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28 L 130 Vgl. jc (d.i. Jarmila Cinkov~): Rü~ena Jesensk~i. In: Lexikon ... (s. Anm. 9), S. 518-520. 131 M 305 (128., September 1922). 132 Vgl. dazu den Kommentar M 354-355. 133 Nach dem von Ernst Pfohl, einem Namensvetter und vielleicht auch Anverwand ten des von Kafka hochgeschätzten “Chefs“ Eugen Pfohl, erarbeiteten “Orientierungs lexikon der ‘Tächechoslowakische Republik“ (3. Aufl. Reichenberg 1932, S. 684) hatte “Zürau 1...! 358 d./eutsche/ E./inwohner/“. 134 Vgl. M 105 (49., 12. 7. 1920). 135 Vgl. M 17 (7., 18. 5. 1920): “ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt“. 136 KKATT, 5. 840 (8. 10. 1917). 137 Vgl. die Einführung dieses Motivs in M 65 (25., 14. 6. 1920): “weiß t Du eigentlich, daß ich vollständig I...I unmusikalisch bin?“; ferner M 79, 85, 122 (“Mein Unmusikalisch- Sein“), 149, 167 (“Ich verstehe nicht Musik“); dazu KKATT, 5. 291-292 (13. 12. 1911) und ÜFK, 5. 103. 138 Milena war nach zweisemestrigem Medizin-Studium 1916 am Prager Konserva toriuni inskribiert, vgl. jip (d.i. Jitka Pelikänov~): Milena Jesenskä. In: Lexikon ... (5. Anm. 9), 5. 516. In diesem Zusammenhang ist auch der bislang ungeklärte Bezug auf “Grete“ zu verstehen, vgl. M 207-8 (87., 10. 8. 1920). Gemeint ist sicherlich Grete Samsa, “die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührende Violine zu spielen verstand“, so daßihr Bruder vorhatte, “sie 1...! auf das Konservatorium zu schicken“ (KSE, 5. 75). Milena hatte hier offenbar Parallelen zu sich selbst gesehen und Kafka gefragt, ob er dabei an sie gedacht habe, vgl. M 207: “Sollte ich überhaupt schon einen Dich betreffenden Gedanken gehabt haben?“ Kafka vermag Ähnlichkeiten nur in der Fixierung auf Gretes “Hände“ (KSB, S. 72 und 91) und “Blickle/“ (S. 78 und 92) zu entdecken: “Das ist wohl alles, Grete ab!“ (M 208). 139 Beides sehr bekannte, in den “Echtermeyer“ wie überhaupt in den deutschen Lesebuchkanon eingegangene Gedichte. Zu Max Brods Vertonung, die der Komponist seiner späteren Frau “E. T.“ (d.i. Elsa Taussig) gewidmet hat, vgl. Yehuda Cohen: Max Brod, der Musiker. In: Max Brod. Ein Gedenkbuch. 1884-1968. Hrsg. von Hugo Gold. Tel-Aviv 1969, S. 286 (op. 16). 140 Vgl. Johannes Urzidil: Da geht Kafka. Zürich und Stuttgart 1965, S. 79. 141 F 103 (17.-18. 11. 1912). 142 Vgl. BKF 2, 5. 109 (22. 7. 1912); die Abschrift in BKF 1; S. 263-264, mit der angehängten ungläubigen Frage: “Das hätte ein Graf Schlippenbach machen sollen?“ 143 Herausgegeben von Robert Reinick und Franz Kugler. Berlin: Vereins-Buch handlung 1833. - In BKF 1, 5. 300 (Anm. 25) verweist der Kommentar lediglich aui den Abdruck in den “Gedichten“ von 1883. 144 Hein Politzer: Alt-Wiener Theaterlieder. In: Das Schweigen der Sirenen. Studier zur deutschen und österreichischen Literatur. Stuttgart 1968, S. 173. MICHAEL BERGER “Ich fühle, daß sich in dem, was mir geschieht, eine ewige Tragik vollzieht ...“ Josef Mühlbergers Schicksalsweg in den späten 30er Jahren bis zur Aussiedlung aus der Tschechoslowakei 1946 Spätestens seit 1935 hatte Josef Mühlberger, der in den Jahren zuvor und auch späterhin selbst in der Jury für die Vergabe des tschechoslowakischen Staats- preises für deutsche Literatur gesessen hatte, vergeblich auf den Staatspreis gehofft. In jenem Jahr 35 war er zwar von der Jury gemeinsam mit Paul Leppin in die engere Wahl der potentiellen Preisträger gezogen worden, schließ lich hatte man sich jedoch angesichts der zugespitzten politischen Situation zwi schen Tschechen und Deutschen entschlossen, auf eine Preisvergabe zu ver zichten. Am 16. November 1937 empfing der tschechoslowakische Schuhninister Dr. Franke eine Ausschußdelegation des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) in der Tschechoslowakei, wobei “die Ausschußmitglieder I...I den Mi nister ausführlich über die schwierige Lage der deutschen Schriftsteller in der Tschechoslowakei“ informierten und den Plan einer Herderpreis-Stiftung un terbreiteten. Der neue Preis sollte an die Stelle des seit 1928 auch an deutsche Schriftsteller aus der Tschechoslowakei vergebenen Staatspreises treten.1 Minister Franke sagte seine Unterstützung zu und stellte “eine Spende von 5.000 K~ zur Verfügung“, die der Präsident der Republik gestiftet hatte.2 Als der SDS, dem seit 1937 Paul Leppin als Sekretär vorstand, eine Jury für die Preisvergabe berief, fand sich auch der Rundfunkredakteur Walter Maras unter den Juroren. Aus langjähriger Freundschaft und intimer Werkkenntnis muß sich Maras vehement und schließ lich auch erfolgreich für Josef Mtihlber ger eingesetzt haben. Am 18. Dezember 1937 - dem 134. Todestag Johann Gottfried Herders - wurde der Herderpreis erstmals und zugleich letztmals vergeben. Die Juroren

MICHAEL BERGER “Ich fühle, daß sich in dem, was mir geschieht, …jahrbuch-bruecken.de/cms/wp-content/uploads/2017/06/... · 2017. 6. 9. · führlicher Kommentar von Alex Wedding6

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130 Vgl. jc (d.i. Jarmila Cinkov~): Rü~ena Jesensk~i. In: Lexikon ... (s. Anm. 9), S.518-520.

131 M 305 (128., September 1922).132 Vgl. dazu den Kommentar M 354-355.133 Nach dem von Ernst Pfohl, einem Namensvetter und vielleicht auch Anverwand

ten des von Kafka hochgeschätzten “Chefs“ Eugen Pfohl, erarbeiteten “Orientierungslexikon der ‘Tächechoslowakische Republik“ (3. Aufl. Reichenberg 1932, S. 684) hatte“Zürau 1...! 358 d./eutsche/ E./inwohner/“.

