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Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.2004 im Hessischen Landtag ISBN-13: 978-3-923150-26-7 ISBN-10: 3-923150-26-1 Schriften des Hessischen Landtags Heft 2

Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus ... · 10 Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gedenktag soll der Erinnerung dienen: der Erinnerung an die Frauen,

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Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus

am 27.01.2004 im Hessischen Landtag

ISBN-13:978-3-923150-26-7

ISBN-10:3-923150-26-1

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Schriften des Hessischen Landtags

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Schriften des Hessischen Landtags

Heft 1 Bioethik-Symposium des Hessischen Landtagsam 17. November 2001,hrsg. von Klaus Peter Möller, Präsident desHessischen Landtags, Wiesbaden.

Hessischer Landtag, 2002

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Gedenkveranstaltung

für die Opfer des Nationalsozialismus

am 27. Januar 2004

im Hessischen Landtag

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Herausgegeben von Norbert KartmannPräsident des Hessischen LandtagsRedaktion: Bernd Friedrich, Susanne Baier, Petra DischingerHerstellung: Druckerei Chmielorz GmbH, Wiesbaden

ISBN-13: 978-3-923150-26-7ISBN-10: 3-923150-26-1

© 2006 Hessischer Landtag, Wiesbaden, Schlossplatz 1 – 3

Bibliografische Information der Deutschen

BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Begrüßung

Norbert KartmannPräsident des Hessischen Landtags .................... 11

Gedenkrede

Dr. Israel Singer ...................................................... 15

Ansprache

Roland KochHessischer Ministerpräsident ................................ 23

Biografischer Hinweis ........................................... 29

Inhalt:

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B E G R Ü S S U N G

Norbert KartmannPräsident des Hessischen Landtags

Sehr geehrter Herr Dr. Singer, Vorsitzender des Jüdischen Welt-kongresses, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Koch, sehr geehrterHerr Oberbürgermeister Diehl, verehrter Herr Neumann, Vorsitzenderder Jüdischen Gemeinde in Hessen, lieber Herr Strauß, Mitglied desVorstandes der Sinti und Roma, sehr geehrte Vertreter des Konsulari-schen Korps, meine Damen und Herren Abgeordneten des HessischenLandtags, sehr geehrte Damen und Herren!

Am 3. Januar 1996 hat Bundespräsident Roman Herzog den 27. Ja-nuar, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, zumTag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Damithat er den Wunsch verbunden, dass dieser Tag „zu einem wirklichenTag des Gedenkens, ja des Nachdenkens wird“. Weiter erklärte Bun-despräsident Roman Herzog damals: „Es erscheint mir sinnvoll, den27. Januar nicht als Feiertag zu begehen, auch nicht im Sinne desFeiertagsgesetzes, sondern als wirklichen Tag des Gedenkens, in ei-ner nachdenklichen Stunde inmitten der Alltagsarbeit, auch der All-tagsarbeit eines Parlamentes.“

Heute, am 27. Januar 2004, am Ende eines Plenartages des Hessi-schen Landtages und inmitten der Parlamentsarbeit, veranstalten wirhier zum zweiten Mal im Hessischen Landtag diese Gedenkfeier, umgemeinsam der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu

gedenken.

Es hat nicht nur große symbolische Bedeutung, es ist zugleich auchein Zeichen für den Gegenwarts- und Zukunftsbezug dieses Geden-kens, dass heute der Vorsitzende des Vorstands des Jüdischen Welt-kongresses, Herr Dr. Israel Singer, zu uns sprechen wird. Dies ist einegroße Ehre für uns. Ich begrüße Sie, sehr geehrter Herr Dr. Singer,und Sie, Frau Singer, herzlich bei uns im Hessischen Landtag, und ichbin Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie nachher zu uns sprechenwerden.

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Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Gedenktag soll derErinnerung dienen: der Erinnerung an die Frauen, an die Männer, andie Kinder, die zu Opfern einer wahnhaften Ideologie wurden, die auf-grund von abstrusen Kategorien für „lebensunwert“ erklärt wurden. Mitunserem Erinnern und damit unserer Weigerung, die Opfer zu verges-sen, treten wir der Absicht der Täter entgegen, die jede Erinnerung anihre Opfer auslöschen wollten.

Mit dem Erinnern ist verbunden, Lehren für uns und für kommendeGenerationen aus diesem Tiefpunkt der deutschen Geschichte zu zie-hen. So ist und bleibt es unsere Pflicht, Unrecht beim Namen zu nen-nen und an die nächste Generation weiterzugeben, was unsere Ver-antwortung vor der Geschichte gebietet.

So ist und bleibt es unser ständiger Auftrag, wachsam und widerstands-bereit zu sein gegen Intoleranz und Verletzungen der menschlichenWürde. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass mit zuneh-mendem zeitlichen Abstand zu der Zeit von 1933 bis 1945 das Erin-nern und das Bewusstmachen der nationalsozialistischen Gräueltatenmehr und mehr zu einem Vorgang der geschichtlichen Betrachtungwerden.

Der schrittweise Wegfall der Generationen, die unmittelbar und mittel-bar Opfer des totalitären Staates auf deutschem Boden gewordenwaren, stellt uns in die Aufgabe, gerade im Bereich unseres Bildungs-wesens die nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um dasBewusstsein zu bilden, welches sicherstellt, dass auch in Zukunft dierichtigen Lehren gerade aus diesem Teil unserer Geschichte gezogenwerden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird uns leider nicht er-spart bleiben, dass es immer wieder Menschen geben wird, die ent-weder gedankenlos, aus Dummheit oder aus Absicht, da verblendetund von niederen Motiven getrieben, die Gebote der Toleranz und derMenschenwürde missachten und schwer verletzen, die also die Leh-ren der Geschichte ausblenden, weil sie aus Neid, Missgunst oder Hassihr Feindbild gegen anders Aussehende, anders Glaubende oder an-ders Denkende glauben, aufbauen zu müssen.

Diesen Erscheinungen tagtäglich immer wieder in aller Deutlichkeitentgegentreten zu wollen und zu können, bedarf es der steten Erinne-

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rung und des fest verankerten Bewusstseins: Nie wieder darf derglei-chen geschehen.

