHW.DennsosimpelderTrichteraussieht,sokompliziertister

KATEGORIE TEXT | 1. Preis MartinSpiewak:Werschaff tesnachoben? | DIEZEIT

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belegen.NichtnurdasBildungsniveausteigtvoneinerKohortezurnächsten,sondernauchdieZahlqualifizierterBerufe.UndeinGegen-trendistnichtabsehbar.DieAkademikerquotegehtweiternachoben,geradeunterdenjenigen,dieinNichtakademikerhaushaltenaufwuchsen.ImPisa-Jahr2000lagsiebei18,6Prozent,heutebeiknapp27,9Prozent.

DiesesozialeAufwärtsmobilitätführtzueinemparadoxenEffekt:GeradeweilesinjedemJahrgangetwasmehrAkademikerinderBevöl-kerunggibt,wächstanteiligauchdieZahlderAkademikerkinderandenHochschulen.EinMotordafürist,wasSoziologen„StrebennachStatus-erhalt“nennen.„EinbeträchtlicherTeilderheutigenStudienanfängersindjaKindervonEltern,dieselbstschonvonderBildungsexpansionprofitierthaben“,sagtderSoziologeKarlUlrichMayer.GleichzeitiggibtesimmerwenigerArbeiter,wodurchderAnteilderArbeiterkinderandenUnissinkt.Zugespitztkönntemansagen:DieHochschulenwerdenaufgrundihrerOffenheitexklusiver.

MiteinemGedankenspiellässtsichdasParadoxaufdieSpitzetreiben.Manstellesichvor:Irgendwannhaben99von100Deutschenstudiert,undallebringenihrKindwiederaufdieUni,dieKinderderletztenNichtakademikerdagegenscheiternregelmäßig.DaswärediemaximaleUngerechtigkeit,abereinminimalesProblem.

Wergenauerhinschaut,bemerktjedochetwasInteressantes.DieAufzügeindenHörsaalbewegensichmitunterschiedlicherGeschwin-digkeit,dervonweiteruntenfährtetwasschneller.Statt27wieheuteschafftenesbeimletztenBildungstrichter23derNichtakademiker-kinderandieUni,beidemdavornur19.DieWegmarkenbeidenGleich-altrigenmitstudiertenElternlauteten79,77,71.DieBildungslückewirdalsokleiner–wennauchnurimSchneckentempo.

FeststehtinjedemFall:Esgehtnachoben,esgibteinesozialeMobilität.DieseguteNachrichtwirdbeialldenberechtigtenKlagenüberdieBildungsbenachteiligungoftunterschlagen.SchulenwieHoch-schuleninDeutschlandbeförderndenBildungsaufstieg,undzwarfürziemlichvielejungeLeute.AuchdaszeigendieneuenTrichterzahlendesDZHW.Zwarschaffenesweiterhinnur27von100Nichtakademi-kerkindernaufeineUniversitätoderFachhochschule.IhrAnteilanderGesamtzahlderStudierendenistaberweitgrößer,nämlich47Prozent.

FürknappjedenzweitenUni-AnfängerbeglaubigtderImmatrikula-tionsbescheidalsoeinenStatussprung.MehralshunderttausendNeu-studentenjedesJahrsindsogarganzklassischeBildungsaufsteiger.SiestammenauseinerFamilie,inderVateroderMutterhöchstensdieReal-schulebesuchthaben.ElitäreClubs?„DassinddieHochschulenschonseitAnfangdersiebzigerJahrenichtmehr“,sagtKarlUlrichMayer,lang-jährigerDirektoramMax-Planck-InstitutfürBildungsforschung.

AuchdasvielbeschworeneSchwindenderMittelschichthältMayer,dendasThemasozialeUngleichheitseinganzesForscherlebenlangbeschäftigte,füreinMärchen.ErkanndasmitvielenZahlenreihen

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Schautmansichan,werheuteeinGymnasiumbesucht,zeigensichdennochbeträchtlicheFortschritte.Soerhöhtesichzwischen2000und2015dieGymnasialquotebeiSprösslingenausderOberschichtvon52auf55Prozent,ausFacharbeiterfamilienvon16Prozentauf24ProzentundbeiJugendlichenausHaushaltenungelernterArbeitervon11auf20Prozent.Auchhiersiehtman:BeiallerweiterhinbestehendenUngleichheitstammendieHauptgewinnerderneuerenBildungs-expansionausderUnter-undMittelschicht.

PisabestätigtdenTrend.DassDeutschlandheutedeutlichbesserdastehtalsbeimerstenTest,istinersterLiniedenSchülernauswenigerprivilegierten(Migranten-)Familienzuverdanken;siehabenaufge-holt.DieLeistungsunterschiedenachsozialerHerkunftsinddamitinDeutschlandimmernochetwashöheralsimOECD-Durchschnitt.„Welt-meisterderBildungsungleichheit“,wievor15Jahren,istDeutschlandjedochnichtmehr.MansolltedieseVerbesserungenanerkennen,sonstentmutigtmanjeneErzieher,LehrerinnenundPolitiker,diesieermög-lichthaben.

DIE EINEN HABEN ANGST VOR DEM RISIKO, DIE ANDEREN VOR DEM ABSTIEGDieZensurenimAbiturzeigeninDeutschlandheutekaumnochsozialeSchieflagen:DerSohneinesProfessorsschafftinDeutschlandinderRegelkeinbesseresAbialsderSohneinesBauarbeiters.DennochsinddieAussichtenzustudierenfürdiebeidenhöchstungleich.VondenAkademikerkindernwechseltdieüberwiegendeMehrheitaufdie

„WELTMEISTER DER UNGERECHTIGKEIT“ – DAS WAR EINMALVondiesemSzenariosindwirweitentfernt.EineÜberakademisierungmagmaninLändernwieKanadaoderKoreadiagnostizieren,wodieStudierendenquotenbei70oder80Prozentliegen.HierzulandegibtesdurchausnochvielLuftzumAufstiegnachoben,zumindestfürdievonunten.

AufdemWegdorthingiltesjedoch,vieleHürdenzuüberwinden:dieSchwellezumGymnasium,jenezurOberstufeundzumAbiturunddanndenÜbergangaufdieHochschule.UndüberjedeeinzelneHürde–dashatdieBildungsforschungvielfachgezeigt–stolpernKinderauswenigergebildetenFamilienhäufiger.Mansprichtdeshalbvoneiner„akkumuliertenUngleichheit“.

WobeidieselektivsteSchwellegleichdieersteist.DerBildungs-forscherMartinNeugebauervonderFUBerlinhatdaseinmalanhandeinerKohorteausArbeiterhaushaltennachgezeichnet.„AmEndederGrundschule“,sagtNeugebauer,„gehendiemeistenKinderverloren.“WeilsiegeringereLeistungenerbringen.WeilsiekeineElternhaben,diesiefördern.WeilihnenLehrerwenigzutrauen.DassdieseSelek-tioninDeutschlandsofrühansetzt–nämlichindenmeistenBundes-ländernnachderviertenKlasse–,wirktsichbesondersnachhaltigaus.„Jefrühermandifferenziert,destounklarersinddiePrognosen“,sagtNeugebauer.Werfrühaussortiert,kannebenleichtdanebenliegen.Außerdemgilt:jejüngereinKind,destogrößerderEinflussderElternaufdieEntscheidung.Sinddiesehöhergebildet,drängensieeherdarauf,dassihrKindaufsGymnasiumgeschicktwird.

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DasGleichegiltfürdietreibendeKraftderBessergestellten:dieAngstvordemsozialenAbstieg.Siesorgtdafür,dassesderenKindersogutwieimmernachobenschaffen.Soentscheidensich40ProzentderAkade-mikerkindernacheinerdualenAusbildungdochnochfüreinStudium,unterdenSprösslingenvonNichtakademikernsindesnur10Prozent.

DasBeispielzeigt:DiesozialeHerkunftlässtsichnichtneutrali-sieren,ganzegal,wiedieUmwege,AnschlüsseundAufstiegebiszumAbiturauchaussehen.Undgleichgültig,welcheHebelundStützendieBildungspolitikeinsetzt,umdenSchwachenunterdieArmezugreifen–dieStarkenbedienensichderFördermöglichkeitenmitdergrößtenSelbstverständlichkeitebenso.

DIE BILDUNGSGERECHTIGKEIT AN DER UNI BEGINNT SCHON VOR DEM KINDERGARTENObKrippen,KitasoderGanztagsschulen:ImmersindKinderausFami-lienmithohemSozialstatusüberrepräsentiert.DasselbegiltfürdieOption,sichnachderRealschuleübereinBerufsgymnasiumdasAbiturzusichern.HiernutzenwiedernichtunbedingtdiebestenSchülerdiesezweiteChance,sondernvorallemjene„ausgutemHause“.SelbstindenGesamtschulenlandenAkademikerkindereherindenanspruchsvol-lerenKursen,auchwennihreLeistungenesnichtimmerrechtfertigen.EsistwiebeimHase-und-Igel-Spiel,dieKinderderBessergestelltensindimmerschonda.

EsexistiertalsosehrwohleineAufstiegsmeritokratieinDeutsch-land,abersogutwiekeineAbstiegsmeritokratie.Überdurchschnittliche

Hochschule,vondenNichtakademikerkindernnichteinmaldieHälfte.StattdessenwählensieliebereineAusbildung.

DasmusspersekeinefalscheEntscheidungsein.EinstudierterSozialarbeiterverdientnichtunbedingtmehralseinMalermeister,einStudiumadeltniemandenzumbesserenMenschen.DaskombinierteLerneninBerufsschuleundBetriebgehörtzurgrößtenStärkedesdeut-schenBildungssystems.NursolltesichniemandfamiliärbedingtineinebestimmteRichtung–AusbildungoderStudium–drängenlassen;zumindestnichtbeiähnlicherintellektuellerAusstattung.

Warumpassiertdasdennoch?„DasliegtamunterschiedlichenSicherheitsdenken“,erklärtBildungsforscherNeugebauer.Nichtaka-demikerkindersetzendieRisiken,dieeinStudiumbirgt,besondershochan.SiefremdelnmitdemunbekanntenTerrain,scheuendievielenSemesterohneVerdienstundAussichtaufeinenkonkretenJob.ZudemstehenihnenvonzuHausenurwenigeRessourcenzurVerfügung,aufdiesiesichbeiProblemenverlassenkönnen.GanzandersdagegendieEinstellungderAkademikerkinder.Sielautet:Eswirdschonirgendwieklappen–undwenndochetwasschiefgeht,dannstehenPapaundMamamitihremGeldundihrenErfahrungenbereit.

