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II. Teil: Sitzungsbericht. A. Ergiinzungen zu den Reieraten Ia und lb. Herr 0. GAGEL-~qfrnberg. Meine Damen und Herren ! Gestatten Sie mir bitte, dab ich zuniehst Ihrem Herrn Vorsitzenden und Herrn Schriftffhrer sowie Ihnen allen fiir das grol~e Vertrauen bestens danke, das Sie mir mit der ~bertragung dieses so wichtigen l%ferates entgegenbrachten und nur noch den Wunsch anschlieBe, Sie mSchten yon dem nur so wenig Neuem, das ich Ihnen vermittGln werde, nicht zu sehr entt~tuscht sein. Obwohl das neurovegetative System seit dem Jahre 1941, in dem dig Deutsche Gesellschaft f. Innere Medizin auf ihrer KriGgstagung in Wien mit einem l%eferat fber das vegetative System den I~eigen der so zahl- reichen nachfolgenden, diesem Thema gewidmeten Kongrel~referate er- 5ffnete, fast yon jedem medizinischen Sonderfaeh wenigstens ein Mal zum KongreBthema erhoben wurde und die versehiedenen zwar stets mit groBer Geffhlsbetonung, abet nicht immer mit der nStigen Kritik dnrch- geffihrten Aussprachen zuweilen, wie Gin l~fickblick lehrt, die erwarteten Friichte vermissen lieBen, habe ich mieh doch ohne irgendwelche Beden- ken entschlossen, auf Ihrem diesjihrigen KongreB nochmals darfiber zu referieren, welche Bedeutung den in den beiden letzten Jahrzehnten auf dem Gebiete des neurovegetativen Systems erzielten Erkenntnissen ffir Ihr Spezialfach, der I-Ials-I~asen- und Ohrenheilkunde, zukommt. Meinen Entschluft, Ihnen anf Ihrer diesjghrigen Tagung einen ~berblick fiber das in seinem derzeitigen Forschungsstadium keineswegs leicht darstellbare neurovegetative System zu vermitteln, hat in allererster Linie die bei Ihnen fibliche, aber auch sonst ganz allgemein sehr begrfiBenswerte Sitte bestimmt, dab dem KongreBteilnehmer bereits einige Wochen vor dem KongreB die verschiedenen l%eferate ausfiihrlich im Druck vorliegen. So wird jedem interessierten ZuhSrer Gelegenheit geboten, sigh mit der Materie des Referates nnd der anschlieBenden Diskussion vertraut zu machen, was sigh naturgemgB ganz besonders gfnstig auf tin neurologi- sehes, dem Nichtfachmann im allgemeinen weniger vertrautes I~eferat auswirkt. Dazu kommt aber noch, dal~ sich inzwischen dig zum Teil sehr hochgehenden neurovegetativen Wogen weitgehend geglgttet und auch wit alle einen gewissen Abstand yon der zur Diskussion stehenden Materie bekommen haben, was einer ruhigen sachgemaften Diskussion nut dien- lich sein kann. Arch. Ohr- usw. ~cilk. u. Z. Kals- usw. ]geilk., J~d. 163 (Kongrel~bericht 1953). 15

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II. Teil: Sitzungsbericht.

A. Ergiinzungen zu den Reieraten Ia und lb.

Herr 0. GAGEL-~qfrnberg.

Meine Damen und Herren !

Gestatten Sie mir bitte, dab ich zuniehst Ihrem Herrn Vorsitzenden und Herrn Schriftffhrer sowie Ihnen allen fiir das grol~e Vertrauen bestens danke, das Sie mir mit der ~bertragung dieses so wichtigen l%ferates entgegenbrachten und nur noch den Wunsch anschlieBe, Sie mSchten yon dem nur so wenig Neuem, das ich Ihnen vermittGln werde, nicht zu sehr entt~tuscht sein.