Ich bin dankbar, dass so viele Vertreter des öffentlichen Lebens unse-res Bundeslandes der Einladung des Hessischen Ministerpräsidentenund des Hessischen Landtags gefolgt sind. Ich bin mir bewusst, dasses aus Anlass des 27. Januar eine Reihe von Gedenkveranstaltungengibt; das ist gut so.

Gegenüber unserem Landtag, im Rathaus unserer LandeshauptstadtWiesbaden, um nur ein Beispiel zu nennen, wird in diesen Tagen eineAusstellung gezeigt, die Sie, verehrter Herr Oberbürgermeister, vorgut einer Woche eröffnet haben und die eindrucksvoll das Schicksalder Sinti und Roma in Hessen, welches ihnen durch die Verfolgungdurch den Nationalsozialismus widerfahren ist, aufzeigt.

In unseren Schulen und Klassen sind das Gedenken an die Opfer dernationalsozialistischen Gewaltherrschaft und die Befassung mit denUrsachen des Entstehens der Diktatur und deren Folgen Teil des Un-terrichts. Stellvertretend möchte ich eine Klasse des Elly-Heuss-Gym-nasiums Wiesbaden erwähnen, die heute an dieser Gedenkstundeteilnimmt.

Danken möchte ich dem Trio Piviso, einem Trio, welches uns vomPhilharmonischen Verein der Sinti und Roma vermittelt wurde, nament-lich Frau Jutta Zech, Herrn Istvan Kuruc und Herrn Dr. Pavel Gilik, dieunsere Gedenkveranstaltung musikalisch umrahmen. AufrichtigenDank dafür.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie nochmals will-kommen heißen und Ihnen dafür danken, dass Sie mit Ihrer Anwesen-heit, auch in so großer Zahl, nicht nur dieser Gedenkstunde einenwürdigen Rahmen geben, sondern ihr die Bedeutung auch nach au-ßen hin verleihen, die ihrem Anlass entspricht.

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G E D E N K R E D E

Dr. Israel SingerVorsitzender des Vorstands

des Jüdischen Weltkongresses a. D.

Herr Landtagspräsident, Herr Ministerpräsident, Herr Strauß!

Ihre Einsamkeit als Volk, als Nation, ist etwas, was auch ich empfin-de, und ich verspreche Ihnen, dass wir uns mit Ihnen als Völker, alsnichtstaatliche Organisationen sehr eng verbunden fühlen, sodass Sieniemals wieder das Gefühl haben müssen, dass Sie während des Krie-ges und nach dem Krieg völlig alleine gelassen werden. Ich möchte,dass Sie wissen, dass wir verstehen, was es bedeutet, einsam zu sein.Wir möchten nicht, dass Sie dieses Gefühl noch einmal haben müs-sen.Herr Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, Ihnen möchte ich sagen,ich werde nicht so reden, wie andere Amerikaner reden, und Sie fra-gen: Warum leben Sie denn noch in Deutschland? Ich werde Ihnensagen, dass Juden schon lange von einem Ort zum anderen gejagtwurden. Sie haben sich an überraschenden Orten niedergelassen. Diesist immer wieder in der Geschichte passiert. Sie hatten manchmal Er-folg dabei, und sie haben oft Orte der Kultur geschaffen, Finanzplätze,Orte der Bildung, Orte, wo sich auch die Menschenrechte entwickel-ten. Denn es gab eine Verheißung, und es gab einen Traum. Das warnicht begrenzt auf bestimmte Orte oder nur einen Ort.

Man sagt, dass Gott dadurch Nächstenliebe – Liebe für die Juden undfür die Welt – gezeigt hat, dass er die Juden in der Welt verteilt hat. Siegehören zu denjenigen, die in der Welt verteilt wurden, und auch Ih-nen ist Nächstenliebe widerfahren – und Deutschland auch. Ich ver-stehe Sie, und ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich verspreche Ihnen,dass Sie keine Gemeinde sein werden, die man als weniger wichtig,als weniger erfolgreich als andere betrachtet. Man wird Sie auch nichtnur an Ihren Zahlen messen.

Lassen Sie mich beginnen, indem ich Ihnen sage, dass etwas Unge-wöhnliches passiert. In Deutschland wächst die sich am schnellsten

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entwickelnde jüdische Gemeinde heran. Wir wollen dies ganz klaraussprechen. Wir wollen die Wahrheit ganz klar hier sagen. Wennman sich nur mit der Vergangenheit beschäftigt, dann schließt manauch die Augen vor manchem Übel, das heute passiert. Dann vermei-det man auch, sich mit der Zukunft zu befassen. Manchmal ist dieZukunft gar nicht so anders als die Vergangenheit.

Ihnen, die den Mut haben, hier zu leben, die hier ein jüdisches Lebenführen und die Unterstützung vom Ministerpräsidenten, vom Landtags-präsidenten, von diesem Parlament, von diesem Bundesland erfah-ren, sage ich heute: Ich wünsche Ihnen, dass Gott Ihnen Stärke gibt.Wir werden Ihnen ebenfalls helfen. Wir werden Ihnen nicht physischoder materiell helfen; das brauchen Sie nicht. Wir werden Ihnen auchnicht finanziell helfen; das brauchen Sie auch nicht. Aber wir werdenIhnen dadurch helfen, dass wir Sie respektieren und Sie bitten, uns zurespektieren, denn Sie sind einer von uns. Sie sind unsere Brüder undSchwestern, die an einem Ort leben. Sie gehören zu uns.

Meine Damen und Herren, als Kind von Menschen, die diesen Konti-nent unter den schwierigsten und unangenehmsten Umständen, dieman sich vorstellen kann, verlassen mussten, ist dies heute ein ganzbesonderer Abend für mich. Ich wurde Tage, nachdem meine Eltern inAmerika ankamen, geboren. Meine Eltern wurden von diesem Konti-nent vertrieben. Sie waren sehr gebildet. Sie wurden von 68 Ländernwieder vertrieben und nicht in diese Länder hineingelassen, sondernihnen wurde der Zugang verweigert.

Roman Herzog hat es hervorragend gesagt. Er kann sogar recht gutHebräisch sprechen. Sein Hebräisch ist besser als das von vielen an-deren. Ich habe das herausgefunden, als ich ihn besuchte und mit ihmrechtliche Probleme besprochen habe. Er konnte in den hebräischenUrsprungstexten lesen.

