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planung&analyse 4/2019 36 wissen & forschung thema Mehr Mut zum Menschen Von der Touchpoint- Theorie zur Marketing- Praxis

Mehr Mut zum Trivialen, mehr Mut zum Menschen mit Context ... · Eigentlich wissen wir alle, dass Menschen keine gut sortierten Entscheidungsma-schinen sind und deshalb auch keine

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planung&analyse 4/201936

wissen&forschung thema

Mehr MutzumMenschen

Von der Touchpoint-Theorie zur Marketing-

Praxis

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Weite Teile der Marketing-Fachwelt bewe-gen sich längst hin zu einer immer mehrkundenzentrierten Marken- und Unter-nehmensführung. Aus verbraucher-psychologischer Sicht ist das sehr erfreu-lich. Unsere Märkte mit ihrer Vielfalt anAngeboten, Anbietern und Marken sollenauf diese Weise schließlich menschlicherwerden. Das bedeutet, näher an das heran-rücken, was Kunden wollen, und sich wei-ter von technokratisch abgeleiteten Pro-dukten und Dienstleistungen, die nicht an-kommen, entfernen.

Ein wichtiger Schritt auf diesem Wegwar die Idee der Customer Journey. DieLogik dahinter: Wer alle wichtigen Statio-nen der Reise eines Kunden vom Bedürfniszur Kaufentscheidung analytisch und exe-kutionell abhakt, der bespielt die entschei-denden Touchpoints, um Menschen zurMarkenwahl zu bewegen. Damit dieseÜbung gedanklich funktioniert, muss eineCustomer Journey allerdings halbwegs sor-tiert, übersichtlich und für Planungspro-zesse handhabbar gestaltet sein. Ob sie da-mit der Realität menschlichen Verhaltensim Markt nahekommt, ist eine sehr wichti-ge, aber auch eine völlig andere Frage.

Der Kunde ist keineEntscheidungsmaschine

Eigentlich wissen wir alle, dass Menschenkeine gut sortierten Entscheidungsma-schinen sind und deshalb auch keine me-chanische Journey durchlaufen, die sievon einem mehr oder weniger bewusstregistrierten Bedarf über verschiedene,immer konkreter werdende Zwischenstu-fen zu einer heranreifenden, Nutzen-ma-ximierenden Entscheidung führen. Wäredem so, dann würden wir alle ständig inverschiedenen Journeys zu verschiedenenEntscheidungen stecken – parallel und je-weils in einer anderen, zeitraubendenPhase. Wir hätten keine Chance, auch nureiner dieser Journeys wirklich gerecht zuwerden, oder gar ein Leben außerhalb un-serer erschöpfenden Rolle als mündigerVerbraucher zu führen.

Die Konsumpsychologie, insbesonderedie Fortschritte auf dem Gebiet der Beha-vioral Economics, beziehen zu solchen Vor-stellungen eindeutig Position. Unsere Ent-scheidungswege müssen in der Realitätganz anders verlaufen, als es CustomerJourney Frameworks nahelegen. Dennochwar das Customer-Journey-Konzept einwichtiger Zwischenschritt, um die Auf-merksamkeit auf den Menschen auf der an-deren Seite des Supermarktlaufbandes zurichten.

Nun ist es Zeit, die bisherigen Hilfs-mittel langsam, aber sicher auszumusternund uns noch weiter auf Augenhöhe mitunseren Kunden zu begeben. Deren Ver-halten und Umfelder zu verstehen, uns vorAugen zu führen, wie es zu Kaufentschei-dungen kommt und vor allem, welche Ein-flussfaktoren dem Marketing zur Verfü-gung stehen und an welchen Touchpointssie greifen, ist weiter ein lohnendes Ziel.Nur wird der Weg dorthin zukünftig weni-

ger ordentliche Flussdiagramme produzie-ren. Den domestizierten, strukturiertenEntscheider finden wir in echten Zielgrup-pen schlicht nicht. Weder in B2C noch inB2B oder auch unter Experten-Populatio-nen wie Healthcare Professionals. Geradezentrale Entscheider-Figuren stehen unterhohem Effizienz-Druck, ihr berufliches Le-ben unter Aufwendung der verfügbarenLebensenergie sinnvoll und energiespa-rend zu organisieren. Umfangreiche Jour-neys zur Verschreibung des richtigen Prä-parats für jeden Patienten sind einfachnicht möglich.

