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METZLER PHILOSOPHEN LEXIKON Von den Vorsokratikern bis zu den N euen Philosophen Mit 277 Abbildungen Zweite} aktualisierte und erweiterte Auflage Unter redaktioneller Mitarbeit von Norbert Retlich v herausgegeben von Bernd Lutz Verlag J. B. Metzler Stuttgart . Weimar

METZLER - uni-due.de · 2016. 4. 14. · METZLER PHILOSOPHEN LEXIKON Von den Vorsokratikern bis zu den N euen Philosophen Mit 277 Abbildungen Zweite} aktualisierte und erweiterteAuflage

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METZLERPHILOSOPHEN

LEXIKONVon den Vorsokratikern

bis zu den N euen PhilosophenMit 277 Abbildungen

Zweite} aktualisierte und erweiterte Auflage

Unter redaktioneller Mitarbeitvon Norbert Retlich

vherausgegeben von Bernd Lutz

Verlag J. B. MetzlerStuttgart . Weimar

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Gehlen, AmoldGeb. 29. 1. 1904 in Leipzig; gest. ]0. 1. 1976 in Hal11burg

Die Verwicklung nicht nur der Person, sondern auch desDenkens von G. mit der Ideologie des Nationalsozialismuserschwert erheblich den Zugang zu seiner Philosophie.Während es im Fall Heideggers wohl umstritten bleibenwird, inwiefern die Rektoratsrede, in der er anhand derBegriffe seines H;uptwerks Sein ,md Zeit die nationalsozia-listische Herrschaft legitimiert, Opportunismus, Selbstmiß-verständnis oder eher konsequentes Durchdenken der eige-nen frühen Philosophie war, läßt sich bei G. eine solcheTrennung von Philosophie und politischem Verhalten garnicht erst anstellen. G. war nämlich schon sieben Jahre vor

derVeröffentlichung seines Hauptwerks, Der Mensch. Seine Natur und seine Stell/mg inder Welt (1940), in den NS-Dozentenbund eingetreten. In der ersten Auflage diesesWerkes mündet auch die Darlegung seiner philosophischen Perspektive in einerexpliziten Legitimation des Nationalsozialismus. Bis zur vierten Auflage (1950) hatteG. zwar die Passagen ersetzt, die offensichtliche Bezüge zur NS-Ideologie her-stellten. Die Struktur des Buches blieb aber unverändert. Gleichwohl läßt sich G.keineswegs einfach als Ideologe abqualifizieren. Sein Denken stellt im Gegenteileinen Versuch dar, Antworten auf Fragen zu geben, die heute noch von erheblicherphilosophischer Bedeutung sind. Er liefert Vorschläge, wie Philosophie ohne Meta-physik zu betreiben, wie sie mit den empirischen Wissenschaften zu verbinden undwie eine pragmatische Fundierung menschlicher Orientierung zu konzipieren ist.Diese drei Fragestellungen laufen im Programm einer philosophischen Anthropo-logie zusammen, die den Anspruch erhebt, zum einen innerphilosophischen Dis-ziplinen wie der Ethik und der Ästhetik, Zllln anderen den Kulturwissenschaften,insbesondere der Soziologie und der Sozialpsychologie, ein Fundament zu geben.

Im Einklang mit diversen anderen philosophischen Strömungen des 20. Jahr-hunderts verfolgt die klassische philosophische Anthropologie das Ziel, den cartesia-nischen Dualismus von Geist und Körper zu überwinden. Um dies zu leisten,arbeitet G. einen Gesichtspunkt heraus, von dem her alle spezifisch menschlichenEigenschaften sich erklären lassen sollen: den Gesichtspunkt der Handlung. Wie dieamerikanischen Pragmatisten und Heidegger argumentiert G., daß den von dertraditionellen Anthropologie ins Zentrum gestellten Fähigkeiten des Bewußtseinskein grundlegender Stellenwert bei der Bestimmung des Menschlichen zukommt,sondern daß sie im Gegenteil als abgeleitete Phänomene gelten müssen. AnstattHandeln als AusfLihrung eines vom Bewußtsein gesetzten ?iels zu beschreiben, wirddas Erkennen als eine Form des Handelns gesehen. Der Prozeß und das Ergeb 1S desErkennens lassen sich zwar aus Handlungszusammenhängen abstrahieren, anthropo-logisch gesehen ist aber dieser ursprüngliche Zusanunenhang von größter Bedeu-tung. Versucht jemand z. B. herauszufinden, ob ein Schlüssel in ein Schlüssellochpaßt, so lassen sich Überlegungen und Bewegungen nicht auseinanderhalten. ImHandeln sind beide Momente im Versuch verwoben, Zwecke zu realisieren. Die

