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Moderne Kurzgeschichten

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Vergleich von "Die Geschickte" (Botho Strauß) und "Es ist eines nicht wie das andre" (Nadja Einzmann)

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Page 1: Moderne Kurzgeschichten

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GFS von Philipp Deuchler zu dem Thema “Moderne Kurzgeschichten”

Gliederung

1 Allgemeines

2 Botho Strauß “Die Geschickte”

3 Nadja Einzmann “Es ist eines nicht wie das andre”

4 Vergleich der beiden Kurzgeschichten

5 Fazit (Eigene Stellungnahme)

1. Allgemeines

Jede Literatur ist geprägt von ihrer Zeit und der damit verbundenen Symbolik,

welche den aktuellen Themen besonders Ausdruck verleihen sollen. Themen der

Modernen Kurzgeschichte sind v.a. die Auseinandersetzung mit Fragen nach

Wahrheit und Wirklichkeit, Identität oder auch Selbstdefinition und dem

Selbstbewusstsein.

Aufgrund ebendieser recht komplexen Fragestellungen bzw. Themen, mit denen

sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens zwingend beschäftigt, ist die Nähe zum

Leser gewährleistet. Weiterhin kann man über die Moderne Kurzgeschichte sagen,

dass durch ihre Kompaktheit und der Reduzierung auf das Wesentliche ein

literarisch angemessenes Niveau erreicht wird, was dazu führt, dass die Moderne

Kurzgeschichte die breite Masse anspricht, also keine besondere Lesegruppe

anzielt.

Folglich kann die die Kurzgeschichte, trotz “neuer” literarischer Form, normal

gedeutet werden und in Bezug auf eigener Lebenswirklichkeitsperspektive gedeutet

werden.

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2. Botho Strauß “Die Geschickte”

Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während eines Messebesuchs entführt worden

war, kehrte nach Zahlung eines hohen Lösegelds eine Frau zurück, die er nicht kannte und

die ihm nicht entführt worden war. Als die Beamten sie ihm erleichtert und stolz nach Hause

brachten, stutzte er und erklärte: Es ist ihnen ein Fehler unterlaufen. Dies ist nicht meine

Frau.

Die ihm Zu-, jedoch nicht Zurückgeführte stand indessen hübsch und ungezwungen vor ihm,

wachsam und eben ganz neu. Außerdem schien sie schlagfertig und geistesgegenwärtig zu

sein. Den Beamten, die betreten unter sich blickten, gab sie zu verstehen, ihr Mann habe

unter den Strapazen der vergangenen Wochen allzusehr gelitten, er sei von der

Ungewissheit über das Schicksal seiner Frau noch immer so durchdrungen un besetzt, dass

er sie nicht auf Anhieb wiedererkenne. Solch eine Verstörung sei bei Opfern einer

Entführung und ihren Angehörigen nichts Ungewöhnliches und werde sich bald wieder

geben. Darauf nickten die Beamten verständnisvoll, und auch der tatsächlich verwirrte

Mann nickte ein wenig mit.

Aus seinen dunkelsten Stunden war also unversehens diese völlig Fremde, diese helle und

muntere Person aufgetaucht, die den übernächtigten Fabrikanten von seiner schlimmsten

Befürchtung zwar ablenkte, diese aber keinesfalls zerstreute.

Schon am nächsten Morgen - sie schlief im Gästezimmer - fand er sie in der Garage vor

einem am Drahtseil aufgehängten Fahrrad, dem kaum benutzten Fahrrad ihrer Vorgängerin.

Sie hatte die Reifen abmontiert, die Schläuche geflickt, die Felgen geputzt und die Pedale

geölt. Eine Fahrradflickerin! dachte der Mann, der ihr eine Weile bei den Verrichtungen

zusah. Eine gelehrte Frau habe ich verloren und eine Fahrradflickerin bekommen!

Aber dann spekulierte er für den Bruchteil einer Sekunde, was die Zukunft wohl für sie beide

bereithalte und ob er je mit ihr auf große Tour gehen werde. Neben den flüchtigen

erbaulichen Momenten bewegten ihn aber Zweifel, ob die Anwesenheit dieser

einfühlsamen Unbekannten nicht ein tückischer Hinterhalt sein könnte. Ob die Entführer

nicht aus reinem Zynismus und nur um die Liebe zu seiner geraubten Frau, der gelehrten, zu

verhöhnen, ihm diese naive, bedenkenlos patente Heimwerkerin geschickt hätten. Als

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zusätzliche Marter, aber auch zur Vorbereitung neuer Erpressungen.

