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1 Midlife Crisis – Mythos und Realität Prof. Dr. Alexandra M. Freund Psychologisches Institut Universität Zürich Midlife Crisis – Mythos und Realität - Kurze Einstiegsdefinition - Wann ist das mittlere Erwachsenenalter? - Theorie der Midlife Crisis - Empirie - Funktion

Midlife Crisis – Mythos und Realität

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Burghölzli_2017.pptProf. Dr. Alexandra M. Freund Psychologisches Institut
Universität Zürich
- Kurze Einstiegsdefinition - Wann ist das mittlere Erwachsenenalter?
- Theorie der Midlife Crisis
• aus Lexikon der Psychologie, Spektrum (Bd. 2): – Krise, schwierige, gefährliche Entwicklung,
Ausnahmesituation, der Gipfel eines Spannungsbogens, in der sich die Betroffenen in einem sehr labilen psychischen Zustand befinden, ein weitaus grösseres Bedürfnis nach Hilfe als sonst haben und folglich auch leichter beeinflussbar sind.
Midlife-Crisis
„Gefühl der Unzufriedenheit in der Mitte des Lebens, das Gefühl des Eingeschlossenseins in Position und private Lebensumstände, mit der fehlenden Perspektive von Veränderungs- möglichkeiten, häufig auch ausgelöst durch kritische Lebensereignisse“
(Lexikon der Psychologie, Bd. 3, Spektrum)
– radikale Veränderungen der Persönlichkeit angenommen: Infragestellen von Zielen, Prioritäten und des bisher Erreichten im “Angesicht des unabwendbaren Todes” (Jacques, 1965) – Begriff und Konzept von der amerikanischen Autorin Gail Sheehy in ihrem Buch „In der Mitte des Lebens“ von 1974 popularisiert
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Halley, Erste Sterbetabelle, 1693
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Halley 1687-1691
Alter?
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Halley 1687-1691
Sweden 1754-1756
Schweiz, 1876-1880
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Halley 1687-1691
Sweden 1754-1756
Switzerland 1876-1880
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Halley 1687-1691
Sweden 1754-1756
Switzerland 1876-1880
Japan 1950-1954
Japan 1980-1984
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Halley 1687-1691
Sweden 1754-1756
Switzerland 1876-1880
Japan 1950-1954
Japan 1980-1984
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Halley 1687-1691
Sweden 1754-1756
Switzerland 1876-1880
Japan 1950-1954
Japan 1980-1984
Japan 2000-2004
Lebenserwartung bei Geburt nach Geschlecht in der Schweiz
(Durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt für Männer : 2) +/- 5 Jahre =
35 - 45 Jahre
Junge (< 35 J) Mittelalte (35-60 J) Alte (> 60 J) Erwachsene
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t, SD
Augen von jungen, mittelalten und älteren Erwachsenen
(Freund & Ritter, 2009)
WHAT IS THE AGE PERIOD OF MIDLIFE?
Other Findings Length of Midlife: On average 15 years 65% feel younger than they are
MacArthur Research Network on Successful Midlife Development (1988-1998) Sample:! MIDUS Survey USA (1996-1997)
For Men
Older Women
Mittleres Erwachsenenalter in den Augen jüngerer und älterer Männer und Frauen
(MIDUS-Studie, USA, repräsentative Stichprobe)
• keine spezifischen biologischen oder psychosozialen Ursachen definiert
• die zeitliche Komponente per se als Ursache (Mitte des Lebens)?: – Erfahrung belastender Lebensereignisse im mittleren
EA (Trennungs-, Verlusterfahrung; körperlicher Abbau)
– relatives Zeiterleben (verbleibende Zeit in Relation zur verlebten Zeit erheblich verkürzt)
• zunehmende Introspektion
50er): Generativität vs. Selbstabsorption • Fehlende Balance, Überbewertung der
Selbstabsorption: Fokus auf eigene Person (nicht auf andere): „Wozu mache ich das überhaupt?“
–Reifes Erwachsenenalter (>50): Integrität vs. Verzweiflung
• Lebensrückblick
Early Adult Transition: Age 17-22
Late Adult Transition: Age 60-65
Mid Life Transition: Age 40-45 Culminating life structure for early adulthood: 33-40
Age 30 transition: 26-33
Age 50 transition: 50-55
Era of preadulthood: 0-22
Levinson et al., 1978
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Levinsons Stufenmodell der Entwicklung im EA (1978) – Abfolge universaler Stufen im Erwachsenenalter – Wechsel zwischen Phasen der Stabilität und des
Überganges – jede Stufe durch charakteristische Lebensstruktur
gekennzeichnet (bezogen auf Themen Familie, Arbeit, Freundschaft, Religion, Ethnizität und Freizeit)
– am Ende einer Phase (in Übergangsphase) wird bisherige Lebensstruktur in Frage gestellt
– Übergangsphasen sind unvermeidbar!