Es gibt Deutsche, die in den letzten 60 Jahren unter sehr schwierigenUmständen versucht haben, sich der eigenen Vergangenheit, dem,was zwischen 1933 und 1945 passiert ist, zu stellen. Ihnen möchte ichsagen: Diese Aufgabe hat erst begonnen. Mit dem, was überall in Eu-ropa, um Deutschland herum, passiert, haben Sie sich erfolgreich aus-einander gesetzt, erfolgreicher als alle anderen europäischen Länder.

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Ihnen in Hessen, diesem wichtigen Bundesland, möchte ich sagen:Machen Sie so weiter. Heute Abend ist ein Beispiel Ihrer Arbeit.

Bundespräsident Johannes Rau hat an jeden überlebenden früherenZwangsarbeiter einen Brief geschrieben, in dem er um Vergebunggebeten hat. Ich habe dieses Abkommen ja mit ausgehandelt. In die-sem Zwangsarbeiterabkommen ging es gar nicht mal so sehr um Geld.Es ging um eine Geste wie diesen Brief, in dem der Bundespräsidentim Namen Deutschlands um Vergebung gebeten hat. Er hat diesenBrief wirklich an jedes überlebende Opfer geschrieben. Das war einwirklich historischer Augenblick, ein historischer Wandel. Jeder Mensch,der diesen Brief erhalten hat, hat nicht nur einen Brief mit einem Scheckerhalten, sondern er hat etwas viel Wertvolleres erhalten, nämlich einePerspektive, wie die Geschichte sich ändern kann.

Es gab auch andere, nicht nur deutsche Präsidenten, den KanzlerVranitzky zum Beispiel. Er sprach in der Knesset. Er hat versucht, et-was Ähnliches zu machen. Er hat etwas gemacht, was andere in Öster-reich nicht so gerne sahen. Präsident Koller in der Schweiz hat für dieNeutralität der Schweiz um Vergebung gebeten. Und Präsident Chiracin Frankreich hat zugegeben, dass nicht ganz Frankreich in jenen Jah-ren Teil der Résistance war, sondern er hat eingestanden, dass eingroßer Teil Frankreichs und auch ein großer Teil der politischen Füh-rung an der Verfolgung der Juden mitgewirkt hat. Dieser KontinentEuropa ist also kein Kontinent der Résistance-Kämpfer gewesen, derMenschen, die sich alle dem Terror widersetzt haben. Es ist kein Kon-tinent derjenigen, die sich selbst befreit haben. Es war natürlich nichtnur ein Kontinent der Nazis, sondern es war ein Kontinent, der Grundgenug hatte, sich am 27. Januar über viele Dinge Gedanken zu ma-chen, nicht nur in diesem Bundesland. Aber das ist das, was wir heuteAbend machen.

15 so genannte Wahrheitskommissionen – man kann sie wirklich nurso bezeichnen – sind in den letzten Jahren entstanden. Sie beschäfti-gen sich mit der Vergangenheit dieses Kontinents und auch mit derNeutralität der USA. Ich sage das als Amerikaner, der Tage, nachdemmeine Eltern in Amerika ankamen, geboren wurde: Ich bin stolz, Ame-rikaner zu sein. Aber ich bin nicht stolz auf alles, was die Amerikanergemacht haben, vor allem in der Zeit bis 1941, als die USA in denKrieg eintraten – und nicht aufgrund dessen, was Deutschland seinen

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eigenen Bürgern angetan hat. Meine Familie, ein Großteil meiner Fa-milie, war schon tot. Wir sind nicht stolz auf diese Neutralität der USAdamals. Man kann dem Bösen gegenüber nicht neutral sein. Das istder Grund, warum wir diesen Festakt hier begehen. Das ist auch derGrund, warum wir unsere Jugend über diese Ereignisse aufklärenmüssen. Das ist auch der Grund, warum wir einen Wandel im Denkenauf diesem Kontinent herbeiführen müssen.

Sie wissen, Kain und Abel hatten eine Meinungsverschiedenheit, undda ging es um religiöse Präferenzen. So fangen solche Dinge oft an –nicht immer, aber manchmal. Ich sage das als jemand, der sehr religi-ös ist. Sie wollten beide die Gunst Gottes definieren, und sie habendas beide auf ihre Art und Weise gemacht. Der eine hat gedacht, dassder andere erfolgreicher wäre, und hat ihn aus religiösen Gründenumgebracht. Im Holocaust wurden Millionen von Menschen aufgrundder Religion umgebracht. Diese Geschichte hat in einer gewissen Be-ziehung mit Kain und Abel angefangen. Die Religion ist häufig nichtdie Ursache des Friedens oder der Lösung von Problemen, sonderndie Ursache von Krieg und Mord. Ich sage das als Jude. Alle religiösenMenschen müssen sich genau prüfen. Sie müssen ihren eigenen Glau-ben überprüfen und überlegen, was diesem Glauben innewohnt undob das nur positive Dinge sind. Wir alle müssen das tun. Solange wirnicht wirklich erkennen, dass Menschen wichtiger sind als Orte, wirdes nirgendwo Frieden geben. Alle Religionen müssen sich damit aus-einander setzen. Das ist die Geschichte von Kain und Abel.

Wir wollen uns einmal damit beschäftigen, warum so etwas passiert.Der erste große Dialog in der Geschichte fand in der Schöpfung statt.Es war kein Gespräch zwischen Menschen. Am dritten Tag der Schöp-fung wurden Bäume geschaffen, und sie versprachen, dass sie – alsTeil der Abmachung, sozusagen als Gabe wieder zurück an Gott –Schatten und Obst spenden würden. Dann hat Gott die Menschen er-schaffen. Nach der jüdischen Tradition kamen die Bäume wieder zuGott und sagten: Du hast uns versprochen, dass wir leben könntenund die Welt ein grüner Ort werden würde, wenn wir Schatten undObst spenden. Jetzt hast du die Menschen erschaffen, und die Men-schen werden uns, die Bäume, fällen und vernichten. Sie werden die-sen besonderen Ort des Lebens, an dem wir entstehen sollten, zerstö-ren. Wir wollten ja frische Luft in die Welt bringen. Wir wollten eineUmwelt werden, die die Erde zu einem schönen Ort macht. Die Men-

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schen, die du erschaffen hast, werden Werkzeuge und Waffen ver-wenden, um uns zu vernichten. Damit wirst du alles wieder zerstören.Gott, wie kannst du so etwas tun?