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Handlung soll also die Basis aller spezifisch menschlichen Leistungen abgeben. Erstan dieser Stelle kommt das Spezifische an der G.schen Anthropologie zum Tragen.Obwohl G. nämlich wiederholt behauptet, der Begriff der Handlung bilde denKern seiner Theorie, ist der betreffende Handlungsbegriff selber systematisch vonseinem methodischen Ansatz und der damit entwickelten Begriffskonstellation ab-hängig. Die Bedeutung des Kernsatzes, »Der Mensch ist das handelnde Wesen«hängt davon ab, daß G. den damlt gemeinten Sachverhalt erklären zu können glaubt.Dies soll im Rahmen einer >empirischen Philosophie< geleistet werden, derenMethode die der Zusanunenfassung und der kategorialen Vermittlung der Resultaterelevanter empirischer Wissenschaften ist. Zu diesem Zweck entlehnt G. einerseitsBegriffe aus der philosophischen Tradition; andererseits vermittelt er diese mitErgebnissen der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie. Er nennt sogar imGegensatz zu Max Schelers Metaphysik des Menschen und zur NaturphilosophieHelmtlth Plessners seinen Ansatz »Anthropobiologie«.

Seine Grundbegriffe entfaltet G. zum einen im Anschluß an Gedanken vonHerder, Nietzsche und Scheler, zum anderen in Auseinandersetzung mit den For-schungsergebnissen der Biologen Louis Bolk, Adolf Portmann und Konrad Lorenz.Bolk und Portmann arbeiten nämlich heraus, daß die Ontogenese von Mitgliedernder Spezies Mensch durch eine im Vergleich nut anderen Spezies besondere Verzöge-rung gekennzeichnet ist. Diese >Retardation< der anatomischen Entwicklung betriffteinerseits das Wachstumstempo, andererseits die sogenannten Organprinutivismen,Merkmale des menschlichen Körpers, die fcitalen Zuständen bei anderen Tierenentsprechen. Die organische Ausstattung von Menschen ist im Vergleich mit deIje-nigen von anderen Tieren erstens wenig spezialisiert und bietet zweitens wenigSchutz. Zu diesen morphologischen Beobachtungen konunen an der Verhaltensfor-schung von Lorenz anschließende motivationstheoretische Überlegungen hinzu.Während das Verhalten von anderen Tieren in angeborenen Bewegungsfigurenabläuft, die durch Signale unfehlbar ausgelöst werden, lassen sich bei Menschenkaum feste Zuordnungen von Auslöser und Verhaltensformen feststellen. DieserTatbestand der >Instinktreduktion< erscheint als eine empirische Bestätigung vonNietzsches Rede vom Menschen als »dem nicht festgestellten Tier«. Instinktreduk-tion und Organprimitivität faßt G. mit einem Wort von Herder zusanullen, das inder Rezeption als den Hauptbegriff der G.schen Anthropologie gesehen worden ist:der Rede vom Menschen als >Mängelwesen<. An diesem Begriff werden aber dieSchwierigkeiten deutlich, mit denen eine Perspektive konfrontiert wird, die älterephilosophische Konzeptionen nut neueren empirischen Forschungsergeblussen aufdem Wege der anthropologischen Kategorienbildung zusammenfLihren will. Geradeaus biologischer Sicht ist der Begriff des Mängelwesens unzulässig: Evolutionstheo-retisch macht es keinen Sinn, das Überleben einer Spezies durch ihre Unange-paßtheit zu erklären. Im Fall der Spezies Mensch läßt sich im Gegenteil sehr wohlein Organ angeben, dessen spezifische Entwicklung die physiologische Basis fLir dieLeistungen lieferte, die ihr Überleben ermöglichte: nämlich das Gehirn. Auch dieseFeststellung fUhrt aber keineswegs in die philosophische Anthropologie hinüber,sondern bleibt innerhalb einer biologischen Fragestellung. Der Begriff des Mängel-wesens soll aber den Übergang von der biologischen zur philosophischen Pro-