134 Vgl. M 105 (49., 12. 7. 1920).135 Vgl. M 17 (7., 18. 5. 1920): “ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt“.136 KKATT, 5. 840 (8. 10. 1917).137 Vgl. die Einführung dieses Motivs in M 65 (25., 14. 6. 1920): “weißt Du eigentlich,

daßich vollständig I...I unmusikalisch bin?“; ferner M 79, 85, 122 (“Mein Unmusikalisch-Sein“), 149, 167 (“Ich verstehe nicht Musik“); dazu KKATT, 5. 291-292 (13. 12. 1911)und ÜFK, 5. 103.

138 Milena war nach zweisemestrigem Medizin-Studium 1916 am Prager Konservatoriuni inskribiert, vgl. jip (d.i. Jitka Pelikänov~): Milena Jesenskä. In: Lexikon ... (5.Anm. 9), 5. 516. In diesem Zusammenhang ist auch der bislang ungeklärte Bezug auf“Grete“ zu verstehen, vgl. M 207-8 (87., 10. 8. 1920). Gemeint ist sicherlich Grete Samsa,“die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührende Violine zu spielenverstand“, so daßihr Bruder vorhatte, “sie 1...! auf das Konservatorium zu schicken“(KSE, 5. 75). Milena hatte hier offenbar Parallelen zu sich selbst gesehen und Kafkagefragt, ob er dabei an sie gedacht habe, vgl. M 207: “Sollte ich überhaupt schon einenDich betreffenden Gedanken gehabt haben?“ Kafka vermag Ähnlichkeiten nur in derFixierung auf Gretes “Hände“ (KSB, S. 72 und 91) und “Blickle/“ (S. 78 und 92) zuentdecken: “Das ist wohl alles, Grete ab!“ (M 208).

139 Beides sehr bekannte, in den “Echtermeyer“ wie überhaupt in den deutschenLesebuchkanon eingegangene Gedichte. Zu Max Brods Vertonung, die der Komponistseiner späteren Frau “E. T.“ (d.i. Elsa Taussig) gewidmet hat, vgl. Yehuda Cohen: MaxBrod, der Musiker. In: Max Brod. Ein Gedenkbuch. 1884-1968. Hrsg. von Hugo Gold.Tel-Aviv 1969, S. 286 (op. 16).

140 Vgl. Johannes Urzidil: Da geht Kafka. Zürich und Stuttgart 1965, S. 79.141 F 103 (17.-18. 11. 1912).142 Vgl. BKF 2, 5. 109 (22. 7. 1912); die Abschrift in BKF 1; S. 263-264, mit der

angehängten ungläubigen Frage: “Das hätte ein Graf Schlippenbach machen sollen?“143 Herausgegeben von Robert Reinick und Franz Kugler. Berlin: Vereins-Buch

handlung 1833. - In BKF 1, 5. 300 (Anm. 25) verweist der Kommentar lediglich auiden Abdruck in den “Gedichten“ von 1883.

144 Hein Politzer: Alt-Wiener Theaterlieder. In: Das Schweigen der Sirenen. Studierzur deutschen und österreichischen Literatur. Stuttgart 1968, S. 173.

MICHAEL BERGER

“Ich fühle, daßsich in dem, was mir geschieht, eine ewige Tragikvollzieht ...“Josef Mühlbergers Schicksalsweg in den späten 30er Jahren bis zurAussiedlung aus der Tschechoslowakei 1946

Spätestens seit 1935 hatte Josef Mühlberger, der in den Jahren zuvor und auchspäterhin selbst in der Jury für die Vergabe des tschechoslowakischen Staats-preises für deutsche Literatur gesessen hatte, vergeblich auf den Staatspreisgehofft. In jenem Jahr 35 war er zwar von der Jury gemeinsam mit Paul Leppinin die engere Wahl der potentiellen Preisträger gezogen worden, schließlichhatte man sich jedoch angesichts der zugespitzten politischen Situation zwischen Tschechen und Deutschen entschlossen, auf eine Preisvergabe zu verzichten.

Am 16. November 1937 empfing der tschechoslowakische Schuhninister Dr.Franke eine Ausschußdelegation des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller(SDS) in der Tschechoslowakei, wobei “die Ausschußmitglieder I...I den Minister ausführlich über die schwierige Lage der deutschen Schriftsteller in derTschechoslowakei“ informierten und den Plan einer Herderpreis-Stiftung unterbreiteten. Der neue Preis sollte an die Stelle des seit 1928 auch an deutscheSchriftsteller aus der Tschechoslowakei vergebenen Staatspreises treten.1Minister Franke sagte seine Unterstützung zu und stellte “eine Spende von5.000 K~ zur Verfügung“, die der Präsident der Republik gestiftet hatte.2

Als der SDS, dem seit 1937 Paul Leppin als Sekretär vorstand, eine Jury fürdie Preisvergabe berief, fand sich auch der Rundfunkredakteur Walter Marasunter den Juroren. Aus langjähriger Freundschaft und intimer Werkkenntnismußsich Maras vehement und schließlich auch erfolgreich für Josef Mtihlberger eingesetzt haben.Am 18. Dezember 1937 - dem 134. Todestag Johann Gottfried Herders -

wurde der Herderpreis erstmals und zugleich letztmals vergeben. Die Juroren

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hatten sich offensichtlich nicht auf einen Preisträger einigen können, und sowurde er zu gleichen Teilen dem aus PodebradfPod~brady stammenden Dichter und Übersetzer Rudolf Fuchs und Josef Mühlberger zugesprochen. Herder-Ehrungen erhielten Thomas Mann, F.C. Weiskopf und der Regisseur derdeutschen Rundfunksendung Heinrich Fischer. Auf eine feierliche Auszeichnungsveranstaltung hatte man, aus welchen Gründen auch immer, verzichtet.Das Prager Tagbiatt schrieb am folgenden Tag über die Preisträger:

“Rudolf Fuchs hat sich als ein in der Zeit und ihrer Kulturwurzelnder Dichter und durch seine völkerverbindende Tätigkeit als Übersetzer tschechischer Lyrik im Herderschen Sinnegroße Verdienste erworben. Dr. Josef Mühlberger ist Autor zahlreicher Prosa- und Gedichtbände; sein Drama Wallenstein wurdeauch in Prag aufgeführt. In dem Sinne, der der Stiftung entspricht, ist er stets um den Ausgleich der Nationen bemühtgewesen.“3

DaßMühlberger erst im Sommer 1938 von jener Preisvergabe erfahrenhaben will, wie er in der 1981 veröffentlichten Erinnerung Ein Abend imWaldsteingarten4 schildert, mußauf einer Gedächtnistäuschung bzw. -verdrängung beruhen; bereits am 20. Dezember 1937 hatte er damals in einemBrief dem Freund Walter Maras für dessen Einsatz in der Jury herzlichgedankt:

“Vielen Dank dafür, dass Du in der Jury zum Herderpreis fürmich eingetreten bist; ich kann mir vorstellen, dass das keineleichte Arbeit gewesen sein muss. Wie weit sich das in ideellerHinsicht auswirken wird, weiss ich nicht, jedenfalls habe ichdas Geld sehr gebraucht, ich war ziemlich auf dem Trockenen. Diesen Dank kann natürlich in keiner Weise meineMissstimmung schmälern, dass ich mit Fuchs zusammengespannt wurde. Auch die Herderpreisehrung fand ich für michpersönlich beschämend - denn Thomas Mann ist doch einBerg gegenüber uns Sandkörnlein. 1...! Schliesslich wäre esangebracht gewesen, in einer Art kleiner Feier die Ehrungauszusprechen, nicht unseret - das heisst der Bedachten wegen, sondern der ganzen Sache zu liebe.“5

Der Ausschußdes Prager SDS hatte offensichtlich seiner auf Ausgleich gerichteten Prämissen folgend keine konsequente Einstellung zu seiner eigenenPreisstiftung gefunden und versucht, sich nach mehreren Richtungen hin abzusichern - der Kommunist Fuchs und der liberale Mühlberger standen nichtnur in der öffentlichen Wertschätzung in verschiedenen Lagern. Die publizi

stischen Reaktionen auf die halbherzig getroffene Wahl bei der Preisvergabewar äußerst zurückhaltend gewesen und rechtfertigte nachträglich Mühlbergers Skepsis. Hatten die deutschsprachigen Prager Zeitungen lediglich kurzeNotizen über die Preisentscheidung veröffentlicht, und hatte selbst HenleinsZeit, abgesehen von einem Seitenhieb auf den “linksgerichteten SDS“, diesekommentarlos vermerkt, sollte dafür wenige Wochen später im 2. Heft desJahres 1938 der in Moskau erscheinenden Exilzeitschrift Das Wort ein ausführlicher Kommentar von Alex Wedding6 erscheinen. Aus dem Statut für dieVerleihung des Herderpreises zitierend und an den Umstand erinnernd, “daßder tschechoslowakische Staatspreis für deutsche Literatur in den letzten zweiJahren an höchst mittelmäßige und betont undemokratische Schriftstellervergeben worden“ sei, stellte sie abschließend fest:

“Die Jury ist in ihrem Wunsch nach größter Objektivität undUnparteilichkeit vielleicht etwas zu weit gegangen, indem sieneben dem betonten Demokraten Fuchs auch den noch immerin reichsdeutschen Verlagen publizierenden, von Gerhart Hauptmann schwärmenden, am liberalen Prager Tagbiatt ebenso wiean der Henleinschen Zeit mitarbeitenden Josef Mühlberger mitdem Preis bedachte. Aber diese Weitherzigkeit gegenüber demin allzuvielen Sätteln sitzenden Mühlberger wird aufgehobendurch die Ehrung von Thomas Mann, Rudolf Fuchs und F.C.Weiskopf.“7

Nicht nur aus heutiger Sicht erscheint die Kritik der im tschechoslowakischenExil lebenden Grete Weiskopf bedenklich und von ideologischer Engstirnigkeit getragen, denn Mühlberger als Mitarbeiter der Henleinschen Zeit, ihn als“noch immer“ Autor reichsdeutscher Verlage zu bezeichnen, ging an derPerson und der Wahrheit weit vorbei und kam eigentlich einer Denunziationgleich. Mühlbergers Publikationsnöte in Deutschland währten bereits mehr alszwei Jahre, und in der Henleinschen Zeit hatte er in der Zeitspanne vom 1. 10.1935 bis zum 31. 12. 1937 lediglich den einen Aufsatz Rilke und Böhmen8veröffentlicht. Selbst der Seitenhieb auf seine Mitarbeit “am liberalen PragerTagbiatt“ war zumindest doppelzüngig, denn der ihr parteipolitisch wie ideologisch nahestehende Rudolf Fuchs arbeitetete von Zeit zu Zeit für jenesBlatt. So hatte Fuchs dort unter anderem Karel ~apeks Prvn( parta rezensiert.9

Insgesamt mußman Grete Weiskopfs Versuch, den unpolitischen und in Prager Autorenkreisen durchaus akzeptierten Schriftsteller rundweg den undemokratischen Kräften - soll heißen, den sudetendeutschen Henlein-Leuten -

zuzuordnen, zumindest als eine unbedachte Unterstellung betrachten. Mühl

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berger hatte sich nicht den linken Kräften zugeordnet, also galt er den orthodoxen Kommunisten, entsprechend der ideologischen Denkschemata, alsFeind. DaßJosef Mühlberger zu jener Zeit in Prager Kreisen hingegen alsDemokrat galt, belegt unter anderem ein Kommentar in der kommunistischentschechischen Kulturzeitschrift Tvorba zu selbigem Anlaß. In einem mit ER. -mit größter Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um Paul Reimann - M.B.)gezeichneten Text wird die Entscheidung des SDS hervorgehoben, wobeibeide Preisträger der “demokratischen und sozialistischen“ Literatur zugeordnet wurden. Im Gegensatz zu Alex Wedding sah der Verfasser keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Preisträgern, vielmehr seien damit endlich “auch die im kulturellen Bereich großen literarischen Früchte der demokratischen und sozialistischen Schriftsteller gewürdigt worden.“1° Hier wurdeoffensichtlich zwischen “demokratisch“ und “sozialistisch“ nicht als Gegensatzbzw. als sich ausschließenden Haltungen unterschieden, vielmehr realpolitischdifferenziert. Und der Autor fährt dann, die Erfahrung der letzten Jahreresümierend, fort:

“Diese Notwendigkeit wurde umso stärker empfunden, zumaldie Jury, der bislang die Erteilung der Staatspreise oblag undin der bemerkenswerterweise als sozialistischer Vertreter einMann wie Franzl saß, in den vergangenen Jahren das Kultur-schaffen der sudetendeutschen Demokraten und Sozialisten ignorierte und die Staatspreise an Schriftsteller vergab, deren literarische Bedeutung zwar sehr zweifelhaft war, deren Sympathienfür den Faschismus unzweifelhaft waren.“

Reimann betont sogar im Gegensatz zu Grete Weiskopf dann vielmehr den zubeobachtenden Schritt eines bewußten Bruches mit einer offenbar eingeschliffenen, zumal politisch motivierten Entscheidung der letztjährigen Jurytätigkeit, wenn er vermerkt, “daßsie /die diesjährige Herderpreis-Jury - M.B.I mitder bei der Erteilung der Staatspreise üblichen Tradition brach.“ Für denVerfasser stand neben der offensichtlichen politisch-ideologischen Fähigkeitzur Akzeptanz vor allem auch der künstlerische Wert der Preisträger imMittelpunkt:

“Die Schriftsteller, denen der Herderpreis verliehen wurde, sindnicht nur echte Demokraten und Sozialisten, sondern auch bedeutende Künstler, die die sudetendeutsche Kultur völlig andersrepräsentieren als die gleichgeschalteten Schreiberlinge, die dieSdP nur deswegen für bedeutende Schriftsteller auszugeben versucht, da sie die deutsche Jugend und die sudetendeutsche Bevölkerung mit dem Gift des Chauvinismus, des Rassenhasses undder nationalistischen Kriegsbegeisterung füttert. 1...! Alle Freunde des Fortschritts, alle aufrichtigen Freunde der deutschen

Kultur und Literatur haben diese Entscheidung der Jury sichermit Genugtuung begrüßt, durch die einigen bedeutenden Schriftstellern die längst fällige Ehning zuteil wurde. Heute, wo dieechte deutsche Kultur aus Deutschland vertrieben ist, ist esnotwendig, daßdie demokratische Tschechoslowakei mehr alsje zuvor zur Zufluchtsstätte der freien deutschen Kultur wird.Denn nur diese Kultur, die sich vor dem Diktat der braunenBarbarei nicht beugte, die Kultur, die heute aus dem Auslanddem deutschen Volk die großen Ideale der Freiheit, des Humanismus, des Friedens zwischen den Völkern und des Sozialismusbringt, ist die würdige Fortsetzung der durch Herder, Goethe,Schiller in Deutschland geschaffenen kulturellen Traditionen.Nur diese Literatur gehört die Zukunft und nur diese wird imBewußtsein des deutschen Volkes noch dann lebendig sein, wenndie letzten Spuren der zusammengeschusterten Produkte derSöldner, die heute die blutige Diktatur des Faschismus überdas deutsche Volk rühmen, längst vergessen sein werden. DiePflege der deutschen Kultur und ihrer fortschrittlichen Traditionen ist heutzutage eine Lebensforderung für die ganze tschechosiowakische Demokratie und vor allem für die deutschen Demokraten und Sozialisten, die in dem Schaffen ihrer besten Schriftsteller und Dichter die Kraft für ihren gerechten Kampf gegenden Faschismus finden.“11

In dieser Einschätzung wird nicht nur nicht zwischen den beiden Preisträgernideologisch bzw. parteipolitisch gewertet, sondern Mühlberger wird auch mitkeiner Silbe in die Nähe der sudetendeutschen Nationalisten oder gar Nazi-Deutschen gestellt. Vielmehr sah der Verfasser in ihm einen legitimen Vertreter der humanistischen deutschen Kulturtradition, in der sich Mühlbergerselbst immer begriff, und die selbstverständliche Zuordnung zu den demokratischen Kräften im Lager der Sudetendeutschen entsprach zu diesem Zeitpunkt durchaus der Realität. Und dennoch, Mühlbergers persönliche wieöffentliche Situation am Ende des Jahres 37 war trotz der Ehrung eher komplizierter geworden. Von den gleichgeschalteten völkisch-nationalistischenSudetendeutschen wurde er seit Jahren als deutsch schreibender Siawe verunglimpft, der Juden- und Emigrantenfreundschaft bezichtigt und als unnationalund pervers denunziert und bekämpft. Sein reichsdeutscher Verleger AntonKippenberg wollte den Autor nicht mehr verlegen und hatte seine Werkeängstlich aus dem Vertrieb genommen. Das Angebot des Fischer-VerlegersBermann aus Wien hatte Mühlberger ausgeschlagen, und von der kommunistischen deutschen Linken wurde er als “Liberaler“ bzw. sogar als Parteigän

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ger Henleins verdächtigt und abgelehnt. Er stand also zwischen den Frontenund seine finanziell-existentielle Situation mußkatastrophal gewesen sein.Abgesehen von kleinen Honoraren für Zeitschriften- und Rundfunkbeiträgeverfügte er über keinerlei Einkünfte, und mögliche Rücklagen mußten längstaufgebraucht sein. So blieben ihm die wenigen demokratisch orientiertenPublikationsorgane der Tschechoslowakei, deren Herausgeber bzw. Redakteure an der Jahreswende 37/38 noch auf eine friedliche Lösung der sogenannten“Sudetenfrage“ hofften und im Sinne des “jungaktivistischen Flügels“2 wirkten. Gegen die Flut der in der Tschechoslowakei gedruckten und vertriebenenNazi-Blätter - Der Aufbruch, Rundschau, Der Kamerad, Böhmisch KamnitzerZeitung, Illustrierte Presse, Zeitspiegel u.a.m. 13 - hatten diese einen überausschwierigen Stand. Einerseits verloren sie zunehmend ihren Abonnentenkreis,“denn sie öffentlich zu beziehen, hieße die Arbeit /..J verlieren“4, andererseits standen auch die Redakteure bereits unter dem Druck und der täglichenAnfeindung und Bedrohung durch die Henlein-Faschisten.Als eines dieser demokratischen deutschen Blätter galt der in Trautenauerscheinende katholische Volksbote.15 Das “unabhängige Blatt für die christliche deutsche Bevölkerung Ostböhmens“ wurde seit dem Sommer 1937 vonHeinrich Schubert geleitet, der sich in der christlich-sozialen Jugendbewegungbereits als ein Mann des Ausgleichs profiliert hatte.16Im Zeitungs- und Verlagsgeschäft durchaus noch unerfahren und in Ostböhmen fremd, stand Heinrich Schubert in dieser Zeit vor kaum zu lösendenSchwierigkeiten. Unter anderem in der Sorge um einen neuen Fortsetzungsroman für die gerade übernommene Zeitung suchte er im Herbst den Rat desortsansässigen Schriftstellers Josef Mühlberger, dessen Werk er seit Jahrenkannte und den er bei Vorträgen schätzen gelernt hatte. Obschon Mühlbergermehrere umfangreiche Romanmanuskripte in der Schublade hatte,17 lehnte erdas Ansinnen Schuberts vorerst ab, bot jedoch kleinere Arbeiten zur Veröffentlichung in der Wochenendbeilage Heimat an. Schubert druckte zwei dieserArbeiten umgehend‘8, um sich dann erneut an den Autor zu wenden.Anläßlich der Herderpreisverleihung rückte Schubert einen ausführlich würdigenden Artikel in die folgende Nummer des Volksboten und konnte seinenLesern zugleich mitteilen, daßman demnächst von Josef Mühlberger denRoman Franziska Kuhn in Fortsetzungen abdrucken werde.19 Schubert kannte die zwei Jahre zuvor in der Ostböhmischen Heimat erschienene Erzählunggleichen Titels und hatte den Autor gewonnen, diese zu einem Roman auszubauen. Vom Spätherbst 1937 bis zum Sommer 1938 schrieb Josef MühlbergerWoche für Woche an einer neuen Folge für den Trautenauer Volksboten. Inder 51. Nummer des Jahres 1937 begann der Abdruck des noch im Entstehenbegriffenen Romans, der dann in 41 Folgen gedruckt wurde.Diese Form des Schreibens war für den Autor völlig unüblich. Sonst pflegte