Obwohl das neurovegetative System seit dem Jahre 1941, in dem dig Deutsche Gesellschaft f. Innere Medizin auf ihrer KriGgstagung in Wien mit einem l%eferat fbe r das vegetative System den I~eigen der so zahl- reichen nachfolgenden, diesem Thema gewidmeten Kongrel~referate er- 5ffnete, fast yon jedem medizinischen Sonderfaeh wenigstens ein Mal zum KongreBthema erhoben wurde und die versehiedenen zwar stets mit groBer Geffhlsbetonung, abet nicht immer mit der nStigen Krit ik dnrch- geffihrten Aussprachen zuweilen, wie Gin l~fickblick lehrt, die erwarteten Friichte vermissen lieBen, habe ich mieh doch ohne irgendwelche Beden- ken entschlossen, auf Ihrem diesjihrigen KongreB nochmals darfiber zu referieren, welche Bedeutung den in den beiden letzten Jahrzehnten auf dem Gebiete des neurovegetativen Systems erzielten Erkenntnissen ffir Ihr Spezialfach, der I-Ials-I~asen- und Ohrenheilkunde, zukommt. Meinen Entschluft, Ihnen anf Ihrer diesjghrigen Tagung einen ~berblick fiber das in seinem derzeitigen Forschungsstadium keineswegs leicht darstellbare neurovegetative System zu vermitteln, hat in allererster Linie die bei Ihnen fibliche, aber auch sonst ganz allgemein sehr begrfiBenswerte Sitte bestimmt, dab dem KongreBteilnehmer bereits einige Wochen vor dem KongreB die verschiedenen l%eferate ausfiihrlich im Druck vorliegen. So wird jedem interessierten ZuhSrer Gelegenheit geboten, sigh mit der Materie des Referates nnd der anschlieBenden Diskussion vertraut zu machen, was sigh naturgemgB ganz besonders gfnstig auf t in neurologi- sehes, dem Nichtfachmann im allgemeinen weniger vertrautes I~eferat auswirkt. Dazu kommt aber noch, dal~ sich inzwischen dig zum Teil sehr hochgehenden neurovegetativen Wogen weitgehend geglgttet und auch wit alle einen gewissen Abstand yon der zur Diskussion stehenden Materie bekommen haben, was einer ruhigen sachgemaften Diskussion nut dien- lich sein kann.

Arch. Ohr- usw. ~c i lk . u. Z. Kals- usw. ]geilk., J~d. 163 (Kongrel~bericht 1953). 15

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Schon aus diesen kurzen Bemerkungen diirfte zur Geniige hervor- gehen, dab jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem man yon einer Diskussion fiber das vegetative System einen entsprechenden Erfolg erwarten kann, und hoffentlich werden in dieser Hinsicht all Ihre Erwar- tungen wenigstens hMbwegs befriedigt.

Wenn ich auch bereits in meinem Ihnen im Druck vorliegenden Referat die so weitgehend voneinander abweichenden Innervations- weisen des animalen und vegetativen Nervensystems in extenso dar- gestellt habe, so erscheint es mir ffir das entsprechende Verst~ndnis meiner fotgenden kurzgehaltenen Ausffihrungen doch yon grol~emu wenigstens in Kfirze nochmals die wesentlichsten Unterscheidungsmerk- male in der Reaktionsweise der beiden nervSsen Systeme herauszustellen. Im Gegensatz zum animalen oder cerebrospinMen Nervensystem, dessen enge funktionelle Verbundenheit mit seinen Effectorzellen sich schon darin dokumentiert, dab jede Unterbrechung der innervatorischen Yer- bindung zwischen Innervator und Effector stets und unwiderruflich auch die Degeneration der innervierten Effectorzelle zur Folge hat, erweist sich die nervSse Verbindung des vegetativen Innervators mit seiner zugeh6ri- gen Effectorzelle als viel lockerer. Wahrend die Funktion jeder vom animalen Nervensystem innervierten Effectorzelle mit der Integrit~t ihrer nervSsen Verbindung mit der zugehSrigen Innervatorzelle steht und f~llt, wird jedoch der Funktionsablauf der veto vegetativen Nerven- system innervierten Effectorzelle yon der zugehSrigen vegetativen Inner- vatorzelle einzig und allein dahingehend beeinfluBt, dab diese der jewefligen an sie gestellten Anforderung gerecht zu werden vermag. ttieraus l~Bt sich schon zwanglos folgern, dab die vegetative Effectorzelle unter gfinstigen Umweltsbedingungen auf diese Regulation v611ig ver- ziehten kann, woffir CANNes; aueh in seinem Ihnen allen bekannten Tier- experiment den entsprechenden Nachweis liefern konnte. Ganz anders verhalten sieh jedoeh die vegetativen Effeetoren unter ungiinstigen Um- weltsbedingungen, wie sie Hunger, Krankheit, Not, Gefahr und eine wesentlieh erhShte oder herabgesetzte Umgebungstemperatur sehaffen, unter denen der harmonisehe Ablauf der Lebensvorg~nge ohne ent- spreehende vegetative Regulation nieht mSglieh ist, d. h. den Ted des betreffenden Organismus zur Folge hat. Bekanntlieh unterliegt der Funktionsablauf der vegetativen Effeetorzellen einer nervSsen Steuerung gon seiten des dynamogenen oder ergotropen Systems, das in der Peripherie dutch den Sympathieus vertreten ist, und des trophotrop- endophylaktisehen Systems, dem in der Peripherie der Parasympathieus entsprieht, derart, dab die jeweilige Funktion der Effeetorzelle stets einen ganz bestimmten sympathisehen und parasympathisehenTonus erfordert.