BewusstlaufensolcheBildungsentscheidungennurseltenab,deshalblassensiesichauchnurbedingtbeeinflussen.SolässtsichdieStudierquotevonArbeiterkinderndurchgezielteInformationüberStipendienundBafögsowiediebesserenVerdienstaussichtenvonAkademikernerhöhen.DieAngstderUnterprivilegiertenvordemRisikobleibtjedochmachtvoll.

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undlesen,obsiedieFreizeitvordemFernseheroderimMuseumverbringen–alldaswirktsichmassivaufderenspätereLebenschancenaus.ForscherderUniversitätBamberghabenherausgefunden,dassbereitsDreijährigesichstarkvoneinanderunterscheiden.JungenundMädchenausbessergestelltenFamilienkennenweitmehrWörteralsihreAlterskameradenauseinfachenVerhältnissen.SieverstehenkomplexereSatzgefügeundhabeneinausgeprägteresVerständnisvonGrößenundFormen.

ArbeiterkinderseiendochnichtwenigerintelligentalssolcheausAkademikerfamilien,heißtesoftplakativ.DieAussageistpolitischgutgemeint,aberinsofernleiderfalsch.WasdiegeistigeEntwicklungangeht,laufendieeinendenanderenbereitsamerstenSchultagoftweithinterher,imExtremfallbeträgtdieLückezweiLernjahre.

DieWeichen,diedarüberentscheiden,wereinmalstudiertundwernicht,werdenalsowedernachdemAbiturgestelltnochimGymna-siumoderinderGrundschule,sondernvielfrüher.GenauaufdieseZeitvorderSchulemüsstesichalleFörderungkonzentrieren–bevorjederBildungstrichterseineWirkungentfaltet.

IntelligenzundgroßerFleißhelfenbeimBildungsaufstieg,dochnotwendigsindsienichtunbedingt–wennmandierichtigenElternhat.MankanndieseUngerechtigkeitalsSkandalbrandmarkenoderalsnormalesMerkmaljederGesellschaftbetrachten.EinenBildungs-trichterfindetmannämlichinjedemLandderWelt.Auchdiebeschrie-benensozialenMechanismen–EinflussdesElternhauses,StrebennachStatuserhalt,Risikoaversion–wirkenuniversell.„EsgelingtnureinigenLändernüberdurchschnittlichgut,dieHerkunftsunterschiedeauszuglei-chen“,sagtKarlUlrichMayer.KanadaunddieNiederlandegehörenzumBeispieldazusowiediemeistenskandinavischenLänder.

DieBundesrepublikisttrotzvielerFortschrittenichtdabei.DamitderdeutscheTrichterbreiterwird,lässtsichanjedemHindernisnochvieltun.VoreinerIllusionseijedochgewarnt:AusdemTrichterwirdniemalseinRohr.Bildungsungleichheitwirdesimmergeben,sowieMenschenimmerärmerundreicherseinwerden.AlsSchicksalskorrekturanstaltensindKitas,SchulenundUniversitätennurbedingttauglich.DafüristderEinflussderElterneinfachzumächtig.

DamitistnichtdiegenetischeMitgiftgemeint,auchwennkeinZweifeldaranbesteht,dassIntelligenzauchgenetischeUrsachenhatunddamitebensoderZusammenhangzwischenBildungserfolgundSchicht-zugehörigkeit.GenausowichtigistderkulturelleundsozialeGrundstock,dendieElternihremKindmitgebenunddamitLernfreudeundDenkver-mögenmehrprägen,alsesjeeinLehrerodereineLehrerinvermag.

WieElternmitihrenKinderntausend-undabertausendfachGesten,BlickeundBerührungenaustauschen,obsiemitihnensingen,spielen

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verraten!“,zischtsiedenJungenan,dersichvorihrwindet,weilseineMeldungignoriertwird.„WirgeheninsLabor“,sagtsie,Stifteanaly-sieren,immerzweizusammen.„AufmichfälltaucheinVerdacht“,sagteinSchülerimGehen,„ichhabedenselbenStift.“Unmöglich,ruftseinVordermann.„Wennüberhaupt,dannhastdudengleichen.“

DasseskeinenLutzanderSchulegibt?DassdieHandschriftaufdemZettelFrauFrischgehört?WissendieKindernatürlich.Siesindjanichtdoof.

DieSchülerder5fdesLise-Meitner-GymnasiumsinUnterhachingbeiMünchensindsogarbesondersschlau.ElinaundEdriss,beidezehnJahrealt,unddieanderenKinderhabeneinenTestdurchlaufen,unddasErgebnislautete:hochbegabt.StefanieFrisch,32,istLehrerinfürNaturundTechnikunddieKlassenleiterin.DieersteanderSchule.DenneineBegabtenklassegabeshiernochnie.

Begabtenförderung,daswarmaleinWort,dasmanbessernichtzulautaussprachinDeutschland.EsrochnachElitenerhaltung,nach

„Ichbindoof“:StefanieFrischhatdenZettelmitTesafilmandieLehneeinesStuhlsgeklebt,ganzvorne,woalleihnsehenkönnen.Irgend-jemand,sagtsie,habeLutzdenZettelaufdenRückengeklebt.EinTuschelngehtdurchsKlassenzimmer.DieJungenhabensichlockeraufdieBänkeverteilt.EdrisssitztamFenster,etwasabseits,undstreichtsichdieLockenausdemGesicht,wiesooft.DievierMädchenhabensichineineReihegequetscht,obwohleseigentlichgenugPlatzgäbe:inderMitteElina,mitPerlenohrringenundPferdeschwanz,denBlicknachvornegerichtet.ZuFrauFrisch.DietipptaufdenZettel.Werdaswar,wollesiewissen.ZumGlückhabesiedenVerdächtigendieStifteabnehmenkönnen.SielegtachtverschiedeneModelleaufdenTisch.Undjetzt?

Fingerabdrücke,schlägteinJungevor.DNA-Spuren,sagteinMädchen.Habenwirnicht,ruftwiedereinJunge,undFingerabdrückekannmanvergessen,FrauFrischhatdieStifteauchangefasst.Einstra-fenderBlick.Stimmt,sagtFrauFrisch,abersiehabeeineIdee.„Nicht

Eine Klasse für sichGleiche Chancen für alle – das ist das oberste Gebot für Schulen. Darf man da besonders Begabte besonders fördern? Ein Zwischenzeugnis

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EristBrasilianer,vonihmhatElinadiedunklenLocken.2011zogendieQuitosnachMünchen,davorverglichensieineinerExcel-TabelleStädteinganzEuropa.Wolebtessichgut,wogibtesvieleKonzerne,sodasseinJobwechselohneWohnortwechselmöglichist?„Wirgehensystema-tischanDingeheran“,sagtFernandoQuito.

ElviraQuitokommtnachHause,dieHaareblondundglatt.SieistHeadofTreasurybeieinemgroßenKonzern;wieihrMannarbeitetsie„mehralsVollzeit“,zweibisdreiTagedieWocheistsieimAusland.SeitElinasGeburthatdieFamilieAu-pair-Mädchen,ausAustralien,ausKanada.ElinasprichtEnglischmitihnen.MitihremVatersprichtsiePortugiesisch.MitdreiJahrenbrachteElinasichdasLesenbei,undmitdreiJahrenbeganndieLangeweile.DieErzieherinschlugvor,siemitfünfeinzuschulen.Nein,sagtendieEltern.WeildieErzieherinauchetwaszukritisierenhatte:ElinabehauptesichschlechtinderGruppe.„WirlegennichtnurWertaufdenIQ,sondernauchaufdenemotionalenKoeffizienten“,sagtFernandoQuito.InderSchulewurdedieLange-weileschlimmer.Werkannbiszehnzählen?WerkanndasABC?„Kommschon!“,sagtElina,rollttheatralischmitdenAugenundrattertlos,vonAbisZinzehnSekunden.

ElinawarimmerbeliebtinderKlasse,sagtihreMutter.Aberdie„leis-tungsorientiertenEltern“hatteneinProblemmitihr.WarummussElinaimmerdieBestesein?Klar,sagtElviraQuito,imBerufsindsieundihrMannauchleistungsorientiert.AberElinahabensieaufgefordert,„alleNotendurchzuprobieren“.ZumindestdashatElinanichtgeschafft.IhreschlechtesteNotewareineDrei.InWeitwurf.

KaderschmiedefürdieLeistungsgesellschaft.IndenAchtzigernbeganndasBildsichzuwandeln,heutefördernalleBundesländerBegabte.Indi-viduell,inInternaten,inspeziellenKlassen.BayernrichtetevorzwanzigJahrendieersteBegabtenklasseineinemMünchnerGymnasiumein,Unterhachingistjetztdasneunte.DerBedarfseihoch.

MIT DREI BRACHTE SICH DAS MÄDCHEN DAS LESEN BEI, MIT DREI BEGANN FÜR SIE ABER AUCH DIE LANGEWEILEBegabtenförderung,sagenihreBefürworter,seizutiefstdemokratisch.Esgehedarum,Kinderzufinden,dienichtwegenihrerHerkunftheraus-stechen,sondernwegenihrerAnlagen.DieseAnlagenmüsstengeför-dertwerden,umsichzuentfalten.Deshalbisterlaubt,wasinderSchuleheuteeigentlichzuvermeidenist:Eswirdsepariert.DieBegabtenbleibenuntersich.UndlernenunterBedingungen,diemanallenSchü-lernwünschenwürde:Die5fdesLise-Meitner-Gymnasiumshatnur16Schüler,dafürmehrGeldundmehrAufmerksamkeit.Istdasgerecht?Undesgibtnochetwasanderes,überdaszuredenist:Warumsindinder5fnurvierMädchen?

Hochbegabt?„Zuerstwareskomisch“,sagtElinaQuito.„Jetztklingtesnormal.“

EinNachmittagimAugust,nocheinMonatbisSchulbeginn.VorderDoppelhaushälftederQuitosimMünchnerVorortWaldperlachparkteinBMW,aufderTerrassebrenntdieSonne.FernandoQuitobringtWasser,seineTochtersitztunterdemSonnenschirm.ElinaistEinzelkind,geboreninAachen,woihrVaterdenDoktorinMaschinenbaumachte.