Ganz verstehe ich es immer noch nicht, sagte er auf einmal mit entwaffnender

Unbeholfenheit. Sie lächelte hinter flimmernden Speichen und sagte: Genau wie seinerzeit

in Madrid. Du erinnerst dich? Ich hatte doch immer dies lähmende Vorausgefühl.

In Madrid? fragte der Mann, schon mit einem Anklang von gewöhnlicher

Ehegattennachfrage. Ja, als wir mit dem ganzen Club, unseren besten Freunden auf der

Plaza Mayor -

Natürlich. Ich erinnere mich.

Meine Handtasche war gerade noch da. Und hätte mich nicht dies lähmende Vorausgefühl

ergriffen, dass sie mir im nächsten Augenblick gestohlen würde, dann hätte ich besser

aufgepasst. Schon war sie weg!

Und das am Morgen deines dreißigsten Geburtstags!

Ausgerechnet. Man lädt die besten Freunde ein, und irgendein Dieb ist immer darunter.

Aufhören! rief der Mann ungehalten. Schluss mit dem Falschspiel! Du kannst das nicht

wissen. Nicht du!

Na, so war’s aber. War’s nicht so? So war’s doch aber.

Am Nachmittag war er mit einem guten Freund verabredet. Er traf ihn in der Hoffnung,

einen Zeugen dafür zu gewinnen, dass man ihm die falsche Frau nach Hause gebracht hatte.

Es stellte sich jedoch heraus, dass der echauffierte Mensch auf einmal über alles anders

dachte, als er bisher gedacht hatte - über Politik, Geld, seine Kinder und seine

Vergangenheit. Mit einem Schlag hatte sein Geist die Farbe, den Geschmack, die Richtung

und sogar die Geschwindigkeit gewechselt. Da dachte der Mann der Entführten: Es muss

doch wohl an mir liegen. Die Menschen wechseln offenbar ihr Inneres genauso schnell wie

ihr Äußeres. Sie stülpen sich um und bleiben doch dieselben! Mir scheint, ich habe da eine

bestimmte Entwicklung nicht ganz mitbekommen. Also wäre die junge Fahrradflickerin am

ende doch niemand anderes als meine umgestülpte Frau, ja, sie ist wohl die meine, wie sie’s

immer war. Ich habe weit mehr als mein Vermögen für sie geopfert. Da sitzt sie nun auf

meinem Bett, hübsch und rund: mein Schuldenberg. Es bleibt mir keine andere Wahl, ich

muss nehmen, was sich bietet, ich könnte die nie ein zweites Lösegeld bezahlen. Da trat aus

seinem Inneren ein Bild hervor, und er sah die Entführte in einem Kellerloch, in ihrer Haft.

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Ein Stuhl, ein Schlafsack und ein Campingklo. Und gänzlich ohne Bücher. So sah er die

Gelehrt, und so verharrte sie in der Gefangenschaft.

Eines Tages würde sich alles klären. Oder aber es würde sich niemals klären. Zu beidem war

er bereit: zu des Rätsels Lösung wie auch das Rätsel zu leben. Nur eine Entscheidung

zwischen dem einen und dem anderen konnte er sich nicht abringen.

Am Abend lud er die Geschickte zu einem Mikadospiel mit kostbaren, uralten japanischen

Stäben, die er seit Jahren einmal am tag auswarf und zusammen mit seiner Frau auflas. Nur

um füreinander die Fingerspitzen ein wenig zu sensibilisieren - so hatte es stets geheißen,

wenn seine Frau ihn zum Spiel bat und sich mit dem schiefen Lächeln einer Gelehrten eine

dezente Anzüglichkeit erlaubte. Dieselbe Bemerkung kam nun von der Geschickten, und sie

lächelte dazu vollkommen ungezwungen.

Die Stäbchen aus dem lackierten Zedernholz lagen auseinandergefallen auf dem hellen

Birnbaumtisch. Da rieb sich der Mann die Hände und sagte in einem veränderten,

aufgeräumten Ton: Nur zu, du kleines Rätsel. Nun zeig, was du kannst!