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blemlage dadurch ermöglichen, daß er erklärt, warum die Entstehung der mensch-lichen Handlungsfahigkeit evolutionär notwendig war.

Weil Menschen mit keinen physischen Merkmalen ausgestattet sind, die ihnenSchutz und effektive Mittel zur Selbstverteidigung bieten, und weil ihre Instinktederart zurückgebildet sind, daß sie kein Verhalten garantieren, das der Umweltautomatisch angepaßt wäre, ist die Spezies gezwungen, ihre Umgebung gemäß denAnforderungen ihrer eigenen Selbsterhaltung zu verändern. Der Handlungsbegriff,den G. auf dieser Basis entwickelt, ist nun ein inhaltlicher. Handeln heißt: die Naturins flir die Menschen Zweckdienliche umzuwandeln. Dieses Verständnis des Han-delns bietet den Ansatzpunkt für weitere Begriffsprägungen der Anthropologie G.s,insbesondere für den die Leitlinie seiner soziologischen und sozialpsychologischenUntersuchungen bildenden Begriff der >Entlastung<. Diese suchen Menschen, weilhandeln zu müssen in zwei Hinsichten ein unerträglicher Druck bedeutet, demniemand ohne Rückhalt gewachsen wäre: Zum einen wird eine überindividuelleLösung des Problems der physischen Überlebenssicherung in dauerhaften gesell-schaftlichen Einrichtungen gesucht. Zum anderen verlangen Menschen nach einer>Entlastung< psychologischer Natur angesichts des überwältigenden Flusses vonEindrücken, dem sie deswegen ausgesetzt sind, weil ihre Wahrnehmungsmöglich-keiten durch keine instinktiven Erfordernisse begrenzt sind. Diese Lage läßt sich nurdadurch bewältigen, daß bei den menschlichen Individuen Verhaltensgewohnheitenausgebildet werden, deren Entsprechung gewisse Wahrnehmungsselektionen er-fordert. Biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen, müssen Menschen um derArterhaltung willen ihre Umgebung wie ihre eigene Natur nötigenfalls mit Gewaltumwandeln, um Ordnungsstrukturen in der Welt wie in der eigenen Psycheauszubilden. Die so ausgebildeten Strukturen lassen sich zum einen als >Kultur<, zumanderen als >Charakter< bezeichnen. Mit einem instrumentalistischen Kulturbegriffkorreliert eine Psychologie der >Zucht<. Erst die Schaffung eines psychischen Ord-nungsgefüges ermöglicht die Lenkung der eigenen >Antriebsenergie<, die sich in-folge ihrer Entkoppelung von instinktiv kontrollierten Bewegungsabläufen ohnevorgegebene Ziele anzustauen oder auf gesellschaftlich disfunktionale Ziele zurichten droht. G.s Anthropobiologie liefert eine systematische Basis für den Zusam-menhang der bei Scheler noch nebeneinanderstehenden Begriffe des >Trieb über-schusses< und der >Weltoffenheit<. Zum menschlichen Spezifikum der Weltoffenheitbetont G. unnachgiebig die damit verbundene Schattenseite der konstitutiven Ge-fährdung.

