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V Transkulturelle Mediävistik - ein Schlusswort Dieser Band entstand aus einem für geisteswissenschaftliche Forschung durchaus noch ungewöhnlichen Kommunikations- wie Schreibprozess. Diese Voraussetzungen prägen Inhalt und Struktur des Buchs, das in Diachronie wie Synchronie weite Untersuchungs- felder absteckt. Die Vielfalt kultarwissenschaftlicher Arbeit im Schwerpunktprogramm 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter" ließ über die bewährte Einzelforschung hinaus neue Formen transdisziplinärer Koopera- tion und eine Plattform für kollaboratives Schreiben entstehen. Solche Arbeitsweisen sind in den etablierten Geisteswissenschaften wenig erprobt und blieben darum in Nut- zen wie Ausgestaltung während der ersten zweijährigen Laufzeit des Schwerpunkt- programms umstritten. Der vorliegende Band spiegelt also Ergebnisse wie Probleme einer selbstständig organisierten Teamarbeit von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern. Allen Beteiligten war und ist das Wagnis kollaborativer Publikation bewusst, deut- lich im wissenschaftlichen Mehrwert wie in den offenen Flanken dieses Buchs. Es ist ein Versuch, der im provokativ gewählten Titel deutlich gemacht wird. Die hier prakti- zierten Publikationsformen werden und wollen individuelle Monografien oder themen- bezogene Sammelbände nicht ersetzen, sondern vielmehr einen Anstoß liefern, welchen Beitrag transdisziplinäre Arbeitsgruppen zur Lösung komplexer Probleme kultarwis- senschaftlicher Forschung leisten können. Darum haben wir das europäische Mittelalter in ein Labor versetzt, dessen experimentelles Schreibumfeld neue, durchaus kontrover- se Erfahrungen hervorbrachte. Nach zwei Jahren innovativer Teamarbeit, die für alle Beteiligten neben ihrer disziplinären Einzelforschung stand, legen wir hier die ersten Resultate unserer methodischen wie inhaltlichen Versuche vor. Wir verstehen dieses Buch als einen Zwischenschritt zur kontinuierlichen Erprobung wie Entfaltung einer transdisziplinären Mediävistik, welche die Arbeit des Schwerpunktprogramms bis 2011 prägen wird. Ein solches Schwerpunktprogramm, das die an mehreren Universitäten vorhandenen wissenschaftlichen Profile sinnvoll bündelt, bietet in besonderem Maß die Voraussetzung für beständige Anstrengungen um neues und zeitgemäßes wissenschaft- liches Arbeiten, das die Geisteswissenschaften aus dem beharrlichen Lamento ihrer traditionellen Andersartigkeit im Konzert der Wissenschaften des 21. Jahrhundert her- auslösen könnte. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 5:46 AM

Mittelalter im Labor (Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft) || V Transkulturelle Mediävistik – ein Schlusswort

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V Transkulturelle Mediävistik-

einSchlusswort

Dieser Band entstand aus einem für geisteswissenschaftliche Forschung durchaus nochungewöhnlichen Kommunikations- wie Schreibprozess. Diese Voraussetzungen prägenInhalt und Struktur des Buchs, das in Diachronie wie Synchronie weite Untersuchungs-felder absteckt. Die Vielfalt kultarwissenschaftlicher Arbeit im Schwerpunktprogramm1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter" ließ

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über die bewährte Einzelforschung hinaus-

neue Formen transdisziplinärer Koopera-tion und eine Plattform für kollaboratives Schreiben entstehen. Solche Arbeitsweisensind in den etablierten Geisteswissenschaften wenig erprobt und blieben darum in Nut-zen wie Ausgestaltung während der ersten zweijährigen Laufzeit des Schwerpunkt-programms umstritten. Der vorliegende Band spiegelt also Ergebnisse wie Problemeeiner selbstständig organisierten Teamarbeit von Nachwuchswissenschaftlerinnen undNachwuchswissenschaftlern.

Allen Beteiligten war und ist das Wagnis kollaborativer Publikation bewusst, deut-lich im wissenschaftlichen Mehrwert wie in den offenen Flanken dieses Buchs. Es istein Versuch, der im provokativ gewählten Titel deutlich gemacht wird. Die hier prakti-zierten Publikationsformen werden und wollen individuelle Monografien oder themen-bezogene Sammelbände nicht ersetzen, sondern vielmehr einen Anstoß liefern, welchenBeitrag transdisziplinäre Arbeitsgruppen zur Lösung komplexer Probleme kultarwis-senschaftlicher Forschung leisten können. Darum haben wir das europäische Mittelalterin ein Labor versetzt, dessen experimentelles Schreibumfeld neue, durchaus kontrover-se Erfahrungen hervorbrachte. Nach zwei Jahren innovativer Teamarbeit, die für alleBeteiligten neben ihrer disziplinären Einzelforschung stand, legen wir hier die erstenResultate unserer methodischen wie inhaltlichen Versuche vor. Wir verstehen diesesBuch als einen Zwischenschritt zur kontinuierlichen Erprobung wie Entfaltung einertransdisziplinären Mediävistik, welche die Arbeit des Schwerpunktprogramms bis 2011prägen wird. Ein solches Schwerpunktprogramm, das die an mehreren Universitätenvorhandenen wissenschaftlichen Profile sinnvoll bündelt, bietet in besonderem Maß dieVoraussetzung für beständige Anstrengungen um neues und zeitgemäßes wissenschaft-liches Arbeiten, das die Geisteswissenschaften aus dem beharrlichen Lamento ihrertraditionellen Andersartigkeit im Konzert der Wissenschaften des 21. Jahrhundert her-auslösen könnte.