Die jüdische Tradition basiert auf solchen Streitgesprächen mit Gott.Wenn Sie also wissen wollen, wer schuld ist: Das sind wir und er.Vielleicht wollen Sie wissen, wie ich in unserer Tradition erzogen wur-de. Wir haben am Jom-Kippur-Tag, am heiligsten Tag, mit Gott debat-tiert und ein Streitgespräch geführt: Warum hat Gott so gehandelt?Warum hat Gott Frauen zu Witwen gemacht, Kinder zu Waisen? War-um hat er uns arm und hungrig gemacht? Und du willst über uns urtei-len? Nach der jüdischen Tradition ist jeder schuldig, auch Gott. Am27. Januar, jedes Jahr sehen wir das, und auch an jedem anderen Tagdes Jahres.

Man hört sich das an, was die Bäume, die Pflanzen, das Wasser undeine gute Umwelt zu sagen haben. Und Gott sagte dann: Die Men-schen, die ich geschaffen habe, habe ich aus einem bestimmten Grundgeschaffen. Sie werden sich anders entwickeln als ihr, und sie werdenandere Dinge wieder entstehen lassen – nicht unbedingt bessere Din-ge, aber andere Dinge. Ihr Bäume, gebt ihnen aber nicht die Griffe fürdie Werkzeuge. Ihr seid das Holz, aus dem die Griffe für die Äxte ge-macht werden. Mit diesen Äxten werdet ihr und eure Brüder und Schwe-stern umgebracht. Das ist nicht mehr meine Verantwortung. Das istdie Sache der Menschen. Gebt den Menschen aber nicht diese höl-zernen Griffe, mit denen sie die Äxte machen, mit denen sie euchselbst zerstören.

Heute komme ich in das neue Deutschland. Ich sage diesem neuenDeutschland: Gebt denen, die eure Kinder töten wollen, nicht dieseGriffe, nicht das Holz für diese Griffe. Wirkt nicht mit an diesen bösenTaten, die die Welt zerstören. Denn sie werden am Ende auch euchvernichten, nicht nur die anderen. Diese Griffe für die Äxte sozusagenkommen nämlich von euch, von niemand anderem.

In den letzten 60 Jahren haben Sie nicht mit denen zusammengear-beitet, die Böses tun, weil Sie anders waren als die Nachbarn, selbstauf dem eigenen Kontinent – vielleicht, weil Sie sich besonders schul-dig gefühlt haben. Schuld ist nichts, dessen man sich schämen muss.Es ist etwas, was man nach außen tragen kann. Es ist etwas, was

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man weitergeben kann. Es ist etwas, was man anderen nahe legenkann. Es ist etwas, was man durchaus in ganz Europa und im Rest derWelt verbreiten kann. Sie machen das richtig. Hören Sie nicht auf da-mit.

Sie wissen: Als der Pharao diejenigen vernichten wollte, die neu insein Land kamen und den ersten Aufstand anzettelten, gab es denExodus. Da hat er Hiob, Bilam und Jitro zusammengerufen. Er hatzunächst einmal Bilam gefragt: Was macht man mit diesen Juden, diesich so schnell fortpflanzen und sich nicht verhalten wie die normalenÄgypter? Bilam hat gesagt: Töte sie, nimm die Jungen und wirf sie inden Nil. – Nach dem Talmud heißt es, dass Bilam ein falscher Prophetwar und getötet wurde. Dann fragte er Jitro, den Schwiegervater vonMoses: Was macht man mit diesen Juden, die immer mehr werdenund diesen merkwürdigen Glauben haben? Er sagte: Tu ihnen nichtsBöses, es sind Menschen mit einem besonderen Auftrag. Sie werdenuns allen Dinge beibringen, die wir wissen müssen. – Das sagt derTalmud. Er wurde der Vorläufer aller Rechtssysteme auf der Welt, er,dieser Philosoph, wurde der Begründer aller Rechtssysteme, nicht nurdes jüdischen Rechtssystems. Das kann man in der Bibel nachlesen.

Dann fragte er Hiob, den Leidenden, den am meisten Gestraften, den-jenigen, der am meisten Schmerz empfunden hat in der Geschichteder Literatur. Er fragte ihn: Philosoph Hiob, was meinst du, wie sollenwir mit den Leuten umgehen? Der Talmud sagt uns, dass Hiob schwieg,neutral blieb. Er sagte nichts, denn er konnte sich nicht entscheiden,was er dem Pharao sagen sollte. Es ist der einzige Ort in der Ge-schichte der Theologie, an dem der Mensch, der am meisten litt, be-schrieb, warum dieses Leiden stattfand.

Meine Damen und Herren, Sie sind hier zusammengekommen, umsich am 27. Januar Gedanken zu machen, wie es weitergeht, was SieIhren Kindern weitergeben, wie Sie sich auf diesem Kontinent verhal-ten, auf dem Böses geschehen ist. Wenn Sie sich die Ratschläge an-schauen, die Bilam und Jitro gegeben haben, muss man sagen: Blei-ben Sie nicht stumm. Schweigen Sie nicht so, wie Hiob es gemachthat. Es war falsch, was er getan hat. Das Schweigen führt zum Leid.Das Schweigen bringt Leid über die Menschen. Das ist der falscheWeg. Schweigen ist der schlimmste Schmerz. Denn von diesemSchmerz kann man sich nie lösen.

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Ich bin also heute Abend hier und sagen Ihnen, dass Sie sich dafürentschieden haben, zu sprechen und nicht zu schweigen. Sie tun diesauf eine Art und Weise, dass Sie über Wiesbaden hinaus gehört undverstanden werden. Denn es gibt heute einen neuen Antisemitismusin Europa. Die Leute schämen sich gar nicht mehr. Aus unterschiedli-chen Gründen gibt es diesen Antisemitismus. Manchmal braucht manSündenböcke. Diejenigen sollten sich schämen, die sich nicht dage-gen aussprechen, die nicht dagegen aufstehen.

