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Was ich lese MARIA BILL Schauspielerin und Sängerin [ Foto: Lalo Jodlbauer ] Eines der eindrücklichsten und aufwüh- lendsten Bücher, welches ich im vergan- genen Jahr gelesen habe, ist Suite fran- ¸ caise von Ir` ene emirovsky (Knaus Verlag, München). Der Roman wirft einen mitten in den Krieg und schildert die überstürzte Flucht der Menschen aus Paris, angesichts der drohenden Erobe- rung der Stadt durch die Deutschen im Sommer 1940. Man liest sich in die Angst und Ohnmacht der Betroffenen, in ihre Hoffnungen und in ihre Lebensgier, lei- det mit ihnen unter zynischer Bosheit und zerstörender, selbstgefälliger Über- heblichkeit. Das Werk zeigt ein schonungsloses Bild des schwachen, besiegten und be- setzten Frankreichs und erzählt dabei von Liebe, dass es weh tut. Das Buch in Hän- den saß ich oft da, mit starkem Herzklop- fen und einer großen Sehnsucht nach Frieden. Noch immer habe ich – erlesen und erlebt – die starken Bilder und Ein- drücke, „den Film“ in Kopf und Bauch. Dieses Buches gelangte übrigens auf unglaubliche Weise und wie durch ein Wunder zur Veröffentlichung. Über 60 Jahre lag es in einem Koffer, den die bei- den Töchter von Ir` ene N´ emirovsky auf der Flucht vor der Deportation nicht aus den Händen gaben und aufbewahrten. Erst 1998 erkannten sie es als Romanma- nuskript. In winziger Schrift, um Tinte zu sparen, hatte Ir` ene N´ emirovsky es zu Pa- pier gebracht, ehe sie im Juli 1942 als Jü- din nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie kurze Zeit später an Typhus starb. Q Bestseller BELLETRISTIK 1 (–) Milena Michiko Flaˇ sar: Ich nannte ihn Krawatte, € 17,40 (Wagenbach) 2 (–) Christina Maria Landerl: Verlass die Stadt, € 17,50 (Schöffling) 3 (1) Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes, € 25,70 (S. Fischer) 4 (2) Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung, € 20,50 (Hoffmann und Campe) 5 (–) David Safier: Muh!, € 17,50 (Kindler) 6 (3) Carlos Ruiz Zaf ´ on: Der Gefangene des Himmels, € 23,70 (S. Fischer) 7 (–) Walter Grond: Mein Tagtraum Triest, € 19,90 (Haymon) 8 (–) Georg Markus: Wen man trotzdem lacht, € 24,95 (Amalthea) 9 (–) Franz Winter: Orfanelle, € 21,90 (Braumüller) 10 (–) Martin Walker: Delikatessen, € 23,60 (Diogenes) SACHBUCH 1 (–) Erwin Thoma: Die geheime Sprache der Bäume, € 21,90 (Ecowin) 2 (2) Otto Schenk: Warum mir so fad ist . . ., € 24,95 (Amalthea) 3 (4) Jamie Oliver: Jamies 15-Minuten- Küche, € 25,70 (Dorling Kindersley) 4 (–) Blaine Harden: Flucht aus Lager 14, € 20,60 (DVA) 5 (9) Ewald Plachutta: Der goldene Plachutta, € 39,90 (Brandstätter) 6 (–) Günther Loewit: Wie viel Medizin überlebt der Mensch?, € 12,95 (Haymon) 7 (3) Roland Adrowitzer (Hrsg.): Mit eige- nen Augen, € 29,99 (Styria premium) 8 (7) Joseph Stiglitz: Der Preis der Ungleichheit, € 25,70 (Siedler) 9 (–) Gerhard Jelinek, Birgit Mosser- Schuöcker: Generation Österreich, € 24,90 (edition a) 10 (–) Martin Puntigam, Werner Gruber, Heinz Oberhummer: Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln, € 20,50 (Hanser) Erstellt von den 18 Buchhandlungen der Morawa Buch- und Medien-Gruppe (u. a.: Morawa, Wien; Moser, Graz; Morawa, Innsbruck; Landhaus, Klagenfurt) www.morawa-buch.at Wer wissen möchte, was eine Apfel-Bananen-Ei-Diät ist, sollte Lily Brett fragen. [Foto: Isolde Ohlbaum ] Mit Jimi, Paul und Mick Jüdisch, verschroben, ernst, aufregend und sehr lustig: Das alles ist Lily Bretts neuer Roman „Lola Bensky“. Eine wilde Rock’n’Roll-Geschichte aus den 1960er-Jahren, die bis heute andauert. Von Antonia Barboric Lilly Brett Lola Bensky Roman. Aus dem Amerikani- schen von Brigitte Heinrich. 