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Die Spannbreite dieses Buchs reicht zeitlich von der Spätantike bis ins 15. Jahr-hundert, geografisch von Island bis in die Levante, von der Kiever Rus' bis zur Iberi-schen Halbinsel. Darüber hinaus wurden verschiedene methodische Zugänge gewählt,die in intensiven Diskussionen der transdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsforenentwickelt wurden. Das macht einige Schlussbemerkungen nötig, die über das Resü-mieren der Vielfalt auf das Grandthema des Schwerpunktprogramms zielen, auf dieProzesse permanenter Integration und Desintegration der Kulturen im europäischenMittelalter. Zur Erforschung solcher Akkultarations- und Abgrenzungsvorgänge bildetesich eine Trias der Herangehensweisen heraus: Arbeitsforam A befasste sich mit dermethodischen Frage nach der Wahrnehmung von Differenz, Arbeitsforam B untersuch-te Realbegegnungen in einzelnen Kulturbereichen, Arbeitsforam C analysierte die Ge-walt als eine historisch ebenso prägende wie aktuell tabuisierte Form europäischer In-tegration wie Desintegration.

Unter dem Titel „Wahrnehmung von Differenz-

Differenz der Wahrnehmung" setztder Beitrag von Arbeitsforam A in der Untersuchung kultureller Integrations- und Des-integrationsphänomene dort ein, wo der oder das Fremde als solches begriffen und indas eigene Weltbild einbezogen wird, präziser: dort, wo dieser Prozess seinen Nieder-schlag in Text, Bild und Architektur findet. Da Fremdheit eine Zuschreibung ist und beider Wahrnehmung und Deutung des Fremden nicht zuletzt kulturell tradierte Musterzum Tragen kommen, werden in den Einzelkapiteln des Forenbeitrags unterschiedlicheVorstellungswelten thematisiert, welche die Wahrnehmung lenken und das Wahrge-nommene einordnen. Wesentliche Bedeutung kommt dabei der Frage nach der Materia-lität der jeweiligen Untersuchungsfelder zu, da jedes Material innerhalb seines spezifi-schen Referenzbereiches zu verstehen und zu interpretieren ist.

Nach einer von allen Forenmitgliedern gemeinsam verfassten Einleitung folgt ein Kapi-tel, das am Beispiel von Bauten, Bildern und Texten aus dem Umfeld der Mendikantennach den unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi fragt und die Aussagemöglichkeiten derverschiedenen Materialien auslotet. Theologisch-philosophische Überlegungen zu Wahr-nehmung und Differenz behandeln Margit Mersch und Juliane Schiel in ihren Analysender Schriften der beiden großen Ordenslehrer, Bonaventura und Thomas von Aquin. Tex-te aus der Missionspraxis des Riccold von Monte Croce stellen den zweiten Untersu-chungsgegenstand dar, an dem Juliane Schiel den Niederschlag kulturell tradierter Wahr-nehmungsmuster und die individuelle Verarbeitung kollektiver Stereotypen aufzeigt. Inder Analyse von Architektur und Bilddekor der Kirche S. Caterina in Galatina demonst-rieren Margit Mersch und Ulrike Ritzerfeld, wie ursprünglich fremde Phänomene in denStil- und Formenschatz Apuliens aufgenommen wurden. Damit wird deutlich, wie inKunst und Architektur jene Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremdem aus Textenunterlaufen werden können.

Das darauffolgende Kapitel hebt auf den relationalen Charakter von Wahrnehmung,Deutung und Darstellung religiöser Fremdheit ab und stellt jeweils kontextabhängigeAbgrenzungen von Eigen und Fremd gegenüber. Thomas Haas untersucht dabei Kreuz-

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zugschroniken in Bezug auf die Wahrnehmung von Fremdheit innerhalb der Kreuzfah-rerheere vor dem Hintergrund der Konfrontation mit dem muslimischen Feind undarbeitet Strategien zur Überwindung dieser inneren Fremdheit heraus. Matthias M.Tischler analysiert drei auf der Iberischen Halbinsel entstandene Schriften über denIslam und unterstreicht die grundlegende Bedeutung, die der Bibel bei der Versprach-lichung der im 12. Jahrhundert neu gewonnenen Erfahrung mit dem religiös Fremdenzukam. Annette Seitz untersucht drei ohne jeglichen Kontakt mit dem religiös Fremdenentstandene Universalchroniken auf ihre Darstellung und Interpretation des Islam undbetont die starke Orientierung an der eigenen Religion, die trotz beträchtlicher Hetero-genität allen Fremdbeschreibungen gemeinsam war.