Aus dem eben Angeffihrten ergibt sieh ohne weiteres, dab die unter ungiinstigen Umweltsbedingungen so unentbehrliehe und wiehtige

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S~euerung der Lebensvorg~nge weitgehendst gesichert sein muB, weshalb es nieht wunder nehmen daft, wenn neben der nervSs-energetischen noeh eine humorale, genauer gesagt hormonale Steuerung den geordneten Ab- lauf der Lebensvorg~nge aueh unter ungiinstigen Bedingungen zu ge- w~hrleisten vermag, Info]ge der engnaehbarlichen Beziehungen zwisehen dem auf hSchster Ebene des Zentralorgaues, im ttypothalamus ver- ankerten nervSsen Steuerungsorgan und der s~mtlichen endokrinen Organen fibergeordneten ttypophyse, zu denen noeh nervSse und hormo- hale Verbindungen hinzukommen, lassen sich die jeweiligen Leistungen der nervSsen und hormonalen Komponente h~ufig nicht voneinander trennen, weshalb man, wie fiblich, am zweckm~l~igsten yon dem ttypo- thalamus-Hypophysensystem sprieht. Wie ich in meinem bereits ge- druckten Referate in extenso ausfiihrte, wird aber der fibergeordnete neuroendokrine Regulationsapparat des Hypothalamus-Hypophysen- systems wiederum sowohl vom Cortex wie yon dem peripheren Abschnitt des vegetativen Nervensystems gesteuert und flmgiert demnach sowohl als Innervator wie als Erfolgsorgan. Fiir das Spezialgebiet der I-Ials- Nasen-Ohrenheflkunde yon besonderer Bedeutung ist, dal~ 1. zahlreiche faseranatomische Yerbindungen zwisehen dem olfactorischen, cochlearen und vestibularen System und dem vegetativen Anteil des Hypothalamus existieren und 2. das epitheliale Ausgangsmaterial ffir das Rieehepithel und das ffir den driisigen Antefl der Hypophyse, der Adenohypophyse, im frfihen Embryonalst~dium direkt aneinandergrenzen. Auf die hieraus sich ableitenden und ffir Ihr Spezialfach besonders wiehtigen neuroendokrinen StSrungen soll im folgenden an Hand eigener Beobachtungen kurz ein- gegangen werden. Infolge der eben erw~hnten zahlreichen faseranatomi- schen Verbindungen mfissen naturgem~l~ langer anhaltende patho- logische Reizzust~nde yon seiten des Olfactorius, Cochlearis und Vesti- bularis auch die endokrine Steuerung in Mitleidenschaft ziehen, und es k5nnen daher die physiologisehen Leistungen wie die pathologisehen Entgleisungen dieser Organe ebenso wie die normale und pathologische Funktion jedes anderen Organs nur als Glied in tier groBen Arbeits- gemeinsehaft des Gesamtorganismus richtig bewertet werden. Da~ vor allem lang anhaltende, wenn auch nur geringgradige Ves~ibularreize eine deutliche Versehiebung des neuroendokrinen Gleiehgewichtes in I~ich- tung sowohl der tropho- und ergotropen wie amphotonen Reaktionslage hervorbringen kSnnen, bedarf in Ihren Kreisen sieher keiner weiteren Bemerkung, zumal doch bekanntlich die calorische Vestibularispriifung als neuroendokriner Test in Gebrauch ist.