Das Sprungbrett für den nächstenSchritt liefern Marketing-Größen wieByron Sharp oder der Psychologe undWirtschaftsnobelpreisträger DanielKahneman. Menschliches Verhaltenlebt von habituellen Entscheidungenund der gütigen Eigenschaft unseresGehirns, uns zuverlässig mit Post-Ra-tionalisierungen zu versorgen, wennwir eine intuitive Entscheidung getrof-fen haben. Eine vernünftige, Selbstbild-konforme Erklärung steht schnell be-reit und lässt sich auf Nachfrage durchMarktforscher routiniert produzieren.Sie hat nur leider wenig mit den tat-sächlichen Hintergründen von beob-achtbarem Verhalten zu tun und führtMarketing-Verantwortliche mit hoherZuverlässigkeit in die Irre, wenn sie da-rauf aufbauen, um zukunftsweisendeStrategien zu entwickeln.

Was also tun, um etwas näher an dasIdeal der Customer Centricity heranzurü-cken? Die zentrale Aussage einer Empfeh-lung für einen hartgesottenen FMCG-Kunden vor vielen Jahren war „Mehr Mutzum Trivialen“. Denn das scheinbar Trivia-le ist keineswegs trivial für den Marken-erfolg. Lassen wir uns noch weiter auf dieMenschen ein.

echanistischesTouchpoint Mana-gement, das sich aneinem theoreti-schen Customer-Journey-Konzept

entlanghangelt, wird menschlichem Ent-scheidungsverhalten nicht gerecht. Men-schen sind keine Roboter, sondern starkintuitiv agierende Gewohnheitstiere. Flori-an Klaus von K&A BrandResearch erläu-tert in seinem Artikel, wieso Context Thin-king diesem intuitiven Entscheiden viel nä-her kommt als das traditionelle CustomerJourney Mapping.

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Mit Context Thinking zu denrelevanten Touchpoints

Das aus unserer Sicht hilfreichste Kon-strukt für ein zielgerichtetes Touchpoint-Management ist aktuell das der Kontexte.Ein Kontext in diesem Sinn ist ein Ent-scheidungsumfeld, das jeweils spezifisches,automatisiertes Verhalten auslösen unddabei auf verschiedenen Ebenen wirksamwerden kann, zum Beispiel auf der Ebeneäußerer Faktoren (Verwendungs-Anlässe,Umgebung oder Ort), Rahmenbedingun-gen (Beteiligter, Settings oder Jahreszei-ten), oder der Need-Ebene, (Lust, Sicher-heit und Selbstwirksamkeit). In Zeiten desInformation Overload verlassen sich Men-schen immer mehr auf solche Kontext-Sig-nale, um effizient zu entscheiden. Odernoch konkreter: um ein als adäquat ge-speichertes, dem jeweiligen Kontext zuge-ordnetes Verhaltensprogramm anzusto-ßen, das mit minimalem Aufwand zum er-wünschten Outcome führt.

Ein Beispiel: Ein Facharzt hat gelernt,dass ein bestimmtes Präparat zur Verbes-serung der Situation eines Patienten bei-trägt. Auch wenn damit bestimmte, ver-tretbare Nebenwirkungen verknüpft sind,wird er sehr schwer aus diesem habituellen,aufwandsminimierenden Verschreibungs-verhalten herauszureißen sein – insbeson-dere wenn ein neu zugelassenes Präparatderselben Wirkstoffklasse über keinen un-mittelbaren Wirkvorteil, sondern lediglichüber ein verbessertes Nebenwirkungsprofilverfügt. Die gewohnte Entscheidung fürein Medikament in dem Wissen, dabeinichts massiv falsch zu machen, ist für ihnsehr viel attraktiver als jeden Einzelfall ab-zuwägen, um eventuell weniger Nebenwir-kungen zu erreichen. Nicht weil dem Arztseine Patienten und deren Kollateral-Leidgleichgültig wäre, sondern weil seine eigenePsyche im ganz persönlichen Kontext bud-getoptimierter Gesundheitssysteme unterDauerfeuer steht. Betritt also ein Patientmit entsprechender Diagnose die Praxis,dann startet keine Journey und auch keineverkürzte Abwägung. Im Standardfall trig-gert der Kontext aus Leitsymptomatik undPatiententyp eine sehr schnelle Verschrei-bung. Aufgabenstellung für Präparat zweiist es nun, mindestens einen Kontext zudefinieren beziehungsweise umzudefinie-ren, der für ebendieses Präparat spricht.Dient das vorteilhaftere Nebenwirkungs-profil einem aktiveren Privatleben? Dannkann schon die vom Marketing inszenierteEntscheidungsfrage nach dem Familien-stand („Hat der Patient kleine Kinder?“)einen neuen, verordnungsrelevanten Kon-text schaffen.