Inszenierungen von Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit in hagiografischen und höfi-schen Texten stehen im Mittelpunkt des letzten Kapitels. In der Analyse mittelhochdeut-scher Heiligenlegenden, namentlich der hl. Cäcilia und des hl. Martins von Tours im Pas-sional, zeigen Andreas Hammer und Stephanie Seidl, wie die Heiligen durch ihre erwei-terte Sinneswahrnehmung herausgehoben wurden. Formen selektiver Wahrnehmung ar-

beitet Julia Zimmermann im ,Parzival' heraus; auch hier ist die Breite der Wahrneh-mungsfähigkeit von der religiösen Zugehörigkeit des Wahrnehmenden abhängig. Jedochgenügte im Beispiel der Taufe des Feirefiz der äußere Vollzug der rituellen Handlung zur

Erlangung vollkommener Wahrnehmungsfähigkeiten. Der eigentlichen Motivation kamkeine Bedeutung zu. Im Jüngeren Titurel' hingegen ergab sich ein konträres Bild: Ob-wohl dem heidnischen baruc eine größere Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit alsden übrigen Heiden zugeschrieben wird und er seinen Wunsch zur conversio äußert, kanner sie doch niemals erlangen, denn die dazu notwendige höchste Stufe der Erkenntnisbleibt ihm verwehrt. Auch in diesem Kapitel ist die entscheidende Rolle der Materialitätdes Untersuchungsgegenstands offensichtlich: Die Redeordnung ,Literatar' ermöglichtdas Spiel mit festgesetzten Wahrnehmungs- und Deutangsmustern.

Die von allen Forenmitgliedern gemeinsam verfasste Schlussbetrachtung arbeitet diebei den Einzeluntersuchungen hervortretenden integrativen und desintegrativen Prozes-se nochmals klar heraus.

Der erste Forenbeitrag setzt reale Begegnungen mit dem Differenten nicht zwingendvoraus, sondern besteht durchaus auch in bloßen intellektuellen Auseinandersetzungen.Dagegen beschäftigt sich der Beitrag von Arbeitsforam B explizit mit Kontakt undAustausch, Kooperation und Konflikt im Zusammenspiel verschiedener Kulturen oderGruppen. In einem theoretischen Abschnitt werden anfangs konzeptionelle Grundlagenzur Untersuchung kultureller Kontakte formuliert, um deren Tragfähigkeit in den fol-genden exemplarischen Beiträgen auszuloten. Koordinaten der Analyse erwachsen aus

der Klärung der Begriffe ,Kultur' und ,Raum' sowie aus der Frage nach der Kompatibi-lität von Bereichen verschiedener menschlicher Gruppen und nach den Kategorien, indenen verschiedene Formen des Kultarkontakts von Gruppen und Verbänden erfasstwerden können.

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Die Analyse des konkreten Umgangs mit Differenzen in Begegnung und Austausch er-

folgt in einzelnen räumlich begrenzten Kulturbereichen: Wissenschaft, Politik, Wirtschaft,Recht und Kunst. Dem Kapitel liegt nämlich die Leitidee zugrunde, dass zur Entschlüsse-lung vielschichtiger Kultarkontakte zunächst die gesonderte Betrachtung einzelner Kul-tarsysteme erfolgen muss. Weil einzelne Kulturbereiche keineswegs autark auftreten,vielmehr untereinander eng vernetzt sind und sich wechselseitig beeinflussen, wird

-

so

formuliert es der Forenbeitrag-

die verknüpfende Analyse der Kultarbereiche in einemzweiten Schritt nötig. In der vergleichenden Betrachtung einzelner Segmente wird Kulturdabei nicht als Ziel, sondern als Instrument der Untersuchung verstanden.

Die erste Fallstadie von Frederek Musall zeigt am Beispiel des jüdisch-andalüsischenPhilosophen Moshe ben Maimón, wie ,fremde Wissensbestandteile' in ein holistischesWissenschaftsverständnis eingeführt, integriert und popularisiert wurden. Deutlich wirdaber zugleich, dass al-Andalüs als Kontaktraum jüdischer, muslimischer und christli-cher Kultur zu einem ganz besonderen Begegnungsraum unterschiedlicher Wissen-schaftskultaren erwuchs.