Ich hatte ein zweites Treffen mit dem Präsidenten der EuropäischenKommission. Ich vertraue ihm. Aber wir brauchen mehr als nur denPräsidenten der Kommission und sein Engagement. Wir brauchensolche Treffen. Wir brauchen Menschen, die sich überall in Europaengagieren. Es geht nicht nur um die Juden. Da haben Sie Recht. Espassiert auf diesem Kontinent, es passierte in den Neunzigerjahren.Manche Leute haben gesagt, wir sollten gar nicht dagegen einschrei-ten. Manche haben gesagt, wir sollten uns verhalten wie Hiob undnichts tun, sondern schweigen. Das Böse darf man nicht ignorieren.Gegen das Böse muss man vorgehen.

Herr Ministerpräsident, Herr Landtagspräsident, Sie haben etwas ge-macht, was wirklich sehr inspiriert war. Hören Sie nicht auf damit. Blei-ben Sie dabei. Es soll auch nicht nur in diesem Raum, in diesem Ple-narsaal bleiben. Denn alle, die heute gekommen sind, sind ja schonengagiert. Geben Sie es weiter an jedes Kind, an jeden Schüler, anjeden Menschen draußen, vor allem in den Schulen, damit man es indie nächste Generation weiterträgt, sodass dieser Ort hier nicht nursicher für sich selbst ist, sondern auch Sicherheit für die Nachbarnausstrahlt – durch die Lehren, die Sie gezogen haben, durch die Leh-ren, die die deutschen Regierungen gezogen haben, durch die Me-chanismen, die es in diesem Land gibt, durch die verschiedenen Kom-missionen, die auch Verhandlungen zwischen Regierungen einschlie-ßen, in denen es um Sinti und Roma geht, in denen es auch um Kom-munisten geht. Es gibt ja Menschen unterschiedlichster Weltanschau-ung. Ich bin auch gar nicht immer mit denen einverstanden. Aber die-se Menschen haben doch das Recht auf ihre eigene Meinung. Undman darf sie nicht verfolgen. Man darf nicht ihre Rechte beschneiden,das Recht, zu denken und zu sprechen. Jeder sollte das Recht haben,zu sprechen.

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Schließlich möchte ich Ihnen sagen: Ich bin heute Abend auch auseinem besonderen Grund hier. Ich möchte an diesem Festakt teilneh-men. Ich könnte sagen: Na ja, mal schauen, ob die Leute hier wirklichetwas geleistet haben, ob sie jetzt besser sind als vor 60 Jahren. Dannstelle ich fest: Gut, das hat sich in diesem Land verbessert. – Aber somache ich es nicht. Ich möchte es vielmehr so machen, dass ich michwirklich anstrenge und mir diesen Ort anschaue, wo es ambivalenteGefühle gibt. Auch ich selbst habe ambivalente Gefühle. Das muss ichzugeben.

Ich habe die Frage aufgeworfen: Warum leben Sie als Juden inDeutschland? Mir wurde dieselbe Frage gestellt: Warum gehst du nachDeutschland? Ich sage darauf: Die Deutschen sind bereit, sich ihrerVergangenheit zu stellen. Sie sind bereit, etwas zu ändern. Ich denke,das ist aller Ehren wert. Es ist hier ein Land, das sich bemüht, demBösen zu widerstehen und das Böse abzulehnen. Das müssen wirtun, nicht nur für uns, nicht nur für uns Juden, sondern für alle.

Das Leiden, das durch das Schweigen entsteht, das Schweigen vordem Bösen, ist ein Schmerz, ein Schmerz, den wir nicht haben sollten.Wir haben den Traum, dass es eine Welt gibt, in der Leute gegen dasBöse aufstehen, und dieser Traum geht weiter.

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A N S P R A C H E

Roland KochHessischer Ministerpräsident

Herr Landtagspräsident, lieber Herr Singer, liebe Kolleginnenund Kollegen, verehrte Gäste, liebe Schülerinnen und Schüler,meine Damen und Herren,

1.,,Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generatio-nen zur Wachsamkeit mahnen.” Dies ist der zentrale Satz der Begrün-dung, mit der Bundespräsident Roman Herzog Anfang 1996 den 27. Ja-nuar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismuserklärt hat. Der 27. Januar 1945 - das war der Tag, an dem das Kon-zentrationslager Auschwitz befreit wurde. Auschwitz steht nicht allein.Bergen-Belsen, Treblinka, Majdanek, Theresienstadt, Flossenbürg,Ravensbrück, Neuengamme, Dachau - es sind einzelne Namen, diemit dem Rassenwahn und Massenmord, mit Terror und Qual des na-tionalsozialistischen Herrschaftssystems für immer verbunden bleiben.Hinter den Namen der Orte und den Zahlen der Opfer verbirgt sichunermessliches Leid, menschliche Tragödien, gewaltsam beendeteLebenswege. Die Worte, die uns zur Verfügung stehen, reichen nichtaus, um die Dimension von Verbrechen und Leid zu beschreiben. Ver-schämt reden wir von Barbarei und Völkermord, doch was dies in Wirk-lichkeit bedeutet, dies wissen nur diejenigen, die mit dem Leben ausder Hölle davongekommen sind. ,,Symbolhaft für diesen Terror stehtdas Konzentrationslager Auschwitz” – so heißt es in der Proklamationdes Bundespräsidenten, und dies ist der Grund, weshalb wir uns heu-te hier versammelt haben.

Überall in der Bundesrepublik kommen heute Menschen zusammen,um der Opfer der Nationalsozialisten zu gedenken: in der zentralenGedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag ebenso wie in Schu-len, Hochschulen, in Kirchen, in städtischen und kommunalen Einrich-tungen, und, zum zweiten Mal, hier im Hessischen Landtag. Wir ver-neigen uns in Demut vor den Opfern, und wir gedenken in Dankbarkeit

derer, die die Befreiung möglich gemacht haben. Unsere Gedanken

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sind bei den Überlebenden des Terrors und den Familien der Opfer.Wir empfinden Trauer, Entsetzen und Scham. Die Opfer, das sind über6 Millionen Juden, Christen, Sinti und Roma, Polen, sowjetische Häft-linge und Deutsche, Menschen, die wegen der Zugehörigkeit zu einersogenannten Rasse, zu einer Religionsgemeinschaft, zu einer politi-schen Partei verfolgt wurden, Menschen, die aus ganz unterschiedli-chen Motiven zu Gegnern des nationalsozialistischen Regimes wur-den, die sich für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit aussprachen und sichzu den Grundwerten eines demokratisch verfassten Gemeinwesens

bekannten.

