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Europa im Bann des Mittelalters Wie Geschichte und Gegenwart unserer Lebenswelt die Perspektiven der Mediävistik verändern Der* Historiker Heinrich August Winkler hat kürzlich eine deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt, die von der Publizistik, der politischen Elite und einer vieltausendköpfigen Leserschaft als Beitrag zur Identitätsstiftung der „Berliner Repub- lik“ verstanden worden ist. 1 Nach Winklers These hat die Wiedervereinigung von 1990 den „langen Weg“ der Deutschen „nach Westen“ zum Ziel geführt. Der „deutsche Son- derweg“ hingegen, zuletzt manifest im postnationalen Gemeinwesen der Bundesre- publik einerseits, in der internationalistisch ausgerichteten DDR andererseits, sei nun endlich überwunden in einem ganz Deutschland umfassenden demokratischen Natio- nalstaat, der fest in den Westen integriert sei. 2 Zur Erklärung, wie es zum deutschen Sonderweg in neuerer Zeit überhaupt kommen konnte, verwies Winkler auf die Ge- schichte und den Mythos des Reiches; dementsprechend setzte er bei seiner Darstellung tief im Mittelalter an. Nicht bei Napoleon darf beginnen, wer den schwierigen Weg zur deutschen Einheit in Freiheit erfassen will, sondern er muss bis zu Otto dem Großen blicken und die Übertragung des Reiches an Franken und Deutsche würdigen. 3 „Im An- [118] fang war das Reich“, so beginnt das Werk mit dem Gestus des biblischen Sehers, und aus diesem Ansatz wird das Problem entwickelt: „Was die deutsche Geschichte von der Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet, hat hier seinen ————————————— * Der Beitrag beruht auf einem Vortrag des Verfassers im Gesprächskreis „Mittelalter – Frühe Neuzeit“ der Ludwigs-Maximilians-Universität in München am 11. Dezember 2003 in Schloß Nymphenburg. 1 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde. München 4 2002. Zur Aufnahme des Werkes vgl. Eckhard Fuhr, Mitten in der Hauptstadt. Historiker der Berliner Republik. Heinrich August Winkler ein politischer Geschichtsschreiber, in: Die Welt, 22. Dezember 2000, 31; Chris- tophe Leonzi, Heinrich August Winkler, historien de la „République de Berlin“, in: Esprit, Juni 2002, 159–169; Jürgen Leinemann, Der Zeitgenosse, in: Der Spiegel 52, 2002, 40–42. 2 Vgl. auch Heinrich August Winkler, Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert. München 1997, 7f.; 123–147. 3 Winkler, Der lange Weg nach Westen 1 (wie Anm. 1), 5f. – Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 4 1987, 11: „Am Anfang war Napo- leon. Die Geschichte der Deutschen, ihr Leben und ihre Erfahrungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen die ersten Grundlagen des modernen Deutschland gelegt worden sind, steht unter seinem überwältigenden Einfluß.“ Dazu Winkler, Streitfragen (wie Anm. 2), 31f. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/4/14 1:07 PM

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Europa im Bann des Mittelalters

Wie Geschichte und Gegenwart unserer Lebensweltdie Perspektiven der Mediävistik verändern

Der* Historiker Heinrich August Winkler hat kürzlich eine deutsche Geschichte des 19.und 20. Jahrhunderts vorgelegt, die von der Publizistik, der politischen Elite und einervieltausendköpfigen Leserschaft als Beitrag zur Identitätsstiftung der „Berliner Repub-lik“ verstanden worden ist.1 Nach Winklers These hat die Wiedervereinigung von 1990den „langen Weg“ der Deutschen „nach Westen“ zum Ziel geführt. Der „deutsche Son-derweg“ hingegen, zuletzt manifest im postnationalen Gemeinwesen der Bundesre-publik einerseits, in der internationalistisch ausgerichteten DDR andererseits, sei nunendlich überwunden in einem ganz Deutschland umfassenden demokratischen Natio-nalstaat, der fest in den Westen integriert sei.2 Zur Erklärung, wie es zum deutschenSonderweg in neuerer Zeit überhaupt kommen konnte, verwies Winkler auf die Ge-schichte und den Mythos des Reiches; dementsprechend setzte er bei seiner Darstellungtief im Mittelalter an. Nicht bei Napoleon darf beginnen, wer den schwierigen Weg zurdeutschen Einheit in Freiheit erfassen will, sondern er muss bis zu Otto dem Großenblicken und die Übertragung des Reiches an Franken und Deutsche würdigen.3 „Im An-[118] fang war das Reich“, so beginnt das Werk mit dem Gestus des biblischen Sehers,und aus diesem Ansatz wird das Problem entwickelt: „Was die deutsche Geschichte vonder Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet, hat hier seinen—————————————* Der Beitrag beruht auf einem Vortrag des Verfassers im Gesprächskreis „Mittelalter – Frühe

Neuzeit“ der Ludwigs-Maximilians-Universität in München am 11. Dezember 2003 in SchloßNymphenburg.

1 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2 Bde. München 42002. Zur Aufnahme desWerkes vgl. Eckhard Fuhr, Mitten in der Hauptstadt. Historiker der Berliner Republik. HeinrichAugust Winkler ein politischer Geschichtsschreiber, in: Die Welt, 22. Dezember 2000, 31; Chris-tophe Leonzi, Heinrich August Winkler, historien de la „République de Berlin“, in: Esprit, Juni2002, 159–169; Jürgen Leinemann, Der Zeitgenosse, in: Der Spiegel 52, 2002, 40–42.

2 Vgl. auch Heinrich August Winkler, Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und20. Jahrhundert. München 1997, 7f.; 123–147.

3 Winkler, Der lange Weg nach Westen 1 (wie Anm. 1), 5f. – Vgl. Thomas Nipperdey, DeutscheGeschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 41987, 11: „Am Anfang war Napo-leon. Die Geschichte der Deutschen, ihr Leben und ihre Erfahrungen in den ersten Jahrzehnten des19. Jahrhunderts, in denen die ersten Grundlagen des modernen Deutschland gelegt worden sind,steht unter seinem überwältigenden Einfluß.“ DazuWinkler, Streitfragen (wie Anm. 2), 31f.

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Ursprung. Im Mittelalter trennten sich die Wege. In England und Frankreich begannensich damals Nationalstaaten herauszuformen, während sich in Deutschland der moderneStaat auf der niedrigeren Ebene, der territorialen, entwickelte. Gleichzeitig bestand einGebilde fort, das mehr sein wollte, als ein Königreich unter anderen: das Heilige Römi-sche Reich. Daß Deutschland später als Frankreich und England ein Nationalstaat undnoch später eine Demokratie wurde, hat Gründe, die weit in die Geschichte zurückrei-chen.“4 Wie Winkler in seinem zweibändigen Werk darlegt, hat der Zusammenbruchdes „Dritten Reiches“ von 1945 zwar das definitive Ende der fast tausendjährigenReichsgeschichte der Deutschen gebracht, doch sei der Mythos noch in der Zeit der Tei-lung hin und wieder aufgelebt. Deshalb war es eigentlich erst die Anerkennung der pol-nischen Westgrenze durch die Bundesrepublik und die noch bestehende DDR im Juni1990, die den Deutschen die Revokation der Reichsidee verstellt hat, und zwar wohl fürimmer.5 Nach Winklers Auffassung hat sich also der lange Schatten des Mittelaltersüber der deutschen Geschichte erst vor wenigen Jahren gelichtet.6

Man mindert die brilliante historiographische Leistung nicht, wenn man konstatiert,dass der Autor mit seiner Geschichtsdeutung eine bekannte Denkform aus dem Zeitalterder Ideologien aktualisiert, dass sich nämlich die Moderne im Gegensatz zum Mittel-alter definiert und auszeichnet:7 Mit dem abgetanen Reich und der Überwindung seinesMythos’ vollzieht oder vollendet sich der deutsche Durchbruch zur neuen Zeit. [119]Indessen strebt Winkler schon über die deutsche Geschichte hinaus. Er arbeitet in-

zwischen an einem neuen Werk über Demokratie und Nation in Europa und stellt dieFrage nach der europäischen Identität. Aufs Neue aktuell geworden ist dieses Problemdurch die Beschlüsse der Europäischen Union, im Mai 2004 zehn neue Mitglieder in dieGemeinschaft aufzunehmen, von denen bis zur Epochenwende von 1989/90 acht kom-munistisch regiert worden waren, zwei weiteren osteuropäischen Ländern den Beitritt in—————————————4 Winkler, Der lange Weg nach Westen 1 (wie Anm. 1), 5.5 Winkler, Der lange Weg nach Westen 2 (wie Anm. 1), 114f.; vgl. 583f.; 645–651; 655f.; siehe

ferner Ders., Der lange Weg nach Westen 1 (ebd.), 20; 217; 343; Ders., Der lange Weg nachWesten 2 (ebd.), 6f.; 24; 58; 65; 83; 91; 126; 133; 135; 145; 158f.; 173; 243f.; 245f.; 271; 432; 437;440; 445; 471f.; 474; 486; 536; 540; 542; 575; 583f.; auch Ders., Streitfragen (wie Anm. 2). Vgl.Michael Borgolte, Vom Sacrum Imperium zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.Mittelalterliche Reichsgeschichte und deutsche Wiedervereinigung, in: Bernd Martin (Hrsg.),Deutschland in Europa. Ein historischer Rückblick. München 1992, 67–87 [ND in diesem Bd., 13–30], hier 69 [14f.].