So werden sich ebenso wie in meinem auch in Ihrem Beobachtungsgut Kranke finden, die mi~ Klagen fiber Trockenheit im Munde, trockene Lippen, Appetitlosigkeit, unruhigen Schlaf, vermehrtes Schwitzen, kiihle feuchte H~tnde und Ffil]e, gesteigerte nervSse Reizbarkeit, Mangel an

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Selbstbeherrschung, Schwindelgeffihl, Benommenheit, ~belkeitsgeffihl, s~arke Mfidigkeit und Abgeschlagenheit, Ohrensausen, t t i tzewal lungen, Antriebsmang~l, Neigung zu Depressionen, gesteigerte kSrperliche und geistige Erm/idbarkeit , Alkoholintoleranz usw. die Slorechstunde auf~ suchten und de ren genaue Durchuntersuchung i n d e r Sprechstunde nut eine etwas grebe weiche Schflddriise, eine beschleunigte Herzaktion, vielleicht auch eine respiratorische Arrhythmie sowie feuchte und kfihle H~nde aufdeckte. Im Gegensatz zu dieser Armut an objektiven Krank- heitszeichen bei der fiblichen Spreehstundenuntersuehung lieB sich bei Anwendung yon entsprechenden neuroendokrinen Belastungsproben eine deutlich gesteigerte neuroendokrine Reaktionsweise feststellen. Auf ent- sprechendes Befragen gab die eine meiner Kranken an, dab sie schon seit fiber einem Jahrzehnt fiber diese so verschiedenartigen und aueh in ihrem Auftreten einem groBen Wechsel unterworfenen Beschwerden zu klagen habe, sieh abet trotz entsprechender Bemfihung in keiner Weise denken kSnne, worauf ihre so qu/~lenden Erscheinungen zurfickzuftihren seien. Da sich am linken Warzenfortsatz eine t ief eingezogene t tautknochennarbe nachweisen lieB, die v:on einer Mastoidaufmeigelung stammte, die unge- fiihr vor 15 Jahren im Verlaufe einer linksseitigen Otitis media dureh- geffihrt werden muBte, year es natfirlich naheliegend, einen Reizzustand des linken Vestibularis fiir die neuroendokrine Amphotonie verantwort- rich zu maehen. Interessanterweise lieg sieh auch dieses so symptomen- reiche neuroendokrine Allgemeinsyndrom, das durch eine neuroendokrine Amphotonie beding~ war, dutch mehrere ImloletolqUadcleln , die am Rande der Narbe fiber dem Warzenfortsatz gesetzt Wurden, fast schlag- artig beheben, doch kehrten die Symptome naeh ungef/~hr 12 Std wieder und eine wesentliche Be sserung bzw. eine dauernde Wiederherstellung der neuroendokrinen Gleiehgewichtslage erforderte auger einer ganzen Reihe yon Impletolquaddeln noeh intravenSse Injektionen yon Melkain forte und eine mehrmonatliche Verabreichung yon NeurovegetMindrag6es und Thiothyrtabletten. Dieser auf die fiber dem Warzenfortsatz angelegten Impletolquaddeln geradezu momentan einsetzende giinstige thera- peutische Effekt dfirfte die Auffassung stfitzen, dab in einem wenn auch nur geringgradigen Reizzustand yon seiten des ]inken N. vestibularis die Ursache sowohl fiir die Ausl6sung wie fiir die Unterhaltung der neuro- endokrinen Amphotonie zu suehen ist.

Diese in Kfirze dargestellte Beobachtung, der sich eine ganze Reihe ~hnlieher F/~lle an die Seite stellen lieBe, m6ge nut ein Beispiel daffir ab- geben, dab aueh eine im Verlaufe einer Mittelohreiterung erforderliehe MastoidaufmeiBelung einen Reizzustand yon seiten des N. vestibularis oder Vestibularapparates hervorrufen kann, der seinerseits wiederum eine neuroendokrine Fehlsteuerung zu bedingen vermag, die sieh unter ande- rem in dem so symptomreiehen Bild des neuroendokrinen Allgemein-

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Erg~nzungen zum Referat. 229

syndroms manifestieren kann. I-Iieraus l~13t sich ffir den prakt. Arzt der Schlul~ ableiten, da] er bei dem zur Zeit relativ h~ufig zur Beobaehtung kommenden neuroendokrinen Allgemeinsyndrom stets auch einen Reiz- zustand des Vestibularis in seine differentialdiagnostischen Erw~gungen einzubeziehen und eine entsprechende Yestibularprfifung vornehmen zu ]assen hat. Der Faeharzt wiederum ersieht aus dieser Beobachtung, da~ eine Funktionsst6rung des Vestibularis ebenso wie die eines jeden anderen KSrperorganes nicht als eine isolierte Organerkrankung, sondern vielmehr als eine StSrung des Gesamtorganismus zu betrachten ist. Dem- entspreehend darf sich seine Untersuchung nieht allein auf das spezielle