302 S., geb., € 20,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin) L ily Brett! Endlich wieder ein Buch von ihr! Ich habe ihre autobiogra- fisch angehauchten Geschichten über neurotische Australierinnen verschlungen, die in New York City beruflich und sozial erfolgreich Fuß ge- fasst haben – stets ihren alten, rüstigen und wissbegierigen Vater im Schlepptau, einen polnisch-jüdischen KZ-Überlebenden. Bretts Frauenfiguren haben oft mit dem Trauma und Schicksal der Kinder von KZ- Überlebenden zu kämpfen und mit den da- raus resultierenden Neurosen. Diese offen- baren sich unterschiedlich, durch Überge- nauigkeit, Gewichts- beziehungsweise Diät- probleme oder Panikattacken. Die Schuld- gefühle, überlebt zu haben, während die Fa- milie und Freunde unter der Nazi-Herr- schaft umkamen, sind bei den Überleben- den stark ausgeprägt: etwa bei den Elternfi- guren Bretts, ebenso bei den Töchterfiguren. Nun also „Lola Bensky“. Die Ähnlichkeit zur Autorin mittels „L“ und „B“ vorhanden. Ob sich diese wahnwitzige, wahnsinnige und witzige Geschichte tatsächlich so ereig- net hat, bleibt offen, und das ist auch gut so. Außerdem: Was für ein Namedropping! Wir schreiben die wilden Mitt-60er-Jahre. Lola Bensky ist eine 19-jährige australische Jour- nalistin für das Rockmusikmagazin „Rock- Out“, geboren in einem Camp für Displaced Persons in Deutschland direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wo ihre El- tern, Renia und Edek Berkelmann, einander nach ihrer Befreiung aus Auschwitz wieder- gefunden und geheiratet haben. Infolge ih- rer Auswanderung nach Australien nannte sich die Familie schließlich Bensky. Lola wird als sehr hübsches, aber auch dickes Mädchen beschrieben. Ihre Gedan- ken kreisen ständig um ihr furchtbares (Zu-) Dicksein, weil ihr das ihre Mutter perma- nent vorhält, und um neue Diätvarianten. Etwa gibt es da die Apfel-Bananen-Ei-Diät, die sie dann – wie alle anderen davor – doch nicht durchhält. Dafür hat sie mit dem Who’s who der Rockszene der Sechzigerjah- re zu tun, als da wären: Jimi Hendrix, mit dem sie sich über Lockenwickler unterhält, Mick Jagger, mit dem sie über finanzielle Gerechtigkeit bei Männern und Frauen de- battiert sowie darüber, dass man, „wenn man viele Kartoffel isst“, am Ende selbst wie eine solche aussieht; Cher, der sie ihre fal- schen Wimpern mit Diamantimitaten leiht (die sie nicht mehr zurückbekommt), und mit der Lola bis zuletzt Ähnlichkeit nachge- sagt wird; Linda Eastman, die spätere Linda McCartney, ist quasi eine Berufskollegin, die als Fotografin immer backstage anzu- treffen ist und sich etwa mit Jim Morrison vergnügt, den Lola wiederum gar nicht aus- stehen kann. So geht es dahin. Lola reist von London nach New York und weiter nach Los Angeles. Dazwischen erlebt sie – es wirkt fast zufällig und dennoch unweigerlich das Monterey International Pop Festival, das kalifornische Vorbild von Woodstock, im Jahr 1967, mit Janis Joplin angeregt über Drogen, Sex und das Dicksein plaudernd. Ein zweiter Strang spielt etwa zehn Jahre danach, zu Lolas 30. Geburtstag. Lola ist in- zwischen mit einem ehemaligen Musiker – „Mr. Ex-Rockstar“ – verheiratet und Mutter einer Tochter, „Mrs. Gorgeous“. Sie sitzt in Melbourne fest. Dieses Kapitel