6 Zu Winklers Person und Werk Michael Borgolte, Königsberg – Deutschland – Europa. HeinrichAugust Winkler und die Einheit der Geschichte. (Humboldt-Universität zu Berlin. ÖffentlicheVorlesungen, H. 131.) Berlin 2004.

7 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Die Deutschen undihr Mittelalter. Darmstadt 1992, 7–28; 168–177; Ders., Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine fol-genreiche Problemgeschichte, in: Peter Segl (Hrsg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung undRekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Sigmaringen 1997, 307–364. – Otto Brunner, Das Zeit-alter der Ideologien. Anfang und Ende, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozial-geschichte. Göttingen ³1980, 45–63 (zuerst 1954).

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Aussicht zu stellen und vor allem, der vom Islam geprägten Türkei den Kandidatensta-tus zu gewähren. Wie andere publizistisch tätige Neuhistoriker8 wehrt sich Winklerhiergegen mit der These, dass die Türkei kein Teil des „Projekts Europa“ sein könne;für die Zugehörigkeit zu Europa sei die Herkunft aus dem europäischen Westen, min-destens aber die überzeugende Annahme der westlichen Werte entscheidend. „Zumhistorischen Okzident“, so schrieb Winkler noch im Februar 2003, „gehört nur ein TeilEuropas: jener, für den zwischen der Kirchenspaltung im 11. Jahrhundert und derReformation Rom das geistliche Zentrum war, nicht aber der byzantinisch geprägteOsten des Kontinents.“9 Und weiter: „Der historische Okzident ist eine so einzigartigeErscheinung, daß man von einem weltgeschichtlichen Sonderweg des Westens sprechenkann. Nur hier haben sich die Ideen der Menschen- und Bürgerrechte, der individuellenFreiheit, des Pluralismus und der Demokratie herausgebildet; nur hier hat es jenen vonMax Weber analysierten umfassenden Prozeß der Rationalisierung gegeben, zu dessenHervorbringungen das Kirchenrecht und die Rezeption des römischen Rechts, dieScholastik und der Humanismus, die moderne Wissenschaft und der moderne Kapita-lismus, die Aufklärung, die Säkularisierung und die Emanzipation in jeglicher Gestaltgehören – die Emanzipation des Individuums von kirchlicher und staatlicher Bevor-mundung, die Emanzipation der Juden und die der Sklaven, die Emanzipation des‚dritten‘ und des ‚vierten Standes‘ und, nicht zuletzt, die Emanzipation der Frauen.“10

Der okzidentale Prozess der Differenzierung, der die individuellen Freiheitsrechtebegünstigte, habe seinen Ursprung in der christlichen Trennung von Gott und Kaisergehabt, und trotz aller Missachtung in der historischen Wirklichkeit sei der Gedanke derGleichheit aller Menschen vor Gott christli- [120] chen Ursprungs. Deshalb sei dieBehauptung gerechtfertigt, „daß die Demokratie in Ländern, die teilhatten an der mittel-alterlichen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, bessere Entwicklungschan-cen [hatte] als in Ländern, denen diese Erfahrung fehlt.“11 Den Befund, dass Griechen-land als Teil des byzantinisch geprägten Europas seit 1981 der Union schon angehörtund dass aus dem gleichen Kulturzusammenhang Bulgarien und Rumänien für 2007Hoffnung auf die Aufnahme gemacht worden ist, hält Winkler gleichwohl für akzepta-bel, ja er billigt sogar den islamisch geprägten Demokratien Südosteuropas eine lang-fristige Beitrittsperspektive zu; entscheidend sei der Fortschritt im Prozess der Okzi-—————————————8 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Türkenproblem. Der Westen braucht die Türkei – etwa als Front-

staat gegen den Irak. Aber in die EU darf das muslimische Land niemals, in: DIE ZEIT, 12. Sep-tember 2002, 9.

9 Heinrich August Winkler, Grenzen der Erweiterung. Die Türkei ist kein Teil des „Projekts Euro-pa“, in: Internationale Politik 58.2, 2003, 59–66, hier 59. – Zuletzt Ders., Europa am Scheideweg,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. November 2003, 10.

10 Winkler, Grenzen der Erweiterung (wie Anm. 9), 60. Dem „europäischen Sonderweg“ im SinneMax Webers ist jetzt auch gewidmet das Buch des Mediävisten Michael Mitterauer, WarumEuropa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. München 2003; dazu kritisch MichaelBorgolte, Europas Gretchenfrage, in: Süddeutsche Zeitung, 27. Oktober 2003, 16.

11 Winkler, Grenzen der Erweiterung (wie Anm. 9), 61.

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dentalisierung. Der Türkei hingegen spricht Winkler diese Befähigung ab, weil dieVerwestlichung seit dem frühen 20. Jahrhundert teilweise mit autoritativen Mittelndurchgesetzt worden sei, ein erfolgreicher Abschluss aber noch allzu lange Zeit brau-chen würde. Ebenso wie Russland reiche sie zudem viel zu weit nach Asien hinein.12

Der Rekurs aufs Mittelalter, der im Hinblick auf die deutsche Geschichte geradeüberflüssig zu werden schien, erwies sich also in den Augen des prominenten Neuhisto-rikers wieder als notwendig, um die Fundamente für die europäische Politik der Ge-genwart zu konstruieren. In der Tat gründen die moderne Gewaltenteilung, dieFreiheits- und die Menschenrechte im okzidentalen Spannungsfeld von „Staat undKirche“, vor allem seit dem hohen Mittelalter. Weniger überzeugt die unterschiedlicheArgumentation im Hinblick auf die Länder und Völker byzantinischer Herkunft odermuslimischen Charakters. Und so ehrenwert es ist, dass sich Historiker wertbezogen indie Tagespolitik einmischen, so fragwürdig hat sich häufig erwiesen, wenn sie ge-schichtliche Erfahrungen als Richtschnur für praktisches Handeln empfahlen. Auch imFall der europäischen Einigung hat sich die Dynamik des politischen Prozesses von derHistorie nicht einhegen lassen, und so wird es gewiss auch künftig sein.Die Frage, wie die europäische Geschichte mit der europäischen Zukunft in Bezie-

hung zu setzen wäre, lässt sich auf den bloßen Gebrauchswert historischer Einsichtennicht reduzieren. Vielmehr muss man erkennen, dass der gegenwärtige europäischeProzess einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. Als Staatenbund muss die Euro-päische Union feste Außengrenzen haben; gleichgültig, wo man sie zieht, werden siejedoch in Widerspruch mit dem alten Europa geraten, das nie eine klar definierte Ein-heit gewesen ist. Wie man weiß, war die Erstreckung Europas bisher nur im Norden,Westen und Süden unstrittig; der Kontinent endete, wo die Meere begannen. ZumOrient hin gab es solche einfachen, geographischen Markierungen nicht, wenn auch inneuerer Zeit manchmal der Ural genannt wurde13 und im Mit- [121] telalter die Grenz-ziehung bei den maiotischen Sümpfen, am Don, Dnjestr oder an der Donau geläufigwar, von antiken Autoren teilweise vorgedacht.14 Auch politisch war das mittelalter-liche Europa nach Osten nicht abgeschlossen.15 Das Kaiserreich von Byzanz reichte

—————————————12 Winkler, Grenzen der Erweiterung (wie Anm. 9), 62–64.13 Norman Davies, Europe. A History. Oxford / New York 1996 [ND 1997], 8; Michael Borgolte,

Türkei ante portas. Osman, Osman, gib uns deine Legionen zurück. Mit dem Beitritt zur Europäi-schen Union wäre die im frühen Mittelalter begonnene Westwanderung abgeschlossen, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung, 21. Februar 2004, 39 [gekürzter ND u. d. T.: Grenzen der EU, in: In-formationen zur politischen Bildung 281, 2004, 16].

14 Vgl. Michael Borgolte, Vor dem Ende der Nationalgeschichten? Chancen und Hindernisse füreine Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, 561–596 [ND indiesem Bd., 31–59], hier 567 [36] mit Anm. 29f.