Der Beitrag von Rainer Barzen und Lennart Güntzel analysiert das Ineinandergreifenvon Herrschaft, Recht und Wirtschaft anhand der Judenvertreibungen in England undFrankreich an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert und stellt heraus, wie stark sichdie Wahrnehmungen der jüdisch-christlichen Beziehungen und die Erklärungen derschrittweisen Desintegration bzw. Exklusion der Juden von jüdischer und von christli-cher Seite unterschieden.

Johannes Pahlitzsch untersucht die rechtliche Situation der Georgier und Melkitenim mamlükischen Jerusalem und verdeutlicht, wie sich je nach Kontext einzelne Inter-essengruppen innerhalb dieser Minderheiten bildeten und wie diese sich zwischenAkkulturation und Segregation um die Bewahrung ihrer kulturellen Identität bemühten.

Anhand ihrer Analyse der seldschukischen Herrschaft in Sugdaia im 13. Jahrhundertzeigt Victoria Bulgakova, wie die religiöse Toleranz bzw. Affinität zum Christentum inder seldschukischen Oberschicht zu einem entscheidenden Integrationsfaktor der mus-limischen Herrschaft über die byzantinische Stadt werden konnte, die nicht zuletzt inder Übernahme islamischer Kunstformen ihren Niederschlag fand.

Recht, Herrschaft und Sprache erweisen sich im Beitrag von Dittmar Schorkowitzals besonders starke Integrations- und Distinktionsformen zwischen den frühen Slavenund den Pecenegen in den divergenten Kultararealen der Kiever Rus' und der südöst-lich angrenzenden Steppe. Der Autor zeigt, wie sich nach der Christianisierung derslavischen Fürstenschicht die Perzeption dieser Periode in der altrassischen Überliefe-rung entscheidend wandelte. Dies stellt das Resultat eines Desintegrationsprozessesdar, der in der Segregation einst durchlässiger Räume mündete.

Der Beitrag von Arbeitsforam C konzentriert sich auf Phänome der Gewalt als prä-gende Muster kultureller Integration und Desintegration. Dies soll, wie Jan Rüdigereinleitend hervorhebt, nicht auf eine repräsentative oder gar vollständige Analyse mit-telalterlicher Gewalt zielen. Vielmehr möchte der Forenbeitrag die Vielfalt mittelalter-

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licher Rede von Gewalt in sieben Aspekten präsentieren. Nach der Zielsetzung desSchwerpunktprogramms handelt es sich dabei um Gewalt, die im Kontakt verschiede-ner Kulturen entstand und die Prozesse kultureller Integration oder Desintegration be-gründete. Die Beiträge speisen sich aus den individuellen Quellenanalysen der Foren-mitglieder, was ihre weite regionale wie zeitliche Verteilung und ihre Gattangsauswahlerklärt. Um das Phänomen der interkultarellen Gewalt möglichst facettenreich, aberauch möglichst verständlich darzustellen, sind die Quellentexte jeweils zweisprachig

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im Original wie in zeitgemäßer deutscher Übersetzung-

abgedruckt, um dann in ihrejeweiligen Kontexte eingeordnet und interpretiert zu werden. Einleitungen undSchlussbemerkungen der einzelnen Kapitel fassen die Einzelbeiträge zusammen undzielen auf den analytischen Mehrwert ihrer vergleichenden Zusammenschau ab.

Das erste Kapitel, redigiert von Daniel König, thematisiert die vielfältigen Ver-quickungen physischer Gewaltakte mit Prozessen der Integration und Desintegrationauf drei Ebenen: Die Ebene abstrakter Vorstellungen wird exemplarisch anhand zeitge-nössischer Perzeptionen der Plünderung Roms 410 aufgezeigt; das Schicksal der hl.Radegunde steht für die Gewalt an Einzelpersonen und ihre Auswirkungen. Die Dänen-kriege und die Einigung der englischen Königreiche in der Präsentation von Wilhelmvon Malmesbury werden als Beispiel für die Verstrickung von Gewalt und Integrations-wie Desintegrationsprozessen auf der Ebene von Gesellschaften angeführt.

Das zweite Kapitel, redaktionell betreut von Henrik Wels, widmet sich dem mittel-alterlichen Gewaltdiskurs und spannt das für die Frage nach den Integrations- und Des-integrationsprozessen relevante theoretische Grandgerüst der mittelalterlichen Theorieund Norm der Gewalt auf. Während die Untersuchung der althochdeutschen Glossie-rangen von violentia und potestas auch den zweiten semantischen Schwerpunkt desmittelalterlichen Gewaltbegriffs

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die Bedeutung im Sinne von Macht, Herrschaft oderVermögen

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umfasst, konzentriert sich die Analyse der aristotelischen Gewaltdefinitionauf die Frage nach der Respektierung des freien Willens und damit auf das lateinischeBegriffsfeld von violentia. Die vorgestellte byzantinische Rezeption der aristotelischenGewaltdefinition fokussiert die Definition der vorsätzlichen Handlung. Legitimität oderIllegitimität von Gewalt und Gegengewalt werden anhand der Argumentation des Tho-mas von Aquin zum gerechten Krieg thematisiert. Drei Beiträge aus der altosmanischenChronistik ergänzen die Thematik aus islamwissenschaftlicher Sicht. Über interkulta-relle Gewalt resümiert Wels: Zum einen erweise sich das jeweilige Menschenbild alsentscheidendes Kriterium dafür, ob Integrations- oder Desintegrationsprozesse gewalt-frei abliefen; zum anderen kam es auch auf die Bereitschaft an, an diesem Menschen-bild den jeweils Anderen partizipieren zu lassen.

