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Nachdem ich mal wertgeschätzt habe, dass "Lasset die Kinder zu mir kommen" in den religiösen Grundbestand und Hauslatar gehört (Und das ist auch gut so) versuche ich sozialgeschichtlich zu einer spirituellen Konsequenz zu kommen, was es heisst, "zu Kindern zu werden". Sehr vorläufig und unsicher ... aber ich ahne, was das für Kraft steckt.
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Reformierte Kirchgemeinde Reinach
Pfr. Frank Lorenz MBA
Predigt zum „Kinderevangelium“ Mk 10, 13-16
(auch zu: Mt 18, 3: So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen – und synoptische Parellele Lk 18, 15-17)
Sonntag, 29.8.2010, 10.30 Uhr, Mischeli-Kirce
Ungefährer Text der Predigt - Es gilt das gesprochene Wort!
Einleitung:
Das heutige Evangelium ist sehr kurz – und ihr kennt es alle. Sobal ich den zweiten Halbsatz begonnen
habe, hat ihr es erkannt. Es setzt ziemlich unmittelbar ein, geht schnell zu einem Höhepunkt und einem
ziemlich zentralen Jesus-Satz und schliesst mit einem Klang, der lange nachwirkt. Lasst euch also hin-einnehmen ...
1) V. 13 Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre.
2) Die Jünger aber fuhren sie an.
3) V. 14 Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen
und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. V.15 Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
4) V.16 Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.
Längeres ruhiges Lied singen, den Bibeltext „setzen“ zu lassen
Meine Lieben
Ich möchte etwas vorausschicken: Diese wunderschöne Szene kennt jedeR von uns und sie gehört in un-
seren inneren religiösen Hausaltar, in unsere innere Schatzkiste, und das ist auch gut so: Und bevor ich
auf die verschiedenen Dimensionen des Textes eingehe – möchte ich diese Geschichte und ihren Stand-
ort in unserem Herzen wertschätzen: Ich habe das alles auch – Das Bild vom liebevollen, gütigen Heiland
im weiten Gewand, der unsere Kinder, und uns alle als Kinder, in den Arm nimmt und von herzen herzt –
das ist archetypisch, wohltuend und soll dort bleiben, wo es ist: in unserem gemeinsamen Unterbewusst-sein.
Meine weiteren Gedanken sind Ergänzung dazu und Vertiefung ...
Also: Die Grundsituation ...
Jesus ist auf dem Weg – aus seiner Heimat nach Jerusalem
- nach seiner Taufe (wo er den Himmel offen gesehen hat – und die grosse Liebeserklärung des
Ewigen gehört hat)
- Auf seinem Weg, an allen Ecken und Enden „schrien“ („ekrazon“: brüllen, krächzen --< das wa-
ren keine heiteren, melodischen Engelschöre) alle nach ihm: „Hosianna“ beim Einzug in Jerusa-
lem, heisst wörtlich: Hilf, doch Gott! Und: Blinde und Blutflüssige fassten ihn an Man kann es
sich gar nicht krass genug vorstellen: die Sehnsuchtsstimmung, die sozialen Spannungen und
die (auch religiösen) Verunsicherungen innerhalb dieses ehemalig stolzen, monotheistischen
Volkes mit kleinen judäo-römischen (politheistischen) reichen Oberschicht und der grossen ein-
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fachen, ärmer werdenderen Landbevölkerung (und einem wachsenden Stadtproletariat)
- Mit seinen Jüngern, die begeistert sind von ihm und den vielen Wundern und den Umkehrungen
der Verhältnisse von rein und unrein, von gut und schlecht und oben und unten aber auch über-
fordert:
- Schliesslich sind sie Handwerker und Fischer und wenig gebildet – Waren aber bereit, alles
hinter sich zu lassen (Radikalität)– irgendwie sind selbst wie Kinder, wie Lernende, wie Staunen-de
Gehen wir nun Vers für Vers in 5 Punkten durch diese Bibelstelle
1) V. 13 Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre.
1) Wer die brachte wissen wir nicht: Eltern oder Fürsorgende ... Gesetzeslehrer oder fromme Menschen,
die herausfinden wollten wie er sich gegenüber Kindern benimmt ...
Achtung: Kind im griechischen: Teknon – als Abstammender Mensch von seinen Eltern
Als pais oder Verkleinerungsform paidion sind hier Menschen in ihrem gessellschaftlichen Abhän-
gigkeitsverhältnis gemeint
Situation der Kinder war häufig: Hunger, Elend, Verlust der Eltern, häufige Kindesaussetzungen.
– pais heisst „Kind“ und Untergeordneter, Knecht, ja sogar Sklave ( Vgl.: „Hauptmann von Ka-
pernaum“): Sozial miserable Lage der Kinder. Wir reden also hier über strukturelle „Kinder“ – über „Kleine“, „Abhängige“
Diese „kleinen Wesen“ haben in einer agarischen Erwerbsgesellschaft nur bedingte Aufmerksamkeit und geringen Wert (erst ab ihrer Arbeitsfähigkeit)
Und: „Anrühren“: Das heisst etwas vom Wesen geht auf den anderen über, ein „Reiner“ macht andere rein, bzw. ein Unreiner wird gesund oder rein durch die Berührung mit einem Reinen
2) Die Jünger aber fuhren sie an.