Dazu gab er ihr einen burschikosen Klaps auf die Schulter. Sie entgegnete ihm mit einem

unterdrückten Fluch, da sie den Arm gerade zum Spiel ausgestreckt hatte. Ihre ruhig Hand

löste nun etliche Stäbe aus labilster Lage, ohne andere zu bewegen. Seine unruhige

hingegen war nicht einmal fähig, freiliegende Spitzen zu drücken, ohne dass sich im Stapel

etwas rührte.

Schließlich lüpfte die ruhige Hand den ranghöchsten Stab ohne die geringste Einwirkung auf

die kreuzenden und überliegenden. Sie nahm ihn in die Hände und zerbrach den Mikado in

stillem Unfrieden. Das Spiel mit den wertvollen Stäben war für immer zerstört. Die unruhige

Hand ergriff zitternd einen der untergeordneten Stäbe und hielt ihn wie einen Spieß

umklammert. Der Mann betrachtete die nadelfeine Spitze. Er hatte kein anderes Empfinden

mehr, als diese Spitze durch die linke Wange der Frau zu stoßen, durch ihre Zunge zu

bohren und aus der rechten Wange wieder hinaus. Gestoßen und gestochen. Nicht jetzt.

Aber eines Morgens, ja. Eines Morgens bestimmt. Eines Morgens wird es zu einigen sich

überstürzenden Ereignissen kommen... Man wird sich im nachhinein fragen, wie es

überhaupt so lange hat dauern können, dass nichts geschah.

In: Botho Strauß: Mikado, München/Wien; Hanser Verlag 2006. S. 5-9

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Bevor man nun zur Interpretation übergeht, ist in diesem Fall eine Vorbetrachtung

des Autors bzw. seiner Textsammlung “Mikado” sinnvoll, da in diesem Titel einige

Hinweise auf die Charakteristik des Protagonisten zu finden sind, da nicht nur in “Die

Geschickte”, sondern auch in anderen Werken der Textsammlung die Protagonisten

mikadospielerähnliche Eigenschaften aufweisen. Dieses Vorwissen vereinfacht

später die Charakterisierung des Protagonisten, da Mikadospieler bekanntlich immer

sehr vorsichtig, leise und unauffällig handeln.

Nach dieser Vorbetrachtung, kann nun zur Interpretation der Kurzgeschichte

übergegangen werden.

Die Kurzgeschichte “Die Geschickte” von Botho Strauß setzt sich mit der

Wirklichkeitsfrage auseinander, indem dem Protagonisten zu Beginn, nachdem er

ein hohes Lösegeld für seine entführte Ehefrau bezahlt hat, eine Frau

“zurückgegeben” wird, die er nicht als seine Ehefrau wiedererkennt, da sich diese

allzu unterschiedlich im Vergleich zu den Erinnerungen des Mannes an seine Frau

verhält.

Die Kurzgeschichte ist aus der Perspektive des Ehemannes erzählt, was dem Leser

zunächst das Wirklichtsbild dessen aufzwingt. Er wird sich die Frage stellen müssen,

ob sich der Mann nun wirklich irrt oder ob die erzeugten Verwirrungen von Seiten der

so krass veränderten Frau oder seiner eigenen Wahrnehmung her stammen. Im

Laufe der Erzählung wird klar, dass die Veränderung sicher nicht beim Ehemann

stattgefunden haben kann, da er sich (Verweis: Mikadospieler) sehr vorsichtig und

unauffällig handelnd durch die Geschichte bewegt. Des weiteren kristallisiert sich

heraus, dass der Mann mit Veränderungen nur schwer zurecht kommt und am

liebsten sofort wieder zur Normalität des Alltags übergehen will, wie man z.B. bei der

Reparatur des Fahrrads durch die “Neue” erkennt (vgl. Z. 17 ff). Das Fahrrad kann

hier auch als Symbol der Veränderung und Vergänglichkeit der Dinge gesehen

werden. Ebendieses gefällt dem Mann überhaupt nicht, wie man an dem kurzen

Monolog “Eine Fahrradflickerin! dachte der Mann, der ihr eine Weile bei den

Verrichtungen zusah. Eine gelehrte Frau habe ich verloren und eine Fahrradflickerin

bekommen!”(Z. 19 f.) erkennen kann. Die darauf folgende Vorstellung mit ihr “auf

große Tour” zu gehen, ist auch nicht von großer Beständigkeit, da er gleich darauf

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Zweifel hegt, was der eigentliche Grund für die Anwesenheit der “Neuen” ist (vgl. Z.