Mühlberger verschiedene Arbeitsphasen einzuhalten und die jeweiligen Passagen mehrmals umzuschreiben. Doch der äußere Druck und die finanziellewie geistige Notlage scheinen ihn zur Annahme einer solch ungewöhnlichenArbeit bewogen zu haben. Für den gesamten Fortsetzungsroman erhielt erschließlich ein Honorar von 500 Kronen, immerhin das Zehnfache des sonstvon der Zeitung gezahlten Honorars. Wichtiger jedoch als das dringend benötigte Geld und die Tatsache sich nach Jahren wieder gedruckt zu sehen, warihm gewißdie entstehende Freundschaft mit dem Schriftleiter Heinrich Schubert.Der Freundes- und Bekanntenkreis des Dichters war in den letzten Jahrensehr zusammengeschrumpft. Immer wieder wich Mühlberger auf seinen bescheidenen Sommersitz in Bielaun an der Sprachgrenze aus. Die ländlicheAbgeschiedenheit bot ihm offensichtlich den dringend benötigten Schutz.Dorthin lud er auch die wenigen Freunde und Bekannten ein, schrieb anManuskripten und las seinen Gästen daraus vor. Die zunehmende öffentlichIsolierung trennte ihn gleichsam auch von den Ereignissen des Tages, ratlosund verzweifelt stand er der Zeitentwicklung gegenüber und hoffte lediglichauf die Güte des Menschen, in der er allein eine Möglichkeit zur Befriedungder politischen wie nationalen Konflikte sah, wie es ein Gedicht aus jener Zeitdeutlich macht.

Orakel

Was die Zeiten uns bedeuten?Anfang? Abend? Hassen? Lieben?Lausche nicht am Markt den Leuten,Ueber dir nur steht‘s geschrieben.

Sieh, die Vögel fliegen südlich,Nordwärts kehr‘n sie heim im Märzen;Was du wissen willst, steht friedlich,Großund klar in deinem Herzen.2°

Die öffentliche Atmosphäre der Gegnerschaft spitzte sich jedoch auch in denvon Deutschen bewohnten Gebieten der Tschechoslowakei immer mehr zu.Spätestens seit dem AnschlußÖsterreichs im März 1938 war die politischeSituation durch eine an Hysterie grenzende Stimmung gekennzeichnet.

“Der AnschlußÖsterreichs hatte unter den Anhängern der bürgerlich-demokratischen Parteien des Sudetenlands eine ArtTorschlußpanik bewirkt. Im Frühjahr 1938 kam es zu dem über-

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stürzten Anschlußdes Bundes der Landwirte (BdL), der Christlichsozialen und der Gewerbe-Partei an die SudetendeutschePartei Konrad Henleins. Von nationalsozialistischer Seite wurdedies 1...! als Triumph und Ausdruck des angeblich einmütigenWillens der Sudetendeutschen gefeiert, ‘heim ins Reich‘ zu kommen. In Wahrheit war die Lage anders. Trotz des mächtigenAuftriebs der Henlein-Partei durch die Einverleibung Österreichs in Hitler-Deutschland gab es in der sudetendeutschenBevölkerung weiter beachtliche politische Kräfte, die zur Verteidigung der demokratischen Ordnung und zum Widerstand gegenden Faschismus bereit waren. In erster Reihe waren es die Anhänger der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei undder Kommunisten, die standhaft blieben. I.../ DerZusammenschluß der bürgerlichen Parteien mit der Sudeten-deutschen Partei (SdP) war damals hauptsächlich durch dieAngst vieler Funktionäre und Mitglieder motiviert, im Falleeiner Einverleibung des Sudetengebiets in das Deutsche Reichdie eigene persönliche Freiheit und materielle Existenz zu verlieren. Wurde doch der Anschlußvielfach für unaufhaltsam gehalten und stand doch allen Eingeschüchterten die EinlieferungZehntausender österreichischer Hitler-Gegner in deutsche Konzentrationslager als drohendes Menetekel vor Augen.“21

Die politische Krise im Innern der Tschechoslowakei, aber auch der Druckvon außen nahmen in den folgenden Wochen und Monaten beständig zu, wassich auch auf die persönliche Lage der deutschen Bevölkerung im täglichenLeben auswirkte.Mühlbergers Bruder Alois war seit Jahren aktiv in der SDAP tätig gewesenund gegen den aufziehenden Nationalismus und Faschismus aufgetreten. DerHaßder SdP-Anhänger hatte sich schon frühzeitig gegen ihn und seine Genossen gerichtet. Mühlberger selbst suchte, wenn auch lavierend, seine demokratische Integrität zu bewahren. Als zusätzliche Belastung für die Familiesollte sich nun auch noch die tschechische Herkunft der Mutter erweisen.Über die bedrückende Situation jener Zeit in den deutschen Grenzgebietenberichtete auch Milena Jesenskr in mehreren Reportagen und Aufsätzen, dievor allem in der tschechischen Zeitschrift PF(tomnost veröffentlicht sind. Mi-lena hatte sich selbst vor Ort ein Bild vom Ausmaßdes persönlichen Terrors,des Rufmords und schließlich des Sich-Ergebens breiter Teile der deutschenBevölkerung gemacht und in aufrüttelnden Worten darüber berichtet unddagegen angeschrieben.

“Im Grenzgebiet stehen sich Menschen in Todfeindschaft gegenüber. Sie tragen diese gegenseitige Feindschaft schon viele Jahre

in ihren Herzen und suchen nach einer Möglichkeit, ihr Ausdruck zu verleihen. Hierfür bietet sich als eine der stärkstenWaffen der gesellschaftliche Boykott an. 1...? in einem Ort sprechen die eigenen Brüder schon seit sechs Jahren nicht mehrmiteinander. Anderswo wiederum ist der Vater Tscheche, dieMutter Deutsche - und die Kinder in der Henleinjugend. Daheim ‘boykottieren sie den Vater‘. 1...! Eltern und Kinder, Eheleute und Geschwister bedrohen sich wechselseitig: ‘Warte nurab, in ein paar Tagen wird man dir den Mund stopfen!‘ I.../ Beieinem solchen Ausmaß an Feindseligkeiten, Boykottmaßnahmen, organisierter Angst und Schrecken, bei der ständigen Hetzpropaganda, bei diesen schmerzlichen Verhältnissen in den Familien, Fabriken und Werkstätten, in dieser Atmosphäre, in derheute jegliche politische, ja selbst nationale Orientierung verlorengegangen ist, und nur noch psychopathische Besessenheitherrscht, ist es gradezu erstaunlich, wenn es keine Toten gibt.“22