über die kur- ze Ehe ist kurz und behandelt nur die Hoch- zeitsfeierlichkeiten, die ziemlich desaströs waren: Jüdische Gemeinde trifft auf evange- lische Australier, die von Lola sogenannte „Church-of-England-Brigade“, die unterei- nander schon steif genug waren, und die „in Gegenwart der Juden erstarrten“. Im dritten Plot wird Lola in ihrem 52. Lebensjahr dar- gestellt. Sie ist mit Ehemann Nummer zwei verheiratet, „Mr. Someone Else“, und bastelt an ihrer Karriere als Schriftstellerin. Sie schreibt über ein Privatdetektivbüro na- mens „Ultraprivat“ mit den zwei Detektiven Harry und Schlomo und der Detektivin und zugleich Inhaberin der Agentur Petrushka Inge Maria Pagenstecker (bis zu ihrem zwei- ten Lebensjahr Rachel Feinblatt), der Ein- fachheit halber genannt Pimp. Im vierten Teil lässt Brett Lola Bensky mit 63 Jahren im Heute an einem Wohltätig- keitsdinner bei steinreichen Amerikanern, Besitzern einiger Gemälde von „Mr. Some- one Else“, teilnehmen. Dabei trifft sie den ebenso in die Jahre gekommenen Mick Jag- ger wieder, dem sie erneut vorgestellt wird. Er scheint sie zuletzt doch zu erkennen, denn am Ende blicken sie einander über die lange Tafel an: „Er lächelte und nickte.“ Es ist eine aufregende, spannende, lusti- ge Reise, auf die uns Lily Brett hier mit- nimmt: Jüngere Leser bekommen Insiderin- formationen über das Rock’n’Roll-Leben der 1960er, ältere mögen in ihre Jugend ein- tauchen und sich der einen oder anderen wilden Episode aus dieser Zeit entsinnen. Schade, dass ich selbst die bis heute als Gro- ße gehandelten Musiker und Künstler (ja, auch Andy Warhol erhält einen Kurzauftritt) nicht erlebt habe; heute wird zu schnell je- mand als „groß“ gehandelt und ist bald schon wieder in der Versenkung ver- schwunden. Lily Brett schafft es – wieder einmal –, in diesem ihr eigenen Stil auf locker-luftige Art alltägliche wie seltsame Ereignisse zu beschreiben. Das Lachen darf ruhig laut und von Herzen sein. Ernste oder ernsthafte Passagen gibt es wiederholt durch die für Lola immer wieder im Mittelpunkt stehenden Rückverweise auf ihre familiäre, soziale, gesellschaftliche Her- kunft. Hie und da ertappe ich mich dabei zu denken, dass es bereits genügen würde, da- rauf zu verweisen, dass Lola (wie auch Brett selbst) in einem solchen, zuvor erwähnten Lager für Displaced Persons nach dem Krieg geboren wurde. Weiters ignoriert Lily Brett auch die Drogenproblematik nicht – die Kehrseite der (Rockstar-)Medaille glitzert nicht mehr so wie das Starleben, wie sie es dem Leser vor Augen führt. Just als Lola an jenem Dinner teilnimmt, erinnert sie (sich) an jene verstorbenen Künstler unter 27 Jahren der 60er- und 70er, die dadurch in den „Klub 27“ aufgenommen wurden, zu dem natürlich Hendrix, Joplin, Morrison sowie Brian Jones (Gitarrist der Rolling Stones) zählen. Außerdem starben sehr jung Mama Cass (The Mamas and the Papas), Otis Redding sowie eine befreunde- te Rockjournalistin von Lily Brett, Lillian Ro- xon, mit der sie zusammen arbeitete. Lesenswert und leicht zu lesen, wobei leicht nicht mit seicht verwechselt werden darf, kommt „Lola Bensky“ also daher – und ich kann mein Schwärmen für Lily Bretts Schreiben getrost weiterführen. Q Lesungen von Lily Brett im Theater in der Josefstadt am 24. und 25. November, Urauf- führung von ihrem Roman „Chuzpe“ als szenische Fassung in den Kammerspielen am 22. November. SPECTRUM V SAMSTAG, 17. NOVEMBER 2012 DIEPRESSE.COM Die Presse LITERATUR