15 Hierzu und zum Folgenden vgl. Michael Borgolte, Geschehenskomplexe und Regionen [eigent-lich: Die Komposition Europas], in: Gert Melville / Martial Staub (Hrsg.), Enzyklopädie des Mit-telalters, Bd. 2. Darmstadt 2008, 299–309; 482–485; Ders., Theorie und Praxis des Vergleichs inder europäischen Geschichte des Mittelalters. Der Fall Litauen in makrohistorischer Perspektive,

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weit nach Asien hinein, ebenso wie das Sultanat der türkischen Osmanen, das es ab-löste, und die Goldene Horde der Mongolen hat mit ihrer Herrschaft über die Rus’unzweifelhaft nach Europa übergegriffen. Nicht anders verhält es sich mit der religiösenOrdnung. Konstantinopel und später Moskau waren als Zentren der christlichen Ortho-doxie Häupter europäisch-asiatischer Kirchen, der Islam aber konnte, als er aus Sizilienverbannt und in Andalusien marginalisiert wurde, durch Ausbreitung auf dem Balkanund Konversion der Tataren seine vorher nur schwache Stellung im europäischen Ostenstärken. In diesem Zusammenhang sollte man auch beachten, dass die Europäer alsMonotheisten, seien sie nun Christen, Juden oder Muslime, in Asien die Stätten ihrerHerkunft und Schrifttraditionen verehrten und sie als fromme Pilger oder um des Stu-diums willen aufsuchten.16 Aus dem nichtchristlichen Orient drangen wichtigste Über-lieferungen der antiken und fernöstlichen Wissenschaft und technische Innovationennach Europa ein.17 Im Kalifat sind die Werke griechischer Philosophie und Natur-erkenntnis zuerst ins Arabische übertragen worden, bevor sie im hohen Mittelalter nachSüdeuropa gelangten und hier, oft mit Hilfe jüdischer Gelehrter, ins Lateinische über-setzt wurden. Eine gleiche Vermittlung an Europa leisteten arabische Muslime bzw.Orientreisende für die indische Mathematik und Astronomie oder für Erfindungen wiedie Windmühle, die wohl aus Persien stammte.Der Befund, dass Europa geographisch, politisch, religiös und kulturell eine offene

Ostflanke hatte, ist offensichtlich, und man sollte ihn endlich akzeptieren; er hat Euro-pas Profil in der Weltgeschichte geradezu geschärft. Wie Ernst Pitz in einem monu-mentalen Werk über Spätantike und [122] frühes Mittelalter erst kürzlich gezeigt hat,war diese Eigenheit darin begründet, dass Europa bereits seit alter Zeit in den „zirkum-mediterranen“ Weltteil der griechisch-römischen Ökumene einbezogen war.18 NachPitzens Auffassung endete die geschichtliche Einheit dieses Kontinents rund um das—————————————

in: Rimvydas Petrauskas (Hrsg.), Lietuvos valstybės susikūrimas europiniame kontekste. Vilnius2008, 16–45, hier 29.

16 Vgl. Michael Borgolte, Zwischen Erfindung und Kanon. Zur Konstruktion der Fakten im europäi-schen Hochmittelalter, in: Andreas Bihrer / Elisabeth Stein (Hrsg.), Nova de veteribus. Mittel-und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt. Leipzig 2004, 292–325 [ND in diesem Bd.,79–112]; Ders., Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250. (Handbuch der Geschichte Europas,Bd. 3.) Stuttgart 2002, 280–309.

17 Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 16), 280–336. – Jetzt die bahnbrechendeMonographie von Alain de Libera, Denken im Mittelalter. München 2003; dazu Michael Borgol-te, Avicennas Stern zeigt den Weg. Pflichtbuch: Alain de Libera über die Geburt des Intellektu-ellen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 2003, 37.

18 Ernst Pitz, Die griechisch-römische Ökumene und die drei Kulturen des Mittelalters. Geschichtedes mediterranen Weltteils zwischen Atlantik und Indischem Ozean 270–812. (Europa im Mittel-alter, Bd. 3.) Berlin 2001. Das Folgende in Anlehnung an Michael Borgolte, Mediävistik als ver-gleichende Geschichte Europas, in: Hans-Werner Goetz / Jörg Jarnut (Hrsg.), Mediävistik im 21.Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterfor-schung. (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters undseines Nachwirkens Paderborn, Bd. 1.) München 2003, 315–325, hier 316–319.

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Mittelmeer „und mit ihr sein problematisches Verhältnis zum Abendlande und zuEuropa“ weder mit Karl dem Großen,19 wie Pirenne behauptet hatte, noch später, etwamit König Philipp II. von Spanien im 16. Jahrhundert, wie man mit Fernand Braudeldenken könnte; sie dauere vielmehr an, ja sie habe „allmählich und bis auf die Gegen-wart herab mit zunehmender Gewalt an Aktualität gewonnen“.20 Allerdings habe sichdiese Welt in den Jahrhunderten der Antike und des Mittelalters nicht unveränderterhalten. Seit der Zeit des Kaisers Aurelian hätten vielmehr die unbezwungenen Rand-völker der alten Ökumene die Einheit der ursprünglichen Kultur aufgelöst und zunächsteine Zweiteilung in Abendland und Byzanz und dann durch die Spaltung des Morgen-landes in griechisches Christentum und muslimische Herrschaften eine dreigeteilteMittelmeerwelt hervorgebracht. Diese drei Kulturen rings ums Mediterraneum konkur-rierten im Mittelalter zwar miteinander, aber da sie gesamthaft das Ergebnis dergriechisch-römischen Ökumene gewesen seien, haben sie zugleich in ihren Spannungendie alte Einheit bewahrt. Der letzte große Konflikt zwischen Morgenland und Abend-land sei in diesem Sinn der Golfkrieg von 1991 gewesen, wie Ernst Pitz 2001 geschrie-ben hat.21 Wer sich nicht damit begnügen wolle, kurzerhand das Abendland mit demKarolingerreich oder mit dem Kontinent Europa gleichzusetzen, wer sich stattdessenfrage, in welchem Sinne Andalusien und Sizilien mit ihrer muslimischen und die Bal-kanhalbinsel sowie die osteuropäische Tafel mit ihrer byzantinischen Vergangenheit zuEuropa hinzuzurechnen seien, der könne das Byzantinische und Osmanische Reichnicht am Bosporus durchtrennen; er könne sich auch nicht mit der Ausgrenzung desalten arabischen Westens bei Gibraltar abfinden, zumal wenn er über das Mittelalterhinaus bis zur Gegenwart schaue: „Er muß nach einer Antwort auf die Frage suchen, obnicht die historische Einheit des alten, zirkummediterranen Weltteils den Untergang desRömischen Reiches überdauert und in den Fundamenten der drei Kulturen, die ihm imMittelalter nachfolgten, ihre Spuren hinterlassen habe.“22 [123]Mit der politischen Integration unserer Zeit und den unvermeidlichen Grenzen, die so

oder so alte Kulturzusammenhänge trennen, tritt Europa demgegenüber in eine ganzneue Phase seiner Geschichte ein. Noch ist nicht ausgemacht, in welchem Verhältnisdie offensichtlichen Gewinne, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet, zu kulturellenVerlusten und zu Gefährdungen stehen werden, die neue Ausschlüsse hervorrufendürften. Die Zurückweisung bestimmter Aspiranten entschärft das Konfliktpotentialauch im Innern der EU kaum, da verschiedene Kulturen schon in den jetzigen Staatender Gemeinschaft nebeneinander stehen und aufeinander einwirken. Es ist durchausberechtigt, diese kulturellen Differenzen, wie es auch Heinrich August Winkler getanhat, auf religiöse Grundlagen zu beziehen, die im Mittelalter geschaffen worden sind:auf das Christentum römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Prägung, auf den—————————————19 Pitz, Die griechisch-römische Ökumene (wie Anm. 18), 544.20 Ebd., 544.21 Ebd., 542f.22 Ebd., 543.