Unter diesem seit Jahren andauernden Druck hätten, so weiter Milena Jesenskr, “viele, sehr viele Leute die Seite gewechselt 1...!, sich in die SiegHeil-Ruferei eingereiht und die Rechte zum Grußerhoben“.23Auch wenn der auf sich zurückgezogen lebende Josef Mühlberger nichttäglich mit der eskalierenden Hysterie und Feindschaft konfrontiert gewesen sein mag, so vermerkte er die Zuspitzung doch schmerzlich. Noch zehnJahre zuvor war “die Zeit der Arbeit am Witiko 1...! eine lebendige, aufbruchsfrohe Zeit gewesen. Es gab Reisen und Verbindungen, immer wieder von Trautenau über Prag nach Eger, zu anerkannten und noch zuentdeckenden Dichtern 1...?. Reisen nach Wien, um die dort lebendenSudetendeutschen zur Mitarbeit zu gewinnen ~ In den folgendenJahren, zumindest seit 1935, war er immer mehr in den eigenen engenZirkel zurückgewichen, was jedoch weitere Anfeindungen und Verdächtigungen seiner Gegner nicht verhindert hatte. Der feinfühlige und doppeltgefährdete Dichter hatte es nicht verstanden, sich zur Wehr zu setzen,sondern hatte weiterhin dem Traum vom reinen Künstiertum nachgehangen, ohne sich in irgendeiner Weise politisch zu orientieren. Nun fühlte ersich “wie auf einer Eisscholle, die ungeheuer rasch unter ihm wegtaute,und im Fall, der wirklich der gegebene Fall scheint“, wußte er sich hilfund mittellos dastehend.25Max Brod, der seit jener Witiko-Jahre mit Mühlberger in losem Kontaktgestanden hatte, beschrieb 30 Jahre später jenes Zeitempfinden:

“Der Schatten des Hitlerismus breitete sich immer merklicherüber das Land an der Moldau, alle Lichter begannen zu erlöschen. Masaryk war tot, der tapfere Bene~ führte sein Werk

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weiter, entfaltete dabei sogar mehr Energie, mehr politischenScharfblick als der alternde Staatsgründer in seinen letzten Jahren, die ein allmählicher Verfall des großen Mannes gewesenwaren. Aber auch die erhöhten Anstrengungen des Nachfolgers fruchteten nichts; denn dem klug Planenden half keineder großen Westmächte, alle waren gleichsam einer Lähmungverfallen, die Schlangenaugen des Nazismus und des Faschismus schienen unwiderstehliche Kräfte zu entfalten.“26

Mühlbergers Lebenssituation war in diesem Zeitzusammenhang äußerstschwierig, er wird später Katharina Kippenberg brieflich ein erschütterndesZeugnis davon ablegen.Angesichts der inneren wie äußeren Krisensituation war Josef Mühlberger indieser Zeit ausgesprochen produktiv, arbeitete gleichzeitig an unterschiedlichsten Projekten und dies, ohne jegliche Sicherheit bzw. Anerkennung.Die ehemals aussichtsreiche Anstellung beim Melniker Sender hatte er nichtmehr angetreten und seinem Leipziger Verleger darüber hinaus erklärt, daßerauch die Mitarbeit am deutschsprachigen Radiojournal eingestellt habe, wasallerdings nicht der Wahrheit entsprach. Im Januar schrieb er an den FreundMaras nach Prag:

“Ich bin nun mitten in der Rundfunkbearbeitung des Witiko. Eskönnte eine sehr schöne und starke Arbeit werden. Ich bin froh,dass ich vor diese Arbeit gestellt wurde. 1...! Ich bitte Dich, zuveranlassen, dass mir vom Radiojournal nun ein unmittelbarerAuftrag zu dieser Arbeit gegeben wird. 1...! Bitte bald, damit ichdie Gewissheit habe, dass meine Arbeit auch wirklich angenommen wird.“27

Mit den 2.500 Kronen des Herderpreises waren die eklatanten Geldnöte nichtverschwunden, andere Honorare waren äußerst bescheiden und zumal selten,und so ergriff Mühlberger jede sich bietende Gelegenheit, sich doch wenigstens mit einigen Zeilen gedruckt zu sehen. Im Januar druckte beispielsweisedie Deutsche Zeitung Bohemia sein Gedicht Adalbert Stifter.28 Außerdemhatte man ihn gebeten, zum 70. Todestag des großen böhmischen Dichtersanläßlich einer Gedenkveranstaltung eine würdigende Rede zu halten. Am30. Januar reiste er nach Prag und sprach abends in der Urania über AdalbertStifter.Im März fragte er wieder bei Walter Maras an, ob es ihm möglich sei, “dieAufführung /seines/ neuen Nibelungen-Dramas in der Deutschen Sendungdurchzusetzen. Sicher wäre die Sache ein Impuls für das Theater, sich näherdamit /zul befassen.“29 Im selben Brief erwähnt er auch sein Hörspiel GrafSporck, Sie haben gelogen, dessen endgültige Ausführung er noch zurückstel

len wollte, da er vom Radiojournal noch immer keine Zusage dafür erhaltenhabe. Offenbar war Walter Maras einer der wenigen Freunde, die noch denMut und die Möglichkeit hatten, den vereinsamten und bedrohten Autor zuunterstützen und mit Aufträgen zu fördern. Am 19. März heißt es in einemBrief Mühlbergers:

“Ich danke Dir für Deinen Brief, der mehr als in einer HinsichtGutes sagt. Doch ich bekam einen linden Schrecken - Vorschussnahm ich im Leben nie, und schon das Wort an sich macht michbange. So suchte ich denn jene vier Szenen aus der hussitischenZeit heraus, die ich einmal für den Schulfunk schrieb; doch siewaren dort nicht tragbar. Ich schaue sie wieder an, sie gefallenmir - ich hatte damals daran gedacht, die ganze böhmische Geschichte in solchen kleinen Szenen in einem grossen Buch zusammenzufassen, nach dem Vorbild von Gobineaus Renaissance:heute bedaure ich, dass der Plan nicht weiter gediehen ist undlediglich diese vier Szenen entstanden. Ich will sie nicht direkteinsenden und erst von Dir hören, ob sie brauchbar sind. Vielleicht müsste da und dort ein Satz gemildert oder geändert werden.“30