KATEGORIE TEXT | 2. Preis PaulMunzinger:EineKlassefürsich | SüddeutscheZeitung

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ÜBER EINE EINS FREUT SICH DER JUNGE. WAS MACHT ER, WENN ER EINE DREI HAT? „WEINEN.“DassEdrissschnelllernt,fielihrgleichnachseinerGeburtauf,erzähltsie.InderVorschulefielesderErzieherinauf,dannderLehrerininderGrundschule.„Edrisskannalles“,sagtedie.AberaufdieersteKlasse,auf„AusmalenundAnmalen“,hatteerkeineLust.DieLehrerinsetzteihnganznachhinten,woersichbeschäftigensollte.Hatersichgelang-weilt?Ja,sagtEdriss.Erantwortetmeistenskurz.

AmTischsitztauchSara,seineSchwester.Sieist17undeinerderGründe,warumSohailaAlekuzeisichüberdieHochbegabtenklassefreut.BislanggabesamLise-Meitner-GymnasiumfürdieKlassenbesteneinenVermerkimJahrbuch,aberdenhatSarastreichenlassen.Mussjanichtjederwissen.LängsthatsichallesgelockertinderSchule,sagtsie.AberesgabeineZeit,dahieltensievielefüreinen„extremenStreber“.Sarasagt,siewäregerneineineHochbegabtenklassegegangen.WeilmannichtgleicheinenStempelhat,wennmanguteNotenschreibt.

EdrissistkeinAußenseiter,betontSohailaAlekuzei,eristbeliebt,auchimFußballverein.ErhabesichniegroßangestrengtundtrotzdemguteNotennachHausegebracht.„Edrisskannalles“,wiederholtseineMutter,undweitmehralsseineNotenbegeistertsie,wiegutihrSohnsingenkann:„WieeinFünfzehnjähriger!“Sarakichert,Edrissnicht.

Edrisssagt,erfreutsichübereineEins.UndwennereineDreihat,wasmachterdann?„Weinen.“SeineNotenbliebenauchinderviertenKlassegut,erzähltseineMutter.DamalsgingesbeidenElternabendenoftdarum,wiederDruckgelindertwerdenkann,deraufdieKinderund

InderviertenKlassewurdesiezumerstenMal„Streber“genannt.Elinaverstehtdas,siehatteebennurEinsen.SiesollteeineKlasseüber-springen,dieElternlehntenwiederab.WeildieLangeweileschnellzurückkommt,sagtElviraQuito.Siekenntsichaus:IhrVaterhatteeinenIQvon160,ihrezweiSchwesternhabenauchhochbegabteKinder.ElinasCousinübersprangeinJahr.Ihmhatesgeholfen,weilersichinderKlassenichtwohlfühlte.Erlangweiltesich,erwurdelaut.JedeWochelageinBriefderSchuleimBriefkasten.BeiElinaistdasanders.WennsiesichimUnterrichtlangweilt,liestsie.UndüberihreNach-mittagespanntendieElterneinNetzan„Extra-Aktivitäten“.Theater,Spanisch,Capoeira.

VonderneuenKlasseerhofftsichElinavorallemeins:dassdieLangeweileendet.

Hochbegabt?EdrissAlekuzeidenktnach.„Klingtirgendwiegut.Alswäreichbesseralsvorher.Einbisschenschlauer.“

EineBetonsiedlungamRandvonUnterhaching,dieWohnungvonFamilieAlekuzeiliegtimerstenStock.SiehatvierZimmerfürfünfBewohner:SohailaAlekuzei,einekleineFrau,dieviellacht,undihrevierKinder.EdrissistderJüngste.VomVaterderKinder,mitdemsievor21JahrenausAfghanistankam,istSohailaAlekuzeigeschieden.NachtswirddasWohnzimmerihrSchlafzimmer,amTagbegleitetsieeinautistischesKindindieSchule,damitesineinenormaleKlassegehenkann.AberjetztsindFerien,undsiehataufgetischt:Trauben,Pfirsiche,Brezen,Käsekuchen.

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ausStrohhalmenundBüroklammerneinenTurmbauensollen.UnddieLehrerwollenwissen,obdieKindermiteinanderkönnen.ElinafanddenProbeunterrichtsuper.Einmal,erzähltsie,fragtedieLehrerin,wasGenesind.EinMädchenmeldetesich:DieGenebestimmendieDNA.DaraufhinsprangeinJungeaufundrief:Dakannichnichtzustimmen!AmEndemussteeineBiologielehrerinschlichten.„DashatSpaßgemacht“,sagtElina.

ZwanzigKinderhabensichfürdieHochbegabtenklasseinUnter-hachingbeworben.ZweiwurdennachdemProbeunterrichtabgelehnt,zweiMädchensagteninletzterMinuteab.Bleibensechzehn.

DIE BEGABTENKLASSE IST UMSTRITTEN, DIE LEHRER HABEN „UNGLAUBLICH KONTROVERS“ DISKUTIERTDasssiesokleinist,istdergrößteUnterschiedzwischender5funddenanderenKlassen,diefastdoppeltsovollsind.DieLehrerhabenalsofürjedenSchülerdoppeltsovielZeit.AuchdasBudgetisteinbisschengrößer,undjedeWochegibteseineExtrastunde„Horizonte“.DerLehr-planistdergleiche,derUnterrichtsollmehrindieTiefegehen.InneunJahrenwerdendieSchülerauchdasgleicheAbiturmachenwiedieanderen.Dochdie5fbeginntmitzweiSprachen,LateinundEnglisch,inderachtenkommtItalienischdazu.DieseDoppelbelastungsolldieKinderfordernundNeidanderSchuleverhindern.Die5fistkleiner?Schon.AberwolltihrmitzweiSprachenanfangen?

DieersteLateinschulaufgabestehtaneinemDienstagimNovemberan.Elinaisteinbisschenaufgeregt,sovieleWörter,sovieleEndungen.

deraufihreEltern.TrotzdemwardieviertekeineguteKlasse.Warum?„ÜberdievierteKlassewollenwirnichtreden“,sagtsie.Edrisssagt,imUnterrichtseinichtsvorangegangen,dieKlasseseilautgewesen,„nervig“.

VonderneuenKlasseerhofftersichvorallemeins:mehrRuhe,wenigerStreit.

UmindieBegabtenklasseaufgenommenzuwerden,musstenEdrissundElinaeinenTestbestehen.UmzumTesteingeladenzuwerden,brauchtensieeineEmpfehlungausderGrundschule,einMoti-vationsschreibenderEltern,einZeugnisausderdrittenKlasse,denLeis-tungsstandberichtausdervierten.EsisteinTest,derüberprüft,wasalleahnen–keiner,derentdeckt,wasniemandweiß.ZuerstmüssendieKinderFragebögenausfüllen,dieihreBegabungtesten,unterZeitdruck.ManchebestehenausWörtern,andereausvielenschwarz-weißenFörm-chen,diesiedrehen,ordnenoderaussortierenmüssen.EinIQumdie130sollteherauskommen,aberesgibtkeineUntergrenze,betontdieSchule.DannfolgteinPersönlichkeitstest,derzumBeispielabfragt,obdieKindergerneRennfahrerwärenodervonZeitzuZeitjemandenärgernmüssen.MankanninderSchuleeinenBlickaufdieTestswerfen,mitnehmendarfmansienicht.

SohailaAlekuzeisagt,siehatteAngst,alsEdrisszumTestging.Was,wennderDaumennachuntengegangenwäre?Wiehätteersichdanngefühlt?Edrisssagt:„DerTestwareigentlicheinfach.“

DiezweiteRundeistderProbeunterricht,zweiTagelang.DieLehrerwollensehen,wiedieKindersichanstellen.ZumBeispiel,wennsie

KATEGORIE TEXT | 2. Preis PaulMunzinger:EineKlassefürsich | SüddeutscheZeitung

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auffallen,weilvieleihreLehrerundElternnerven,dieMitschülerauch.Weilsiewie„Schlaubi-Schlümpfe“auftreten,sagtEichberger.„DahabenmancheeinekleineLeidensgeschichtehintersich.“

DieMädchen?SchreibenEinsenundfallennichtausdemRahmen.Andererseits,sagtStefanieFrisch,hatdieKlassesichungewöhnlich

schnellgefunden,auch„geschlechterübergreifend“.RichtigstolzwarsiebeiderKlassensprecherwahl.DieKinderentschiedensichvonsichausfüreineQuote:einMädchen,einJunge.DasssienichtihrebestenFreundewählen,sonderndiebestenKandidaten,istnichtüblichfüreinefünfteKlasse,sagtFrisch.Füreinezehnteauchnicht.

EsgibtvieleMomente,indenendieLehrerschwärmen,alsseiensiedieEltern.Frischsagt,dassschondieersteStunde„liebe-volleskalierte“,weildieKindermehrFragenhattenalssieAntworten.Eichbergererzählt,wieeinSchülerinzehnMinutenihreStundeüberÄgyptenabhandelte.AuchdieLeistungen:überdurchschnittlich.Bega-bungführtnichtimmerzugutenNoten,betonensieanderSchule.Aberhäufig.UndwasfürdieSchulzeitgilt,giltbeidenHochbegabtennachallem,wasmanweiß,auchdanach:Nobelpreis?Unwahrschein-lich.ErfolgimBeruf,imLeben?Nichtgarantiert.AbereinklarerKopf,klareZieleundeinproblemfreiesBiophysikstudiuminHeidelberg?Gutmöglich.

DieBegabtenklasseistauchfürdieLehrereineneueWelt,vonderEichbergerundFrischgerneerzählen.Eine,aufdiesiestolzseindürfen.DassdieseWeltaberauchkleinist?Darüberredensienichtsogern.GeradefürLehreristesjaaucheineprovokanteIdee:dassderLuxus

Abersonstgehtesihrsehrgut,dankederNachfrage,undjetztistsowiesoerstmalKunststunde.Zeichnenistdran,dieSchülersollenmitdemBleistifteinenKofferpacken.ElinahateinenWaschbeutelgezeichnet,Flip-Flops,Sonnenbrille,sauberverräumt.InEdriss’KofferliegteinFußballtrikotmitderNummer23undseinemNamenaufdemRücken.DazuFußballschuheundeinComputerspiel:Fifa19.