Indem G. den Ausgang von dieser Gef.ihrdung zum ausgezeichneten Gesichts-punkt anthropologischer Betrachtung erklärt, arbeitet er normative Komponentenin seine >empirische< Philosophie hinein. Somit läßt sich sein Anspruch nichtaufrechterhalten, auf wissenschaftlichem Wege ein Fundament flir philosophischeund soziologische Untersuchungen bereitzustellen. In seiner soziologischen Moder-nitätsdiagnose, wie sie beispielsweise in Die Seele im technischen Zeitalter (1957)entWickelt wird, in der Institutionentheorie von Urmensch und Spätkultur (1956) undin seiner Moralphilosophie, die er in Moral und Hypermoral (1969) und zuletzt in Dieethische Tragweite der Verhalteniforschung (1972) darstellt, zieht G. die Schlußfolgerun-gen, die dieser normative Zug nahelegt. In seiner Moraltheorie unterscheidet G.

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verschiedene Ethosformen und ihnen entsprechende anthropologische >Wurzeln<,aus denen sie entstanden seien. Der >Masseneudaimonismus<, der ethisch einerbestimmten Variante des Utilitarismus und politisch wohl einer wohlfahrtstaatlichenSozialdemokratie entspricht, wird von G. als spezifisch moderner Umgang mit dembiologischen Gedanken interpretiert, daß Organismen günstige Umweltchancenauszuschöpfen pflegen. Den >Humanitarismus<, den G. als Ethik der universalenMenschenliebe deutet, sieht er als die zum Scheitern verurteilte Überdehnung dernatürlichen Sympathiegeflihle und Hilfsbereitschaft, die innerhalb einer Großfamilieoder Sippe ihren ursprünglichen Ort haben. Neben diesen zwei in der Moderneweit verbreiteten Formen moralischer Verpflichtung ragt eine Ethosform besondersheraus: der Ethos der Institutionen, insbesondere des Staates. Letzteres Gebildebeschreibt G. als »Organisation im Interesse des physischen Überlebens einer Gesell-schaft«, eine Ausdrucksweise, die die sprachlichen Ungereimtheiten einer >An-thropobiologie< deutlich werden lassen: Der darwinistische Topos des Kampfes umsÜberleben, der biologische Arten betrifft, läßt sich nämlich nicht direkt auf sozialeGebilde übertragen. Auch wenn es als überzeugend gelten könnte, daß der Fort-dauer einer Gesellschaft ein handlungsleitender Vorrang zukommen soll, läßt sichschwer vorstellen, wie empirisch zu prüfen wäre, ob es tatsächlich der Staat sei, derdiese Funktion am effektivsten erfülle.

Die Institutionenlehre, der Kern von G.s Sozialphilosophie, ist der wirkungsvoll-ste Teil seines Denkens gewesen. Ihr oft nicht explizit anerkannter Einfluß ist imWerk seines Schülers Helmut Schelsky wie in der Systemtheorie von NiklasLuhmann evident. Die Einwände, die aus dem Umkreis der >Frankfurter Schule<gegen G.s Position erhoben wurden, galten auch vornehmlich seiner Behauptungdes normativen Primats der Institutionen. Bemerkenswert an seiner Institutionen-theorie ist indessen die besondere Unschärfe des Institutionenbegriffs selber. G.beschreibt die Funktion von Institutionen wiederholt als die der Entlastung, dasheißt der >Stabilisierung der Außen- und Innenwelt< der Handelnden. Dabei bleibtunklar, ob es ein Kriterium des spezifisch Institutionellen an bestimmten Formender Entlastung gibt oder ob alles Entlastende als Institution zu bezeichnen ist. Nurwenn die erste Variante zutrifft, lassen sich die normativen Konsequenzen ziehen,die G. tatsächlich zieht. Ein solches Kriterium liefert G. aber nicht. Statt dessendeutet vieles - wie sein eigenes Beispiel des BriefVerkehrs - darauf hin, daßInstitutionen - aus gegenseitigem Verhalten entstandene »stereotype Modelle vonVerhaltensfiguren« - bis ins Detail des Alltagslebens reichen und so von Gewohn-heiten nur durch das Merkmal der Reziprozität unterschieden sind. Einen solchen,weiten Institutionsbegriff entwickeln Peter Berger und Thomas Luckmann (TheSocial Construction cf Reality, 1966) in direkter Anlehnung an G. Dessen Behauptungzur Funktion von Gewohnheiten läßt sich auf jeden Fall gleichermaßen für dieInstitutionen aufstellen: Sie treten an die Stelle, an der beim Tier die Instinktestehen. Es ist ein Verdienst G.s, die zentrale Bedeutung von gewohnheitsmäßigenAbläufen für das von Natur in seinen Verhaltensformen nicht festgelegte Tier, denMenschen, betont zu haben. Sollten die Menschen eine Reflexionsphase vor jedeHandlung einschalten, so wäre die einfachste Tat eine sehr anstrengende undlangwierige Angelegenheit. Die gleiche Einsicht wurde allerdings schon von lohn

