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Kolumne vom 11. Februar 2005 Betrug und Entrüstung von Martin Zenhäusern ([email protected]) Ein junger deutscher Schiedsrichter hat einige Spiele „verpfiffen“ und dafür Geld kassiert. Kriminelle Energie ist im Spiel. Die Entrüstung ist allgemein und gross. Alle sprechen von einen Skandal. Das Vertrauen in den deutschen Fussball ist nachhaltig gestört. Niemand hielt es für möglich, dass ein Einzelner, wenn auch mit einigen Hintermännern, eine ganz Sportart derart erschüttern könnte. Warum eigentlich? Nehmen wir den Sport ganz allgemein. Betrug und Schiebung sind an der Tagesordnung. Da sinkt der eine Boxer langsam hin und geht zu Boden, anschliessend kassiert er seinen (An-)Teil. Und the show is going on. Oder nehmen wir das weit verbreitete Doping. Die Tour de France ist zu einer Tour de Drogue verkommen, wenn man all die Skandale der letzten Jahre zusammen nimmt. Von der Leichtathletik ganz zu schweigen. Da werden schwerste leistungsfördernde Drogen konsumiert. Schauen wir mal in die Wirtschaft. Manager zocken Gelder ab, bereichern sich am Unternehmen, verschwinden mit der Kasse unterm Arm oder richten mit ihrer Gier ganze Unternehmen zugrunde. Jedes vierte Unternehmen in der Schweiz wird von seinen eigenen Mitarbeitern betrogen. Meistens sind es die ganz normalen Manager, die das eigene Unternehmen absichtlich schädigen. Ein Blick in die Kultur. Wer erinnert sich noch an die schwedischen Literatur-Nobelpreisträger, die selber dem Wahlkomitee angehörten? Niemand mehr, ist ja auch schon lange her. Oder die gekauften oder zumindest fragwürdig zustande gekommenen Votings bei TV-Sendungen und Miss-Wahlen. Oder in der Politik. Wahlbetrügereien nicht nur in Dritt-Welt-Staaten. Da wird geschummelt und geschoben, dass sich die Balken biegen. Beflissene Kandidaten, die eigenhändig ihre Stimmzettel für ganze Altersheime ausfüllen. Irgendwo in der Schweiz. In der Gesellschaft und in der Familie. Ohne moralisieren zu wollen: Steuerhinterziehung, Erbstreitigkeiten, Seitensprünge etc. Und dann betrügen wir uns immer wieder selber, weil wir die Augen verschliessen vor dem, was passiert: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss. Solange wir die oben genannten Betrügereien als Kavaliersdelikte betrachten oder sie einfach als gegeben hinnehmen, bleibt alles beim Alten. Wer nicht bereit ist, etwas zu ändern, sollte seine Entrüstung ruhig etwas abtemperieren. Warum echauffieren wir uns trotzdem? Es gibt ein psychologisches Gesetz: Was man selber gerne tun würde, aber doch nicht tut, macht ein anderer. Und jetzt kann man sich so richtig entrüsten. Noch etwas – Der Schweizer Erzähler Jakob Bosshart hat treffend festgehalten: „Der Selbstbetrug ist der häufigste Betrug und auch der schlimmste.“ Quod erat demonstrandum.

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Ein Blick in die Kultur. Wer erinnert sich noch an die schwedischen Literatur-Nobelpreisträger, die selber dem Wahlkomitee angehörten? Niemand mehr, ist ja auch schon lange her. Oder die gekauften oder zumindest fragwürdig zustande gekommenen Votings bei TV-Sendungen und Miss-Wahlen. In der Gesellschaft und in der Familie. Ohne moralisieren zu wollen: Steuerhinterziehung, Erbstreitigkeiten, Seitensprünge etc.

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Kolumne vom 11. Februar 2005

Betrug und Entrüstung von Martin Zenhäusern ([email protected])

Ein junger deutscher Schiedsrichter hat einige Spiele „verpfiffen“ und dafür Geld kassiert. Kriminelle Energie ist im Spiel. Die Entrüstung ist allgemein und gross. Alle sprechen von einen Skandal. Das Vertrauen in den deutschen Fussball ist nachhaltig gestört. Niemand hielt es für möglich, dass ein Einzelner, wenn auch mit einigen Hintermännern, eine ganz Sportart derart erschüttern könnte. Warum eigentlich? Nehmen wir den Sport ganz allgemein. Betrug und Schiebung sind an der Tagesordnung. Da sinkt der eine Boxer langsam hin und geht zu Boden, anschliessend kassiert er seinen (An-)Teil. Und the show is going on. Oder nehmen wir das weit verbreitete Doping. Die Tour de France ist zu einer Tour de Drogue verkommen, wenn man all die Skandale der letzten Jahre zusammen nimmt. Von der Leichtathletik ganz zu schweigen. Da werden schwerste leistungsfördernde Drogen konsumiert. Schauen wir mal in die Wirtschaft. Manager zocken Gelder ab, bereichern sich am Unternehmen, verschwinden mit der Kasse unterm Arm oder richten mit ihrer Gier ganze Unternehmen zugrunde. Jedes vierte Unternehmen in der Schweiz wird von seinen eigenen Mitarbeitern betrogen. Meistens sind es die ganz normalen Manager, die das eigene Unternehmen absichtlich schädigen. Ein Blick in die Kultur. Wer erinnert sich noch an die schwedischen Literatur-Nobelpreisträger, die selber dem Wahlkomitee angehörten? Niemand mehr, ist ja auch schon lange her. Oder die gekauften oder zumindest fragwürdig zustande gekommenen Votings bei TV-Sendungen und Miss-Wahlen. Oder in der Politik. Wahlbetrügereien nicht nur in Dritt-Welt-Staaten. Da wird geschummelt und geschoben, dass sich die Balken biegen. Beflissene Kandidaten, die eigenhändig ihre Stimmzettel für ganze Altersheime ausfüllen. Irgendwo in der Schweiz. In der Gesellschaft und in der Familie. Ohne moralisieren zu wollen: Steuerhinterziehung, Erbstreitigkeiten, Seitensprünge etc. Und dann betrügen wir uns immer wieder selber, weil wir die Augen verschliessen vor dem, was passiert: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss. Solange wir die oben genannten Betrügereien als Kavaliersdelikte betrachten oder sie einfach als gegeben hinnehmen, bleibt alles beim Alten. Wer nicht bereit ist, etwas zu ändern, sollte seine Entrüstung ruhig etwas abtemperieren. Warum echauffieren wir uns trotzdem? Es gibt ein psychologisches Gesetz: Was man selber gerne tun würde, aber doch nicht tut, macht ein anderer. Und jetzt kann man sich so richtig entrüsten. Noch etwas – Der Schweizer Erzähler Jakob Bosshart hat treffend festgehalten: „Der Selbstbetrug ist der häufigste Betrug und auch der schlimmste.“ Quod erat demonstrandum.