Vielleicht aus den Reinheitsgründen fuhren die Jünger die Kinder an – oder weil sie die Kinder als sehr
minderwertig betrachteten. Das griechische Wort das hier gebraucht wird, ist dasjenige, das benutzt
wird, wenn Dämonen „angefahren“ werden. Die Jünger „herrschten (die Kinder) mit Macht an“: Gründe?
- Die Macht dieser machtlosen Kinder soll den Meister nicht betreffen
- Macht ihn nicht unrein
- und überhaupt: jetzt ist Feierabend
- Schutz des Ruhebedürfnis Jesu
- Er ist unser Meister
- Haltet den Meister nicht auf mit solchen Menschen
3) V. 14 Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen
und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. V. 15 Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
Die erste und direkteste Botschaft des Spruches ist:
- Das Reiches Gottes gehört zuerst „denen unten“ (den Kindern, Armen ...)
- Ob die anderen „reinkommen“ hängt davon ab, ob und wie sie sich zu den Armen (hier Kin-
dern) verhalten.
4) V.16 Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.
Die dreimalig anders wiederholte Geste heisst: Er tat es WIRKLICH-RICHTIG-VON HERZEN
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Herzen heisst umarmen
Handauflegen heist: Ein Teil seines Wesens ging auf die Kinder über:
▪ Vermittlung eines höheren Status (die Messias-Salbung und Segnung)
▪ Heilung von Krankheiten und Gebrechen
NB: Das deutsche Wort „segnen“ hat sogar eine christliche Herkunft: es kommt vom lateinischen
crucem signare, „das Kreuz zeichnen“, denn in der Kirche war es schon ganz früh Brauch, den Segen mit
dem Kreuzzeichen zu verbinden – noch bevor es in unserer Sprache ein Wort dafür gab. Wir haben das vorher bei Mia gemacht.
5) Wenn wir nun zurückgehen von der Geschichte in unsere Zeit,
wenn wir Jesus und die Kinder und die unverständigen Jünger als „Figuren“ einer Geschichte verabschie-
den und „zurück“ in die Bibel und in unseren Hausaltar und in unsere Schatzkiste zurücksenden ... dann
haben wir einige ganz klare Botschaften:
a) Widmet euch den Kleinen, nicht nur den Kindern, sondern auch den anderen Kleinen, den anderen
„Unwerten“, die dämonisiert werden: Sucht bewusst nach ihnen in unserer Zeit!
Wer ist überflüssig, unnötig, unwert in unserer Zeit? Wer ist es nicht wert angerührt zu werden? Oder: Wen stosst ihr zurück, damit er euch nicht anfasst?
b) Jesus ist für alle da – es gibt keinen Bereich und niemanden für den er nicht „zuständig“ – es gibt
nicht „Heiliges“ und „Weltliches“ – bindet eure inneren „Jünger“, euren Verstand zurück, der sagt, dass
Gott nur für Sonntag ist zurück, bringt die Kritiker und Beschützer eures Egos vor dem grossen Wunder und dem grossen Geheimnis – das Gott ist – zum Schweigen.
c) Und ganz zentral ist der Gedanke des „werdens wie die Kinder“: Das heisst nicht „kindisch“, es
heisst wahrscheinlich auch nicht wirklich „mit kindlichem Geist“ – obwohl ich euch selber dies noch vor
kurzem so gepredigt hätte: Mit dem Geist eines Kindes, mit dem Geist des Staunens und sich Wunderns
... Das wäre eine psychologische Deutung, die zwar nahe an das heranführt, was ich eigentlich meine, dort zu lesen, aber es doch noch nicht ganz trifft.
Meine Lieben: „Werdet wie die Kinder“ muss - nach allem was ich jetzt gepredigt habe, und wenn ich
mich nicht wirklich täusche – heissen: Lasst Gott handeln, lasst von seinem Wesen alles auf euch über-
gehen, lasst geschehen, was Gott geschehen lassen will und wehret dem nicht: Gott will durch euch han-
deln, mit euch handeln, und manchmal sogar trotz euch. Das ist eine zutiefst protestantisch-
reformatorische Einsicht. Wir können in Glauben und Spiritualität nichts ändern durch unser Handeln. Wir
können wohl „gute Werke“ machen, aber die ändern nichts an der Umarmung Gottes, an der Liebe Got-tes zu mir und dir, zu uns, zu euch.
Diese zutiefst spirituelle Konsequenz dieses – wahrscheinlich authentischen Jesuswortes - war mir noch
nie so bewusst wie heute. Es geht nicht um eine Leistung von mir oder von euch. Gott ist und Gott
macht. Alles, Spiritualität, Gebet, Segen, alles .. geht von ihm aus und wir müssen einzig zu „kleinen“ werden, die dies geschehen lassen.
Ich weiss noch nicht wie das geht, und das weiss wohl jeder nur für sich allein. Aber neben dem sozial-
ethischen und der allgemeinen (rein-unrein-)Ausssage über den Zusammenhang der Welt scheint mir
dies die einzige spirituelle und persönliche Lehre zu sein: Werdet klein, lasst Gott geschehen, tretet ein
ins Reich der Himmel! Lasst euch also umarmen! Lasst euch ewigen Strom von Kraft, Energie, Liebe
durchströmen, nutzen, begeistern, jener Strom, der vor uns war seit Anbeginn aller Welt und noch sein
wird, wenn es uns nur noch in den Erzählungen unserer Kinder gibt.
AMEN