�9 Organ, den Vestibularapparat, beschr~nken, sondern hat sich vielmehr ~uf den Gesamtorganismus zu erstrecken. Dazu sind abet aueh die zur Aufdeckung einer neuroendokrinen Fehlsteuerung so unentbehrlichen neurovegetativen Belastungsproben entsprechend in Anwendung zu bringen, worauf in letzter Zeit besonders yon den Vertretern Ihres Spezial- laches mit Recht immer wieder hingewiesen wurde. Bekanntlich ent- wickelt sich abet das neuroendokrine Allgemeinsyndrom gar nieht so selten auch im Anschlul~ an eine mit Commotio cerebri einhergegangene Sch~delverletzung, wofiir ich aus meinem Beobachtungsgut gleichfalls kurz ein Beispiel anffihren mSchte. Eine 26j~hrige Frau, die bei einem Kraftwagenunfall eine mit einer ungef~hr 3 rain dauernden Bewul~tlosig- keit verbundene Seh~delverletzung erlitt, begab sich 3/4 Jahr naeh dem Unfal] wegen Kopfsehmerzen in re. Hinterhauptsgegend, Benommenheits- geffihl, gesteigerter nervSser Reizbarkeit, rascher kSrperlicher und geistiger Ermfidung, Antriebssehw~ehe, Neigung zu Depressionszust~n- den, mangelnder Konzentrations- und Merkf~higkeit besonders ffir frisch erworbenes Gedankengut, Appetitlosigkeit und unruhigen Schlaf in meine Behandlung.

Bei der Durchuntersuchung in der Sprechstunde fielen die blasse Gesichtsfarbe, eine etwas grol~e weiehe Schilddrfise, eine rechtsseitige ttypodiadoehokinese, ein konstantes Vorbeizeigen mit dem linken Zeige- finger nach rechts, ein unsicherer Kniehackentest, eine Fallneigung nach hinten beim FuBaugenschlu[l, kfihle, feuchte H~nde, and zwar links mehr als rechts, eine gesteigerte Piloareaktion auf der linken KSrperh~]fte und eine starke Herabsetzung des Oscillotonomerterausschlages am li. gegen- fiber dem rechten Arm auf.

Dazu kamen schliel]lich noch ein leichtes, akzidentel]es systolisches Ger~usch fiber der Pulmonalis sowie ein linksseitiger Reiz-Horner, der sich in einer hinsichtlich Intensit~t starken Schwankungen unterworfenen Erweiterung yon Lidspalte und Pupille dokumentierte. Typisch ffir das vorliegende Zustandsbild erscheint mir noeh die Angabe des Ehemannes, dal~ sieh bei seiner Frau wahrscheinlich einige Wochen nach dem Unfall, sicher abet erst nach diesem eine zun~chst kaum bemerkbare0 dann zwar