Erwachsenenalter • „midlife transition“(crisis) : Alter 40 – 45 (Abweichungen
nach oben/ unten möglich) • Midlife Crisis als normativer Prozess, der fester
Bestandteil der Entwicklung im Erwachsenenalter ist • Datengrundlage der Theorie:
– Interviews mit Männern (N = 40) (!) im Alter von Mitte 30 bis Mitte 40
– Inhaltsanalysen der Biografien berühmter Männer/ Analyse von Männerfiguren aus der Literatur
• In 90er Jahren Stufenmodell auch für Frauen „bestätigt“
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• Ernüchterung: Ablösung von nicht erfüllbaren Jugendträumen und neue (realistischere) Ansprüche setzen
• Entscheidungen treffen bzgl. Lebensstruktur für mittleres EA – betrifft alle Lebensbereiche (Ehe, Kinder, Beruf): z.B.
Ehe in Frage stellen; Kontaktaufnahme mit jüngeren Personen (Mentorrolle)
• Polaritäten ausbalancieren: Maskulinität vs. Femininität, Leben vs. Tod, Unabhängigkeit vs. Abhängigkeit
Kritikpunkte an Levisons Modell
vernachlässigt interindividuelle Varianz ausgeschlossen • Kritik an Levinsons Studie
– kein repräsentatives Sample: Sample bestand aus Männern aus höherer sozialer Schicht (hoch ausgebildet; beruflich erfolgreich; weisse Hautfarbe) à nicht generalisierbar
– retrospektive Befragung – fehlende Transparenz hinsichtlich der Datenerhebung und –
auswertung (z.B. keine Veröffentlichung der Interviewfragen) – nur ein Befragungszeitpunkt…
• Motivation des Autors, Konzept zu untersuchen, „…to understand, what I had been through myself“ à Bias bei Überprüfung der Theorie durch Voreingenommenheit
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Empirie
Empirie?
• wenig empirische Studien
Negativ Positiv Voller Möglichkeiten
Junge (< 35 J) Mittelalte (35-60 J) Alte (> 60 J) Erwachsene (N = 364)
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• Betrachtung der Persönlichkeits- dimensionen und ihrer Stabilität für die vermeintliche „Midlife Crisis“- Altersgruppe (vorhandene Datensätze)
NEO-Skalen:
• Annahme: starker Anstieg der Neurotizismus-Werte zwischen 40 und 45 als Indikator einer Midlife-Crisis
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à Stabiler Verlauf
à Keine Evidenz für Midlife- Crisis auf Ebene der Persönlichkeit
Midlife-Crisis Skala (McCrae & Costa, 1990)
• Items: Midlife-Crisis relevante Emotionen – Bedeutungslosigkeit – Innerer Aufruhr – Verwirrung – Unzufriedenheit mit Beruf und Familie – Angst vor dem Altern/ Tod
à Auch für diese spezifischen Items fand sich keine Evidenz für eine Midlife-Crisis (Gesamtstichprobe: 650 Männer)
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à Prädisposition durch Persönlichkeitsmerkmale, eine Krise zu erleben; diese Krise muss nicht spezifisch für das mittlere EA sein, sondern kann ebenso gut in anderen Übergangsphasen auftreten!
Midlife-Crisis Skala (McCrae & Costa, 1990)
–ABER: • Männer mit hohen Neurotizismus-Werten erhielten
höhere Werte auf Midlife Crisis - Skala 10 Jahre später
–ähnliches Resultat in MIDUS Study (Lachman & Bertrand, 2001):
• Erwachsene mit hohen Neurotizismus-Werten berichteten häufiger von einer Midlife-Crisis
Menopause bei Frauen – Eine Krise?
• In der Öffentlichkeit häufig als Äquivalent zur (vermeintlichen) Midlife-Crisis des Mannes betrachtet
• zahlreiche biologische Veränderungen (Abfall der Östrogenproduktion, Ende der Menstruation…) – Begleitet von emotionalen und körperlichen Symptomen
(Stimmungsschwankungen, Hitzewallungen, Röte, Schwitzen, Schlaflosigkeit)
• Altersspektrum: 42-58 Jahre – kulturelle Unterschiede – Einfluss der Lebensführung: Frauen, die rauchen und keine
Kinder geboren haben, kommen früher in die Menopause
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Bewertung als medizinisches Phänomen: negativere Einstellung
• Je mehr Symptome Frauen berichten, desto mehr neigen sie zu negativer Haltung zur Menopause (Theisen el al., 1995)
Bewertung als Übergangsphase im Leben (Ende der
Fruchtbarkeit, Unabhängigkeit): positivere Einstellung • Viele Frauen empfinden die Menopause nur wenig oder
gar nicht belastend, Neuanfang (George, 2002) • Frauen mit hoher Bildung zeigen positivere
Einstellungen zur Menopause als Frauen mit schlechterer Bildung
Mills Longitudinal Study of Women's Adult Development
• Helson & Wink (1992): Interview mit Frauen im mittleren Alter: – Effekt von kritischen Lebensereignissen untersucht,
die Krise im mittleren Alter triggern könnten: • Menopause • Pflege der Eltern • Auszug der Kinder
– Erfahrung dieser Ereignisse führte NICHT zu negativen Veränderungen in der Persönlichkeit der Frauen
à Menopause löst nicht notwendigerweise Krise bei Frauen aus, Vielzahl moderierender Faktoren!