RenateEichbergergleitetvonTischzuTischundgibtTipps,wiedieKinderihrBild„pimpen“können.SieistKunstlehrerinundkoordi-niertdieBegabtenklasse,eine50-jährigeFraumitsanfterStimme,sieträgtherbstlicheFarbenandiesemTag.DerBeamerwirfteinenCount-downandieWand,neunMinuten.AlsdieUhrbeinullsteht,istdiePraxisvorbei.ZurückzurTheorie.EichbergererzähltdenSchülernvonSchraffenundBinnenformen,zeigtBildervonRubensundRembrandt.EsmeldensichfastnurJungen.EinerreißtdieArmewiezumTorjubelhoch,alsereineFragerichtigbeantwortethat.Einerspringtauf,nachdemeraufgerufenwird,undantwortetimGehen.EinerbeschreibteinBildmiteinemWort:„Barock.“„DasistWissen“,erwidertEichbergerschroff.„Beschreibes!“

Mitder5fmachtsieanderenUnterrichtalsmitdenanderenfünftenKlassen,sagtEichbergernachderStunde.SiehatsichmiteinemTeeaneinenderTischegesetzt,StefanieFrischistauchdazugekommen.DenCountdownzumBeispiel,sagtEichberger,setztsienurinder5fein.DieKindersind„immeraufWettbewerb“,unterdenJungensindviele„Rampensäue“.DieMädchensindeherzurückhaltend.DeshalbgibtesinBegabtenklassensovielmehrJungen:WeilihreBegabungenmehr

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ImFebruarendetauchdasersteHalbjahrfürdie5f,dieKinderbekommenihrZwischenzeugnis.WiefälltdasZeugnisfürdieBegab-tenklasseaus?Edrissmachteskurz:„Eigentlichgefälltmiralles.“DieGemeinschaftinderKlasse,derUnterricht,Mathevorallem,daskanner.Latein?NichtseinFach.SohailaAlekuzeireichtes,wennerdurch-kommt.DassdieSchülerLateinundspäterItalienischlernen,dasssienichtwählenkönnen,istdasEinzige,wasihrnichtgefällt.„JederMensch,derklugist,willfreibestimmen“,sagtsie.AlbertEinstein,dashatsieimInternetgelesen,warinSprachenauchnichtimmergut.

ElinasFazit:„Sehrgut.“DieLangeweile?„Ichfindesienichtmehr.“InLateinhattesieanfangsProbleme,dieSchulaufgabeimNovembergingdaneben.„SiehatdasLernenniegelernt“,sagtElviraQuito.Deshalbfindetsieesgut,dassElinanichtmehrdieBesteist,sondernunterGleichen.Siefühlesichwohlundlerne,LeistungwertzuschätzenundmitFrustumzugehen.EsistwieFahrradfahren,sagtFernandoQuito:„ManmusseinpaarMalfallen,umeinGefühlzukriegen.DavorhatsienichtFahrradfahrengelernt,siewarimSchwebemodus.Jetztlerntsiezusteuern.“

InderzweitenLateinschulaufgabehatteElinaeineEins.

einerkleinenKlassenichtdenKindernmitdenFünfenspendiertwird,sonderndenenmitdenEinsen.

RenateEichbergerwarkürzlichaufeinemKongress,woesumInklusionundDiversitätging,darumalso,wieKindernmitBehinderunggeholfenwerdenkannoderKindern,dienichtLeooderBenheißen.GenauihrThema,sagtEichberger.„Dadenkstdudirschon:UndichmacheeineHochbegabtenklasse?“ObdasGeldanderswonichtbessereingesetztwäre,wurdeauchimLehrerzimmer„unglaublichkontro-vers“diskutiert.Dochdann,sagtsie,siehtsiejedenTag,dassauchdiebegabtenKinderFörderungbrauchen,indieandereRichtungeben.EinebessereFormulierungistihrnochnichteingefallen.Nicht,weildasvielleichteinmalderWirtschaftnützt,sondernumderbegabtenKinderwillen.

DIE ERSTE SCHULAUFGABE GING DANEBEN, DIE FÜNFT-KLÄSSLERIN HATTE DAS LERNEN EINFACH NIE GELERNTStefanieFrischbleibteheranalytisch.DieSchule,sagtsie,tutauchvielfürandereKinder,amNachmittaggibteszumBeispielFörderstundeninDeutsch.Aberklar:„EsgibteinenGewissenskonflikt.“Siewäresofortdafür,dassalleKlassenzwanzigKinderhabenundhochbegabteundschwächereSchülerzusammenlernen.AbersieseinichtinderPosition,daszuentscheiden.Baldvielleichtschon:ImFebruarwechseltStefanieFrischansKultusministeriuminMünchen.

KATEGORIE TEXT | 2. Preis PaulMunzinger:EineKlassefürsich | SüddeutscheZeitung

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DieHauptschülerhieltenwirfürunterbelichtetoderasozial.ManerkanntesievorallemanihrerSprache,aberauchanihremErschei-nungsbild.DerPrototypeinesHauptschülerstrugeinenzugroßenPullover,dieKappeschiefunddenRucksacktief.DieHauptschülerintrugzuvielMake-up,einOberteilmitGlitzer-MotivundeineübertriebenverwascheneJeans.

2003gingichindie6.Klasse.IchwarkeinguterRealschüler.DieKlassenlehrerinfragtemich,obicheineFrageausdemÜbungstextbeantwortenkönne.Mirfielesschwer,michdaraufzukonzentrieren.SieversuchteesvierMal,danngabsieauf.SieriefmeineElternan:TahirwirdindiesiebteKlassederHauptschulequerversetzt.WährendmeineMuttervorWutaufschrie,schwiegmeinVaternurinsichhinein.WeltunterganginJagel.IndiesemnorddeutschenDorfhattemeinVater,einMechanikerausdemindischenPunjab,derdamalswieheuteals

Glückgehabt,ichgehörenichtzudenDummen.DasgingmirdurchdenKopf,alsmeineGrundschullehrerinamEndeder4.KlassedieSchulempfehlungaufdenTischlegte:Realschule.MeineElternwarenerleichtert.Hauptschule–daswäredieabsoluteKatastrophegewesen.IchsollteArztwerden,IngenieuroderAnwalt.BloßkeinBildungsver-sager.IndischeElternerwartenguteAbschlüssevonihrenKindern.NurhattensichmeineElternkeineübergroßenHoffnungengemacht.InderGrundschulehatteichmittelmäßigeNotennachHausegebracht,imUnterrichtwarichniegroßaufgefallen.EinzurückhaltenderJunge,deranallesdachte.NurnichtandieSchule.

IchfuhrdanntäglichmitdemBuszurRealschule.AufdemWeglagdieBugenhagenschule.JedesMal,wenndieHauptschülerdortausdemBusstiegen,freutenwiruns.NichtnurüberdiefreigewordenenSitz-plätze,sondernauchdarüber,dasswirendlichunterunsseinkonnten.

HauptschülerDer Ruf der Hauptschule war nie schlechter als heute, ihre Absolventen gelten als abgeschrieben. Unser Autor ist einer von ihnen. 13 Jahre nach seinem Ab-schluss fragt er sich, was wohl aus den Mitschülern geworden ist. Eine Suche.

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DIE KLASSEAlsichdenRaumder7bbetrat,wurdeesstill.MeinenPlatzsollteichmirselbstaussuchen.Allestarrtenmichan.IchsetztemichnebeneinenJungenmitrotemKapuzenpulliundgepierctemOhr.EingroßerFehler.ErwarderschlimmsteFieslingderKlasse,undmitmeinerPlatz-wahlhatteichihnzorniggemacht.ImmerwiederflüsterteermirinsOhr:„Scheiß-Türke!“IchwolltekeinOpfersein.AlsderLehrerdasKlassen-zimmerverlassenhatte,umArbeitsbögenzudrucken,schlugichdasersteMalinmeinemLebenjemandeminsGesicht.Weilichnichtwusste,wiedasgeht,formteichmeineFaustfalsch–mitdemDaumennachinnengedrückt.Warergebrochen?SosahalsomeinneuesLebenaus.

IndiesemLebenwarichaufmichalleingestellt.Daswarmirspätes-tensklar,alseineLehrerinwegschaute,nachdemeinSchülermichals„Dreckskanake“beschimpftundmirdieNaseblutiggeschlagenhatte.AlleinewarichauchaußerhalbderSchule:FrühereFreundschaftenzerbrachen.DerHauptschülerwardenanderennichtmehrcoolgenug.

DieHoffnungslosigkeitimUnterrichtwarallgegenwärtig.MitwenigenAusnahmengingenmeineMitschülerdavonaus,nichtszukönnen.Warumauch?NichtnurdieSchülerbestätigtensichgegen-seitigdarin,Versagerzusein,auchdieEltern,jasogarmancheLehrerhattendenGlaubenansieverloren.„DasLebenistkeinWunschkon-zert“,sagteeinervonihnen,alseinMitschülereinenausgefallenenBerufswunschäußerte.

VieleSchülerflüchtetenineinekleine,übersichtlicheWelt.IhreFrei-zeitverbrachtensiemitFernsehen,ComputerspielenundDrogen.Die

fliegenderTextilhändleranderdänischenGrenzearbeitet,einHausgekauft.InseinenAugenbinichganzuntengelandet,imAuffangbe-ckenfürVersager.

DIE SCHULEMeineKlassenlehrerinaufderRealschuleversuchte,meinenElterndenÜbertrittalsChancezuverkaufen.DieHauptschulebereiteaufeinepraktischeBerufsausbildungoderdenBesucheinerBerufsschulevor.LangewarsieindiesemerfolgreichenLanddieGrundlagefürBerufewieDachdecker,Schweißer,Bäcker,Fleischer,Friseur.RedlichesHandwerk.

InWirklichkeitwardieredlicheZeitderHauptschuleschondamalslängstvergangen.IndenFünfzigerjahrenstelltedieSchulartdiealler-meistenSchüler,nurrundzehnProzenteinesJahrgangswechseltennachderGrundschuleaufsGymnasium.DannerfasstedieBildungs-expansiondasLand.MittlerweileliegtderAnteilderGymnasiastenbeietwa40,inmanchenBundesländernsogarbei50Prozent.Andersgerechnet:1975waren2,5MillionenKinderaufdieHauptschulegegangen,inmeinemAbschlussjahr,2005,warenesnocheineMillion.DasWortHauptschülerwarbereitseinStigma.MeineElterndachtenfolglichnichtananständigesBildungswesen,sondernanHartzIV.

EinesTagesalsomussteichfrüheralsgewohntausdemBussteigen.DieRealschülerfuhrenweiter,undichstanddasersteMalaufdemSchulhofderBugenhagenschule.IchdachteandieWortemeinerMutter:„Dubistverloren!“

TahirChaudhry:Hauptschüler | SüddeutscheZeitungKATEGORIE TEXT | 3. Preis

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habenbürgerlicheLebensläufemitanständigenJobs,Familie,Haus,Kinder.Einigeaberhabenesnichtgepackt.EinehemaligerMitschülerschreibtmir,dassergeradeinSchwierigkeitensteckeund„bluten“müsse,weiler„beieinemDealverarscht“wordensei.ÜberdreiweitereMitschülererzähltmanmir,sieseienheroinabhängig.