In einer lebendigen Demokratie wie der unseren, ist man leicht ge-neigt, die Errungenschaften für selbstverständlich zu nehmen. Dar-über vergisst man leicht, dass die Verwirklichung von Freiheit und Rechtkeine Selbstverständlichkeiten sind, und dass der Weg dorthin allesandere als gerade war.

Die Staatsgründung der Bundesrepublik, unser Grundgesetz und un-sere Politische Kultur sind konsequente Antwort auf die nationalsozia-listische Zeit. Aus Schaden wird man klug, dies ist die wichtigste Lehreder Geschichte. Wahr ist aber auch eine andere Erfahrung: Geschich-te lässt sich nicht ,,bewältigen”, sie holt uns immer wieder ein. Niewerden wir mit dem Nationalsozialismus fertig sein. Dies lehrt ein Blickauf die Geschichte der Bundesrepublik. Kurz vor Weihnachten hat sichzum 40. Mal der Beginn des Frankfurter Auschwitzprozesses gejährt:die beklemmenden Bilder jener Verhandlungen im Gerichtssaal ste-hen uns vor Augen. Für eine breitere deutsche Öffentlichkeit sind da-mals zum ersten Mal die Verbrechen des Lagersystems in ihrer gan-zen Dimension sichtbar geworden. Leugnen, Wegsehen, diese Opti-on war angesichts der Bilder des Grauens versperrt. Gewiss, nochimmer kam es zu Schuldabwehr und Schuldverrechnung, doch derAuschwitzprozess hat es schwieriger gemacht. Unter die Vergangen-heit lässt sich kein Schlussstrich ziehen. Die großen Verjährungs-debatten des Deutschen Bundestags 1965 haben dies deutlich ge-macht. Zwar lässt sich mit strafrechtlichen Mitteln vergangenes Leidnicht wiedergutmachen, doch die juristische Aufarbeitung des Unrechtsaus der nationalsozialistischen Zeit hat ganz erheblich zur Auseinan-dersetzung der Deutschen mit dem Dritten Reich beigetragen.

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Die Ereignisse, derer wir heute gedenken, liegen beinahe 60 Jahrezurück. Nur noch ein geringer Teil der heute Lebenden hat persönlicheErinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Knapp 60 Jahrenach Kriegsende sind wir in unserem Wissen über Herrschaftssystemund Machtausübung der nationalsozialistischen Diktatur weit fortge-schritten - im Begreifen der Tragödie, im Begreifen des Ausmaßes anLeid, das Deutsche im Namen ihres Staates anderen Menschen zuge-fügt haben, stehen wir indes noch ganz am Anfang. Dies ist der Auf-trag, weshalb wir nie aufhören dürfen, uns zu erinnern.Was heißt richtiges Erinnern? Haben wir eine Form des Erinnerns ge-funden, die in die Zukunft wirkt? Sicher bin ich mir da nicht. Jedenfallsgenügt es nicht, ein- zweimal im Jahr an Feiertagen zusammenzu-kommen, die rechten Worte zu finden und den Rest des Jahres sei-nem Tagesgeschäft nachzugehen. Richtig verstandenes, der Zukunftzugewandtes Erinnern ist eine Frage der inneren Einstellung und derGrundüberzeugung. Zu oft, und so auch im zurückliegenden Jahr, ha-ben wir Rückschläge erlebt, ist längst für überwunden geglaubtes ewig-gestriges Gedankengut wieder an die Oberfläche gekommen. Dieswar nicht nur bedrückend und beschämend, dies zeigt auch, wie sehrdas Dritte Reich noch immer in die Gegenwart hineinragt und wie not-wendig es gerade in diesen Zeiten des Übergangs ist, sich der Verant-wortung vor der Geschichte zu stellen und die Lehren der Geschichtefür die nachkommenden Generationen zu bewahren.

Gewiss ist die Zeit des bloßen Schweigens und Verdrängens vorbei.Das Dritte Reich ist fester Bestandteil der Lehrpläne in unseren Schu-len. Die Zahl der Bücher über den Nationalsozialismus ist Legion, undim Kalender des öffentlichen Gedenkens haben die Opfer von Natio-nalsozialismus und Krieg ihre festen Plätze: der 8. Mai 1945, der 20.Juli 1944, der 1. September 1939, der 9. November 1938. Doch habenwir damit schon die richtige Erinnerung für die Zukunft? Und was be-deutet dies für unser Leben, für unser politisches und gesellschaftli-ches Handeln?

Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Als geschichtlichesWesen sind wir Menschen auf Erinnerung angewiesen; ohne Erinne-rung stürzen wir ins Leere. Ein Volk, so in Anlehnung an das klassi-sche Diktum des französischen Religionswissenschaftlers ErnestRenan, ist die Gemeinschaft der Toten, der Lebenden und der Künfti-gen. Voraussetzung für die Zusammengehörigkeit ist das Bewusstsein,

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ein gemeinsames Schicksal zu meistern. Das setzt das Bekenntniszur eigenen Geschichte voraus. Nationalgeschichte lässt sich nichtaufspalten in gute Abschnitte und weniger gute. Wir müssen uns derganzen deutschen Geschichte stellen, sie annehmen, und dazu ge-hört in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ganz wesent-lich das Leid, das von Deutschen in der Zeit der nationalsozialistischenDiktatur in die Welt gebracht wurde. Der Nationalsozialismus war nichtdas Ziel, nicht die zwangsläufige Folge der deutschen Geschichte.Auschwitz ist nicht der Schlusspunkt der Geschichte.

Die Einsicht in die Geschichte, die Fähigkeit, Lehren aus der Geschichtezu ziehen, hängt wesentlich mit Wissen, mit Kenntnissen, mit Bildungzusammen. Es ist viel damit gewonnen, wenn wir reden, erzählen,zuhören, nachfragen, und uns für einander interessieren. Zum Ver-mächtnis der Opfer gehört in diesem Zusammenhang schließlich auchdie Mahnung, dass sich Verbrechen nicht aufrechnen lassen und dassdie Schuld für Auschwitz etwas qualitativ anderes ist als die Verurtei-lung der Fehler der Politik der Alliierten.