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langsam aber stetig zunehmende ~berempfindlichkeit ausgebildet habe, die sich naturgem~l~ ganz besonders unangenehm auf die n~chste Um- gebung der Kranken auswirke und leicht Anlal~ zu Unstimmigkeiten und sogar zu Streitigkeiten gebe. Demnach war, kurz zusammengefaBt, bei einer frfiher gesunden und nach den Angaben des Ehemannes auch nicht auff~llig nervSsen oder reizbaren jungen Frau a/a Jahre nach 0iner mit kurz dauerender BewuBtslosigkeit einhergegangenen Sch~delver- letzung das symptomenreiche Bild eines neuroendokrinen Allgemein- syndroms nachweisbar, das aber durch eine gewisse Schilddrfisenfiber- funktion und Hemihypertonia sympathica sinistra noch seine besondere Mote erh~l~. Besonderes Interesse verdient in dem vorliegenden l~all aber' die calorische Ves~ibularisprfifung, bei der auf eine rechtsseitige Spfilung mit 30 em 3 Leitungswasser eine weitere Zunahme der schon vorher auf- fallenden Gesichtsbli~sse, der gesteigerten SchweiBsekretion und Tachy- kardie sowie eine raseh aufschiel~ende Piloareaktion am Halse und an den unbekleideten Armabschnitten festzustellen waren. Sonst ergab die rechtsseitige Spfilung exteroceptiv ein geringes Vorbeizeigen nach rechts und bei FuBaugenschlul3 eine geringe Fallneigung und ein geringes Ab- weichen der vorgestreckten Arme nach reehts sowie beim Blick nach links einige nystagmoide Zuckungen, w~hrend auf die in ganz der gleichen Weise durchgeffihrte linksseitige Spfilung beim Ful]augenschluB eine deutliehe Fallneigung nach links und eine ausgesprochene Abweieh- reak~ion de r vorgestreekten Arme naeh links, beim exteroceptiven Zeige- versuch aber ein deutliehes Vorbeizeigen nach links sowie beim Bliek nach reehts ein entsprechender ~qystagmus nachweisbar waren. Im Gegensatz zu dem sonstigen Verhalten bei rechtsseitiger Spfilung waren nach der linksseitigen vom Halse gegen den Kopf zu aufsteigende vase- dilatatorisehe Wellen, keinerlei Beschleunigung, sondern eher eine Ver- langsamung der Herzt~tigkeit sowie eine feuchte MundhShle und feuchte Lippen festzustellen. Dazu klagte die Kranke selbst fiber ein sehr un- angenehmes Sehwindelgefiihl, ~belkeit und Brechreiz, doch kam es nicht zum Erbrechen. Legt man sich die Frage vor, worauf die so unterschied- liche Reaktion des Neurovegetativums bei der doeh rechts und links in ganz der gleichen Weise ausgefiihrben cMorischen Vestibularisprfifung zu- rfiekzuffihren sein kSnnte, so mul3 man sieh zun~chst vor Augen halten, dal] das rechts und links versehiedene Verhalten yon Abweichreaktion, Vorbeizeigen und Nystagmus fiir eine gewisse Untereregbarkeit des rechten bei gleichzeitiger Ubererregbarkeflr des linken Vestibularis spricht. Das Ergebnis der Allgemeinuntersuchung, vor allem aber der neuro- endokrinen Belastungsproben legt eine lir~sseitige sympathische Hyper- tonie im Rahmen eines neuroendokrinen Allgemeinsyndroms nahe. Da sich die Reizsehwellen des linken Vestibularis als~herabgesetzt, die des rechten dagegen als hifiaufgerfickt erwiesen, hi~tte man doch links eine

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Erg~nzungen zum Referat. 231

st/~rkere VersChiebung der erhShten neuroendokrinen Ausgangslage in gleieher Richtung wie rechts also noch eine stgrkere Verschiebung in Richtung der sympathischen Reaktionslage als reehts erwarten sollen. Tats~chlich aber erfolgte geradezu das Gegenteil ngmlich eine Verschie- bung in Richtung der trophotropen I~eaktionslage. Dieses auf den ersten Blick etwas auffallende Yerhalten wird aber bei einer bereits in Richtung �9 der sympathischen ttypertonie versehobenen Ausgangslage auch bei anderen yore Cortex oder dem peripheren Anteil des vegetativen Nerven- systems sowie vom Endocrinium dem Hypothalamus-Hypophysen- system zugehenden l~eizen beobaehtet. Man hat dieses Umschlagen in das gegenteflige Verhalten als Kippreaktion herausgestellt und es mit der UnmSgliehkeit einer weiteren Yerschiebung der Reaktionslage in gleicher Richtung zu erkl~ren versucht. In diesem Zusammenhang soll nieht Stellung dazu genommen werden, inwieweit diese Erkl~rung be- friedigt, sondern das verschiedene Verhalten nach reehts- und links- seitiger ealoriseher Vestibularispriifung sollte nur die Wiehtigkeit des Ausgangswertes und der ReizgrSl~e fiir den Ausfall der neuroendokrinen Reaktion vor Augen fiihren. Wenn auch der so versehiedene Ausfall zwisehen rechtsseitiger und linksseitiger Vestibularisreizung nieht als ein Beweis fiir das Vorliegen einer auf der reehten KSrperh~lfte in ent- gegengesetzter Richtflng als auf tier linken versehobenen neuroendo- krinen Ausgangslage~gelten soil, spricht doch die so untersehiedliehe Reaktion wenigstens zugunsten einer im Verhaltnis zur linksseitigen sympathischen Hypertonie nie drigeren reehtsseitigen sympathischen Aus- gangslage, die eine gewisse Gegenregulation zum Ausgleich der einseitigen Hyper- eine Hypohidrosis, der Vasokonstriktion eineVasodilatation usw. darstellen diirfte. Auf diese Gegenregulation wurde in letzter Zeit gerade von Vertretern Ihres Spezialfaehes mit Recht hingewiesen. Die Frage, ob die erhShte Reizschwelle des reehten Vestibularis die Folge der in Richtung der trophotropen Reaktionslage gehenden Gegenregulation oder eines erhShten Vasokonstriktorentonus der linken Cerebralgef~ge bedingt dutch die linksseitige sympathische Hypertonie darstellt, l~tl~t sieh nicht beantworten.