Einzig für den Prager Rundfunk scheint Mühlberger in diesen Tagen undWochen gearbeitet zu haben, ansonsten war er bemüht, sich “weder linksnoch rechts zu beteiligen“, was allerdings auch bedeutete, daßdamit fast jedeVerdienstmöglichkeit verschlossen war. Aber auch für den Prager Sender zuarbeiten brachte genügend Schwierigkeiten. Anfang Mai berichtet er in einemBrief an Maras davon:

“Ich bin wirklich krank. Die Geschichte wegen der ‘Wunderkur‘hat mich einige Tage Arbeit gekostet, ich hatte drei, viermalbesetzt und wieder Absagen erhalten, es schließlich mit denDörflern versucht, denen ich aber doch, da sie alle SdP-Leutesind, reinen Wein einschenken musste. Ich habe den Weg insDorf zweimal hin und zurück bei Regen und Sturm gemacht.“31

Ob und welche dieser weitverzweigten Vorhaben für den Rundfunk danntatsächlich realisiert bzw. dann auch gesendet wurden, läßt sich heute kaummit Sicherheit feststellen, jedoch rißdiese Arbeit bis zum November 1938anscheinend nicht ab, wie aus den erhaltenen Briefen hervorgeht. Allerdingsbat Mühlberger am 1. Juni den Freund, die von ihm gelieferten zwei Hörfolgen “falls es möglich ist, 1...! nicht unter /seineml Namen auszusenden“. Dafürmag es verschiedene Gründe gegeben haben, vor allem aber wohl den, daßJosef Mühlberger, wie ein handschriftlicher Zusatz im selben Brief besagt, amTag zuvor, “als dem letzten möglichen Tag, um 8 Uhr abends zur SdP beigetreten“ war.32

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Bereits im Vorfeld der anstehenden Mai-Wahlen, die die SdP ultimativ als den“Tag für unseren Anschluß“ deklariert hatte, holten die Henlein-Leute zum letztenSchlag gegen die demokratisch gesinnten Landsleute im Grenzland aus. Seit Wochen, so berichtete Milena Jesenskä unter anderem, erließdie SdP

“Aufrufe an alle Deutschen, sich bei ihr einzuschreiben: ‘Komm zuuns, ehe es zu spät ist‘ - lauteten die Plakataufschriften. Anfangswurde verkündet, der letzte Aufnahmetermin für neue Parteimitglieder vor dem Anschluß sei der 30. April. Dann wurde er einbißchen verlängert - bis zum 15.Mai. Und schließlich - wohl austechnischen Gründen - bis zum 30. Mai.“33

Seitdem Konrad Henlein “in Karlsbad das Programm seiner BerlinerAuftraggeber verkündet hatte“34, verging im sudetendeutschen Grenzland kaum ein Tag ohne nazistische Provokationen, und die für Maiangesetzten Gemeindewahlen erhielten in diesem Kontext eine überregionale Bedeutung als Votum für bzw. gegen die faschistischen Kräfteim Innern der Tschechoslowakei. “Die KP~ und mit ihr sympathisierende patriotische Kräfte führten die Wahivorbereitungen als Kampfgegen die faschistische Bedrohung von innen und außen. Im Wahlaufruf vom 13. Mai forderte die Partei die Wähler auf, einen Wahlsieg derSdP zu verhindern. Das sei vor allem notwendig, ‘um auf diesem exponierten Platz Europas Freiheit und Frieden gemeinsam zu verteidigen‘.“35Die deutsche Gesandtschaft in Prag berichtete zu dieser Zeit über die Situation in den sudetendeutschen Grenzgebieten, daßsich dort ein Wandel vollzogen habe:

“Die tschechischen Grenzler, insgesamt fast 300 000 an der Zahl,an ihrer Seite sudetendeutsche Kommunisten und Sozialdemokraten, Staatspolizei, Gendarmerie und Militär haben sich vonder ersten Bestürzung erholt“, und die Lage sei so, heißt es dannweiter, “daß sich Deutsche und Tschechen kampfbereit undkampflustig gegenüberstehen.“36

Die Gesamtheit der innenpolitischen wie nationalen Spannungen hatten siclderart verschärft, daßsie am Tag vor den Wahlen ihren eruptiven Höhepunkterreichten und sich die Prager Regierung veranlaßt sah, eine Teilmobihnachung sowie die sofortige Grenzsicherung anzuordnen - zwei Jahrgänge derReserve, die Luftstreitkräfte, Fliegerabwehr und die Staatsverteidigungswachewurden einberufen.Milena Jesensk~, die zu den glühenden tschechischen Patrioten zu zählen seindürfte, vertrat vehement die Position der aktiven Selbstverteidigung und be.schrieb die Wirkung der von der Regierung getroffenen Maßnahmen folgendermaßen:

“Keine Spur von Nervosität, aber auch keine Spur von irgend-einer ‘Begeisterung‘, von Gewinke aus dem Zug heraus undvon chauvinistischer Schreierei. Das war vielmehr der äußerstkonzentrierte, ruhige Antritt der Streitkräfte zur offenkundigenV e r t e i d i g u n g, der mehr imponierte als alles andere, waswir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Nicht eine Spurvon jener Soldatentümelei, die uns das Ausland ständig alsBeispiel vor Augen führt. Nein, dies hier war eine Armee, dieauszog, ihr Vaterland zu verteidigen: Sie bewies uns von neuem:Wenn das tschechoslowakische Volk die Gelegenheit bekommtzu handeln, handelt es vorbildlich. /...I Freitag abend sah ich inden Gaststätten, Hotels, auf den Straßen, in den Trafiken undden anderen Läden überall die zum Grußerhobene Rechte.Samstag mittag keine einzige mehr. Freitag abend war dieStadt ein einziger Bergort - die Männer liefen in Wanderschuheu, weißen Strümpfen und nackten Knien herum, die Frauenin Dirndln. Am Samstag schwärmte die Zivilbevölkerung innormaler städtischer Kleidung aus. Freitags war im Schaufenster eines Verlagshauses eine riesige Aufnahme von der österreichischen Grenze zu sehen, die mit lautem Jubel von deutschen Soldaten niedergerissen wurde. Samstag morgen war sieverschwunden. Noch am Freitag gab es in den Kleidergeschäften nichts als Trachtenjoppen und in den Schuhgeschäften einzig und allein Bergschuhe. Am Samstag waren sie verschwunden. Es sieht so aus, als ob dieser Menschentypus, zu dem auchdie Henleindeutschen gehören, nur dann Courage zeigt, wenner in Reih und Glied marschieren und dabei grölen kann. Sobald er jedoch gezwungen wird, als einzelner aufzutreten, ist esaus mit dem Mut. Und dann, vergessen wir nicht: Keiner vonihnen wollte und will Krieg, sondern den Anschluß. Einenstillen, ruhigen, unblutigen Anschluß: nur mußman das Wortunblutig so verstehen, daßnicht ihr Blut fließen soll. Nun denn,einen Anschlußwird es nicht geben.“37