ImAbschlussheftunsererKlassestandüberjedenSchülereinkurzerSatz.DassdieRechtschreibungnichtimmerkorrektwar,hatunsdamalsnichtgekümmert.„SprücheüberdieSchülerderKlasse9b“hießdieRubrik.ÜberRobertoPetter,heute30,standda:

„ROBERTO KANN ES NICHT LASSEN UND ZWAR SEINE KOMISCHEN GRIMASSEN“Eristdererste,dereinemGesprächzusagt,ermöchtemichinFlens-burgtreffen,etwa40KilometernördlichvonSchleswig.WirtreffenunsimEinkaufszentrum,erempfängtmichmiteinembreitenLächeln.

Robertokenneichlängeralsalleanderen.SeineMarkenzeichenwarenseinehoheStirnunddielangeSträhneamHinterkopf–wirnanntensiedie„Power-Locke“.RobertowaralsGummimenschbekannt,dereinenSpagatkonnteundseineFingerverbiegenkonntewiekeinanderer.ErwardasidealeOpfer.

SchonaufderGrundschulewurdeerwegenseinesSprachfeh-lersgehänselt.Robertokonnte„drei“nichtaussprechen,stattdessensagteer„krei“.DieKlassenlehrerindachtesicheineGeschichteaus,damitdieGrundschülermehrVerständnisfürRobertohatten:„ErkommtausDunkeldeutschlandundsprichtSchwarzdeutsch.“Bisin

SchulelagnichtimsozialenBrennpunkteinerGroßstadt,unsereKlassebestandmehrheitlichausJugendlichen,dieausdenumliegendenDörfernkamen.MeiststammtensieimGegensatzzumirausschwie-rigenFamilienmitgewalttätigenoderalkoholkrankenEltern,fürdieBildungkeinenWerthatte.

DieZeitanderBugenhagenschuleistfürmichzueinerEpisodegeworden,Leerjahre,andieichmichungernerinnere.SieendetenachzweiJahrenmitdemHauptschulabschluss.AufderTitelseitedesAbschlussheftsisteinGruppenfoto.DieÜberschrift:„Arbeitsamtwirkommen!!!“

Aberwokommtmanwirklichhin,wennmanvonderHauptschulekommt?WasmachenmeinedamaligenMitschülerheute?13JahrenachunseremAbschlussmacheichmichaufdieSuchenachihnen–undfindeGeschichtenvonGlückundUnglück,vonKarrierenundSack-gassen,vomÜberlebenundauchvomSterben.

ImAbschlussheftmeinesJahrgangsfindetsicheineListemitden22NamenderSchüler,dieunsere9bbesuchten.ViervonihnengingendanachaufeineweiterführendeSchule,ichwareinervonihnen.IchmusstedasLernenerstwiederlernen.IchschaffteerstdieRealschule,schließlichdasGymnasium.Späterstudierteich,wurdeVolontärbeiderSüddeutschenZeitung.

DieallermeistenmeinerMitschülersindaufFacebook,dasmachtdieSucheeinfacher.DieeinenfreuensichübermeineKontaktauf-nahme,anderewiederumwollenmichnichttreffen,weilsielängst„damitabgeschlossen“oder„überhauptkeineZeit“hätten.Manche

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Robertoausgelacht.„Dashatmichfertiggemacht,undichhabeallesinmichhineingefressen.“Buchstäblich:RobertoentwickelteeineFress-suchtundnahmdamalsinwenigenMonaten50Kilozu.

AmEndeder9.KlassescheiterteRobertoamHauptschulabschluss.UndnacheinemStreitmitseinerdamaligenFreundinflogerausihrerWohnung;diefolgendensechsMonatelebteerinihremKeller,„ohneStromundWasser“,erzählter.RobertonahmindieserZeit30Kiloab.DieEx-Freundinmotivierteihn,seinenAbschlussbeimJugendaufbau-werknachzuholen.

Robertoträumtedavon,alsBeikochaufeinemSchiffzuarbeiten.IneinerFördereinrichtungmachteereineAusbildungzumBeikoch.Dortwarallesanders:keinMobbing,mehrMotivation,hoheLernbereit-schaftundschließlichbessereNoten.„Daslagdaran,dasswirnurzwölfSchülerwaren“,sagter.Weilallesetwaskleinergewesensei,habeeseinengrößerenZusammenhaltinderKlasse,mehrAufmerksamkeitderLehrerundeinebessereFörderungfürdenEinzelnengegeben.

Robertowarhochmotiviert.AufderHauptschulehatteernurFünfenundSechseninMathe,inseinerAbschlussprüfunghatteernuneineEins.„Ichwerdeniemalsvergessen,wieglücklichichandiesemTagwar“,sagtRoberto.VollerStolzfuhrernachSchleswigzuKatrinNaeve,unsererehemaligenKlassenlehrerinanderHauptschule,umihrseinZeugniszuzeigen.ErhattedieAusbildungmit2,7abgeschlossen.Daswarmehr,alsRobertojezugetrautwurde–unddochzuwenig,umBeikochaufeinemSchiffwerdenzukönnen.

dieHauptschulehineingaltRobertoalsschwerhörigundsehbehin-dert,obwohldieÄrztesagten,dassmitseinenOhrenundAugenallesinOrdnungsei.„MancheDingewollteichdamalsvielleichtauchgarnichthörenodersehen“,sagtRoberto.

MobbingwarinderHauptschuleanderTagesordnung.InderachtenKlassemusstenwirimFachHauswirtschaftslehreeigeneGerichtezubereiten.EinmalstandDöneraufdemSpeiseplan.AlsRobertoaufdieToiletteging,spucktenihmeinpaarSchülerinseinenDöner.AufdemHeimwegwartetensienurdarauf,dassRobertozuessenbegann.SchallendesGelächter.

NurdieLehrerkanntendieGeschichtevonRobertosEltern.ErselbstsolltesieerstalsErwachsenerhören.SeinAdoptivvaternahmihneinesTagesmitaufdenFriedhof,woseineMutterbegrabenwar.EsregneteinStrömen.StundenlangsuchtenbeidenachdemGrabseinerMutter.Alssieesfanden,sackteRobertoinsichzusammen.„SowiedieWolkengeweinthaben,weinteichauch“,erzählter.RobertolegteeinenBlumenstraußniederundkonntesichverabschieden.

AlserdreiJahrealtwar,wurdeseineMuttervergewaltigtundgetötet.SeinVatergabihnzurAdoptionfrei.„Erinteressiertesichnichtmehrfürmich.“RobertowuchsfortanbeidenGroßeltern,derTanteunddanninverschiedenenWaisenhäusernauf,biseinEhepaarausLottorf,einemDorfnaheSchleswig,ihnadoptierte.Schnellwurdeihnenklar,dassetwasmitRobertonichtstimmte.ErhattestarkekognitiveSchwä-chen.AuchderFörderunterrichtamNachmittaghalfnicht.ObimKlas-senzimmer,aufdemSchulhofoderimBusnachHause,immerwurde

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kamvor,dassauchdieLehrerüberRobertolachten,wennderwiedereinmaldaranscheiterte,einenTextvorzulesen.ChristophBaumannwurdevonseinenMitschülerneinmalineinenStreugutkastengesperrt,eineStundelang.EinanderesMalhabensieihnaneineHeizunggekettetundmitMettwurstundMargarinebeschmiert.Unddochscheintihneherzuverfolgen,waseranderenangetanhat,alswasihmangetanwurde.

„BAUMANN HAT GLÄNZENDES HAAR DAS IST JA WOHL KLAR“Christophhabeichalsunsicheren,abereloquentenMitschülerinErin-nerung.IchbesucheihninderZwei-Zimmer-WohnunginSchleswig,dieersichmitseinemBruderteilt.EröffnetdieTür,wirbegrüßeneinander.Christoph,29,denichalsOpferabgespeicherthatte,entschuldigtsichersteinmal.Estueihmleid,mich„Schwarzbrot“genanntzuhaben.Wasihnheutenochbeschäftigt,hatteichselbstlängstvergessen.

UnddasMobbinggegenihn?Erseisehrdünnhäutiggewesen,weilersichnichtsmehrgewünschthabe,alsvondenanderenSchülernernstgenommenzuwerden,sagter.Lockererhätteerdasallesnehmensollen.DieHauptschulevergleichtermitderBild-Zeitung:„Dawurdeallesdramatisiert,stattmancheDingeeinfachzuignorieren,umsiezuentschärfen.“IhnhatdieSchulzeitabgehärtet.

Christophistschockiert,alservondemAbsturzeinigerderehema-ligenMitschülerhört.DieHauptschuleseidochimmerhin„etwas“undnicht„nichts“gewesen.„Wirwarendortnicht,weilwiralleblödwaren,sondernnurzufaulzumLernen“,sagter.Erselbstwollteirgendwann

RobertojobbtealsPutzhilfe.MitdemverdientenGeldkonnteerabernichtumgehen.ErsteckteesinGlücksspielautomaten.BaldmussteerSchuldenaufnehmen.SeineEx-FreundinmeldeteihnfüreineTherapiean,Robertoschlosssieab.HeutearbeiteterinTeilzeitfüreinenReini-gungsservice.SeitzweiJahrenlebterineiner19-Quadratmeter-Woh-nung.NureinkleinerTeilderFlächeistbegehbar.EingroßerTeilseinerWohnungistmitDVD-Stapelnvollgestellt.SieragenbiszurHälftedeseinzigenFensters.WennRobertoaufdieToilettewill,musserseineWohnungverlassenundüberdenFlurlaufen.AberRobertoistglück-lich:„IchkannmireinAutoleistenundhabedieLiebemeinesLebensgefunden,wasbraucheichmehr?“ErspartfürdieHochzeitmitseinerVerlobten.