Sogar in der Beurteilung der jeweils krankhaften KSrperh~lfte kSnnen die Auffassungen selbst unter Fachneurologen nicht unwesentlich von- einander abweichen. So deutete ein Fachkollege bei einer Kranken eine reehts etwas engere Lidspalte und Pupflle als rechtsseitigen L~hmungs- Homer im l~ahmen eines neuroendokrinen Allgemeinsydroms, w~hrend ich auf Grund der Ergebnisse der neuroendokrinen Belastungsproben fiir eine l inksseitige sympathische Hypertonie mit entsprechendem Reiz- Homer im Rahmen eines neuroendokrinen AUgemeinsyndroms eintrat. Sehr notwendig eraehte ieh gerade fiir die Beurteilung derartig zweifel- hafter Verhaltnisse die Anwendung mSgliehst vieler neuroendokriner

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232 O. GAG]eL: Erggnzungen zum Referat.

Belastungsproben, deren Ergebnisse noch am ehesten eine Kl~rung der sicher oft nicht leicht zu deutenden Verh~ltnisse erm5glich$. Nicht selten l~13t sich auch kaum feststellen, ob primer eine Verschiebung der neuro- endokrinen Gleichgewichtslage in Richtung der neuroendokrinen Ampho- tonie vorliegt, die dann ers~ sekund~r eine ~berfunktion der Schilddrfise beding~ oder ob nicht doch eine gestSrte endokrine Funktion, z.B. eine Schilddrfiseniiberfunktion, als prim~rer StSrungsfaktor zu bewerten ist. Im allgemeinen wird die Anscha.uung vertreten, dab auf irgendwelche Reize zunKchst die nervSse Komponente des Hypophysen-HypothMa- mussystems ansprich$, der sich dann erst sekund~r das Endocrinium anschliel]t. Doch kann ein Schreck-BAsEDow oft auch so rasch auftreten, dab man nichb mit Sicherheit behaupten kann, es w~ren ibm eine neuro- endokrine Amphotonie oder sympathische Hypertonie vorangegangen. Auf Grund eigener Erfahrungen erscheint es mir in manchen F~llen yon Schreck-BAs~I)ow schwierig , ja sogar unmSglich, mit Sicherheit eine prim~re Schilddrfisenfiberfunktion auszuschlieBen. Das eben angefiihrte Gesamtverhalten bestKtigt jedoch nur die so wichtige, jedoch keineswegs neue Erkenntnis~ dab die Einhei~ des ~euroendocrininms auch in seinen s~mtlichen Reaktionen zum Ausdruck kommt.