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• Interviews mit Männern und Frauen zwischen 24 und 61
• Fragen zur Identität und Lebensgeschichte àkeiner der Interviewten erfüllte die Merkmale
einer Midlife-Crisis
Distanzierung vom höheren aber nicht vom mittleren Alter durch subjektives
Jüngersein
Aussehen  
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(Eaton,  Visser,  Krosnick,  &  Anand,  2009)  
Anderer Blick auf die „Mitte des Lebens“: Lebensmitte als Höhepunkt des Lebens
Pers. Wachstum
Representative Sample of N = 1,108 adults in the US
nach Ryff & Keyes (1995)
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Mroczek & Kolarz (1998) N = 2727
Mroczek & Kolarz (1998) N = 2727
Querschnittliche Altersunterschiede in Negativem Affekt (MIDUS)
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über 10 Jahre (MIDUS)
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Time 2 (2005) N = 3793
Aber was ist mit den Befunden Blanchflower & Oswald? (aus Cheng, Powdthavee, & Oswald, 2014)
GSOEP
HILDA
BHPS
MABEL
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(Fijters & Beatton, 2012)
(Fijters & Beatton, 2012)
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Funktion
Warum ist der Mythos Midlife Crisis nach wie vor so populär?
Midlife Crisis als altersbezogenes Stereotyp
• Adaptive Funktion von Stereotypen: –Herabsetzung/ Abwertung der Personen im
mittleren Erwachsenenalter à Aufwertung der eigenen Person (self-enhancement)
–Antizipation von Schwierigkeiten, die im mittleren Erwachsenenalter auftreten könnten à bessere Vorbereitung (z.B. Ziele anpassen)
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(J. Heckhausen, Dixon, & Baltes, 1987; vgl. auch Mustafic & Freund, 2012)
Gewinne
- Körperliche Leistungsfähigkeit - Sensorik - Gesundheit - Attraktivität
Gewinne und Verluste über die Lebensspanne: Kognitive Leistungen (Li et al., 2004)
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ØErfahrung erster Verluste (Gesundheit, kog. Leistungsfähigkeit)
ØEntwicklungsaufgaben beziehen sich auf Beibehalten / Konsolidieren (beruflich und familiär)
ØGewinnorientierung verliert an Bedeutung ØAufrechterhaltung und Verlustvermeidung wird
wichtiger
Wirken sich die erwarteten Verluste auf die Zielsetzung im mittleren Erwachsenenalter aus?
Altersunterschiede in der Zielorientierung
Jung (n = 49, 18-25 Jahre) Mittelalt (n = 43, 39-58 Jahre) Alt (n = 41, 65-84 Jahre)
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(Ebner, Freund, & Baltes, 2006)
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Altersunterschiede in der Zielorientierung: Zusammenhang zu subjektivem Wohlbefinden
Jung (n = 49, 18-25 Jahre) Mittelalt (n = 43, 39-58 Jahre) Alt (n = 41, 65-84 Jahre)
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Junge Erwachsene Alte Erwachsene
Gewinn
Stabilität
Verlust eher positiv oder negativ
(1) Explizit (2) Implizit: Affect Misattribution Paradigm (Payne et al., 2005)
(Mustafic & Freund, 2013, Studie 2)
Stichprobe: • n = 60 junge E. (18-35 Jahre, M = 25.38, SD = 4.09), • n = 54 mittelalte E. (38-59 Jahre, M = 48.55, SD = 5.85) • n = 68 alte E. (60-84 Jahre, M = 71.70, SD = 5.18)
Altersunterschiede in der Bewertung von Stabilität
Affect Misattribution Paradigm (adapted from Payne et al. 2005)
angenehm unangenehm
.0 0
Gewinn Stabilität Verlust
Jung Mittelalt Alt
Erwachsenenalter - Keine normative Krise bei Männern im mittleren
Erwachsenenalter