Erinnerung — dies ist auf vielfältige Weise auch ein Auftrag für unsereLandespolitik. Ich beschränke mich auf ein Beispiel. 1996 hat das LandHessen zum Aufbau einer Friedensstiftung in unserer PartnerregionEmilia-Romagna beigetragen. Der Sitz der Stiftung Monte Sole, ist blut-getränkter Boden. Im Oktober 1944 haben dort Angehörige der SSunter der italienischen Zivilbevölkerung ein entsetzliches Massakerangerichtet. Heute ist Monte Sole ein Ort der Begegnung und derFriedenserziehung. Hier treffen sich junge Menschen aus Israel undPalästina, aus Italien und Deutschland und der ganzen Welt, um sichauszutauschen und voneinander zu lernen. Gibt es eine besserenAnsatz, für eine Zukunft in Frieden und Versöhnung?

Erinnerung: Jede Generation hat ihre eigene Erinnerung. Für meineGeneration etwa, deren politisches Bewusstsein in den frühen 70erJahren eingesetzt hat, gehörte die Gegenwart der nationalsozialisti-schen Vergangenheit zu unseren politischen Grunderfahrungen und-prägungen dazu. Die Generation der Mütter und Väter des Grundge-setzes, unsere Lehrer und Hochschullehrer, das war die Generationderjenigen, die alle auf die ein oder andere Weise ihre Erfahrung mitHitler und der nationalsozialistischen Zeit gemacht hatten, die sich bis-weilen verstrickt hatten, es waren Opfer unter ihnen, auch solche, diekeine Opfer waren, aber so taten, als seien sie es, und es war die

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schweigende Mehrheit, die nach vorne blicken und nicht mehr an daserinnert werden wollte, was seinerzeit verschämt als ,,die jüngste Ver-gangenheit” bezeichnet wurde. Das Gedenken ist nicht etwas, was einfür allemal festgelegt wird; es ist vielmehr Aufforderung zum Denken,zum Nachdenken darüber: wie war es möglich geworden und welcheFolgerungen müssen wir ziehen, damit es nie wieder möglich wird.Dies ist der zentrale Auftrag des Tags des Gedenkens an die Opferdes Nationalsozialismus.

Wie war es möglich? Das Ende ist nicht losgelöst vom Anfang zu se-hen. Der 27. Januar 1945 — die Befreiung von Auschwitz — steht nahebeim 30. Januar 1933, dem Tag der nationalsozialistischen Machter-greifung. Hitler hat sich nicht in einem Staatsstreich an die Macht ge-putscht. Die Demokratie von Weimar zerbrach auch daran, dass es zuwenig aufrechte Demokraten gab: Machtverfall — Machtvakuum —Machtergreifung. Bis heute ist der Niedergang der Weimarer Republikein klassisches Lehrstück darüber, wie eine Demokratie zum Schei-tern verurteilt ist, wenn sie keine Vorkehrungen gegen den Missbrauchihrer Regelungen kennt. Stufe um Stufe, Zug um Zug hat Hitler seineMachtstellung ausgebaut, die Parteien gleichgeschaltet, die Gewerk-schaften ausgeschaltet, Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu Ras-se und Religionsgemeinschaft verfolgt. Schon in den frühen Jahren,als viele noch von den Erfolgen des Regimes geblendet waren, zeig-ten die Nationalsozialisten ihr wahres Gesicht. Die Bücherverbrennung,der Boykott jüdischer Läden, dies waren unheilvolle Vorboten kom-mender Entwicklungen. Die ersten Konzentrationslager entstanden,und es waren konkrete Orte, nicht selten in unmittelbarer Nachbar-schaft. Viele haben weggesehen, als mitten unter ihnen Juden, be-kennende Christen, Kommunisten, Sozialdemokraten wie Christdemo-kraten in den Lagern verschwanden. Auch durch unterlassene Hilfe-leistung kann man sich strafbar machen. Die Geschichte des DrittenReiches lehrt uns, dass es zu viele waren, die weggesehen haben,ihren Augen nicht glauben wollten, darauf verzichtet haben, Fragen zustellen, wo offenkundig war, dass es nicht mit rechten Dingen zuging.Bequemlichkeit, Obrigkeitshörigkeit, missbrauchter Idealismus, Indok-trination — die Gründe für das ,,zu wenig” sind verschieden, das Re-sultat indes immer das gleiche. Hätte es mehr Frauen und Männer desWiderstands gegeben, hätte es mehr stille Helfer, hätte es mehr cou-ragierte Deutsche gegeben, so hätte dies zwar noch nicht das Regimezum Einsturz gebracht, doch es hätte Menschenleben gerettet. Hüten

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wir uns indes davor, das höhere moralische Gelände zu besetzen. Wirwissen nicht, wie wir gehandelt hätten.Aus Schaden wird man klug. Haben wir unsere Lektionen gelernt?Auschwitz ist nicht nur Vergangenheit, Auschwitz ist immer auch Ge-genwart. Auschwitz und die anderen Orte der Vernichtung haben ge-zeigt, wie brüchig der Boden ist, auf dem wir uns bewegen. Der Natio-nalsozialismus ist in Deutschland nach 1945 nicht mehr wiedergekehrt,doch das Gespenst der totalitären Regime ist noch nicht gebannt. Nochimmer gibt es auf der Welt zu viele Diktaturen, zu viele Staaten, indenen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Auch in die-ser Stunde wird auf unserer Welt von Staats wegen verfolgt, gequält,gefoltert und gemordet. Von der universellen Gültigkeit der Menschen-rechte sind wir noch immer ein gutes Stück entfernt. Und dennoch:Das humanitäre Völkerrecht ist seit 1945 fortentwickelt. Es gibt Min-derheitenschutz, es gibt Religionsfreiheit und wir haben das Recht vonpolitisch Verfolgten auf Asyl. Die Würde des Menschen ist unantast-bar, lautet der erste und zentrale Satz unseres Grundgesetzes. Er stehtnicht ohne Grund am Anfang, so wie der Grundrechtsteil den übrigenBestimmungen des Grundgesetzes vorangeht.