22). Anstatt jedoch eine Entscheidung zu treffen, welche eigentlich zwingend wäre,

gibt er die Frage an seine “neue” Frau weiter und zeigt sich folglich ziemlich hilflos,

mit der Veränderung nicht zurecht kommend.

Es folgt eine zentrale Szene der Kurzgeschichte: der Handtaschendiebstahl. Die

“Neue” erzählt dem Fabrikanten von einem Handtaschendiebstahl in Madrid an

seinem 30. Geburtstag (vgl. Z. 30 ff.). Dies lässt spätestens jetzt den Leser

verwirren, da eine solche Erinnerung nur die “wirkliche” Ehefrau haben kann,

weshalb auch der Ehemann “mit einem Anklang von gewöhnlicher

Ehegattennachfrage” (Z. 31) auf die Erzählung reagiert.

Diese Stelle könnte nun als ironische Vorwegnahme der Entführung durch den Autor

gedeutet werden, was zur Folge hätte, dass die Tasche das Symbol für die Frau.

Weiterhin wäre die Verdächtigung eines der besten Freunde ebenfalls eine

Vorwegnahme des Kommenden: der Freund, der eigentlich dem Mann bezeugen

soll, dass er die “falsche” Frau zurückbekommen hat. Außerdem ist das von der

“Geschickten” beschriebene “lähmende Vorausgefühl” (Z.30), welches für die

fehlende Bereitschaft oder den Mut zur Handlung stehen könnte, wohl auch ein

Zeichen für den Verlust des Ehepartners auf verschiedenen Ebenen. Man könnte

nun also auch davon ausgehen, dass es keine “neue” Frau gibt, sondern die

Veränderung seiner “alten” Frau bis zur Entführung an dem Fabrikanten

vorbeigegangen ist, da dieser ja, wie schon geklärt, eher wie ein Mikadospieler, also

auch eher auf sein eigenes Spiel - in dem Fall sein Leben - bedachter Mensch,

handelt, und so durch seine egozentrische Lebensweise ebendiese Veränderung

versäumt hat. Dementsprechend könnte man von einer Distanzierung des

Fabrikanten zu seiner Frau sprechen, die solang anhielt, bis diese entführt wurde.

Also dient die Entführung quasi als Augenöffner für den Fabrikanten, da seine Frau,

auch wegen des hohen Lösegelds (“mein Schuldenberg” - Z.53), für ihn wieder an

Bedeutung gewonnen hat und somit auch wieder seine aktive Beachtung.

Erneut fällt seine Abneigung zur Veränderung auf, indem er trotz dem Wissen, das

nur die “echte” Ehefrau haben kann, dagegen rebelliert und schon fast verzweifelt

ruft: “Das kannst du nicht wissen. Nicht du!” (Z.39 f.)

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Nun kommt der bereits angesprochene Freund, ein “echauffierter Mensch” (Z.44),

hinzu, der den Leser erneut verwirren soll, da er dem Fabrikanten nicht bestätigt,

dass es eine “neue” Frau ist, die er nach der Entführung bekommen hat. Folglich

beginnt der Mann an sich zu zweifeln und akzeptiert so langsam die geschehene

Veränderung, da er auch - durch seine egozentrische Haltung - an sein Geld denkt

und feststellt, dass er ein zweites Lösegeld nicht bezahlen könne (vgl. Z.54 ff). Doch

während dieses Gedankenganges kommen ihm Gewissensbisse, da er tief im

Inneren immer noch an eine Vertauschung der Ehefrau glaubt. Jedoch gibt er sich,

anstatt nun spätestens jetzt dem Spuk ein Ende zu machen, damit zufrieden, dass

“[sich] eines Tages alles klären würde. Oder aber es würde sich niemals klären. Zu

beidem war er bereit: zu des Rätsels Lösung wie auch das Rätsel zu leben” (Z.58

ff.). Diese Einstellung zeigt erneut das Egozentrische und seine

Diskursionsunfähigkeit.

Gegen Ende der Kurzgeschichte kommt es zum Höhepunkt der Geschichte, als

während einem Mikadospiel die Frau plötzlich einen der sehr wertvollen Mikadostäbe

zerbricht und so das komplette Spiel unbrauchbar macht (vgl. Z.75 ff.). Darauf

kommt der Mann zum ersten Mal aus seinem Alltagstrott heraus, indem er

Rachegefühle entwickelt und seiner Frau mit einer Mikadospitze die Backe zu

durchstechen. Jedoch handeln tut er auch hier nicht - hier, in einer Extremsituation.