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Islam und natürlich auch auf das Judentum. Bei allen Säkularisierungen der Moderneliegt die anhaltende Wirkung der drei großen monotheistischen Religionen in vierSystemen auf das Europa der Gegenwart vor aller Augen. Insofern bleibt Europa heuteund morgen doch im Bann des Mittelalters. Mehr noch: Erst die abnehmende Bedeu-tung der Nationalstaaten hat das alte historische Erbe vieler Kulturen als bestimmendeKräfte Europas deutlicher denn je bewusst gemacht.Von den Folgen dieser Feststellung für die Wissenschaft sollen hier diejenigen für

die Mediävistik interessieren. Wie die Spezialisten anderer Disziplinen können dieFachleute für das Mittelalter keine Zaungäste der geschehenden Geschichte bleiben;zwar müssen sie selbstverständlich auf der Autonomie ihrer Forschungen bestehen,doch ist es auch erforderlich, die eigenen Projekte von Zeit zu Zeit an den Erfordernis-sen der Gegenwart neu zu vermessen. Dabei geht es meines Erachtens nicht um eineeilfertige Anpassung an das politisch Erwünschte oder vermeintlich Notwendige, wohlaber um eine handlungsleitende Problemanalyse. Gerade weil die kulturellen Differen-zen, die im Mittelalter wurzeln, nicht mit der Entscheidung über Abgrenzungen nachaußen aufzulösen sind, scheint es mir ratsam zu sein, die Mittelalterforschung heute undmorgen stärker als bisher auf die Beziehungen, Einflüsse und Konflikte der religiösfundierten Großkulturen auszurichten.23 Ich würde diesen Weg aber nicht empfehlen,wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass er vor allem ein Potential kreativer neuerForschungen verspricht, das schwerlich überschätzt werden kann. [124]Zunächst muss freilich geklärt werden, welche Arbeitsformen eine inter- oder trans-

kulturell orientierte Mediävistik praktizieren könnte und welchen Zielen sie zustrebensoll. Wenn man unter „Mediävistik“ die mit dem Mittelalter befassten Fächer verstehenwill, gibt es eine organisierte Gesamtheit dieser Art wohl nirgends auf der Welt. Die inden sechziger Jahren vor allem in den USA gegründeten Centers for Medieval Studieskonzentrieren sich auf eine Allianz von Historikern und Philologen.24 In Deutschlandsoll ein 1983 gegründeter Verband die Mediävisten aller Disziplinen zusammenführen;der Präsident dieser Vereinigung hat sie erst kürzlich aufgezählt: „Historiker, Mittel-alterarchäologen, Kunsthistoriker, Theologen, Medizinhistoriker, Rechtshistoriker,Musikwissenschaftler, Philologen aller Richtungen, also Mittellateinphilologen, Ger-

—————————————23 Vgl. Michael Borgolte, „Europa ein christliches Land“. Religion als Weltstifterin im Mittelalter?,

in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12, 2000, 1061–1077 [ND in diesem Bd., 135–155];Ders. (Hrsg.), Unaufhebbare Pluralität der Kulturen? Zur Dekonstruktion und Konstruktion desmittelalterlichen Europa. (Historische Zeitschrift. Beihefte. N. F., Bd. 32.) München 2001; Ders.,Kulturelle Einheit und religiöse Differenz. Zur Verbreitung der Polygynie im mittelalterlichenEuropa, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31, 2004, 1–36 [ND in diesem Bd., 157–191];Ders., Geschehenskomplexe (wie Anm. 15); Ders., Zwischen Erfindung und Kanon (wie Anm.16).

24 Vgl. Ursula Schaefer, Mediävistik – heute?, in: Hildegard L. C. Tristram (Hrsg.), Medieval Insu-lar Literature between the Oral and the Written, Bd. 2: Continuity of Transmission. Tübingen1997, 9–28, hier bes. 11; 18.

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manisten, Anglisten, Romanisten, Skandinavisten, Slavisten und andere“.25 Hans-Werner Goetz, der selbst Historiker ist, hat allerdings auch festgestellt, dass die „euro-päische Mediävistik (…) insgesamt abendlandzentriert“ bleibe: „Vergleichende Analy-sen mit Byzanz, dem Islam oder gar den asiatischen Kulturen gibt es allenfalls in (…)Sammelbänden.“26 Wo jüngst an deutschen Universitäten Zentren für Mittelalterstudienentstanden sind, werden, wie in Bamberg, allerdings Fächer wie „Iranistik“ oder „Isla-mische Kunst und Archäologie“ nicht ausgeschlossen.27 Kooperationen dieser Art be-ruhen offensichtlich auf dem Angebot und den Chancen örtlicher Gegebenheiten undnicht auf einem dezidierten Gestaltungswillen. Die vorherrschende Konzentration derMediävistik auf das westliche Europa ist zwar bereits als Defizit erkannt, zugleich aberweiß man um die Probleme ihrer Überwindung. So schrieb der Romanist WolfgangRaible erst 1999: „Niemand wird in Abrede stellen wollen, daß man das europäischeMittelalter als einen großen Kulturraum ansehen kann, der zwar christlich / okzidentalgeprägt ist, jedoch in regem Austausch mit der Welt von Byzanz und der Welt desIslam steht. Es wäre sicher sinnvoll, wenn die Disziplinen, die sich mit dem Mittelalterbefassen, dem Rechnung tragen und sich zu einer neuen Einheit zusammenschließenwürden, in der die scholastische Philosophie, die Theologie, die Islamwissenschaft, dieByzantinistik, die Mittelalterliche Geschichte ebenso ihren Platz haben würden wie dieDisziplinen, die sich mit den beginnenden mittelalterlichen Schriftkulturen befassen, seies mit der englischen, der deutschen, italienischen, spanischen, französischen usw.“28

[125] Doch seien solche Idealvorstellungen schlechterdings nicht realisierbar; ihnenstünden neben wissenschaftssoziologischen vor allem wissenschaftsgeschichtlicheGründe entgegen. Die Disziplinen seien als Kinder des 19. Jahrhunderts eng an ihrenationalhistorischen oder nationalsprachlichen Ursprünge gebunden und hätten alsUniversitätsfächer die Tendenz zu verdauern.Das Urteil gilt zweifellos auch, wenn man jene Fächer genauer ins Auge fasst, die für

eine neue, transkulturell orientierte europäische Mittelalterforschung besonders inBetracht gezogen werden müssen.29 Die Mittelalterhistorie ist Teil der allgemeinenGeschichtswissenschaft, nach Fragestellungen, Stoffen und Methoden der Alten undNeuen Geschichte eng verbunden.30 Die Byzantinistik hingegen bezieht sich nur auf—————————————25 Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung.

Darmstadt 1999, 141.26 Goetz, Moderne Mediävistik (wie Anm. 25), 13.27 Bernd Schneidmüller, Das Zentrum für Mittelalterstudien an der Universität Bamberg, in: Das

Mittelalter 4.1, 1999, 93–98, hier 93f.28 Wolfgang Raible, Zur Interdisziplinarität in den Kulturwissenschaften, in: Das Mittelalter 4.1,

1999, 65–68, hier 66.29 Zum Folgenden Michael Borgolte, Mittelalterwissenschaft im Zeichen der Pluralitätserfahrung,

in: Ders. (Hrsg.), Unaufhebbare Pluralität der Kulturen? (wie Anm. 23), 1–6, hier 4f.30 Vgl. etwa: Christoph Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frank-

furt am Main 2000; Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Ham-burg 1998.

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Europa im Bann des Mittelalters 69

jenen Zeitraum, der im Westen Mittelalter genannt wird;31 sie weist, jedenfalls in derBundesrepublik, einen dominanten philologischen Stamm neben einem viel schwäche-ren historischen Zweig aus.32 Die Osteuropageschichte beschränkt sich wiederum nichtaufs Mittelalter, sie bezieht sich vielmehr auf die ganze Geschichte der slawischen undanderer Völker östlich von Deutschland.33 Judaistik und Islamwissenschaft behandelnüber die Geschichte hinaus die gesamte Kultur ihrer Studienobjekte;34 in der Wissen-schaft vom Judentum dominiert in Deutschland angesichts riesiger Editionsaufgabenwiederum ein philologischer Zugriff, während für die Islamwissenschaftler Europainsgesamt am Rande liegt.Die Disziplinen, die sich mit dem europäischen Mittelalter in seinen verschiedenen

Kulturen befassen, verhalten sich also nach ihrer gegenwärtigen Lage höchst asymmet-risch zueinander. Wollte man sie zu einem Megafach „Transkulturelle Mediävistik“ zu-sammenfassen, würde jede einzelne von ihnen überaus wertvolle Felder eigener Tätig-keit aufgeben müssen. Das kann selbstverständlich niemand wünschen; man sollte aberauch die Vorteile jeweils unterschiedlicher Einbindungen der spezifischen Mittel-alterstudien in verschiedene Fächer nicht gering schätzen. Ein hermetisches FachMediävistik, das die Tangenten zu anderen Zeiten oder außermittelalterlichen Kulturer-scheinungen kappte, würde zweifellos verarmen und drohte in Selbstgenügsamkeit pro-vinziell zu werden. [126]Heute und auf absehbare Zeit kann deshalb nur eine intensivere Zusammenarbeit all

jener Fächer angestrebt werden, die sich auf verschiedene Kulturen des europäischenMittelalters konzentrieren. Im Mittelpunkt sollte dabei, und das ist neu, die Kooperationder herkömmlichen, auf das lateinische Europa bezogenen Fächer mit der Byzantinistikund Judaistik, der Islamwissenschaft und der Osteuropäischen Geschichte stehen. Einderartiges Zusammenwirken lässt sich in Deutschland kaum einmal an einem Ortorganisieren, weil die entsprechenden Fächertableaus an den Universitäten in der Regelnicht vorhanden sind. Es geht also um überlokale Zusammenschlüsse. Erschwerendkommt hinzu, dass sich die genannten Fächer in der Bundesrepublik ganz unterschied-lich weit verbreitet haben und, abgesehen von ihrer Inanspruchnahme durch traditio-nelle Aufgaben, gewiss nicht für jede gewünschte Kooperation mit den anderen zurVerfügung stehen. Deshalb ist eine Mediävistik, die neben der christlichen Welt deseuropäischen Westens die griechisch-slawische Orthodoxie, das europäische Judentum

—————————————31 Vgl. zuletzt Ralph-Johannes Lilie, Byzanz. Das zweite Rom. Berlin 2003, 11–14.32 Ralph-Johannes Lilie, Byzanz und das lateinische Europa. Verbindungen – Brüche – Gegensätze.