Das von Christa Jochum-Godglück und Andreas Schorr redaktionell betreute Kapitel,Gewalt in Namen' analysiert die immanente Präsenz von Gewalt in Personennamen, mitderen Hilfe ein an physischer Stärke orientiertes Wertesystem vermittelt werden konnte.Sind schon innerhalb der Personennamengebung Prozesse der Integration und Desintegra-tion von Namenssystemen festzustellen (wie z. B. die Überlagerung von Kultaren unter-

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worfener Völker sowie die partielle Übernahme ihrer Namenformen), können diese Pro-zesse auch über das Namensystem hinausgehende Akkuitarationen und Abgrenzungenwiderspiegeln. Beispiele aus den arabischen, dänischen, germanischen, römischen, serbi-schen und türkischen Namensystemen verdeutlichen diesen Befund. Im Schlusswortspannt Kay Peter Jankrift den Bogen noch weit über das Euromediterraneum hinaus.

Das sich daran anschließende Kapitel ,Gewalt und Disput' unter der Redaktion von

Stamatios Gerogiorgakis behandelt das Verhältnis unvereinbarer Konfliktlösungsstrate-gien. Beispiele aus der Heimskringla oder einem aquitanischen Debattengedicht sowiedie Analyse der Disputationen von Jan Hus, des orthodoxen Bischofs Palamas und derGespräche auf dem Unionskonzil von Ferrara-Florenz verdeutlichen, dass Gewalt demgenuin integrativen Zweck des Disputs gegenüberstand und im Verlauf der Kommuni-kation nur desintegrativ wirken konnte.

Im Kapitel ,Gewalt und Geschlecht', redaktionell betreut von Wiebke Deimann undHeiko Hiltmann, veranschaulichen Beispiele aus einer spanischen Rechtssammlung,einer isländischen Saga, einem byzantinischen Epos, einem türkischen Volksroman undeinem dänischen Geschichtswerk, wie der Gewalt nicht allein eine geschlechtsspezifi-sche, sondern geradezu eine geschlechtskonstitative Rolle zugewiesen wurde. Die Zu-schreibung Gewalt orientierter Geschlechterrollen diente hier der bewussten Abgren-zung von Eigenem und Fremdem.

In engem Zusammenhang dazu steht das von Sevket Kücükhüseyin redaktionell be-treute Kapitel, das sich der Rolle der Gewalt bei der Konstruktion exemplarischer Per-sönlichkeitsideale widmet. Die Quellentexte aus dem Umkreis der Nibelungensagen,einer Sammlung ogusischer Heldenerzählungen, einer isländischen Vorzeitsaga, einembyzantinischen Heldenlied sowie dem Komplex christlicher Heldenfiguren zeigenzweierlei, nämlich wie stark die Konstruktion eines Helden

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für die eigene Kultur eineIntegrationsfigur par excellence

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von seiner Bereitschaft zur Gewalt und von seinemUmgang mit Gewalt gezeichnet blieb, aber auch, wie deutlich die christliche und dieislamische Religion diesen Zusammenhang von Held und Gewalt verändern konnten.

Zum Abschluss dieses Forenbeitrags widmet sich das siebte Kapitel unter der Redak-tion von Thomas Foerster den Exzessen von Gewalt. Die Berichte über die Schlachtvon Adrianopel, über die kontinuierlichen Däneneinfalle in die angelsächsischen Kö-nigreiche, über die Eroberung Bagdads 1258 sowie über die Eroberung Jerusalems1099 machen deutlich, wie solche Gewalttaten desintegrativ wirkten. Doch in der Be-wältigung wie Erinnerung des blinden Blutrauschs setzten, wie Kay Peter Jankrift zurGeschichte des Ersten Kreuzzugs zeigt, alsbald wieder Prozesse der Integration ein.An diesen Rückblick auf die drei großen Forenprojekte sollen sich abschließend ei-

nige durchaus subjektive forschungsstrategische und methodische Leitgedanken für dieWeiterentwicklung des Schwerpunktprogramms und für die Zukunft geisteswissen-schaftlicher Forschung anschließen.

Die Spannweite der hier skizzierten Themen und Beispiele steht nicht für exemplari-sche Beliebigkeit, sondern entwirft die Chancen einer kooperierenden Mediävistik.