Es ist offensichtlich, dass hier noch einmal die Handlungsunfähigkeit des Mannes

dargestellt werden soll. Diese ausdrückliche und am meisten aussagende Stelle, soll

den Leser so über das Verhalten des Mannes empören, dass daraus eine Art

indirekter Appell entsteht, niemals so zu handeln wie der Mann.

Doch was genau will uns der Autor mit dieser Geschichte zeigen? Klar, das eben

genannte. Jedoch ist das nicht alles. Vor allem will Botho Strauß durch die die in der

Geschichte angelegten Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit, den Leser zum

Nachdenken anregen. Weiterhin will er daran appellieren, die Bereitschaft zu

besitzen, Gewohnheiten aufzugeben und Veränderung zu akzeptieren, also selbst

Flexibilität zu beweisen.

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Diese Themen machen die Kurzgeschichte zu einer sehr wichtigen in meinen Augen,

da diese Dinge Grundlagen für das individuelle Leben und auch für das

Zusammensein darstellen.

3. Nadja Einzmann “Es ist eines nicht wie das andere”

Natürlich wird sie ihn nicht vergessen - wer würde einen solchen Mann vergessen? Und will

es auch nicht. Sie erinnert sich gerne. In Schatzkisten und Kästchen wird sie seine Traurigkeit

bewahren und seine Blicke unter zärtlichen Wimpern hervor. Kindern und Kindeskindern

wird sie von ihm berichten, von seinem stolzen Gang und seinen unzähligen Gesichtern: Da

gab es einmal einen, wird sie sagen, so groß war er und so schön, er hätte euch gefallen. Sie

wird mit Armen und Fingern erzählen, das kann sie gut. Längst hat sie gelernt zu gehen wie

er und beim Sprechen reißt sie die linke Augenbraue hoch.

Er muss verstehen. Die Welt ist nicht umsonst rund, und es wachsen Menschen auf allen

Kontinenten. Von Blüte zu Blüte und von Haus zu Haus muss sie ziehen, er würde es nicht

anders machen. Lernen und sich Kostbarkeiten aus dem Unrat klauben: Augenblicke, und

eine Hand an der Klinke, die klein und weiß ist. Seid so lieb, ein Glas Wasser, dann spreche

ich weiter. Was wäre, wenn sie zu liegen käme auf einer Bahre und sie in die großen

hungrigen Kinderaugen nichts hineinerzählen könnte? So aus einer Welt gehen mit rein gar

nichts auf der Hand, das wünscht sie ihm nicht und sich nicht. In einem Zelt sitzen, vom

Sandsturm umtost, und einen Samen legen in so ein kleines kindliches Herz, was kann es

Schöneres geben? Und bitte, soll er doch später einmal vorbeikommen. Weihrauch und

Myrrhe im Handgepäck und vielleicht einen Stern, das würde ihr gefallen.

Sag nichts. Sie verschließt ihm die Lippen mit dem Mund. “Mein Lieber, du wirst mein

Liebster bleiben!” Er hat so süße Lippen, so lebendige Lippen. Fast möchte sie - Aber, nein.

Adieu zu sagen ist nie leicht, und wusste sie es nicht? “Gib mir deine Hand!” Sie liest ihm ein

Leben aus seiner Lebenslinie, dass ihm die Tränen in die Augen treten, mehr kann sie nicht

für ihn tun.

Es ist Zeit. Ihr Bündel ist gepackt. Vor dem Haus fährt ein Wagen vor. Wie soll sie ihn jetzt

umarmen, sie hat keine Hand mehr frei. Ist es der? Fragt er und schaut aus dem Fenster.

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Einer, sagt sie. Nicht schöner als du, nicht klüger, und was er erzählt ist nicht wichtig. Nur

dieser Ton, diese Stimme süß und rau, und wenn er geht, trägt er die Last der Welt auf

seinen Schultern.

Einmal so gehen. Sie wird es lernen. Und dass er keine Lippen hat und kein Ohr für sie, es

wird ein nächster kommen und ein nächster.

Einen Sandsturm wünscht sie sich als sie geht, und hört schon das Sausen und Brausen.