Zu einer möglichen Kooperation von Mediävistik und Byzantinistik, in: Borgolte (Hrsg.), Unauf-hebbare Pluralität der Kulturen? (wie Anm. 23), 19–39, bes. 24f.

33 Zuletzt Dittmar Dahlmann, Osteuropäische Geschichte, in: Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswis-senschaften (wie Anm. 30), 206-220; Goertz (Hrsg.), Geschichte (wie Anm. 30), 206–220.

34 Vgl. Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich. (Enzyklopädie deutscher Geschichte,Bd. 44.) München 1998, 69–76; Tilman Nagel, Die islamische Welt bis 1500 (Oldenbourg Grund-riss der Geschichte, Bd. 24.) München 1998, bes. XI–XIII.

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70 Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter

und den Islam bei ihren Studien einbezieht, mehr als andere interdisziplinäre Projekteauch auf internationale Zusammenarbeit angewiesen.An der Bereitschaft der genannten, bislang exotischen Fächer zur Kooperation

braucht man wohl kaum zu zweifeln. Die Byzantinisten haben schon vor Jahrzehntenden Anteil des Oströmischen Reiches am mittelalterlichen Europa geltend gemacht;35

und obgleich führende Mittelalterhistoriker des 20. Jahrhunderts – Percy ErnstSchramm, Ernst H. Kantorowicz, Josef Deér und Peter Classen – sich auch selbst dergriechischen Überlieferung zuwandten,36 wünschten sich die Vertreter des vergleichs-weise kleinen Faches [127] bis in die Gegenwart eine höhere Aufmerksamkeit durchihre stärkeren Nachbarn.37 Analoges gilt für die Osteuropäische Geschichte. In derfrühen Nachkriegszeit hat der nach Amerika emigrierte Wiener Oskar Halecki in zweiberühmt gewordenen Büchern die westliche Geschichtsschreibung davor gewarnt,Osteuropa und namentlich die von der römischen Kirche geprägten ostmitteleuropäi-schen Länder und Völker zu übersehen;38 trotzdem fand Frank Kämpfer aus Münsternoch vor zwei Jahren Anlass für ein nachdrückliches Plädoyer gegen eine Mediävistik,

—————————————35 Franz Dölger, Byzanz und die europäische Staatenwelt. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze.

Ettal 1953, 3: „Mein Wunsch aber ist: es möchten diese Aufsätze in dem Jahre, in welchem sichdie Vernichtung des selbständigen christlichen Reiches im Südosten Europas zum 500. Malejährt, dazu beitragen, in möglichst weiten Kreisen das Gedächtnis an jene politische und geistigeMacht wieder zu wecken, welche in unserem konventionellen Bilde der Geschichte des christ-lichen Mittelalters seit der Aufklärungszeit ungebührlich in den Hintergrund gedrängt ist. Solltees nicht an der Zeit sein, uns des byzantinischen Erbes zu erinnern, das fast alle europäischenVölker, am nachhaltigsten unsere südosteuropäischen Nachbarn, in sich tragen, und uns der viel-fältigen Verflechtungen bewußt zu werden, die auch unsere Denkart und unsere Geschichte mitjenem von unseren Vorfahren scheu bewunderten und widerwillig nachgeahmten, wirtschaftlichmächtigen, politisch, geistig und kulturell trächtigen und weit in den europäischen Raum aus-strahlenden Byzanz verbanden.“ (Vorwort vom November 1952).

36 Vgl. Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, 3 Bde. Stuttgart 1954–1956;Ders., Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, 4 Bde.Stuttgart 1968–1971. – Ernst H. Kantorowicz, Das Problem mittelalterlicher Welteinheit, in:Ders., Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Hrsg. vonEckhart Grünewald / Ulrich Raulff. Stuttgart 1998, 148–154 (zuerst amerikanisch 1942); dazuBorgolte, „Europa ein christliches Land“ (wie Anm. 23), 1061f. [ND 135f.]. – Josef Deér, Byzanzund das abendländische Herrschertum. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Peter Classen. Sigma-ringen 1977; Peter Classen, Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. vom Josef Fleckenstein. Sigmaringen1983, 85–185.

37 Lilie, Byzanz und das lateinische Europa (wie Anm. 32), 20.38 Oskar Halecki, The Limits and Divisions of European History. London / New York 1950; dt.:

Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. Darmstadt 1957; Ders., Borderlands ofWestern Civilization. A History of East Central Europe. New York 1952; dt.: Grenzraum desAbendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas. Salzburg o. J. [1957]. – Dazu vgl. Michael Bor-golte, Ostmitteleuropa aus der Sicht des Westens, in: Marian Dygo / Sławomir Gawlas / HieronimGrala (Hrsg.), Ostmitteleuropa im 14.–17. Jahrhundert – eine Region oder Region der Regionen?Warszawa 2003, 5–19, hier 9–11.

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Europa im Bann des Mittelalters 71

die auf den Weg „zur klein-europäischen Regionalwissenschaft“ geraten könne: „DasMittelalter ist die Tochterkultur der griechisch-römischen Antike in ihrer ganzen Breiteund Tiefe“, so Kämpfers Antithese. „Ich gehe deshalb davon aus, daß – unabhängig vonden Sprachkenntnissen der Mediävisten – die östliche Hälfte des Subkontinents Europa– Europäische Geschichte ist.“39 Für die Judaistik und die Islamwissenschaften lassensich solche expliziten Zeugnisse des Missbehagens nicht aufbieten. Doch darf mandaran erinnern, dass der aus Damaskus stammende Bassam Tibi, der in Göttingen„Internationale Beziehungen“ lehrt, leidenschaftlich dafür geworben hat, sich hierzu-lande, wie in den USA, der islamischen Geschichte zuzuwenden.40 Tibi setzte seineHoffnung in die Beobachung, dass der „Wille, sich in toleranter Weise anderen, vorallem außerwestlichen Kulturen und Zivilisationen und ihrer Geschichte zu öffnen, (…)in Europa – also auch in Deutschland – noch nie so stark“ gewesen sei wie heute.41

Gleichzeitig mit Tibi beschrieb der Florentiner Mediävist Franco Cardini das bisherigeVerhältnis von Europa und dem Islam als die „Geschichte eines Mißverständnisses“.42

Auch wenn es schon die mittelalterlichen Autoren anders wissen wollten, sei Europaebensowenig mit der Christenheit, wie der Islam mit Asien zu identifizieren.43 Ähnlichwie für die Islamwissenschaften hat auch im Fall der Judaistik ein Mediävist die Brückegeschlagen. Michael Toch von der Hebrew University in Jerusalem fand [128] lobens-wert, wie stark in Deutschland heute über jüdische Geschichte gearbeitet werde;44 ernannte dabei vor allem die Trierer Schule von Alfred Haverkamp, der seinerseits in derdeutschen Öffentlichkeit ein zu geringes Interesse für „Juden im Mittelalter“ beklagt.45

Am Berliner Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter sind wir inallerletzter Zeit auf ein starkes Interesse an transkultureller Mittelalterforschung gesto-ßen. Eine von uns veranstaltete Sektion auf dem Aachener Historikertag im September2000, die sich mit Vertretern der verschiedenen Disziplinen der Frage der kulturellenIdentität Europas im Mittelalter gewidmet hat, fand ein unerwartet breites Interesse.46

Erst im Frühjahr 2003 haben wir ein Symposium über „Stiftungen in den großen Kultu-

—————————————39 Frank Kämpfer, Über den Anteil Osteuropas an der Geschichte des Mittelalters, in: Borgolte

(Hrsg.), Unaufhebbare Pluralität der Kulturen? (wie Anm. 23), 49–59, hier 50f.40 Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte. Darmstadt 2001, bes. 7–10; 23f.; 138; 147–

159.41 Ebd., 8.42 Franco Cardini, Europa und der Islam. Geschichte eines Missverständnisses. München 2000

(zuvor italienisch 1999).43 Ebd., 12f. – Vgl. jetzt bes. das Werk von De Libera, Denken im Mittelalter (wie Anm. 17).44 Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (wie Anm. 34), 75f.45 Alfred Haverkamp, Juden im Mittelalter. Neue Fragen und Einsichten, in: Informationen für den

Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 59, 2000, 5–23, hier 5.46 Borgolte (Hrsg.), Unaufhebbare Pluralität der Kulturen? (wie Anm. 23); vgl. Ulrich Raulff, In

ihrem alten Dieselton. Brummen im Kopf. Was deutsche Historiker in Fahrt bringt, in: Frank-furter Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 2000.