Mit Jimi, P aul und Mick...Küc he ,) 25,70 (Dor ling K inder sley) 4 (#) B laine H arden: Fluc h tau s La ger 14,) 20,60 (D V A) 5 (9) E w ald P lac hut ta :Der goldene Pla chut ta

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  • Was ich leseMARIA BILL

    Schauspielerin undSängerin

    [Foto: Lalo Jodlbauer ]

    Eines der eindrücklichsten und aufwüh-lendsten Bücher, welches ich im vergan-genen Jahr gelesen habe, ist Suite fran-çaise von Irène Némirovsky (KnausVerlag, München). Der Roman wirfteinen mitten in den Krieg und schildertdie überstürzte Flucht der Menschen ausParis, angesichts der drohenden Erobe-rung der Stadt durch die Deutschen imSommer 1940. Man liest sich in die Angstund Ohnmacht der Betroffenen, in ihreHoffnungen und in ihre Lebensgier, lei-det mit ihnen unter zynischer Bosheitund zerstörender, selbstgefälliger Über-heblichkeit.

    Das Werk zeigt ein schonungslosesBild des schwachen, besiegten und be-setzten Frankreichs und erzählt dabei vonLiebe, dass es weh tut. Das Buch in Hän-den saß ich oft da, mit starkem Herzklop-fen und einer großen Sehnsucht nachFrieden. Noch immer habe ich – erlesenund erlebt – die starken Bilder und Ein-drücke, „den Film“ in Kopf und Bauch.

    Dieses Buches gelangte übrigens aufunglaubliche Weise und wie durch einWunder zur Veröffentlichung. Über 60Jahre lag es in einem Koffer, den die bei-den Töchter von Irène Némirovsky aufder Flucht vor der Deportation nicht ausden Händen gaben und aufbewahrten.Erst 1998 erkannten sie es als Romanma-nuskript. In winziger Schrift, um Tinte zusparen, hatte Irène Némirovsky es zu Pa-pier gebracht, ehe sie im Juli 1942 als Jü-din nach Auschwitz deportiert wurde, wosie kurze Zeit später an Typhus starb. Q

    BestsellerBELLETRISTIK

    1 (–) Milena Michiko Flašar: Ich nannteihn Krawatte, € 17,40 (Wagenbach)

    2 (–) Christina Maria Landerl: Verlass dieStadt, € 17,50 (Schöffling)

    3 (1) Christoph Ransmayr: Atlas einesängstlichen Mannes, € 25,70(S. Fischer)

    4 (2) Wolf Haas: Verteidigung derMissionarsstellung, € 20,50(Hoffmann und Campe)

    5 (–) David Safier: Muh!,€ 17,50 (Kindler)

    6 (3) Carlos Ruiz Zafón: Der Gefangenedes Himmels, € 23,70 (S. Fischer)

    7 (–) Walter Grond: Mein TagtraumTriest, € 19,90 (Haymon)

    8 (–) Georg Markus: Wen man trotzdemlacht, € 24,95 (Amalthea)

    9 (–) Franz Winter: Orfanelle,€ 21,90 (Braumüller)

    10 (–) Martin Walker: Delikatessen,€ 23,60 (Diogenes)

    SACHBUCH1 (–) Erwin Thoma: Die geheime Sprache

    der Bäume, € 21,90 (Ecowin)2 (2) Otto Schenk: Warum mir so fad

    ist . . ., € 24,95 (Amalthea)3 (4) Jamie Oliver: Jamies 15-Minuten-

    Küche, € 25,70 (Dorling Kindersley)4 (–) Blaine Harden: Flucht aus Lager 14,

    € 20,60 (DVA)5 (9) Ewald Plachutta: Der goldene

    Plachutta, € 39,90 (Brandstätter)6 (–) Günther Loewit: Wie viel Medizin

    überlebt der Mensch?, € 12,95 (Haymon)7 (3) Roland Adrowitzer (Hrsg.): Mit eige-

    nen Augen, € 29,99 (Styria premium)8 (7) Joseph Stiglitz: Der Preis der

    Ungleichheit, € 25,70 (Siedler)9 (–) Gerhard Jelinek, Birgit Mosser-

    Schuöcker: Generation Österreich,€ 24,90 (edition a)

    10 (–) Martin Puntigam, Werner Gruber,Heinz Oberhummer: Gedankenlesendurch Schneckenstreicheln, € 20,50(Hanser)

    Erstellt von den 18 Buchhandlungen der Morawa Buch-und Medien-Gruppe (u. a.: Morawa, Wien; Moser, Graz;

    Morawa, Innsbruck; Landhaus, Klagenfurt)www.morawa-buch.at

    Wer wissen möchte, was eine Apfel-Bananen-Ei-Diät ist, sollte Lily Brett fragen. [Foto: Isolde Ohlbaum ]

    Mit Jimi,Paul undMickJüdisch, verschroben, ernst,aufregend und sehr lustig: Dasalles ist Lily Bretts neuer Roman„Lola Bensky“. Eine wildeRock’n’Roll-Geschichte aus den1960er-Jahren, die bis heuteandauert.