Aus: Nadja Einzmann: “Da kann ich nicht nein sagen. Geschichten von der Liebe”, 2001 S.

Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

In der Kurzgeschichte “Es ist eines nicht wie das andre” von Nadja Einzmann aus

dem Jahr 2001 geht es um eine Trennung einer Frau von ihrem Geliebten. Die

Autorin will mit ihrer Geschichte Themen wie Gefühlsverwirrung, innere

Widersprüche und auch Wirklichkeitswahrnehmung anschneiden und den Leser

dazu bringen, über ebendiese nachzudenken.

Durch die personale Erzählweise wird bewirkt, dass der Leser die innere Bewegung

der Frau miterlebt und so dazu gezwungen wird, sich teilweise mit ihr zu

identifizieren. Jedoch ist die Geschichte so erzählt, dass sich der Leser kein klares

Bild über die Trennung machen kann, was dazu führt, dass die Widersprüchlichkeit

der Frau aufgedeckt werden kann.

Anfangs scheint es so, als ob die Frau sich auf den Abschied von ihrer großen Liebe

vorbereitet, da zunächst eine schwärmerische Ausdrucksweise benutzt wird (vgl.

Z.1-7).

Jedoch wird recht schnell deutlich, dass das anfängliche Bild zu trügen scheint, da

die Frau mit einer Biene verglichen wird, die “von Blüte zu Blüte ... [ziehen muss]”

(Z.9) und ihren Drang damit rechtfertigt, dass ihr Geliebter an ihrer Stelle dasselbe

tun würde (vgl. Z.9 f.). Doch würde er das wirklich tun? Diese erzwungene Frage, auf

die die Autorin keine Antwort gibt, zielt auf die Problematik der

Wirklichkeitswahrnehmung ab.

Weiterhin rechtfertigt die Frau ihr Verhalten damit, dass sie mit dem Wissen sterben

will, etwas erlebt zu haben - und ihm wünscht sie es auch (vgl. Z.12). Also

rechtfertigt sie quasi ihr Verhalten durch Rücksichtnahme auf das Leben ihres

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Partners, ohne darüber Bescheid zu wissen, ob dies auch der Realität entspricht.

Hier wird die Frage nach der Wirklichkeitswahrnehmung durch ihre innere

Widersprüchlichkeit ergänzt, die hier zum Vorschein kommt, indem sie sich zuerst

vornimmt, ihren Kindern, einem Symbol für die Zukunft, von ihrem Geliebten zu

erzählen (vgl. Z.3), sich und ihm aber gleichzeitig keine gemeinsame Zukunft

zugesteht, um ebendiese zu einer erlebnisreicheren zu machen (vgl. Z.9).

Dass sie das Abenteuer liebt, zeigt sich im nächsten Abschnitt, als sie sich selbst in

einem Zelt sitzend beschreibt und von einem Sandsturm umtost wird. Gleichzeitig

möchte sie aber auch ihre Erfahrung an Kinder weitergeben (vgl. Z.15). Ob sich das

miteinander vereinen lässt, bleibt offen. Außerdem wünscht sie sich einen König, der

einmal vorbeikommt, um ihr Geschenke und einen Stern mitbringt, wie in der

Weihnachtsgeschichte (vgl. Z.16 f.). Jedoch wird nicht beschrieben, dass der

Besucher bleibt, so dass der Leser davon ausgehen muss, dass er wieder

verschwindet, nachdem er sie mit Lebenserfahrung, im bildlichen Sinne gesprochen,

beschenkt hat.

Es folgt ein Bruch in der Geschichte und man wird aus der Gedankenwelt der Frau

zurück in die Gegenwart geholt (vgl. Z. 18). Man findet sich mitten im Abschied. Es

ist ein zärtlicher Abschied. Ein Abschied, der zwar etwas Beendendes hat, jedoch

irgendwie die Hoffnung lässt, dass eine gemeinsame Zukunft nicht ausgeschlossen

ist.

Das Widersprüchliche ist, dass bei diesem sehr emotionalem Abschied, vor der Tür

schon der nächste auf die Frau wartet (vgl. Z. 22). Erneut wird im letzten Satz das

Bild des Sandsturms aufgegriffen (vgl. Z.29), welches für die Abenteuerlust der Frau

steht und wohl auch für ihre stetig anhaltende Veränderung, da auch ein Sandsturm

immerfort in Bewegung ist.