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ren des alten Europa“ veranstaltet.47 Zwar war es lange bekannt, dass Stiftungen einuniversalhistorisches Phänomen sind – mit allerdings deutlichen Varianten in rechtli-cher Konstruktion, geistig-religiöser Grundlage und praktischer Zwecksetzung –, dochfehlte bisher ein transkultureller Vergleich.48 Das Desiderat konnten nur gelegentlicheForschungskontroversen andeuten, so über die Ableitung der islamischen Stiftungenvon griechischen oder sassanidischen Vorbildern oder über das Verhältnis der Madrasaszu den abendländischen Universitätskollegien.49 Für den interdisziplinären Dialog derMediävisten mit Byzantinisten, Osteuropahistorikern, Judaisten, Islamwissenschaft-lern / Arabisten und Osmanisten standen aber in Deutschland gar nicht nicht genügendSpezialisten zur Verfügung. So haben wir eine internationale Tagung mit einem starkenAnteil amerikanischer Kollegen durchgeführt. Die Konzentration auf ein klar zu umrei-ßendes Phänomen mit auffälligen Analogien in verschiedenen Kulturen, aber auch mitbeunruhigenden Differenzen, hat eine Fülle von Fragen zu Tage gefördert, die jetzt, wiewir hoffen, in einem gemeinsamen Forschungsprogramm transkultureller und interna-tionaler Organisation bearbeitet werden könnte. Schließlich habe ich, zusammen mitBernd Schneidmüller in Heidelberg, ein Forschungsprogramm mit dem Titel „Integra-tion und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ entwickelt, an demsich nach jetzigem Stand rund dreißig deutsche Mediävisten aus einem DutzendFächern beteiligen wollen. [129]Welches Ziel soll aber eine transkulturell angelegte Mediävistik haben? Im Unter-

schied etwa zur amerikanischen Forschung, die zur globalen Perspektive neigt50, solltedie europäische Mittelalterforschung, wie ich meine, zur Erkenntnis Europas in seinerGeschichte beitragen.51 Diese Aufgabe ist durchaus eine neue, aufregende Herausforde-

—————————————47 Vgl. den Tagungsbericht von Tillmann Lohse, Stiftungen in den großen Kulturen des alten Euro-

pa, online: H-Soz-u-Kult, 21. Juli 2003, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsbe-richte/id=264.

48 Vgl. Michael Borgolte, Von der Geschichte des Stiftungsrechts zur Geschichte der Stiftungen, in:Hans Liermann, Geschichte des Stiftungsrechts. Tübingen 22002, 13*–69* [ND in: Ders., Stif-tung und Memoria. Hrsg. von Tillmann Lohse. (StiftungsGeschichten, Bd. 10.) Berlin 2012, 337–383].

49 Borgolte, Geschichte des Stiftungsrechts (wie Anm. 48), 13*; 37* [ND 337f.; 369], mit denentsprechenden Literaturhinweisen.

50 Vgl. Patrick J. Geary, Vergleichende Geschichte und sozialwissenschaftliche Theorie, in:Michael Borgolte (Hrsg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs.Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Kompa-ratistik. (Europa im Mittelalter, Bd. 1.) Berlin 2001, 29–38; vgl. auch die Beiträge von David L.d’Avray, Comparative History of the Medieval Church’s Marriage System, 209–222; Gadi Algazi,Hofkulturen im Vergleich. ‚Liebe‘ bei den frühen Abbasiden, 187–196; Svetlana Luchitskaja, Lesidoles musulmanes. Images et réalités, 283–300, im selben Band. – Dazu Michael Borgolte, Standund Perspektiven der vergleichenden europäischen Mittelalterforschung, in: Lietuvos IstorijosMetrăstis 2003.1, 135–148 (in litauischer Sprache).

51 Michael Borgolte, Perspektiven europäischer Mittelalterhistorie an der Schwelle zum 21. Jahr-hundert, in: Ders. (Hrsg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs (wie

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Europa im Bann des Mittelalters 73

rung, wenn man sich nicht, wie üblich, auf die Traditionen des römisch-katholischenAbendlandes beschränkt. Hier geht es auch nicht um Identitätssicherung, die Politikerwünschen und Publizisten praktizieren mögen, sondern um echte Forschung im unbe-kannten Gelände. Allerdings bedarf es einer Arbeitshypothese. Diese könnte wie folgtlauten: „Europa war in seiner Geschichte niemals durch eine einzige Kultur geprägt,also auch nicht mit der lateinischen Christenheit identisch; andererseits war es ebenso-wenig ein Schmelztiegel der Kulturen, wie es den Vereinigten Staaten von Amerika inder Moderne nachgesagt wird.52 Statt ein Chaos der Besonderheiten und eine Juxtaposi-tion des Verschiedenen hervorzubringen, hat seine Eigenheit darin bestanden, dasskulturelle Differenzen nicht zu unaufhebbaren Entzweiungen geführt haben und frucht-bare Wechselbeziehungen immer möglich blieben. Die Ursachen für die besondereKohärenz Europas über kulturelle Gegensätze hinweg sind im religiösen Glauben undKult zu suchen. Unbestreitbar war das mittelalterliche Europa in einer bis dahin unbe-kannten Weise durch drei monotheistische Religionen geprägt, von denen dem Chris-tentum in zwei Kirchensystemen gegenüber Judentum und Islam eindeutig das Über-gewicht zukam. Wenn in der römischen Antike eine Kulteinheit auf polytheistischerGrundlage angestrebt worden war,53 so entstand zwischen dem vierten und siebtenJahrhundert in Europa eine monotheistische Pluralität. Selbstverständlich sind polythe-istische Praktiken und Glaubenselemente auch im Mittelalter wirksam geblieben, etwaim Satans- und Dämonenglauben, im Heiligenkult oder in der Magie, aber es steht dochfest, dass sie in ihrer lokalen oder ethnischen Prägung zum Zusammenhang Europaskaum beigetragen haben und deshalb auch keine Aufschlüsse über die europäischeGeschichte im Ganzen versprechen. Die monotheistischen Religionen waren hingegenniemals auf ein Volk oder eine Region beschränkt, sondern gaben die Grundlage ab fürGroßkulturen, die sich mit besonderen [130] Traditionen in begrenzten Räumen weiterdiversifizierten. Philosophen machen geltend, dass der Monotheismus im Gegensatzzum Vielgötterglauben zum Dogma tendiere und damit unlösbare Konflikte zwischenden Anhängern seiner verschiedenen Religionen heraufbeschwöre;54 Historiker hinge-gen wissen, dass keineswegs alle Monotheisten jederzeit und an jedem Ort von missio-narischem Geist beseelt waren, sondern dass es Zeiten der Symbiose ebenso gab wie—————————————

Anm. 50), 13–27; Ders., Mediävistik (wie Anm. 18); Ders., Vor dem Ende der Nationalgeschich-ten? (wie Anm. 14).

52 Anders Davies, Europe (wie Anm. 13), 35.53 Vgl. Mary Beard / John North / Simon Price, Religions of Rome. 2 Bde. Cambridge 1998.54 Odo Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: Ders., Abschied

vom Prinzipiellen. Stuttgart 1995, 91–116, hier bes. 100; Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos.Frankfurt am Main 1979, 51990, Sonderausgabe 1996, 239–290, bes. 264f.; 269. Vgl. auchMichael Borgolte, Historie und Mythos, in: Mario Kramp (Hrsg.), Krönungen. Könige in Aachen– Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung, Bd. 2. Mainz 2000, 839–846. – Auch derÄgyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat bekanntlich den Monotheismus (in dreiReligionen) mit der Genese von Gewalt in Verbindung gebracht, zuletzt: Jan Assmann, Die Mo-saische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München / Wien 2003.