Angesichts der sich derart zuspitzenden Entwicklung hatte sich Josef Mühlberger nun offensichtlich doch dem allgemeinen Boykott der nationalistischenKreise gebeugt und sich “mit den in Frage kommenden Stellen der Sudeten-deutschen Partei i...i in Verbindung“ gesetzt, wie er bereits Anfang Mai seinemLeipziger Verleger mitteilte.38 An einer der “in Frage kommenden Stellen“wußte Mühlberger den jungen Dichter Franz Höher, den er zumindest aus derWitiko-Zeit kannte und um dessen Anschrift er ebenfalls im Mai brieffichWalter Maras bat.39

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Heinrich Schubert erinnert sich hingegen, daßMühlberger noch im März dasAngebot, der SdP beizutreten, abgelehnt und auch bei den letzten Gemeindewahlen im Mai sozialdemokratisch gewählt habe; Mühlberger sei Demokrat,Humanist und Anhänger einer nationalen Verständigung geblieben.40 Gleichwohl scheint Mühlberger dann doch der Henlein-Partei beigetreten zu sein,obschon es irritiert, daßer nach dem “Anschluß“ offenbar nicht automatischin die NSDAP übernommen worden war, was der allgemein üblichen Praxisfür Mitglieder der SdP entsprach. Noch im August des Jahres 1940 wird erKatharina Kippenberg mitteilen, daß seine Aufnahme in die Partei nochimmer nicht erfolgt sei.41Auch die verstärkt betriebenen Versuche, mit den offiziellen sudetendeutschen Stellen einen Ausgleich herbeizuführen, brachten anscheinend nichtden gewünschten Erfolg. Ungeachtet dessen arbeitete Mühlberger weiter fürden Prager Rundfunk. Ende Juni übernahm er die Zusammenstellung einerHörfolge unter dem Titel Segen der Erde, die er noch vor seiner Abreise zueinem Urlaubsaufenthalt auf dem Balkan und in Konstantinopel fertigstellenwollte.42 Gleichzeitig beendete er das Manuskript für das Hörspiel Liliencronin Prag, das er am 2. Juli an Maras abschickte.43 Trotz der finanziellen Misereverbrachte Mühlberger die Sommermonate Juli und August am SchwarzenMeer.Heinrich Schubert erinnert sich an ein Ereignis im September 1938:

“Ich hörte mit meiner Familie bei unserer tschechischen Hausfrau (Radioempfänger waren den Deutschen von den tschechischen Behörden abgenommen worden - M.B.) die Hitler-Redeauf dem Nürnberger Parteitag. Anschließend ging ich in dieRedaktion, wn die inzwischen eingegangenen Meldungen zuverarbeiten. Um Mitternacht hörte ich plötzlich die Glockenvom Turm der Erzdechantkirche läuten (ohne den Erzdechenten zu befragen, hatte man sich der Schlüssel zum Turm bemächtigt. Der Seelsorger mußte dafür an einem der nächsten Tageeine Hausdurchsuchung der tschechischen Polizei über sich ergehen lassen.) Von ferne her hörte ich Lärm und Klatschen undschließlich den Gesang des Deutschlandliedes in meine Einsamkeit. Der Sturm mußte also losgebrochen sein! 1...! Am Morgenerzählte man mir von den nächtlichen Vorfällen. Nach der Hit-1er-Rede hatten sich auf dem Marktplatz Menschenmassen angesammelt. Der Führer hatte in Nürnberg erklärt: ‘Die Sudeten-deutschen sind weder wehrlos noch verlassen!‘ Angesichts derVolksmenge zog sich nach Verhandlungen zwischen der SdP unddem Bezirkshauptmann die tschechische Polizei zurück. SchlagMitternacht kam es unter freiem Himmel zu einer allerdings

verfrühten ‘Befreiungskundgebung‘. Bis nächsten Mittag schienen - nicht nur in Trautenau, sondern überall - alle Fesselngefallen zu sein. Am Nachmittag wurde bekannt, daßdas Stand-recht über die sudetendeutschen Gebiete verhängt sei. Die Zügel der Staatsgewalt wurden wieder fester angezogen. An allenStraßenecken patrouillierten tschechische Gendarmen und Polizisten mit aufgepflanztem Bajonett. Ansammlungen von mehrals drei Personen waren verboten.“~

Zwei Tage später floh Konrad Henlein nach Bayern und heitzte von dort dieStimmung unter den sudetendeutschen Landsleuten und Parteigängern an.Am 15. September traf der britische Premier Chamberlain zu “Friedensverhandlungen“ mit Adolf Hitler zusammen.

“In der Nacht vom 19. zum 20. September !kam es! zu Überfällenauf tschechoslowakische Zollämter und Grenzwachen in Ebersdorf/Habartice, OberkleinaupafHornf Malt Üpa und ZnaimlZnojmo sowie auf Amtsgebäude in Starostfn und Kun~uft.“45

Am 23. September beschloßdaraufhin die tschechoslowakische Regierung dieGeneralmobilmachung. Viele der deutschen Reservisten entzogen sich ihr,indem sie sich in den Wäldern verbargen, bei Bekannten untertauchten oderüber die grüne Grenze ins Reich gingen. Josef Mühlberger wird im Dezember1938 Katharina Kippenberg mitteilen, daßauch er “in den düstersten Tagendes September !...I dem tschechischen Stellungsbefehl den Gehorsam“ verweigert und sich “damit den ärgsten Strafen“ ausgeliefert habe, zumal er vonSozialdemokraten der tschechischen Staatspolizei angezeigt worden sei.~Mühlberger, der sich bis dahin immer als Bürger der TschechoslowakischenRepublik verstanden und verhalten hatte und als ein Mann des “aktivistisehen“ Ausgleichs galt, entschied sich offenbar unter dem Druck der Ereignisse endgültig für die sudetendeutsche Position.Am 29. September 1938 hatten die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs vor den Forderungen Hitlers zur “Lösung der Sudetenfrage“ kapituliertund das “Münchener Abkommen“ unterzeichnet. Der folgende

1 Kapitulationsbeschlußder tschechoslowakischen Regierung zum “Münchener Abkommen“ bedeutete “das Fiasko der bürgerlichen Tschechoslowakischen Republik und den Beginn der Auflösung des tschechoslowakischenStaates“~

j Unmittelbar vor der Besetzung der tschechischen Grenzgebiete durch diedeutsche Wehrmacht und SS-Verbände wurden sozialdemokratische Funktionäre und ihre Familien von der tschechischen Polizei aufgefordert, sich zuihrem eigenen Schutz in das Landesinnere zu begeben. Auch die FamilieAlois Mühlbergers wurde im Rahmen einer solchen Aktion evakuiert. Erselbst blieb jedoch in Trautenau und wurde noch vor dem Einmarsch der

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