Es ist wahrscheinlich, dass die Frau durch ihre egozentrische Verhaltensweise,

deren sie sich zumindest teilweise bewusst ist, da sie sich sonst nicht zu

rechtfertigen versuchen würde, nicht auf die Gefühle oder Bedürfnisse des Partners

eingeht bzw. eingehen kann. Damit könnte die Autorin an das “Geben-und-

Nehmen”-Prinzip einer Beziehung appellieren, da die Frau in der Kurzgeschichte

eher nur solange “nimmt”, bis sie zur nächsten “Blume weiterfliegt”. Weiterhin

möchte Frau Einzmann wohl an den Sinn des Lebens aufmerksam machen, da sich

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die Protagonistin mit diesem Thema ebenfalls beschäftigt. Außerdem werden die

oben bereits genannten Themen wie Wirklichkeitswahrnehmung, innere

Widersprüchlichkeit und die Gefühlsverwirrung angeschnitten.

Der Leser wird in dieser Kurzgeschichte dazu verleitet über die Grundlagen für

Beziehungen nachzudenken. Außerdem will die Autorin aufzeigen, dass

Veränderung nötig ist, um ein lebenswertes Leben führen zu können, jedoch auch,

dass die Art und Weise, wie man ein solches Leben führt, überdenkenswert ist. So

ist die Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung ein zentraler Punkt, da nur so eine

Beziehung zum Vorteil beider, sozusagen symbiontisch, geführt werden kann.

Meiner Meinung nach ist diese Kurzgeschichte sehr aussagekräftig und regt zum

Nachdenken an, nicht zuletzt, weil sie den Leser verwirrt. Da Themen angesprochen

werden, die jeden Menschen, vor allem jüngere, die noch in der

Selbstfindungsphase sind, betreffen und beschäftigen, ist dieses Werk ein wertvollen

und weiterempfehlenswertes.

4. Vergleich der beiden Kurzgeschichten

Nach der Interpretation der beiden Kurzgeschichten, ist es offensichtlich, dass beide

einige Parallelen aufweisen.

Zum Beispiel wird, trotz eher gegensätzlicher Charaktere, die Wahrnehmung der

Wirklichkeit aufgegriffen, welche, ebenfalls in beiden Fällen, einher mit der Thematik

der Veränderung geht. Weiterhin ist auffällig dass diese thematisierte Veränderung

jeweils mit Bildern für Bewegung - zum einen das Fahrrad, zum anderen der

Sandsturm - unterstützt ist.

Auffällig ist auch, dass jeweils die Problematik anhand von Liebesbeziehungen

dargestellt wird. Durch diese Erkenntnis, kann man nun auch sagen, dass beide

Autoren, unabhängig voneinander, das Ziel verfolgt haben, den Leser dazu zu

animieren, über die Grundlagen einer Beziehung nachzudenken.

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Weiterhin kann man erkennen, dass beide Kurzgeschichten allgemein der

Selbstfindung dienen sollen.

Um jedoch nicht nur Gemeinsamkeiten aufzuzählen, die jedoch überwiegen, werden

nun noch einige auffällige Unterschiede der beiden Kurzgeschichten genannt.

Zum einen fällt auf, dass in der einen Geschichte der Protagonist die handelnde

Person ist und in der anderen die passive; zum anderen ist das Verhältnis der

beiden Hauptakteure insofern verschieden, dass in Einzmanns Geschichte

ebendieses beendet werden soll, wohingegen bei Strauß ein neues entsteht.

5. Fazit

Mir persönlich hat diese Arbeit sehr gut gefallen. Auf der einen Seite deshalb, weil

ich mich wohl sonst nie so intensiv mit Modernen Kurzgeschichten beschäftigt hätte,

auf der anderen Seite aber auch, weil diese Kurzgeschichten mich selbst zum

Nachdenken angeregt haben. Vor allem durch ihre verwirrende Darstellung, welche

ich persönlich besonders herausfordernd fand, kommt man nicht daran vorbei, sich

über angesprochene Probleme Gedanken zu machen.

Beeindruckend ist auch, dass allein durch die richtige Sprachwahl, ein Mensch dazu

bewegt werden kann, sein Leben zu überdenken und es eventuell sogar zu

verändern.

Philipp Deuchler

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Quellen:

Praxis Deutsch, “Neue kurze Prosa” (Ausgabe: November 2007, 34. Jahrgang)