    Von Antonia Barboric

    Lilly BrettLola BenskyRoman. Aus dem Amerikani-schen von Brigitte Heinrich.302 S., geb., € 20,60 (SuhrkampVerlag, Berlin)

    die als Fotografin immer backstage anzu-

    Lily Brett! Endlich wieder ein Buchvon ihr! Ich habe ihre autobiogra-fisch angehauchten Geschichtenüber neurotische Australierinnenverschlungen, die in New York

    City beruflich und sozial erfolgreich Fuß ge-fasst haben – stets ihren alten, rüstigen undwissbegierigen Vater im Schlepptau, einenpolnisch-jüdischen KZ-Überlebenden.

    Bretts Frauenfiguren haben oft mit demTrauma und Schicksal der Kinder von KZ-Überlebenden zu kämpfen und mit den da-raus resultierenden Neurosen. Diese offen-baren sich unterschiedlich, durch Überge-nauigkeit, Gewichts- beziehungsweise Diät-probleme oder Panikattacken. Die Schuld-gefühle, überlebt zu haben, während die Fa-milie und Freunde unter der Nazi-Herr-schaft umkamen, sind bei den Überleben-den stark ausgeprägt: etwa bei den Elternfi-guren Bretts, ebenso bei den Töchterfiguren.

    Nun also „Lola Bensky“. Die Ähnlichkeitzur Autorin mittels „L“ und „B“ vorhanden.Ob sich diese wahnwitzige, wahnsinnigeund witzige Geschichte tatsächlich so ereig-net hat, bleibt offen, und das ist auch gut so.Außerdem: Was für ein Namedropping! Wirschreiben die wilden Mitt-60er-Jahre. LolaBensky ist eine 19-jährige australische Jour-nalistin für das Rockmusikmagazin „Rock-Out“, geboren in einem Camp für DisplacedPersons in Deutschland direkt nach demEnde des Zweiten Weltkriegs, wo ihre El-tern, Renia und Edek Berkelmann, einandernach ihrer Befreiung aus Auschwitz wieder-gefunden und geheiratet haben. Infolge ih-rer Auswanderung nach Australien nanntesich die Familie schließlich Bensky.

    Lola wird als sehr hübsches, aber auchdickes Mädchen beschrieben. Ihre Gedan-ken kreisen ständig um ihr furchtbares (Zu-)Dicksein, weil ihr das ihre Mutter perma-nent vorhält, und um neue Diätvarianten.Etwa gibt es da die Apfel-Bananen-Ei-Diät,die sie dann – wie alle anderen davor – dochnicht durchhält. Dafür hat sie mit demWho’s who der Rockszene der Sechzigerjah-re zu tun, als da wären: Jimi Hendrix, mitdem sie sich über Lockenwickler unterhält,Mick Jagger, mit dem sie über finanzielleGerechtigkeit bei Männern und Frauen de-battiert sowie darüber, dass man, „wennman viele Kartoffel isst“, am Ende selbst wieeine solche aussieht; Cher, der sie ihre fal-schen Wimpern mit Diamantimitaten leiht(die sie nicht mehr zurückbekommt), undmit der Lola bis zuletzt Ähnlichkeit nachge-sagt wird; Linda Eastman, die spätere LindaMcCartney, ist quasi eine Berufskollegin,

    treffen ist und sich etwa mit Jim Morrisonvergnügt, den Lola wiederum gar nicht aus-stehen kann. So geht es dahin. Lola reist vonLondon nach New York und weiter nach LosAngeles. Dazwischen erlebt sie – es wirktfast zufällig und dennoch unweigerlich –das Monterey International Pop Festival,das kalifornische Vorbild von Woodstock,im Jahr 1967, mit Janis Joplin angeregt überDrogen, Sex und das Dicksein plaudernd.