Was es heißt, wenn die Menschenrechte mit den Füßen getreten wer-den, davon haben wir uns auch in unseren Tagen ein Bild machenkönnen: auf dem Balkan, im Irak, in Nordkorea. Es ist fast immer diegrausame Wirklichkeit, die das übertrifft, was sich kranke Köpfe in ih-ren Wahnvorstellungen ausgedacht haben. Nie wieder Auschwitz, diesbleibt vorrangig ein wesentlicher Auftrag unserer parlamentarischenDemokratie. Es ist ein Zeichen der Vergebung, der Freundschaft undder Hoffnung, dass Israel Singer heute hierher gekommen ist, um zuuns zu sprechen. Es gibt heute wieder jüdisches Leben in Deutsch-land. Die allmähliche Versöhnung zwischen Juden und Nichtjuden inDeutschland wäre nicht möglich gewesen ohne die Bereitschaft ein-zelner, trotz alledem, was geschehen ist, nach Deutschland zurückzu-kehren und trotz alledem einen Neuanfang zu machen. Auch darauskann Mut für die Zukunft erwachsen, und auch dies hat mit der Fähig-keit, mit der Kraft zur Erinnerung zu tun. Gewiss, es wird noch vieleGenerationen dauern, bis das reiche jüdische Leben wiederkehren wird,das es einst in Deutschland gab. Doch wenn wir das Wissen darumpflegen, dann gewinnen wir eine Vorstellung vom Ausmaß des Ver-lusts, den wir erlitten haben, und wir empfinden Dankbarkeit für dieje-

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nigen, die heute zum jüdischen Leben beitragen und damit zum kultu-rellen Reichtum unseres Gemeinwesens beitragen.

Schließlich bleibt als Lehre aus Auschwitz: Auch in den dunkelstenZeiten der Diktatur hat es ein aufflackerndes Licht der Humanität ge-geben. Frieden und Freiheit, Demokratie und Menschenrechte brau-chen nicht nur unseren Schutz, wenn es darauf ankommt, müssen sieauch verteidigt werden. Wir brauchen deshalb Menschen, die mit gu-tem Beispiel vorangehen. Es waren immer einzelne, die widerstandenhaben, die sich nicht korrumpieren ließen, die ihren Kompass nichtverloren haben. Die Gerechten der Völker, die Männer und Frauendes Widerstands haben uns gelehrt, was Ehre, Mut und Zivilcouragegebieten. Das ist ihr bleibendes Vermächtnis. Nehmen wir es an. Wirsind es ihnen schuldig.

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B I O G R A F I S C H E R H I N W E I S

Dr. Israel SingerVorsitzender des Vorstands

des Jüdischen Weltkongresses a. D.

Israel Singer wurde 1942 als Sohn österreichischer Flüchtlinge gebo-ren und wuchs im New Yorker Stadtteil Brooklyn auf. Nach seinemStudium unterrichtete Politische Wissenschaften mit SchwerpunktNaher Osten an der City University in New York.Von 1969 bis 1971war er Dozent für Politische Theorie an der Bar-Ilan-Universität in Isra-el. Zweimal kehrte er für kurze Zeit der akademischen Welt den Rük-ken, um im Büro des New Yorker Bürgermeisters Lindsay und späterbei Präsident Ford bei deren Wiederwahlkampagnen zu arbeiten.

Israel Singer wurde 1964 als Rabbiner an der Yeshiva Torah voDaathordiniert. Er beschreibt seine religiösen Ansichten als „… nicht vonvornherein kompromisslos, aber mit starken Grundsätzen unterfüttert.Ich versuche, mein Leben mit relativ fundamentalistischen Ansichtenzu führen. Ich halte mich an die Prinzipien des Zionismus, aber in reli-giösen Fragen stehe ich sehr weit rechts. Ich würde mich sogar alsmodernen Orthodoxen klassifizieren und fühle mich nicht einem „One-size-fits-all“-Judentum zugehörig.“

Israel Singer spricht mit Weltführern mit demselben Respekt, Ton undKlarheit, die er auch bei Rabbinern und Studenten anschlägt, und sei-

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ne Agenda ändert sich kaum. Sie ist immer darauf gerichtet, Juden inder Welt zu schützen, ihre Freiheit zu garantieren und dafür zu sorgen,dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Paul A. Volcker, ehemaliger Vor-sitzender der amerikanischen Notenbank Federal Reserve, arbeitetemit Dr. Singer an der Untersuchung der Rolle der Schweizer Bankenim Zweiten Weltkrieg, sagte einmal über ihn: „Er hat einen starkenMissionsdrang und führt seinen Auftrag mit Energie, Wirksamkeit undKonsequenz aus.“

Dr. Singer traf Nahum Goldmann 1969 in Israel, als der damalige WJC-Präsident versuchte, mit den Sowjetbehörden Kontakt aufzunehmen,um nach dem Sechstagekrieg 1967 einen Frieden im Nahen Osten zuvermitteln. Als Aktivist für die diskriminierten Juden in der Sowjetunionwurde Singer zum WJC-Experten für die Ost-West-Beziehungen, späterdann Funktionär und schließlich, zusammen mit dem PräsidentenEdgar M. Bronfman, einer der zwei Spitzenvertreter des Welt-kongresses.Im Rahmen seiner Tätigkeit für den WJC hat Dr. Singer unzähligeReisen rund um den Globus absolviert und dabei fast jede jüdischeGemeinde besucht. Als Generalsekretär des WJC hat er die Verhand-lungen zur Entschädigung von Holocaust-Überlebenden und ihrer Er-ben auf der ganzen Welt zu unterstützen. Er hat mit Deutschland undÖsterreich Zahlungen und Rentenansprüche für Zwangsarbeiter undandere Überlebende der Nazi-Diktatur ausgehandelt und mit den Re-gierungen der Länder Mittel- und Osteuropas erfolgreich Gesprächegeführt bezüglich der Rückübertragung von jüdischem Gemeinde- undPrivateigentum, welches während und nach der Nazi-Zeit beschlag-nahmt worden war. Und er setzte sich erfolgreich ein für Abkommenmit der Schweiz und anderen Ländern hinsichtlich der Rückgabe vonVermögen von Holocaust-Opfern an deren rechtmäßige Erben.

Im Oktober 2001 gab Dr. Singer nach 20 Jahren das Amt des WJC-Generalsekretärs ab und wurde zum Vorsitzenden des Governing Boardder Organisation ernannt. Im April 2002 wurde er zum Präsidenten derConference on Jewish Material Claims against Germany (Claims-Conference) und im Juni 2002 zum Vorsitzenden des InternationalJewish Committee for Interreligious Consultations (IJCIC) gewählt.Weiterhin ist er unermüdlich im Einsatz für einen Dialog zwischen dengroßen Weltreligionen und für die Rechte der jüdischen Gemeinden inder Welt.

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