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Zeiten der Vernichtungskämpfe.55 Nur gleichgültig bleiben konnte man auf Dauerkaum, wenn es einen einzigen Gott, besser: einen und denselben Schöpfergott, gebensollte und der Nachbar anderes über ihn zu wissen glaubte als man selbst.“Wie diese Hypothese getestet werden könnte, lässt sich aus einer Abhandlung meiner

Mitarbeiterin Juliane Schiel aus jüngster Zeit ableiten.56 Vordergründig, d. h. geogra-phisch gesehen, befasst sich die Studie gar nicht mit Europa. Schiel untersuchte nämlichzwei Reiseberichte von Dominikanermissionaren bei den Muslimen im Nahen Ostenbzw. in Indien aus dem frühen 14. Jahrhundert; in ihnen sind zugleich Begegnungen mitHeiden – Mongolen, Türken, Persern und Kurden – sowie mit orientalischen Christeneingeschlossen. Auch die leitende Frage nach der Eigen- und Fremdwahrnehmungscheint eher schon vertraut zu sein, doch hat Schiel durch verschiedene Ebenen desVergleichs Ergebnisse erzielt, die sich methodisch wie ein Schlüssel zur europäischenGeschichte ausfeilen lassen. Neben dem arabischen Raum und dem fernen Asien alsStudiengebieten sowie den Sarazenen und den anderen Nichtkatholiken als sozialenGroßgruppen unterschied die Autorin bei den Beobachtungen der Dominikaner diebeiden Achsen von kultureller Wahrnehmung und religiöser Differenz, vor allem aberdie Kategorien des Anderen [131] und des Fremden, die sie der Germanistin MarinaMünkler entliehen hat. Das Fremde sei nach Münkler stets außerhalb des Bereichshabitualisierten Wissens anzusiedeln und gehe bestenfalls mit einer vermuteten Anders-heit einher. „Fremd ist das, was jenseits der Grenze angesiedelt ist, bis zu der man weiß,wer gleich und wer anders ist.“57 Während die heidnischen Völker Asiens den reisen-den Mendikanten fremd waren und die Beschreibung dieser Welt in erster Linie dasFremderleben der Augenzeugen abbilden sollte, sei ihr Wissen über die Sarazenenbereits habitualisiert worden: Diese „Welt erschien nicht mehr fremd, vielmehr hatteman sich die Fremde des arabischen Raumes bereits angeeignet, indem man sie in deneigenen ordo integriert und als anders definiert hatte.“58 Das Fremde sei in Bezug aufdas Eigene faszinierend und furchterregend zugleich erschienen, es habe, wie die

—————————————55 Ein Beispiel für die verzögerte Christianisierung ist Litauen, ein anderes für die gewaltsame

Konversion ist Preußen. Vgl. Paulius Rabikauskas (Hrsg.), La Cristianizzazione della Lituania.Atti del Colloquio Internazionale di Storia Ecclesiastica in Occasione del VI Centenario dellaLituania Cristiana (1387–1987). (Pontificio Comitato di Scienze Storiche. Atti e documenti, Bd.2.) Città del Vaticano 1986; Alain Demurger, Die Ritter des Herrn. Geschichte der geistlichenRitterorden. München 2003, 72–85; Uwe Ziegler, Kreuz und Schwert. Die Geschichte desDeutschen Ordens. Köln / Weimar / Wien 2003, 108–142.

56 Juliane Schiel, Die ‚Sarazenen‘ im Orientbild der Dominikaner des 13. und 14. Jahrhunderts. EineUntersuchung zur Eigen- und Fremdwahrnehmung von europäischen Reisenden am Beispiel derMissionsberichte von Ricoldus von Monte Croce und Jordanus von Severac. WissenschaftlicheHausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Amt des Studienrats (masch.). Berlin Juli2003.

57 Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugen-berichten des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin 2000, 149.

58 Schiel, Die ‚Sarazenen‘ (wie Anm. 56), 69.

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Europa im Bann des Mittelalters 75

mirabilia der Natur oder die Monstergestalten unter den Heiden zeigen, die Ambivalenzvon Bewunderung und Furcht vermittelt; das Andere hingegen sei zwar ‚nicht-eigen‘,aber doch nicht unvertraut gewesen und habe ein Beziehungsverhältnis mit dem Eige-nen von Wertschätzung und Verachtung, Liebe und Hass hervorgebracht. Die Mendi-kanten hätten begriffen, dass es sich bei den Sarazenen „nicht um eine weitere Gruppevon pagani oder ydolatri handelte, sondern um eine monotheistische Religion mit alt-und neutestamentlichen Anleihen. Das war es, was sie von Fremden zu Anderen werdenließ.“59

Die entscheidende Ursache für die Kategorisierung der fernöstlichen Heiden alsfremd, der Sarazenen als anders sei also ihre Religion gewesen. Andererseits habe ihretheologische Ausbildung die Dominikaner nicht ausreichend auf die ungewohntenLebensweisen in fernen Welten vorbereitet. Die Bilder von anderen Kulturen haben amehesten an den Stellen Verwunderung, Erstaunen und eine Modifikation herkömmlicherVorstellungen zugelassen, wo sie am unklarsten formuliert oder relativ unbestimmtgewesen sind. Theoretische Leerstellen konnten mit Erfahrung gefüllt werden.Erst seit dem Einfall der Mongolen und der Begegnung mit diesen im

13. Jahrhundert konnten die Muslime als „Falschgläubige“ von den „Ungläubigen“abgesetzt werden; die Christen haben sie zwar als Konkurrenten erkannt, die islamischeKultur konnten sie jedoch von der Kategorie des Fremden in die des Anderen transpo-nieren. Damit wurden die Muslime strukturell den Juden und Häretikern, auch denschismatischen Ostchristen, nahe gerückt. Genauer gesagt, seien Judentum und Häresievon der lateinischen Kirche und namentlich von den Scholastikern als „das Andere imEigenen“, der Islam jedoch als das Andere „neben dem Eigenen“ verstanden worden.60

[132]Natürlich können diese Einsichten generalisiert werden. Beispielsweise waren die

Heiden Skandinaviens und Osteuropas bis zur Christianisierung im hohen Mittelalterfür die Christen – seien es Lateiner, seien es Griechen – zweifellos die „Fremden“.Wenn es demnach so ist, dass die Grenzen zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ durchdie christliche Mission immer weiter nach außen gerückt sind, ließe sich Europa imMittelalter als ein zunehmendes Spannungsfeld von „Eigenem“ und „Anderem“ be-schreiben, das sich – vielleicht auf Dauer oder doch auf lange Sicht – vom heidnischenAsien als dem „Fremden“ abgegrenzt hat. Zu fragen wäre also, ob die transkulturellenBinnenbezüge Europas deshalb eher als Beziehungen von „Wertschätzung und Ver-achtung, Liebe und Haß“, als von „Bewunderung und Furcht“ zu begreifen wären. Eskönnte sein, dass die Unterscheidung in der Wahrnehmung des Eigenen, des Anderenund des Fremden auf religiöser Grundlage einen Indikator für die bisher noch nichtgreifbare Kohärenz des mittelalterlichen Europa jenseits partikularer Identitäten liefert.

—————————————59 Schiel, Die ‚Sarazenen‘ (wie Anm. 56), 70.60 Ebd., 75.

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Allerdings bliebe dieser Ansatz, der von der Mission ausgeht, einer christlichen Per-spektive verpflichtet. Es wäre also zu fragen, ob die religiöse Differenz aus Sicht dernichtchristlichen Religionen das gleiche Gewicht hat wie aus Sicht des Christentums.Und tatsächlich scheint etwa die muslimische Auffassung Europas eher von der Be-obachtung kultureller Andersartigkeit – und Überlegenheit – geprägt gewesen zu sein.61

Eine vergleichende Untersuchung des europäischen Zusammenhangs hätte also auchmit einem verschiedenen Verhältnis der Wahrnehmungsachsen von Kultur und Religionzueinander zu rechnen, das selbst religiös bestimmt ist.„Europa“ hat in seiner Geschichte nie „real“ existiert, sondern es war, wie alle kom-

plexen historischen Gebilde, selbstverständlich nur eine gedachte Größe. Sein kon-struktiver Charakter lässt jeden Versuch, das „wahre“ Europa der Vergangenheit zubezeichnen und im Streit mit anderen zu belegen, in die Irre gehen. Als Gegenstandmediävistischer Forschung betrachtet, müssen die Einzelheiten der gedachten EinheitEuropa so miteinander in Beziehung gesetzt werden, dass sich das Gefüge bei derAnalyse durch ein hohes Erklärungspotential sowie durch die Fähigkeit auszeichnet,möglichst vielen Besonderheiten einen klar bestimmten Platz zuzuweisen. Methodischkommt deshalb beim Aufbau des gedachten Europa dem Vergleich ein höchst bedeu-tender Stellenwert zu.62 Nur im Vergleich lassen sich alle Kulturen im Einzelnenangemessen würdigen, ohne sie hinter dem vermeintlich Wichtigeren an den Rand zudrängen. Der Vergleich ist aber auch die einzige Klammer, die das Disparate undIrreduzibel-Einzigartige formal aufeinander bezieht. Die Erkenntnis der Gleichzeitigkeitdes Ungleichzeitigen und der Ähnlichkeiten [133] im Verschiedenen sind die nahelie-gendsten allgemeinen Ergebnisse, die die Mediävistik aus unendlich variierendenOperationen des Vergleichs erwarten kann. Wo immer es möglich ist, wird die europäi-sche Komparatistik zur Erprobung von Beziehungen fortschreiten. Der historischeVergleich überzeugt ja am leichtesten dort, wo er zeigen kann, wie aus einem gemein-samen Ursprung benachbarte, sich gegenseitig beeinflussende oder auch abstoßendeVölker und Gruppen unterschiedliche kulturelle Formationen hervorbringen.63 An-spruchsvoller – und wohl doch von höherem intellektuellen Reiz – sind die Vergleichevon unverbundenen, distanten Kulturen und ihrer Einzelphänomene.64 Ganz unbedachtist ja die geläufige Rede vom Unvergleichbaren, als ob das Vergleichen jemals ein Ende