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Dewey (Human Nature and Conduct, 1922) vertreten, aber ohne die radikal kon-servativen Konsequenzen zu ziehen, die G. zieht. Dewey sieht es im Gegenteil alseine kulturelle Aufgabe an,Jnstitutionen und Gewohnheiten zu entwickeln, die vonReflexion durchdrungen werden. Erst die normative Perspektive G.s verleitet ihndazu, aus den Ergebnissen der biologischen Forschung, den Schluß zu ziehen, derMensch sei ,das Wesen der Zucht< und nicht, wie beispielsweise Dewey, ein Wesen,das auf Lernprozesse angewiesen ist.

G.s Institutionentheorie liefert die Basis seiner Zeitdiagnose, die immer wiederdie pathologischen Symptome vom Zerfall des Verpflichtungscharakters der - hierim üblichen Sinn verstandenen, ,harten< - Institutionen hervorhebt. G. beschreibtden Modernisierungsprozeß als kontinuierlichen Abbau der Schutz- und Orientie-rungsfunktionen jener instinktersetzenden Gebilde. Dabei wendet er diejenigenKategorien an, mit denen er die Entstehung der Institutionen biologisch erklärthatte, um die Merkmale eines Zustandes zu bezeichnen, den er als durch dieAuflösung der Institutionen - und tendenziell der Kultur - verursacht sieht. DieITlOdernen, wie die primitiven Menschen, sind von einer >Reizüberflutung< bedroht;jetzt aber wendet sich ihre ganze Aufinerksamkeit, statt den Gefahren der Außen-welt, den fast grenzenlosen Möglichkeiten ihrer eigenen unspezifischen, plastischenAntriebskräfte zu. Sie erleben eine >Übersteigerung der Subjektivität<, die einerneuen >Primitivisierung< gleichkommt. Aus dem Mangel an institutionellem >Au-ßenhalt< erklärt sich, so G., die Angst, Verunsicherung und Gereiztheit, die inmodernen Gesellschaften so verbreitet sind.

Neben diesen diagnostischen Begriffen verwendet G. ferner den der kulturellen>Kristallisation<, um einen Zustand zu beschreiben, in dem alle geschichtlichenMöglichkeiten endgültig durchgespielt worden seien. Dieser Begriff findet insbe-sondere im letzten Gebiet Anwendung, dessen Untersuchung G. auf anthropolo-gischer Basis zu betreiben beansprucht: das der modernen Kunst. Zeit-Bilder (1960)ist eine äußerst kritische Analyse der Entwicklung der Kunst, die das ->Verschwindendes Gegenstands< als eine Verfallserscheinung deutet. Am Ende eines in der Traditiondeutscher Geschichtsphilosophie stehenden Drei-Phasen-Modells der Kunstent-wicklung steht die abstrakte Malerei, die dem Betrachter jede Möglichkeit handeln-der Verwertung ihres Inhalts entzieht. Diese Lage wird, so G., durch eine ungeheureMenge an Literatur verunklärt, die, durch die Bezugslosigkeit der gegenstandslosenKunst herausgefordert, ihr eine Tiefe zuspricht, die sachlich gar nicht bestehe. DerGroßteil des gegenwärtigen Kunstbetriebs ist aus G.s Sicht nur mit der Kategorieder Entlastung angemessen zu fassen, die hier ftir die moderne Flucht in dieSubjektivität steht. Unabhängig davon, wie man dieses Urteil über die moderneKunst einschätzt, legen sich zwei weitere Fragen nahe: erstens, warum das moderneBewußtsein Entlastung vom Druck des Sozialen in der Kunst suchen sollte, wennsich die Institutionen in einem Prozeß der Auflösung befinden, und zweitens, wiesich diese geschichtliche Diagnose zur Verortung von Kunst in G.s Lehre vomMenschen verhält. An anderen Stellen wird nämlich ästhetische Erfah'rung grund-sätzlich als durch entdifferenzierte Auslöser hervorgerufene Gefühlsreaktionen be-stimmt, die ihre besondere Stärke gerade durch ihren mangelnden Handlungsbezuggewinnen. Auch hier löst G.s Anthropobiologie ihren Fundierungsanspruch nicht