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Transkulturalität und Transdisziplinarität verstehen wir dabei nicht als beliebige Mode-wörter einer kurzatmigen Methodenwende.1 Die in den letzten beiden Jahrzehnten viel-fach beschworene Interdisziplinarität hat vielmehr erwiesen, dass sich neue Fächer undFragen ,zwischen' den bestehenden Disziplinen nicht dauerhaft etablieren konnten. ZuRecht wurde von vielen Seiten auf den Nutzen einer qualitätvollen disziplinären Aus-bildung und damit auf die Notwendigkeit disziplinärer Weiterentwicklung hingewiesen.Transdisziplinäre Ansätze gehen von den bewährten wissenschaftlichen Grundlagen derFächer aus und verknüpfen diese durch innovative Fragestellungen in neuartiger Weise.Ein Team junger Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler er-

zielt den Mehrwert seiner Forschung dabei nicht in der pausenlosen Weiterbildung inphilologischen wie methodischen Grundlagen der Nachbarfacher, sondern in der ge-meinsamen themenorientierten Arbeit an neuen Herausforderungen der modernen Welt.

Der vorliegende Sammelband macht die Perspektiven dieser Kooperationen deutlich,wenn zentrale Probleme wie Perzeption, Interaktion oder Gewalt zwischen den großenreligiösen Kulturen und innerhalb dieser Kulturen durch gemeinsame Anstrengungen be-nachbarter Wissenschaften vom Mittelalter, die ihre methodischen Standards seit dem19. Jahrhundert ausbildeten, angegangen werden. Um die stimulierenden Themen unserer

Gegenwart in historischen Perspektiven zu erforschen, können wir nicht mehr die lebens-lange individuelle Reifung eines Einzelgelehrten über mehrere Fächer und seine umfassen-de Sprachausbildung an lateinischen, romanischen, germanischen, slavischen oder arabi-schen Quellen abwarten. Vielmehr müssen wir die nächste Generation von jungen Kultar-wissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern in der Fähigkeit zur themenfokussiertenTeamarbeit ausbilden, die nicht vom individuellen Genie in kaum zu erreichender Weisealles einfordert, wohl aber die Kompetenz zur innovativen Interaktion. Dabei können die inden Natur- und Lebenswissenschaften längst etablierten Arbeits- und Nachwuchsgruppen,die dort den Forschungsfortschritt verbürgen, keine Kopiervorlagen, wohl aber Stimulusbieten. Flache Hierarchien, frühe Selbstständigkeit und transdisziplinäre Kooperation brin-gen in der Einübung stets Reibungsverluste mit sich, sind aber für die Einfügung der Kul-turwissenschaften in ein konkurrenzfähiges globales Wissenschaftssystem unerlässlich.Neben die notwendige Pflege gelehrter Individualität müssen darum strukturierte Anstößezur wissenschaftlichen Neuorientierung über die traditionellen Karrieresysteme hinaustreten. Über Ausmaß und Modi wird dabei zu streiten sein. Unser Versuch, der zu diesemBand führte, versteht sich darum nicht als Modell, wohl aber als Anstoß.

1 Ausführliche Nachweise zu aktuellen Theoriedebatten werden in diesem knappen Schlusswortnicht angestrebt. Wir beschränken uns auf kurze Verweise. Vgl. zu den hier ausgeführten Gedan-ken Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung, in: Jahr-buch Deutsch als Fremdsprache 26, 2000, 327-351; Britta Saal, Kultur in Bewegung. Zur Begriff-lichkeit von Transkulturalität, in: Michiko Mae/Britta Saal (Hrsg.), Transkulturelle Genderfor-schung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht. (Geschlecht & Gesellschaft,Bd. 9.) Wiesbaden 2007, 21-36.

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Die internationale kultarwissenschaftliche Forschung stellt in globalen Perspektivensoeben die überkommene abendländische Deutungshoheit der wissenschaftlichen Dis-ziplinarität wie der historischen Linearität in Frage. Manche extremen Gegenpositionender ,Postcolonial Studies'2 mag man füglich dem Interesse an intellektueller Zuspitzungzuschreiben. Zwei zentrale Kritiklinien, vorgetragen gegenüber dem westlichen Kolo-nialismus und seiner intellektuellen Persistenz, fordern aber auch die Mediävistik her-aus und könnten dort über etablierte Erklärangsweisen hinaus zu neuen Einsichten inalte Forschungsfelder führen. Vor allem betrifft dies traditionelle Überzeugungen von

kultureller Identität und historischer Linearität, die gleichsam axiomatisch zu den histo-rischen Erklärangsmustern der in Europa entwickelten und in Nordamerika übernom-menen bzw. weiterentwickelten Wissenschaften gehören.3