DenkternochoftandieHauptschule?RobertoerzähltvoneinemDiscobesuch.EinehemaligerMitschülerkamdortaufihnzuundentschuldigtesich.„EinfeinerZugvonihm.“Ererwartedasauchvondenanderen.ImGegensatzzuanderenMitschülern,diegemobbtwurden,würdeergernezueinemKlassentreffenkommen.„EinMenschändertsich,auchichhabemichgeändert.“Robertoglaubt,dassdieHauptschulzeitseinLebenenormbeeinflussthat.WerdaranSchuldhat?„Wäreichdamalssostarkgewesen,wieichjetztbin,wäreallesandersgelaufen.“

UnsereLehrerstärktendieSchwachenzuselten,vielleichtkonntensieesauchnicht.Siewarenüberfordert,standenjedenTagvoreinerlauten,chaotischen,ungeduldigenKlasse.EinigewarenaufihreWeisesoschwachwievielevonuns,undmanchewarengenausograusam.Es

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netter,lieberKameltreiber“,sagtMaximilianDrews,30,heute.ErhatnochimmerdiesenstarrenBlick.DiedunklenAugen,dasgegeltedunkleHaarstrengnachhintengekämmtundeineraueStimme,derenWirkungichnievergessenhabe.IchbesucheihninLottorf.OberseinMobbingbedauere,frageichihngleich.„DieSachemitChristophkannmanentwederFreiheitsberaubungnennenodereinenblödenKinder-streich“,sagtMaximilian.ErentscheidetsichfürdasLetztere.DasKindsolleeinfachaufToilettegehenundsichabwaschen.SoseidasLeben.

MaximilianfanddieHauptschulegarnichtsoschlecht.EsgebeebenminderbemittelteMenschen.„Ichfindeesgut,dassdieIntelli-gentennichtvondenSchwachenaufgehaltenwerden“,sagter.DieKlügerenunterdenDummenhättenjaimmernochdieChance,dieReal-schulenachzuholen.„WennallesolangeSchulemachen,dannfunktio-niertdasSozialsystemnicht.“

Maximilianwarnichtminderbemittelt.ErhatsicheinfachnichtumdieSchulegekümmert.ZweiDingewarenihmdamalswichtiger:KiffenundseinauffrisierterRoller.AusgerechnetalserseinenRollereinmaldurchdasDorfschiebenmusste,weilderstehengebliebenwar,hieltihndiePolizeian.DerFallkamvordasGericht,undMaximilianwurdezu20Sozialstundenverdonnert.SeineElternhatteneinenGasthof,diesorgtensichumihrAnsehenimDorf.„Damalswollteniemandsehen,wasichkonnte,sonderneher,wasichnichtkonnte:sichinderSchulezubenehmen“,sagter.SeinenRollerkonnteerblindauseinander-undzusammenbauen.Dashättemehrgefördertwerdensollen,glaubter.Aberwie?„Manhättemichschlagensollen“,sagter.Esgebekeinen

nichtmehrfaulsein.„IchwolltemirDingeleistenkönnen:dasgroßeBett,dieRiesenglotzeunddasAuto“,sagter.DasseiseineMotiva-tiongewesen,dieAusbildungalsBerufskraftfahrerdurchzuziehen.DieGelassenheitseinerEltern,vorallemseinesVaters,habegeholfen,sagter.DerhatteeszumFinanzbeamtenimgehobenenDienstgeschafft,inZeiten,alsderHauptschulabschlussnochetwaszählte.Langeher.

IndenvergangenenJahrenhabendiemeistenLänderdieHaupt-undRealschulenschrittweisealszweiteSäulenebendemGymnasiumzusammengelegt.LediglichBayern(unterdemNamen„Mittelschule“)undHessensetzenheutenochaufdieDreigliedrigkeit.InanderenBundesländernhieltensichnurwenigeHauptschulen.DieZahlihrerSchüleristbundesweitauf390000gesunken.ViervonzehnHaupt-schulenwurdenindenvergangenenzehnJahrengeschlossen.

ChristophhatalsFernfahrergearbeitet.VonMontagbisFreitagtransportierteerGüterdurchEuropa,amWochenendearbeiteteeralsDJ.„FrüherhabeichdieNächtedurchgeballert,jetztfühleichmichzualtdafür,ichwillliebermeineRuhe.“HeuteisterbeieinerSpeditionimNahverkehrbeschäftigt.BeiihmhatdieHauptschuleihrVersprecheneingelöst:SiehatihnvorbereitetaufeinordentlichesLeben.

„MAXE DER VERPLANTE SACK BAUT STÄNDIG IRGEND-WELCHEN KACK“ DerJunge,derChristophandieHeizungketteteundindenStreu-sandkastensperrte,nanntemichmitVorliebe„Ölscheich“und„Kamel-treiber“.Dasseidochnichtbösegemeintgewesen,„duwarstunser

KATEGORIE TEXT | 3. Preis TahirChaudhry:Hauptschüler | SüddeutscheZeitung

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ZwölfKilometernördlichvonLottorf,inSchleswig,treffeichJulianJänner.Julian,derKlassenclown.Erwares,dereinmaleinvergam-meltesBaguetteinseinerTischablagegefundenhatte.AlsderLehrer,einzerstreuterundunsichererMann,sichvondenSchülernwegdrehte,schmissJuliandasBaguettemitvollerWuchtgegendieTafel.ErwurdezumSchulleitergeschickt,wiedereinmal.DerfragtenachdemGrund.Julianfieldamalsnichtsein.

„JULIAN UNSER HAUSBAUER, NEBENBEI IST ER AUCH KAUGUMMI KAUER“ErtrifftmichaufdemSchulhofderBugenhagenschule.SeineWohnungisttabu.DortschlafeeinüberarbeiteterMitbewohner.Juliansitztverka-tertaufeinerBank.Bevorermichbegrüßt,nimmternocheinenSchluckausseinemEnergydrink.DieDoselandetinhohemBogenineinerEckedesSchulhofs.WirgebenunsdieHand.ErträgtnochimmereineflacheBasecapunddiesesverschmitzteGrinsen,daserjedesMalzeigte,wennergeradeeinenStreichausgeheckthatte.WennJuliansorichtigaufHochtourenist,dannisterwieeinverbalesMaschinengewehr,dasmitWitzenundGeschichtennursoumsichschießt.

AnvieleseinerfiesenStreicheerinnertsichJulianheutenichtmehr.Deneinenaberhaternichtvergessen,weildiesersymbolischfürdiedamaligeZeitsteht.HeutenämlichkennterdieAntwortaufdieFragedesDirektors,warumerdasBaguettewarf:EswardiepureLangeweile.

Vielevonunswarenpermanentunterfordert.Wirhattengelernt,mitwenigodergarkeinemLernaufwanddieKlausurenzubestehen.Die

anderenWeg,SchwererziehbarewieihnzumNachdenkenzubewegen.ErhatdieSchulenichtungebildetverlassen,sondernunerzogen.

NachseinemHauptschulabschlusswollteerseinHobbyzumBerufmachen,seineAusbildungzumMechatronikerbestandernurknapp,mit3,9.StändigeMeinungsverschiedenheitenmitseinemChef,sagtMaximilian.Erhabeeinfachnichteinsehenwollen,dassdieBezahlungsogering,dieTechniksoveraltet,derBetriebunwirtschaftlichgeführtwar.DasUnternehmenhabedaraufhinbeschlossen,inZukunftniewiederHauptschülereinzustellen.

SeitJahrenwarntderDeutscheGewerkschaftsbundvoreinerAusgrenzungvonHauptschülernaufdemAusbildungsmarkt.SiewürdenvonfastzweiDrittelderAngeboteindenbundesweitenLehrstel-lenbörsenderIndustrie-undHandelskammernvonvornehereinausge-schlossenundgegenüberhöherQualifiziertenbenachteiligtwerden.LautBerufsbildungsbericht2017blieben120000AbsolventenproJahr-gangohneAusbildung.

UmbloßnichtimGasthofseinerElternarbeitenzumüssen,machtesichMaximilianselbständig.„WeilmirniemandindenArschgetretenhat,habeichdasschleifenlassen“,sagter.DanachwarereinhalbesJahrarbeitslos.DieElternhalfen.„WenndiedenganzenTagbesoffeninderKüchegerauchthätten,hätteichkeineLustaufArbeitgehabt.“AlsMaximilianFlugbegleiterwerdenwollte,sagtensie:„WennduLeutebekellnernwillst,kannstdudasauchhierbeiunsmachen.“Maximi-lianarbeitetheuteimGasthofseinerFamilie.Irgendwannwirderihnübernehmen.

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abschätzigbegegnetenihreKinder,wennsieesdennaufdieRealschuleoderdasGymnasiumgeschaffthatten,denHauptschülern.DaseinstfaireBildungssystemhateinefieseKlassengesellschaftproduziert.

DieseGesellschaftwirdirgendwannnichtmehrzurechtkommenmüssenmitderHauptschule;wasbleibenwird,sinddieewigenHaupt-schüler,diemitderGesellschaftzurechtkommenmüssen.

Julianwolltemehr.ErgingzurBerufsfachschule,machteeineAusbil-dungzumElektronikerfürEnergie-undGebäudetechnik.ErmachtedieFachhochschulreifeundschriebsichfürdenStudiengangElektri-scheEnergiesystemtechnikein.AbernachdreiSemesternmussteeraufgeben.DiePartyswurdenzunehmendinteressanteralsderLern-stoff,erkamnichtmehrmit.UnderwollteendlichGeldverdienen.JuliangingzurBundeswehr.AlsFeldwebelließersichzumIndustriemeisterfürElektrotechnikweiterbilden.Erseisehrglücklich,sagterbeiunseremTreffen.KurzdaraufbeginntseinEinsatzinJordanien.

„SANDRA SCHWEBT AUF WOLKE SIEBEN DER HOLZMICHEL IST ZUM VERLIEBEN“ MeineletzteStationistmeinHeimatdorf.IchbinzurückinJagel.SandraDiedicke,29,wohnthier,beiihremFreund,derebenfallsfürdieBundes-wehrimAuslandseinsatzist.SandraöffnetdieTürmitihrerTochterimArm.Siewirktvölligverändert.IhreSommersprossensindnichtmehrsoauffällig,sieträgteineBrilleundwirktvollkommenausgeglichen.

SandrahatteamEndeder4.KlasseeineRealschulempfehlungbekommen.DennochhattesiesichfürdieHauptschuleentschieden,

schwierigenSchülerwarensoanstrengend,dassdieLehrerdieTalentederanderenübersahen.WennicheinenkreativenAufsatzschrieb,warfensiemirvor,esseieinPlagiat.WennicheineguteKlausurablie-ferte,mussteangeblicheinSpickzettelimSpielgewesensein.Über-durchschnittlichesmachtemisstrauisch.

JulianetwawarsehrgutinMathe,denLehrernmanchmaletwaszugut.DieAufgabenimUnterrichtlösteerschnellundlangweiltesichdann.„HauptschulewareinereineBeschäftigungstherapie,unddashatmichextremruntergezogen“,sagterheute.DieeinenSchülerkamennichtmit,ihretwegenmusstederStoffständigwiederholtwerden.DieanderenhattenzuvielZeitundmachtenUnsinn.