—————————————61 Schiel, Die ‚Sarazenen‘ (wie Anm. 56), 78, unter Berufung auf Jean-Paul Roux, Les explorateurs

au Moyen Âge. Paris 1985, 241; Bernard Lewis, Der Untergang des Morgenlandes. Bonn 2002,9f.

62 Das Folgende nach Borgolte, Mediävistik (wie Anm. 18), 321.63 Zuletzt etwa: Bernd Schneidmüller, Außenblicke für das eigene Herz. Vergleichende Wahrneh-

mung politischer Ordnung im hochmittelalterlichen Deutschland und Frankreich, in: Borgolte(Hrsg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs (wie Anm. 50), 315–338;Thomas F. Glick, Islamic and Christian Spain in the Early Middle Ages. Princeton, NJ 1979.

64 Vgl. James Given, State and Society in Medieval Europe. Gwynned and Languedoc under Out-side Rule. Ithaca 1990.

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haben könnte, wenn nur Abstraktionsvermögen und Phantasie die richtige Ebene derBezugnahme zu erreichen vermögen.65

Wird Europas innere Vielfalt zum Ausgangspunkt der Vergleiche genommen, müsstefür den universalen Vergleich keine Einheit des Kontinents supponiert werden, die inWirklichkeit bisher niemals gegeben war. Da wir aber Europa als Einheit denkenwollen, müssen wir Modelle entwickeln, die uns befriedigen und überzeugen. Am Endemeiner Ausführungen möchte ich ein solches Modell skizzieren, das sich mir austranskulturellen Vergleichsstudien ergeben hat.Europa wurde im Mittelalter vor allem von drei religiösen Kräften bestimmt, die

eigene Kulturzonen ausgebildet haben:66 der um Rom, das deutsche Reich und diewestlichen Monarchien angeordneten lateinischen Kirche; der von Konstantinopel indie Rus’ und auf den Balkan wirkenden griechischen Orthodoxie und der des schwer-punktmäßig in Vorderasien verankerten, aber in Spanien, Sizilien und Ost- bzw. Ost-mitteleuropa präsenten Islam. Dazu kam das Judentum, das in seiner dezentralen Sie-delweise zur Anpassung an die jeweils fremdgläubige Mehrheitsgesellschaft neigte undvielfach den Kulturtransfer zwischen den sozialen Großgruppen sicherte. Am stärkstenin Europa gegründet war die römische Kirche, vor allem nachdem sie durch die islami-schen Eroberungen ihre Einflussgebiete in Nordafrika verloren hatte; seit dem hohenMittelalter ist sie auch die stärkste Kraft europäi- [134] scher Vereinheitlichung gewe-sen. Die Hauptstadt des byzantinischen Reiches lag hingegen an einem Scheidepunktzwischen Europa und Asien, Byzanz reichte aber auch nach Afrika, in den dritten derKontinente, hinein, zum Beispiel durch den Patriarchat von Alexandria. Ähnlich war esmit den Muslimen, die gegen ihre religiöse Doktrin neben dem Kalifat zahlreicheSonderherrrschaften in Afrika und Europa ausgebildet haben. In jeder dieser drei Kul-turzonen lässt sich ein Kernbereich relativ starker Vereinheitlichung von einer Rand-zone größerer Diversifizität unterscheiden. Im Abendland wären zu dieser Peripherieetwa die Iberische Halbinsel und die Kelten im Westen, Unteritalien im Süden, Skandi-navien im Norden und die Völker Ostmitteleuropas zu zählen, im Bereich der Orthodo-xie die Rus’ und die politischen Gebilde an der Adria, bei den Muslimen alle ihreeuropäischen Siedelgebiete, also al-Andalus, Sizilien, aber auch Ungarn, Polen, Li-tauen, ferner die Herrschaften der Mongolen in Europa. Geographisch, aber auch kultu-rell, scheinen sich nun die Kreiszonen aller drei Kerne zu einem gemeinsamen Raumzusammenzuschließen, der von größerer kultureller Homogenität geprägt sein konnte,als die betreffenden Länder und Völker mit ihren jeweiligen Zentren aufgewiesenhaben.

—————————————65 Unlängst vgl. etwa Deborah Cohen, Comparative History. Buyer Beware, in: Bulletin of the

German Historical Institute 29, 2001, 23–33; Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. EineEinführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt / New York 1999; Borgolte, Stand und Per-spektiven (wie Anm. 50).

66 Vgl. Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt (wie Anm. 16); Ders., Geschehenskomplexe (wieAnm. 15).

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Page 18: Mittelalter in der größeren Welt (Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung) || Europa im Bann des Mittelalters Wie Geschichte und Gegenwart unserer Lebenswelt

78 Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter

Ein Beispiel mag das illustrieren.67 Bekanntlich hat das Christentum die Vielweibereivon Anfang an, schon nach der Lehre seines Stifters, verpönt, der Islam hingegen hatsie – wenn auch nicht schrankenlos – erlaubt, das Judentum hat sie geduldet. Wie weitdie Polygynie im Mittelalter tatsächlich verbreitet war, kann natürlich niemand sagen,doch lassen sich im Einzelnen geltende Normen miteinander vergleichen. Eine inter-kulturell angelegte Studie dieser Art erbrachte kürzlich ein interessantes Ergebnis: Nurin den europäischen Randländern der bezeichneten Art, und zwar bei den lateinischenChristen in Island und bei den Iren, Schotten und Walisern, bei den Orthodoxen in derRus’, bei den Muslimen in al-Andalus sowie bei den sephardischen Juden war demnachdie mehrfache Beweibung des Mannes rechtlich ausdrücklich erlaubt, wenn auch unterverschiedenen Bedingungen. Es zeichnet sich also ein eher monogamer europäischerKernbereich ab, in dem die christliche Norm unbestritten galt, neben einer polygynenRandzone, die Teile der lateinischen und der griechischen Welt sowie die Gebiete desIslam umfasste.Ich meine, dass es lohnend wäre, dieses Modell einer europäischen Zweiteilung

weiter zu erproben. Es würde nicht mehr, wie oft diskutiert, den europäischen Westenmit dem Osten, oder auch den Süden mit dem Norden, konfrontieren, um – mit demAkzent auf der Überlegenheit des Okzidents – Gesetze des Kulturtransfers zu belegen;68

es würde auch nicht die unhaltbare Vorstellung einer gegenseitigen Abschottung derreligiös-kulturellen Sphären evozieren. Vielmehr könnten Studien zu seiner Erprobungohne wertende [135] Vorannahmen und auf dem Weg wissenschaftlicher AnalysenEuropa als einen Kontinent unterschiedlicher Homogenisierungen und Diversifikatio-nen vor Augen führen; die Anpassungs- und Abwehrprozesse, die dabei zu Tage träten,könnten uns belehren und für Aufgaben rüsten, die uns die Lebenswelt heute undmorgen mehr denn je stellt.

Summary

The contemporary process of European history has to be taken up by research in Medi-eval Studies, if it wants to work in a problem-oriented way. Instead of the history of thenation state or the Empire as a point of reference, there should now be an examinationof the diversity of European history, the basis of which has to be sought in the differ-ence between the monotheistic religions, namely Christianity, Judaism and Islam. Fortranscultural Medieval Studies, working procedures have yet to be tested and devel-oped. The scholarly aim must be the knowledge of the history of Europe in its entirety,but the inspiring mode of thought should not be “unity in diversity”, but “unity anddifferences”. The ideologically informed historical idea of opposition and culturaldifference between West and East, South and North should also be overcome, whenprocesses of integration and disintegration of Europe are conceived.—————————————67 Borgolte, Kulturelle Einheit und religiöse Differenz (wie Anm. 23).68 Vgl. Borgolte, Ostmitteleuropa aus Sicht des Westens (wie Anm. 38).

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