Gegenwärtige Globalisierangserfahrangen erweisen die Brüchigkeit solcher Grandüber-zeugungen. Zum einen wird die traditionell geglaubte Homogenität der Religionen undKulturen durch das Postulat grundsätzlicher ,transculturality' erschüttert, welche dieHybridität der Kulturen zum Regelfall erhebt und ihre ,Reinheit' als mögliche Erschei-nungsform ablehnt.4 Zum anderen stehen die historische Linearität und damit die gesamteEntwicklungsgeschichte der Menschheit in ihrer konsequenten Kausalität auf dem Prüf-stand, nachdem die abendländischen Theoreme von einer Veredelung der Geschichte bishin zur religiösen oder sozialen Transzendenz in den Erschütterungen der Ideologien zer-

brachen. Scheidet man das ,Goldene Zeitalter', das ,Paradies' oder den Zustand totalerEgalität als zwangsläufigen Endzustand des Geschichtsverlaufs aus, so entzieht man nichtnur den Utopien ihre Prognosefähigkeiten, sondern zerstört auch die klare Zielorientierungvon historischer Entwicklung. Europäische Geschichte erklärt sich dann nicht mehr prozes-

2 Polarisierend Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and HistoricalDifference. Princeton/Oxford 2000. Vgl. Carol A. Breckenrldge/Peter van der Veer (Hrsg.), Orien-talism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Africa. Philadelphia 1993; JürgenOsterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschich-te und Zivilisationsvergleich. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 147.) Göttingen2001; Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Per-spektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfürt a. M./New York 2002 (dort vorallem die Einleitung der beiden Herausgeber: Geteilte Geschichten

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Europa in einer postkolonia-len Welt, 9^19); Wolf Lepen ¡es (Hrsg.), Entangled Histories and Negotiated Universals. Centersand Peripheries in a Changing World. Frankfurt a. M./New York 2003.

3 Diskussionspositionen bei: Homi K Bhabha, Die Verortung der Kultur. (Stauffenburg Discussion,Bd. 5.) Tübingen 2000; Helmbrecht Brelnlg/Jürgen Gebhardt/Klaus Lösch (Hrsg.), Multiculturalismin Contemporary Societies. Perspectives on Difference and Transdifference. (Erlanger Forschungen,Reihe A, Bd. 101.) Erlangen 2002; Karl S. Guthke, Die Erfindung der Welt. Globalität und Grenzen inder Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2005. Vgl. vor allem die kontroversen Debatten um denBeitrag von Shmuel Noah Elsenstadt, Culture and Power. A Comparative Civilizational Analysis, in:Erwägen

-

Wissen-

Ethik / Deliberation-

Knowledge-

Ethics 17.1, 2006.4 Elisabeth Bronfen/Benjamin Martus/Therese Steffen (Hrsg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-

amerikanischen Multikulturalismusdebatte. (Stauffenburg Discussion, Bd. 4.) Tübingen 1997.

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suai als kontinuierliche Erreichung einer bestmöglichen Moderne mit leuchtenden trans-zendenten Erwartungen. An die Stelle des Fortschritts rückt vielmehr die Einsicht in per-manente Spannungen und Widersprüche, in beständige Prozesse der Integration und Desin-tegration. Selbstironisch könnte man formulieren, dass dann tatsächlich wieder jedes Zeital-ter-

wenn auch anders als von Leopold von Ranke gemeint-

unmittelbar zu Gott rückt.Vor dem Hintergrund einer solchermaßen globalisierten kultarwissenschaftlichen

Debatte fallen der Mediävistik neue Herausforderungen und Chancen zu. Sie kann sichnoch deutlicher von kolonialen oder postkolonialen Welt- und Deutangsmodellen be-freien und das mittelalterliche Wissen von der Einfügung Europas in das Ensembledreier Erdteile mit unterschiedlichen Wertekonzepten neu studieren.5 Sie kann dieSelbstverständlichkeit von Migrationen als Erklärangsmuster jeder Geschichte wieder-entdecken, daneben auch die Begründung aller europäischen Kulturen aus asiatischenVoraussetzungen (Troja als Wiege der Völker, Jerusalem als Ausgangspunkt und Zieldes Heils, das Paradies im Osten jenseits von Indien)6 oder die Hybridität als Normal-fall eigener Existenz, die sich aus spätantiken Akkultarationsprozessen und frühmittel-alterlichen Christianisierungsschüben formte. Bei diesen Wiederentdeckungen mittel-alterlicher Ideen von Transkulturalität könnten neue Einsichten in spezifisch europäi-sche Erklärungswechsel entstehen, die beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit inhumanistischen Konstrakten und in der Globalisierung des Christentums entwickeltwurden und seither zum scheinbar überzeitlichen Analyseraster gerannen.7

Das europäische Mittelalter wird im Schwerpunktprogramm 1173 als Epoche dreier re-ligiöser Großkulturen analysiert, die in sich selbst wiederum weitgehend disparat blieben.