    Ein zweiter Strang spielt etwa zehn Jahredanach, zu Lolas 30. Geburtstag. Lola ist in-zwischen mit einem ehemaligen Musiker –„Mr. Ex-Rockstar“ – verheiratet und Muttereiner Tochter, „Mrs. Gorgeous“. Sie sitzt inMelbourne fest. Dieses Kapitel über die kur-ze Ehe ist kurz und behandelt nur die Hoch-zeitsfeierlichkeiten, die ziemlich desaströswaren: Jüdische Gemeinde trifft auf evange-lische Australier, die von Lola sogenannte„Church-of-England-Brigade“, die unterei-nander schon steif genug waren, und die „inGegenwart der Juden erstarrten“. Im drittenPlot wird Lola in ihrem 52. Lebensjahr dar-gestellt. Sie ist mit Ehemann Nummer zweiverheiratet, „Mr. Someone Else“, und basteltan ihrer Karriere als Schriftstellerin. Sieschreibt über ein Privatdetektivbüro na-

    mens „Ultraprivat“ mit den zwei DetektivenHarry und Schlomo und der Detektivin undzugleich Inhaberin der Agentur PetrushkaInge Maria Pagenstecker (bis zu ihrem zwei-ten Lebensjahr Rachel Feinblatt), der Ein-fachheit halber genannt Pimp.

    Im vierten Teil lässt Brett Lola Benskymit 63 Jahren im Heute an einem Wohltätig-keitsdinner bei steinreichen Amerikanern,Besitzern einiger Gemälde von „Mr. Some-one Else“, teilnehmen. Dabei trifft sie denebenso in die Jahre gekommenen Mick Jag-ger wieder, dem sie erneut vorgestellt wird.Er scheint sie zuletzt doch zu erkennen,denn am Ende blicken sie einander über dielange Tafel an: „Er lächelte und nickte.“

    Es ist eine aufregende, spannende, lusti-ge Reise, auf die uns Lily Brett hier mit-nimmt: Jüngere Leser bekommen Insiderin-formationen über das Rock’n’Roll-Lebender 1960er, ältere mögen in ihre Jugend ein-tauchen und sich der einen oder anderenwilden Episode aus dieser Zeit entsinnen.Schade, dass ich selbst die bis heute als Gro-ße gehandelten Musiker und Künstler (ja,auch Andy Warhol erhält einen Kurzauftritt)nicht erlebt habe; heute wird zu schnell je-mand als „groß“ gehandelt und ist baldschon wieder in der Versenkung ver-schwunden. Lily Brett schafft es – wiedereinmal –, in diesem ihr eigenen Stil auflocker-luftige Art alltägliche wie seltsameEreignisse zu beschreiben. Das Lachen darfruhig laut und von Herzen sein.

    Ernste oder ernsthafte Passagen gibt eswiederholt durch die für Lola immer wiederim Mittelpunkt stehenden Rückverweise aufihre familiäre, soziale, gesellschaftliche Her-kunft. Hie und da ertappe ich mich dabei zudenken, dass es bereits genügen würde, da-rauf zu verweisen, dass Lola (wie auch Brettselbst) in einem solchen, zuvor erwähntenLager für Displaced Persons nach dem Krieggeboren wurde. Weiters ignoriert Lily Brettauch die Drogenproblematik nicht – dieKehrseite der (Rockstar-)Medaille glitzertnicht mehr so wie das Starleben, wie sie esdem Leser vor Augen führt.

    Just als Lola an jenem Dinner teilnimmt,erinnert sie (sich) an jene verstorbenenKünstler unter 27 Jahren der 60er- und 70er,die dadurch in den „Klub 27“ aufgenommenwurden, zu dem natürlich Hendrix, Joplin,Morrison sowie Brian Jones (Gitarrist derRolling Stones) zählen. Außerdem starbensehr jung Mama Cass (The Mamas and thePapas), Otis Redding sowie eine befreunde-te Rockjournalistin von Lily Brett, Lillian Ro-xon, mit der sie zusammen arbeitete.

    Lesenswert und leicht zu lesen, wobeileicht nicht mit seicht verwechselt werdendarf, kommt „Lola Bensky“ also daher – undich kann mein Schwärmen für Lily BrettsSchreiben getrost weiterführen. Q

    Lesungen von Lily Brett im Theater in derJosefstadt am 24. und 25. November, Urauf-

    führung von ihrem Roman „Chuzpe“ alsszenische Fassung in den Kammerspielen am

    22. November.

    SPECTRUM VSAMSTAG, 17. NOVEMBER 2012DIEPRESSE.COMDie Presse L I T E R AT U R