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Schrumpfen von Martin Zenhäusern ([email protected] ) Kürzlich habe ich im Gedränge des Weihnachtsrummels an einer Tramhaltestelle in Zürich einer Primarklasse zugehört, die ziemlich aufgekratzt herumblödelte. Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, der von einer gestressten und mit Geschenken voll bepackten Frau unsanft angerempelt wurde, sagte darauf zu seinen Mitschülern: „Man sollte die Menschen schrumpfen. Und zwar alle!“ Und dann entstand ganz spontan eine angeregte Diskussion zwischen den Kindern. Sie sprachen darüber, wie klein die Menschen geschrumpft werden sollten, ob auch die Pflanzen und Tiere geschrumpft werden müssten, „stell’ dir vor, du bist nur noch zwei Zentimeter gross, und unsere Katze frisst dich.“ Einer machte schliesslich den Vorschlag, dem alle zustimmten: „Hundertmal kleiner“ sollten wir werden. Dann kam endlich das überfüllte Tram, und die Schülerinnen und Schüler drängten hinein. Ich fand das Thema äusserst animierend und liess mir ein paar Gedanken durch den Kopf gehen. Wenn der Mensch hundertmal kleiner würde, die Erde aber gleich gross bliebe, dann wären viele Probleme auf einen Schlag gelöst. Wenn ich im Kollegium Spiritus Sanctus alles richtig mitbekommen habe, dann ist die Erde gut hundertmal kleiner als die Sonne. Wir hätten theoretisch gesehen, also rund hundertmal mehr Platz zur Verfügung. Wasserknappheit, Hunger und Energie dürften kein Problem mehr sein. Der unglaubliche Raum, der zur Verfügung stünde, wäre ein Luxus: Endlich Platz haben! Endlich Ruhe haben! Nur schon die Vorstellung, dass ich auf den schönen Skipisten im Oberwallis hunderte von Kilometern an einem Stück carven könnte, wenn denn die Kondition vorhanden wäre... So abwegig war es nicht, was die Schüler diskutierten. In der Evolution sind die Grossen gegenüber den Kleinen häufig im Nachteil gewesen. Grösse macht anfälliger, die Belastung nimmt zu, die Beweglichkeit ab. Deshalb ist bei Wirtschaftsexperten auch immer wieder zu hören, dass die Unternehmen flinke Schnellboote sein sollten und nicht schwerfällige Tanker. Vielleicht haben wir auch schon begonnen, unser Wachstum zu begrenzen. Nachdem der Mensch im Durchschnitt in den vergangenen Jahrzehnten ständig grösser geworden ist, soll sich das Wachstum in den vergangenen Jahren verlangsamt haben oder sogar zum Stillstand gekommen sein. Wir werden also offensichtlich nicht zu Riesen werden. Und wohl auch nicht zu Zwergen. Obwohl dieser Gedanke durchaus seinen Reiz haben würde. So wie es eine Schülerin beim Versuch, das überfüllte Tram zu besteigen, ausdrückte: „Wenn wir geschrumpft wären, hätte die ganze Stadt in einem Tram Platz.“ Und dann zwängte sie sich hinein. Noch etwas: Auf einer ganz anderen Ebene hat es der deutsche Schriftsteller und Dichter Johann Gottfried Seume auf den Punkt gebracht: „Wer andere klein macht, ist selber nicht gross.“

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Schrumpfen von Martin Zenhäusern ([email protected]) Kürzlich habe ich im Gedränge des Weihnachtsrummels an einer Tramhaltestelle in Zürich einer Primarklasse zugehört, die ziemlich aufgekratzt herumblödelte. Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, der von einer gestressten und mit Geschenken voll bepackten Frau unsanft angerempelt wurde, sagte darauf zu seinen Mitschülern: „Man sollte die Menschen schrumpfen. Und zwar alle!“ Und dann entstand ganz spontan eine angeregte Diskussion zwischen den Kindern. Sie sprachen darüber, wie klein die Menschen geschrumpft werden sollten, ob auch die Pflanzen und Tiere geschrumpft werden müssten, „stell’ dir vor, du bist nur noch zwei Zentimeter gross, und unsere Katze frisst dich.“ Einer machte schliesslich den Vorschlag, dem alle zustimmten: „Hundertmal kleiner“ sollten wir werden. Dann kam endlich das überfüllte Tram, und die Schülerinnen und Schüler drängten hinein. Ich fand das Thema äusserst animierend und liess mir ein paar Gedanken durch den Kopf gehen. Wenn der Mensch hundertmal kleiner würde, die Erde aber gleich gross bliebe, dann wären viele Probleme auf einen Schlag gelöst. Wenn ich im Kollegium Spiritus Sanctus alles richtig mitbekommen habe, dann ist die Erde gut hundertmal kleiner als die Sonne. Wir hätten theoretisch gesehen, also rund hundertmal mehr Platz zur Verfügung. Wasserknappheit, Hunger und Energie dürften kein Problem mehr sein. Der unglaubliche Raum, der zur Verfügung stünde, wäre ein Luxus: Endlich Platz haben! Endlich Ruhe haben! Nur schon die Vorstellung, dass ich auf den schönen Skipisten im Oberwallis hunderte von Kilometern an einem Stück carven könnte, wenn denn die Kondition vorhanden wäre... So abwegig war es nicht, was die Schüler diskutierten. In der Evolution sind die Grossen gegenüber den Kleinen häufig im Nachteil gewesen. Grösse macht anfälliger, die Belastung nimmt zu, die Beweglichkeit ab. Deshalb ist bei Wirtschaftsexperten auch immer wieder zu hören, dass die Unternehmen flinke Schnellboote sein sollten und nicht schwerfällige Tanker. Vielleicht haben wir auch schon begonnen, unser Wachstum zu begrenzen. Nachdem der Mensch im Durchschnitt in den vergangenen Jahrzehnten ständig grösser geworden ist, soll sich das Wachstum in den vergangenen Jahren verlangsamt haben oder sogar zum Stillstand gekommen sein. Wir werden also offensichtlich nicht zu Riesen werden. Und wohl auch nicht zu Zwergen. Obwohl dieser Gedanke durchaus seinen Reiz haben würde. So wie es eine Schülerin beim Versuch, das überfüllte Tram zu besteigen, ausdrückte: „Wenn wir geschrumpft wären, hätte die ganze Stadt in einem Tram Platz.“ Und dann zwängte sie sich hinein. Noch etwas: Auf einer ganz anderen Ebene hat es der deutsche Schriftsteller und Dichter Johann Gottfried Seume auf den Punkt gebracht: „Wer andere klein macht, ist selber nicht gross.“