5 Evelyn Edson/Emtlie Savage-Smith/Anna-Dorothee von den Brincken, Der mittelalterliche Kosmos.Karten der christlichen und islamischen Welt. Darmstadt 2005. Zu den mittelalterlichen Europadiskur-sen Klaus Oschema, Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischemWeltbild und kultureller Konnotation, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2, 2001, 191-235;Bernd Schneidmüller, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas. Konvergenz und Differenzie-rung, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), „Europäische Geschichte" als historiographischesProblem. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalge-schichte, Beih. 42.) Mainz 1997, 5-24; Klaus Oschema, Europa in der mediävistischen Forschung

-eine Skizze, in: Rainer C. Schwinges/Christian Hesse/Peter Moraw (Hrsg.), Europa im späten Mittelal-ter. Politik

-

Gesellschaft-

Kultur. (HZ, Beih. 40.) München 2006, 11-32.6 Belege bei Bernd Schneidmüller, Europäische Erinnerangsorte im Mittelalter, in: Jahrbuch für

Europäische Geschichte 3, 2002, 39-58. Vgl. Alessandro Scafi, Mapping Paradise. A History ofHeaven on Earth. London 2006; Hartmut Kugler (Hrsg.), Die Ebstorfer Weltkarte. KommentierteNeuausgabe in zwei Bänden. Berlin 2007.

7 Herfried Münkler/Hans Grünberger/Kathrin Mayer, Nationenbildung. Die Nationalisierung Euro-pas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland. Berlin 1998; Caspar Hlr-schl, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wendevom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005; Wolfgang Reinhard, Globalisierung des Christen-tums? (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissen-schaften, Bd. 41.) Heidelberg 2007.

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Page 10: Mittelalter im Labor (Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft) || V Transkulturelle Mediävistik – ein Schlusswort

566 V Schlusswort

Darum sind hartnäckige Konstrakte einer europäischen Einheitskultar, wie sie im15. Jahrhundert von Enea Silvio Piccolomini entworfen wurden, oder einer Verknüpfungvon Christenheit und Europa, wie sie von Novalis ins Mittelalter zurückprojiziert wurde,zu entzaubern. Natürlich wurde die Zeitgebundenheit solcher Ideologeme längst erkanntund in den Vorstellungen vom entzweiten Mittelalter breit diskutiert.8 Trotzdem hält sichim politischen Diskurs bis heute die Idee einer europäischen Einheitskultur, die sich klardefinieren und zur Abgrenzung instrumentalisieren ließe. Darum bietet die Grundidee desSchwerpunktprogramms, dass sich die europäische Geschichte des Mittelalters als Epochepermanenter Austauschprozesse zwischen religiösen Großkultaren beschreiben ließe,9einen Stein des Anstoßes. Diese Grundidee ist im künftigen Forschungsprozess weiter zudebattieren und auf ihre Plausibilität zu erproben. Die genauer zu beschreibenden Diffe-renzierungen innerhalb des lateinischen Europas, die von der elementaren Unterscheidungin ein ,älteres' und ein jüngeres' Europa ausgehen, werden die Wirkkraft von Kultur,Religion, Sprache, Wirtschaft, Politik und Geschichte zu gewichten haben, um nebenbeliebiger Vielfalt unterscheidbare und belastbare Bauprinzipien europäischer Gruppen,Verbände und Identitäten im culturalflow zu definieren.10

Von größter Bedeutung sind schließlich die Einsichten in den permanenten Wechselvon Integration und Desintegration sowohl in europäischen als auch in kleinräumigenPerspektiven. Nimmt man das dauerhafte Umschlagen solcher Prozesse ernst, so wirdman genauer nach Bedingungen und Wirkungen fragen. Die europäische Geschichteund die der europäischen Regionen erscheinen noch lange nicht als historisches Chaos,wenn man sich von der Idee einer zielorientierten Entwicklung freimacht. Vielmehrkönnte das Wissen um die Verschränkung gegenläufiger Entwicklungen sowie dasAushalten von Spannungen und Widersprüchen entscheidende Einblicke in historischeAbläufe als systemisches Mäandern jenseits aller harmonischen Geradlinigkeit bringen.

Bernd Schneidmüller, Annette Seitz

8 Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemge-schichten der Moderne. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 116.) Göttingen 1996;Ders., Die Moderne und ihr Mittelalter

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eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hrsg.),Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßaktendes 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995. Sigmaringen 1997, 307-364.

9 Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg desAbendlandes 300 bis 1400 n. Chr. (Siedler Geschichte Europas.) München 2006.

10 Geografische Differenzierungsmodelle bei Peter Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Ent-wicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Ders., Über Königund Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters. Sigmaringen1995, 293-320; Hans-Joachim Schmidt, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mit-telalterlichen Europa. (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 37.) Weimar 1999; Götz-Rüdiger Tewes, Die römische Kurie und die europäischen Länder am Vorabend der Reformation.(Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd. 95.) Tübingen 2001; Michael North,Europa expandiert 1250-1500. (Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 4.) Stuttgart 2007.

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