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ein. Statt dessen erweist sie sich in ästhetischen wie in moralischen und sozial-psychologischen Fragen als systematisch von historisch kontextualisierbaren Wert-urteilen abhängig.

Klages, Helmut/Quaritsch, Helmut (Hg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung ArnoldGehlens. Berlin 1994. - KamJah, Wilhe1m: Probleme der Anthropologie. Eine Auseinander-setzung m.itArnold Gehlen. In: Von der Sprache zur Vernunft. Philosophie und Wissenschaft inder neuzeitlichen Profanität. Zürich 1975.

Neil ROllghley

Gentile, GiovanniGeb. ]0. 5. 1875 in Castelvetrano/Sizilien; gest. 15.4. 1944 in Florenz

Zusammen nut Benedetto Croce, dem anderen großen Ver-treter des italienischen Neoidealismus, hat G. ein halbesJahrhundert lang die philosophische Kultur seines Landesbeherrscht. Sein streng antipositivistisches Denken - eineNeuformulierung des Rechtshegelianismus - wirkt sichheute noch auf die Grundorientierung des italienischenPhilosophierens aus. G. wird häufig für die historische,antiempirische Prägung eines Denkens verantwortlich ge-macht, das sich an Marx oder Heidegger orientiert und dasdurch seine Wissenschaftsfeindlichkeit riskiert, den Anschlußan die Moderne zu verpassen.

G. kritisiert Hegel, um eine Philosophie des absoluten Ich zu entwickeln, die jedePluralität verneint und alles Gegenständliche in das Bewußtsein aufhebt. SeinemDenken, das die Identität von Theorie und Praxis, von Philosophie und Lebenpostuliert, liegt eine streng moralische, antihedonistische Lebensauffassung zu-grunde, die von einem fast schwärmerischen Glauben an die unbegrenzten Mög-lichkeiten des menschlichen Geistes getragen ist. Tragisch wurde für sein Leben eineVerblendung, die ihn dazu führte, im faschistischen Staat Mussolinis die Verkörpe-rung des sittlichen Staates zu erblicken, der fähig ist, die Egoismen und die abstrakteFreiheit des Liberalismus zu überwinden. Unter Mussolini wurde G. zum Organisa-tor der italienischen Kultur und zum Theoretiker der faschistischen Ideologie. Erlieferte durch das Siegel seiner Autorität dem Faschismus eine moralische Recht-fertigung und erlaubte Mussolini »eine bemerkenswerte Mystifizierung des Fa-schismus« (Ernst Nolte). Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob sein Denken,dem Rassismus und jede Verherrlichung von Gewalt fremd waren, in seinem Wesenfaschistisch ist. Abgesehen von dezisionistischen Elementen in der Ethik wurden G.Realitätsfremdheit und eine gefährliche Trennung der Kultur von der Reflexionüber die konkreten Bedingungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungangelastet.

G. studierte zunächst Literaturwissenschaft und Philosophie bei Donato Jaja,einem Schüler des Hegelianers Bertrando Spaventa, dessen Nachfolger er 1914 inPisa wurde. 1917 bekam er den Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der