Leider erwachsen der Pathogenese des M]~NI]~R]~schen Syndromes ganz ~hnliche Schwierigkeiten, so dab ein Teit der Autoren yon einem echten Morbus M~NI~E spricht, w~hrend der andere Tell diese Be- zeichnung fiir ungerechtfertigt h~lt, da das fiir das Morbus M ~ I ~ typische Syndrom, das die allbekannte GleichgewichtsstSrung, den Nystagmus dritten Grades, Erbrechen und eine mit Ohrensausen ein- hergehende Cochlearisschi~digung umfa~t, auch im Gesamtbild einer klimakterischen neuroendokrinen Gleichgewichtsst6rung, einer sym- pathischen Hypertonie oder neuroendokrinen Amphotonie usw. vor- kommt. M~nchen ) / [~I~E-Syndromen dfirfte aber, wie auch yon vielen Seiten angenommen wird, ein krisenhaft auftretender Angiospasmus in einem Bereich des Vestibularissystems zugrunde liegen, doch ist der Nachweis hierffir noch nicht erbracht, wenn auch manches f/ir die Genese spricht. Vielleicht bringt ~ber die entsprechende Anwendung m6glichst vieler neuroendokriner Belastungsproben, i~hnlich wie auf dem Gebiete der Ozaena, auch hier den erhofften Fortschritt. Auf die Erweiterung unserer p~thogenetischen Kenntnisse der Oz~en~, die in allererster Linie denVertretern Ihres Spezialfaches zu verdanken und ~ls eine Frucht der engen Zusammenarbeit yon allgemein klinischer ~r Morphologie und Embryologie zu bewerten sind, br~uche ich. in Ihrem Kreise nur hinzuweisen. Wegen ihrer grol~en Wichtigkeit m6chte ich nochmals die Anwendung mSglichst zahlreicher neuroendokriner Belastungsproben ompfehlen, d~ erst bei entsprechender Belastung die neuroendokrine Fehlsteuerung in Erscheinung tritt. Au6er diesen geniigend herausge-

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stellten Folgen der gestSrten neuroendokrinen Gleichgewichtslage ~ul~ert sich aber die neuroendokrine Fehlsteuerung auch noch in einer StSrung des 24 Std-, des monatlichen, des Jahresrhythmus nsw., auf die ich leider wegen der Xfirze der Zeit nur hin~eisen kann, w~hrend die Ein- regulation der beiden KSrperhglften wenigstens etwas berfihrt werden konnte.

Meine Erfahrung, dal~ nicht die Hauptreferate, selbst wenn sie, wie bei Ihnen fiblich, bereits im Druck vorliegen, sondern schon eher die Einzelmitteilungen, vor allem aber die Diskussion die Seele eines jeden Kongresses is~, heil~t reich die Zeit ffir die Aussprache sparen, yon der ich mir eine ganz wesentliche Erg~nzung meines Referates erwarte.

Ich m5chte deshalb meine leider nur skizzenhaften Ausffihrungen mit dem Wunsche schlieBen:

Es mSge sich die in letzter Zeit auf Ihrem speziellen Forschungs- gebiete immer deutlicher abzeichnende :Forschungsrichtung, die fiber dem speziellen Forschungsgebiet auch stets die Funktionen des Gesamt- organismus im Auge behalf, auch weiterhin durchsetzen zum Wohle Ihrer Spezialwissenschaft, der Gesamtmedizin, vor allem aber der uns anvertrauten Kranken.

Herr EICHIt0LTZ -Heidelberg.

Das yon mir vorgelegte Refera~ enth/ilt naturgemis viele Lficken. Eine dieser Lficken hat mein Mitarbei~er Dr. Scn~ffD inzwischen aus- geffillt. Nach meinem l~eferat weiB man bis dahin nichts fiber die Wir- kung der Kohlens~ure auf die autonomen Ganglien. Dieses ist iiber- raschend, weft NNmark und autonome Ganglien aus derselben primi- riven Anlage, den Sympathogonien n~mlieh, hervorgehen. Die spezifisch stimulierende Wirkung der K0hlens/~ure auf das NNmark ist yon mir beschrieben worden; sie hat wahrscheinlich eine hohe bio]ogische Be- deutung. An den autonomen Ganglien hingegen wirkt die Kohlens/iure genau umgekehrt; die 5% ige Kohlensi~ure ist hier ein starker Ganglien- blocker, wenn man sie am klassischen Testobjekt, dem Ganglion cervi- cale superius der Katze untersueht.

.Die grSl~te Aufgabe, vor der die heutige Pharmakologie steht, ist die, einen Einblick in die Urph~nomene zu gewinnen, die der Wirkung unserer Arzneistoffe zugrunde liegen. Die Entdeckungen von O. Lo~wI und H. H. DALE bedeuten einen gewaltigen Schritt vorwi~rts. Ein be- kannter Pharmakologe pflegt seine Vorlesung mit den Worten zu be- ginnen, dab die heutige Pharmakologie auf vier S~ulen beruhe, n~mlich auf Aeetylcholin, Adrenalin, Nor-Adrenalin und Histamin. Nach dieser Ansicht w~ren alle Arzneistoffe, die in der Praxis verwendet werden, in ihrem Mechanismus irgendwie in Zusammenhang zu bringen mit einem