DieLehrerwarenseltenhilfreich.Esseinichtdarumgegangen,dieSchüleraufdasLebendadraußenvorzubereiten,sagtJulian,sonderndarum,denTagsostressfreiwiemöglichzugestalten.Beson-dersbeliebtwarendieStillarbeitunddasVerteilenvonLese-oderRechenbögenamAnfangderUnterrichtsstunde.Juliankanndassogarverstehen:„VieleSchülerwareneinfachmegadumm,wasaufDaueranstrengendwar.“Deshalbwollteerselbstnichtsmitihnenzutunhaben.DiemeistenseinerFreundewarenRealschülerundGymnasi-asten.Julianversuchtezuverheimlichen,dassereinHauptschülerwar,erschämtesich.Unddenjenigen,dieeswussten,fielesschwer,daszuglauben.

JeschlechterderRufderHauptschuleimLaufederZeitwurde,destopanischerwurdendieElternderJugendlichen,dieindemallesentscheidendenAlterwaren.Unddementsprechendarrogantund

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zuFußnachHause,weilsiehoffte,Micheldortzutreffen.Erwarnichtdaheim.GegenvierUhrmorgensstanddiePolizeivorderTür.„DerschlimmsteTaginmeinemLeben.“

FürMichelsElternwarSandramehralsdieFreundinihresSohnes,siewareinFamilienmitglied.SieadoptiertendiejungeFrau,diezuihrenleiblichenElternkeingutesVerhältnishatte.BeidewarenAlkoholiker.NachMichelsTodtrankauchsieselbstzuviel.„Ichfeierte,warimmerunterwegsundniealleine“,sagtsie.SandrahattedamalsgeradedenRealschulabschlussgemachtundstecktemitteninderAusbildungalsBäckereifachverkäuferin.Nunwarsiekurzdavor,denJobzuverlieren.ÜberMichelwolltesiedamalsnichtsprechen.Bissieerkannte,dasssiejedenMorgen,wennsiewachwurde,vondenselbennegativenGedankengequältwurde.SievertrautesicheinerTherapeutinan.„Abereshatmichwütendgemacht,dassdaeineFremdesitzt,diemirerzählenwill,wasfüreinMenschichbin.“Siebegannendlich,mitMichelsElternzureden.„DieverpasstenmireinenEinlauf:Ichsollmichendlichzusam-menreißenundnachvornschauen.“MichelsElternwohnenheutedirektgegenüberundbetreuenoftSandrasTochter.

DieEltern.ImmerwiedersindesdieEltern,diemitVertrauenoderHärteihrenorientierungslosenKindernwiederRichtunggaben.WirmögentagsüberalledieselbeSchulebesuchthaben;aberzukunfts-entscheidenderwarwohl,inwelchesZuhausewirdanachgingen,jederfürsich.

DasProblemexistiertbisheute,lautdemerstamDienstagver-öffentlichtenBildungsberichtderOrganisationfürwirtschaftliche

siewollteaufderselbenSchulewieihrebesteFreundinsein.SieumgabsichbaldmitdenRabauken,dieRobertohänseltenundChristophandieHeizungketteten.„Wirwarenbrutalasozial“,sagtsie.EshättemehrDisziplin,härtereLehrergebraucht,sagtsie.

SovieleshatunsinderPubertätbeschäftigtundbelastet,zuvieleGedanken,überallesMögliche–aberkeineüberKarriereundPerspek-tive.DasJetztwarverwirrendgenug,wiehättenwirunsdaumdasMorgenkümmernkönnen?ImRückblickisteseinseltsamerUmstand,dasswirausgerechnetinderunübersichtlichstenundlabilstenPhaseunseresLebensdieWeichenstellensolltenfüreinevernünftigeundstabileZukunft,EntscheidungentreffenfürdasnochunbekannteRich-tige.OderfürdieoderdenRichtigen.

„DuhastdichsicherübermeinenNachnamengewundert“,sagtsie.IchhattesiealsSandraPietznerinErinnerung.DiedickewarderNach-namevonMichel,ihremFreund.DiemeistenSchülerinnenundSchülerverliebtensichschnellundtrenntensichbald.AberSandraundMichelbliebenzusammen.EinpaarJahrenachunseremHauptschulabschlussjedochwurdeMichelnachtsvoneinemZugüberrollt.

„MICHEL IST EIN MATHEASS AUF DER ANDEREN SEITE IST ER VOLL KRASS“ „WirallewarenbetrunkenundwolltenindieDisco“,erinnertsichSandra.SiegingmitihrenFreundenschonmalvor,MichelhatteseinenSchlüsselvergessen.Alsernichtnachkam,riefSandraihnunzähligeMalean,keineAntwort.InihrerVerzweiflungliefsiemehrereKilometer

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EntwicklungundZusammenarbeithabenKinderausbildungsfernenFamilienimmernocheinenbeträchtlichenBildungsrückstand.NichteinmaleinViertelderErwachsenenhabenheuteeinenhöherenAbschlussalsihreEltern.AmspürbarstenistderEffekt,wennbeson-dersvielesozialbenachteiligteSchülerinderselbenKlasseoderSchulezusammentreffen–undinDeutschlandbetrifftdasfastdieHälftederbildungsfernenKinder.

MirhalfdasVorbildmeinesälterenBruders,dernachseinemReal-schulabschlussaufdasGymnasiumging;michunterstützteeinemusli-mischeGemeinschaft,diehöhereBildungswegebesondershonorierte.AberamwichtigstenwarwohldiemoralischeErziehungmeinerEltern,ichweißnicht,woichohnesiegelandetwäre.Wasichweiß:IchhatteGlück.

EineguteErinnerungandieschlechteZeitteilenwiralle,Roberto,Julian,Christoph,Sandra,Maximilianundich.AnFrauNaeve.Siehatte2003geradeihrReferendariatbeendetundwurdeunsereKlassenleh-rerininder8.und9.Klasse.EineselbstbewussteFrau,dieihreArbeitliebte.„NatürlichgibtesLehrer,diekeinenBockaufihrenJobhaben.Aberichglaube,dassmanihnnurrichtigmachenkann,wennmanFreudedaranhat“,sagtsieheute.

Mittlerweileseivielesandersalsdamals,besser.„EsgibtwenigerKinder,dieaufgrundihresschwerenSchicksalsscheitern.EsgibtmehrErfolgsgeschichten.“WeilsichimSystemvielgeänderthabe:JenachFörderstatusstehendenSchülernmehrSonderstundenzu,esgibteinestärkereindividuelleBetreuung,essindmehrErzieherimEinsatz,mehr

VertreterdessozialenBundesfreiwilligendienstesundderSchulsozial-arbeit.MankümmertsichmehrumdieHauptschüler.

KatrinNaevewäreesamliebsten,wenneseinengemeinsamenUnterrichtvonKlasse1bis10ineinereinzigenSchulformgäbe.Die4.KlasseseieinschlechterZeitpunkt,umdieKlassenauseinanderzu-reißen,sagtsie.Undsiemusseswissen.SiehateineKlassenachderanderenAbschlüssemachenundAbschiednehmensehen,einewigesKommenundGehen.Abernichtfürsie.KatrinNaevearbeitetimmernochanderaltenSchule.

AbersieistnichtmehrHauptschullehrerin.DieBugenhagenschuleistheuteeineGrundschule.

KATEGORIE TEXT | 3. Preis TahirChaudhry:Hauptschüler | SüddeutscheZeitung

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EinesTageshörtervonderMöglichkeit,einStudiumzuabsol-vieren–inWürzburg.InderdortigenHaftanstaltkommenalleinhaf-tiertenStudienwilligenBayernszusammen.EinAkademiker-Knast.Maxi-milianWeberbewirbtsichfürdasProgramm,ausInteresse–undausKalkül.ErwillwegausStraubing.Keine300KilometersindesbisnachWürzburg,fürMaximilianWeberisteseinUmzugineineandereWelt.

DennwieeinGefängnissiehtdieStudierendenabteilungderWürz-burgerJVAnichtaus.FrederikBeckerläuftüberdenFlur,eineTasseKaffeeinderHand,offenes,intelligentesGesicht.EristaufdemWegzumHörsaal.SonennendieaktuellfünfStudierendenihrenComputer-raum,einetwa20QuadratmetergroßesZimmer,durchdessenvergit-terteStäbemaneinenBlickaufdieFestungMarienbergerhaschenkann.FrederikistMittevierzig,einehemaligerBanker,Ehemann,Vater.UndverurteiltzueinerFreiheitsstrafevonviereinhalbJahrenwegenAnla-gebetrug.WiealleanderenhierträgtFrederikdieeinheitlicheAnstalts-kluft,blaueHose,grauerPullover.AndenWändenhängenKunstdrucke

MaximilianWeberundseineKommilitonentrennenWelten.Genauer:einegroßeMauer,einZaunausStacheldraht,zehnTürenmitSicher-heitsschlössern,dreilangeGänge.WennMaximilianausdemFensterseinesZimmersschaut,siehtereineblassgrüneFrühlingslandschaft,blauenHimmel,gleißendeSonne–undGitterstäbeinEisengrau.

InWirklichkeitheißtMaximilianWeberanders.WiealleHäftlingeindiesemTextmöchteeranonymbleiben.EristEndedreißig,studiertimdrittenSemesterPsychologie.UndersitztseitvierJahrenimGefängnis.ZuinsgesamtzwölfeinhalbJahrenHafthatihndasGerichtverurteilt–wegenHandelmitCrystalMethingroßemStil.AlsdiePolizeiihnfest-nimmt,wirdausMaximilian,demehemaligenLehramtsstudentenundBesitzereinereigenenSchreinerei,Maximilian,derVerbrecher.ErlandetinderHaftanstaltStraubing,inNiederbayern.Dortsitzen,wieMaximiliansagt,„dieganzhartenJungs“ein,darunterMörderundeinGroßteilderbayerischenSicherungsverwahrten.„InsoeinerUmgebungkannmanschnellzugrundegehen,“sagtMaximilian.

Knast-EliteIn deutschen Gefängnissen absolvieren rund 200 Häftlinge ein Studium. Die JVA Würzburg gilt als Bildungshochburg. Ein Besuch.

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könnenurdieSeitenderFernuniHagenerreichen,daserschweredieRecherchefürHausarbeitenundKlausuren.KameraszeichnenjedeBewegungderHäftlingeauf,Vollzugsbeamtekontrollieren,womitdieStudentensichimHörsaalbeschäftigen.AuchE-MailsanProfessorenundMitstudentenkönnensiemitlesen.