Nehmen wir also effizienzgetriebeneEntscheidungsstrategien ernst und sehenuns an, in welchen Kontexten unser Pro-dukt oder die Dienstleistung eine Rollespielen kann, dann kommen wir den wirk-lich entscheidenden Touchpoints und ih-rem Management deutlich näher. Touch-point-Management wird dadurch nichtnur lebensechter und relevanter, es eröffnetdarüber hinaus neue Horizonte und machtauf Ansätze aufmerksam, die bisher nichtverfolgt wurden, weil sie eine idealtypischeCustomer Journey nicht abdeckt.

War Ihnen zum Beispiel bewusst, dassdie Konjunktur im Kaugummi-Marktauch damit zusammenhängt, welche Alter-nativen Menschen im Kontext Langeweilebeziehungsweise frustrierende Wartesitua-tionen überbrücken zur Verfügung stehen?Seit das Smartphone jeden Anflug vonLeerlauf sofort überbrücken lässt, greifenwir an der Bushaltestelle weniger häufig zuWrigley’s und Co. Im Gegenzug konntenzusätzliche Vorteile wie Zahngesundheitoder Packagings für den Becherhalter imAuto neue Kaugummi-Kontexte imple-mentieren. Wir nennen diese DenkweiseContext Thinking.

Aus der Zielgruppen-Perspektiveheraus Kontexte erkennen

Forscherisch führt Context Thinking eben-falls in eine andere Richtung als CustomerJourneys. Zuerst geht es hier darum, eineradikale Zielgruppen-Perspektive einzu-nehmen. In sehr qualitativ angelegtenGruppen-Settings wie dem Psychodramaerarbeiten wir gemeinsam mit der Ziel-gruppe ein beobachtendes Verständnis ih-res Alltags. Über projektive Tools und ins-besondere Rollenspiel-Ansätze erlebt dieGruppe gemeinsam, was ihren Alltag aus-macht, welche Rahmenbedingungen fürbestimmte Entscheidungen bedeutsamsind, wovon sie abhängen und wie sie in-tuitives Verhalten beeinflussen. Demschließt sich in Anlehnung an Byron Sharpeine quantitative Category-Entry-Points-(CEP)Analyse an. Im Gegensatz zum kon-ventionellen Marken-zentrierten Vorge-hen klären wir hier nicht, was Menschenvon Kategorien und Marken halten. CEP-Analysen gehen von den für die Menschenrelevanten Kontexten aus. Wir fragen also„Welche Lösungen fallen Ihnen ein, wennSie an Kontext X denken?“ Die analytischeFrage ist, ob unsere Kategorie und Markein den Antworten auftaucht, und wenn ja,wie schnell. Wer sind die relevanten Wett-bewerber? Und welche distinkten Marken-Attribute lassen sich im Wettbewerb umShortcuts nutzen?

Stellen wir uns diese Fragen probehal-ber für die Produktkategorie Schaumküsse.Wer versucht, sich hier auf eine CustomerJourney festzulegen, wird hoffentlichschnell frustriert aufgeben und sich wahr-scheinlich darauf zurückziehen, dass essich hierbei nun mal um ein Impuls-Pro-dukt für Kids handelt. Vielleicht kommt sieoder er im nächsten Schritt auf den Gedan-ken, sich am vorherrschenden Health-Zeit-geist zu orientieren und auf das vergleichs-weise vorteilhafte Verhältnis von Kalorienzu Volumen eines Schaumkusses abzustel-len. Längerer Genuss bei weniger Kalorien.Könnte man machen, wäre wahrscheinlichkeine echte Revolution.

Eine qualitative Analyse dagegen führtspielerisch zu einer Vielfalt an Kontexten,in denen Schaumküsse eine sehr wertvolleBedeutsamkeit in sich tragen, darunterKindergeburtstage, Karneval und viele an-dere fröhliche Feste, die Kindern erlauben,Kind zu sein – und Erwachsene mitmachenlassen. Wie wäre es, wenn das Marketingdiesen Insight nutzt und ganz aktiv Kon-texte besetzt, die einen hohen Schaumkuss-Fit mitbringen, und für die es eine ganzeReihe an stimmigen Produkten gibt, abernicht viele prototypische – beispielsweiseeine Halloween- oder Oster-Edition? WerKontexte mit Potenzial kennt, der kenntauch die richtigen Touchpoints, etwa amPoS, saisonal oder nach anderen Logikendes jeweiligen Marktes. Touchpoint Mana-gement kann also deutlich menschenge-rechter werden und Marken substanziellverstärken. Es wird Zeit für diesen nächstenSchritt zu echter Customer Centricity.

Florian Klaus ist DirectorBrandPsychology undMitglied der Geschäfts-leitung bei K&A Brand-Research. Neben derstrategischen Markenbera-tung verantwortet er diemarkenpsychologischeForschung, Methoden-entwicklung und dieWeiterentwicklung des K&APsychodrama-Ansatzes.

[email protected]

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