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Meditation - schmidt-bernd.euschmidt-bernd.eu/philosophie/religion/meditation/Meditation.pdf · 1 Meditation Gedanken zum Bild Johannes der Täufer von Geertgen tot Sint Jans aus

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Meditation

Gedanken zum Bild Johannes der Täufer von Geertgen tot Sint Jans aus der Gemäldegalerie Berlin

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Wer sagt uns etwas über den Sinn unseres Daseins? Woher wissen wir, wie wir recht leben sollen? Aus welcher Quelle schöpfen wir Weltorientierung und Selbsterkenntnis? Über diese Fragen, die eigentlich die wichtigsten sind, gehen wir nur zu gern oberflächlich hinweg. Wir vermeiden unbewusst die Auseinandersetzung mit Dingen, denen wir uns nicht gewachsen fühlen. Der Ausreden, um uns dieser Auseinandersetzung zu entziehen, gibt es viele. Wir beklagen die Hektik unseres Alltagslebens, den Termindruck, die Menge der gesellschaftlichen Verpflichtungen, die ständig wachsenden Anforderun-gen des Berufs, die Überflutung mit Reizen und Informationen. Johannes der Täufer auf unserem Bild hat sich zu sich selbst zurückgezogen. Er meditiert. Was bedeutet das? Er hat sich zunächst gegen alle äußeren Einflüsse abgeschirmt und denkt nach über sich und seine Stellung in der Welt, in der er lebt. Er ordnet seine Gedanken und sortiert neue Erfahrungen. Er prüft seine Gefühle und macht sich seine Empfindungen bewusst. Er wirkt untätig und doch ist er in höch-stem Maße aktiv. Alles in ihm ist wach und konzentriert. So gewinnt er Welt-orientierung, Selbsterfahrung und Transzendenzbewusstsein. Ist nicht unser Bewusstsein oft genug vollgestellt mit unverarbeiteten Ein-drücken, mit unverstandenen oder halbverstandenen Einzelheiten? Stehen nicht immer wieder Wichtiges und Unwichtiges beziehungslos nebenein-ander? Herrscht nicht in Kopf und Herz das Durcheinander einer unaufge-räumten Bodenkammer? Wie soll sich da Sicherheit, Klarheit und Übersicht einstellen können? Meditieren heißt Ordnung machen im eigenen Inneren. Meditieren heißt Auf-räumen. Auf jeden Fall gebraucht Johannes seinen Verstand, um über sich und die Welt um ihn herum ins Klare zu kommen. Er weiß, dass bei aller Fehlbarkeit der Verstand die einzige Orientierungshilfe ist, die zur Verfügung steht. Damit unterscheidet er sich grundsätzlich vom Mystiker, der den Verstand diskreditiert und der glaubt, sich von der realen Welt lösen zu können, um zu wahrer Erkenntnis durchzustoßen.

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Der Mystiker verwirft die Welt als Trug und sucht nach einer hinter der realen Welt liegenden, wahren Wirklichkeit, zeitlos und unvergänglich. Johannes denkt. Er sucht die Lösung seiner Fragen, indem er alles um sich herum ernst nimmt und alles geistig zu durchdringen und zu ordnen sucht. Johannes erlebt sich als Teil der Natur. Auf unserem Bild ist er in wunder-barer Weise eingebunden in Landschaft, in die Welt der Tiere und Pflanzen, in den ganzen Kosmos. Alles um ihn herum ist gleich wertvoll und gleich wichtig. Wie alles um ihn herum ist auch Johannes den Gesetzen der Natur unterworfen. Wie alles um ihn herum lebt, liebt und leidet auch er. So kann er den Vogel, das Reh und den Baum als Seinesgleichen empfinden. An dieser Stelle wollen wir dem Maler kurz über die Schulter schauen und sehen, mit welchen künstlerischen Mitteln er seine Aussage formuliert. Da ist einmal die ruhige, zurückhaltende Farbgebung, die Harmonie und Frie-den vermittelt. Das Blau des Himmels kehrt im Blau des Mantels wieder und verbindet damit Überirdisches und Menschliches, die Weite des Kosmos mit der Begrenztheit irdischen Daseins. In gleicher Weise harmonisieren der Mantel und die Landschaft. Durch die warmen, erdigen Farben wird Johannes mitten in die Natur gestellt. Er ist ein Teil der Natur, so wie ein Faden ein Teil des Gewebes ist. Dieser Zusammenhang wird zusätzlich betont durch die Liebe und Sorgfalt, die der Maler der Natur angedeihen ließ. Die Natur ist nicht nur Hintergrund oder Staffage, sondern gleichberechtigter Bruder. Für Johannes ist Meditation nicht Selbstzweck. Sie dient ihm nicht wie dem Mystiker dazu, sich von der Welt zu lösen und die Welt hinter sich zu lassen. Er misstraut dem Glauben des Mystikers, dass die wahre Wirklichkeit hinter dieser Welt läge. Im Gegenteil: Meditation ist für Johannes ein Mittel zur Weltbewältigung. Johannes glaubt an den Verstand als dem einzigen Werk-zeug zur Weltorientierung. Meditation ist nicht willenloses und absichtsloses In-Sich-Hineinhorchen, sondern bewusstes, aktives Gestalten. Johannes fürchtet, der Mystiker könnte sein Lebensziel verfehlen, wenn er sich der diesseitigen Welt entzieht. Das kleine, weiße Lamm neben Johannes verrät uns, zu welchem Ergebnis das Nachdenken führen wird. Johannes weiß sich eingebunden in den gött-

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lichen Heilsplan, der die ganze Welt umfasst. In dieser Hinsicht beneiden wir Johannes seiner Glaubensgewissheit wegen, die uns verloren gegangen ist. Gott ist tot für uns. So haben wir Heutigen es unendlich viel schwerer. Nach einer Weile wird sich Johannes erheben und in die Stadt zurückkehren, die im Hintergrund des Bildes auftaucht. Er wird sich dort den Aufgaben der Welt stellen, mit Ruhe, Kraft und Klarheit, die er durch Meditation gewonnen hat.