MandarfdieFragestellen,obesgerechtist,dassGefangenestudierendürfen.Obesfairist,dassMüllerseinSeniorenstudiumnunschonfrüherbeginnenkann.ObdieHäftlingenichteinendoppeltenVorteilgenießen,weilsiesichnichtmitzigKonkurrentenumeinWG-Zimmerdrängeln,weilsiesichnichtmiteinemNebenjobüberWasserhaltenoderBafög-Schuldenanhäufenmüssen.SchließlichstudierenMaximilian,FrederikundHansaufKostendesSteuerzahlers.NormalerweisefallenfüreinStudiumanderFernuniHagenStudienge-bührenan:Zwischen1.600und2.400EurofüreinenBachelor-,biszu1.200EurofüreinenMaster-Abschluss.DieHäftlingezahlennichts.SiebekommensogarnochGeld.WieihreMitinsassen,dieineinerWerkstattimAkkordPlastikringeanInfusionsschläucheanbringenoderinderanstaltseigenenSchlossereihelfenmüssen,werdenauchStudierendeinHaftmit1,64EuroproStundevergütet.

RainerSachsemussdieGerechtigkeitsfrageimmerwiederbeant-worten.ZusammenmiteinemKollegenkümmertsichderVollzugsbe-amteumdieStudierendeninWürzburg.Außenstehende,aberauchSachseseigeneKollegenkönntenoftnichtnachvollziehen,wiedaszusammenpasst:EinStrafgefangener,dersich„alsBelohnung“nochweiterbildendarf.„Vielesähenesvermutlichamliebsten,wenndie

vonMaxBeckmannundeinePanoramaansichtvonNewYork.IndenRegalenstehenBücher,ordentlichsortiertnachFachgebieten:GuidoKnopps„DieDeutschen“undGoloManns„DeutscheGeschichtedes19.und20.Jahrhundert“,die„AllgemeineTheoriederBeschäftigung,desZinsesunddesGeldes“desbritischenÖkonomenJohnMaynardKeynes,einHandbuchzumThema„Personalmanagement“und,ja,dasBürgerlicheGesetzbuch–auchRechtswissenschaftenkannmanimGefängnisstudieren.AlleKursewerdenvonderFernuniHagenorgani-siert.DieKommilitonenderHäftlingesindinderganzenWeltverstreut.

AufeinerAblagestapelnsichTages-undWochenzeitungenundMagazine–dieStudierendensollenaufdemLaufendensein,wasdieaktuellepolitischeundwirtschaftlicheLageangeht.Werwill,kannsichzusätzlicheinkostenlosesZeitschriften-AbobeieinemBerlinerVereinbestellen,derGefängnisinsassenbeiihremWunschnachBildungunterstützt.

VoreinemMonitorsitztHansMüller,Anfangfünfzig,aufderNaseeineBrille,seineFüßesteckeninHausschuhen.Müller,gelernterFinanz-fachwirt,wegenschwerenRaubsunddiverserVorstrafenverurteiltzuzehneinhalbJahrenGefängnis,basteltanseinemStundenplan.AktuellstudierterWirtschaftswissenschaften,docherwillwechseln.Philoso-phiesolleszukünftigsein.„IchhabeausVernunftBWLgewählt,aberjetztfolgeichmeinemInteresse“,erzählter.VoneinemStudiumhabeerimmergeträumt.„EigentlichwollteichalsRentneranfangen“,sagter,„jetztmacheichesebeneinbisschenfrüher.“Ganzeinfachseidasallerdingsnicht,schließlichhabemannurbeschränktenInternetzugang,

Marie-CharlotteMaas:Knast-Elite | UNISPIEGELKATEGORIE KURZBEITRAG

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BeisovielExklusivitätbleibtesnichtaus,dassdieStudisauchvonihrenMitinsassenkritischbeäugtwerden.KeinWunder,schließlichgenießensieeinigePrivilegien:JederhateineeigeneZellemiteinemextrabreitenSchreibtisch,einerkleinenSchreibtischlampeundWand-regalenfürOrdnerundBücher.RainerSachsehatdieAusstattungfürseineSchützlingeerkämpft.ErbesorgtihnenLiteratur,lässtAbschluss-arbeitenbinden.„WenneinGefangenersagt,dasserdieganzeNachtgelernthat,weilerdieRuhenutzenwollte,dannlasseichihnauchtags-übergewähren,obwohleigentlichalleumsechsUhraufstehenmüssen“,sagtSachse.

EsisteineGratwanderung.EinerseitsmöchteSachsedieStudie-rendenaufihrembesonderenWegunterstützen.AndererseitsmusseralsVollzugsbeamterdafürsorgen,dassinseinerAnstaltGerechtig-keitherrscht.„InnerhalbderJVAheißtesoft,dassdieStudierendeneineSonderstellunggenießen.“AlsobekommtjetztjederHäftling,dermöchte,eineeigeneSchreibtischlampe–unabhängigdavon,oberstudiert,odernicht.

RainerSachseglaubtdaran,dassdasStudiumdenHäftlingenbeiderRückkehrindieGesellschafthelfenwird.Sicheristdasnicht.VieleArbeitgebersindskeptisch,wennsieeinenehemaligenStraftätereinstellensollen.

FrederikMüllerkönnteGlückhaben.NochzweieinhalbJahre,danndarfderEx-BankerdasGefängnisverlassen.EineStellehaterschonimAuslandinAussicht,alsFundraiserineinemNon-Profit-Projekt.Mit

HäftlingeSteinekloppenwürden“,sagtSachse.DabeidieneBildungderResozialisierung,dieseit1977gesetzlichvorgeschriebeneAufgabederHaftist.Heißt:Menschen,dieeinmalimGefängniswaren,sollennachihrerEntlassungmöglichstproblemloswiederTeilderGesellschaftwerden.Unddasfunktioniert–zumindestinderTheorie–einfachermiteinerabgeschlossenenSchul-oderBerufsausbildungalsohne.

DasAngebotzumStudiumistsozusagendiePremium-Ausle-gungdiesesGrundsatzes.DassdasModellumstrittenist,wissendiefünfStudierendeninWürzburg.Allebetonen,dasssieineinerprivile-giertenLageseien.„Wirsind5von11.000bayerischenStrafgefangenen,dasistschonElite“,sagtHans,nurhalbimScherz.DementsprechendbegrenztistderZugang.WersichfüreinenPlatzimStudienprogrammbewirbt,mussentwederdasAbitur,Fachhochschulreifeodereineabge-schlosseneBerufsausbildungmitmehralsdreiJahrenBerufserfahrungvorweisenkönnen.AußerdemsolltenidealerweisenochmindestensdreiJahreabzusitzensein,sodassausreichendZeitbleibt,einBachelor-Stu-diumzuabsolvieren.

DieStraftatdesVerurteiltenspieltdagegenkeineRolle.ObTotschlägeroderTrickbetrüger–studierendarfmitderpassendenQualifikationtheoretischjeder.BehandlungsbedürftigeSexual-undGewaltstraftäterundMördersolltenallerdingsvorStudienbeginnihreTatineinerTherapieerfolgreichaufgearbeitethaben.16PlätzehatdieStudentenabteilunginWürzburg,bislangsaßenabernurmaximal9StudierendevordenRechnern.

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seinerStraftathateralleGrundsätzegebrochen,dieerseinerTochterjebeigebrachthabe,bekenntFrederik.MitdemStudiumhabeereinezweiteChancebekommen.„IchmussausmeinemGefängnisaufenthaltjetztdasBestemachen.“

Marie-CharlotteMaas:Knast-Elite | UNISPIEGELKATEGORIE BESTER KURZBEITRAG

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KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 1. Preis

Hanna Möllers

Das Märchen von der Inklusion – eine Bilanz nach 10 Jahren

KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 2. Preis

Armin Himmelrath

Schulwechsel, Elternpanik, Kinderfrust: Von der Suche nach der perfekten Schule

Die Dokumentation ist in der ARD-Mediathek zu sehen:

Das Radio-Feature hören Sie unter dem folgenden Link:

bit.ly/2njN2Tt

Filme und Hörstücke

bit.ly/2ljuzp5

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KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 3. Preis

Ursula Voßhenrich

Dritte Stunde Toleranz. Wertever mittlung in der Grundschule

bit.ly/2mVdguN

Der Beitrag ist auf den Seiten des rbb Kulturradios hinterlegt:

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Für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland stellt Bildung eines der zentralen Zukunftsthemen dar. Leider ist unser Bildungssystem sehr komplex und für Laien oft nur schwer verständlich. Journalistinnen und Journalisten kommt hier eine wichtige Rolle zu: Sie sorgen dafür, dass Bildungsthemen nicht nur in kleinen Expertenzirkeln, sondern in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, verstanden und diskutiert werden.

Um diese Leistung anzuerkennen, schreibt die Deutsche Telekom Stiftung jedes Jahr den Medien-preis Bildungsjournalismus aus. Er wird in den Kate-gorien „Text“, „Audio/Video/Multimedia“ sowie „Kurzbeitrag“ verliehen. Nachwuchs journalisten können sich zudem mit einem Story-Konzept bewerben. Mehr zum Preis unter

www.telekom-stiftung.de/medienpreis

Der Medienpreis

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KontaktDeutsche Telekom Stiftung53262 Bonn

Telefon: 0228 181 - 92001Telefax: 0228 181 - [email protected]

Die Deutsche Telekom Stiftung gehört zu den großen Bildungsstiftungen in Deutschland. Sie unterstützt seit über 15 Jahren Projekte, die sich mit Themen aus dem mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Umfeld beschäftigen. Ziel der Stiftungsaktivitäten ist es, ein optimales „Bildungs-Ökosystem“ für junge Menschen zwischen 10 und 16 Jahren zu schaffen, das sie auf die Bewäl-tigung globaler Herausforderungen wie die Digitalisierung, den Klimawandel, die Mobili tätswende oder den Erhalt der Biodiversität vorbereitet. In diesem System betrachtet sie Schulen als zentrale, aber nicht einzige Lernorte. Auch wichtig sind Bibliotheken, Jugendeinrichtungen, Maker-Spaces oder Medienwerkstätten. In ihren Projekten initiiert und fördert die Stiftung daher Kooperationen dieser Lernorte.

www.telekom-stiftung.de

Die Deutsche Telekom Stiftung

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Medienpreis Bildungs- journalismus