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34 11 Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart 11
11 Sozialer Wandel in soziologischen Theorien derGegenwart 11
1 Talcott Parsons/Richard MÜllch: Theorie des Strukturfunktionalismus und ihre handlungstheoretische Umformung
2 Niklas Luhmann: Systemtheorie - die Radikalisierung desFunktionalismus
3 Amitai Etzioni: Theorie der gesellschaftlichen Steuerung - dieReformierung des Funktionalismus
4 Hartmut Esser: Theorie der soziologischen Erklärung - widerden petrifizierenden Strukturfunktionalismus
5 Zygmunt Bauman: Soziologische Theorie der ,flüssigen Modeme' und postmodernen Moral
Unsere These, modeme soziologische Sozial- und Gesellschaftstheorien ließen sich auch als Theorien des sozialen Wandels begreifen,stützt sich u.a. auf folgendem Sachverhalt. In die zumeist umfangreicheallgemeine Theoriekonstruktion geht ein Verständnis ein, dass Wandelvor allem als Wandel des Systems vor Augen hat, nicht primär die gängigen Wandlungen innerhalb des Systems. Letztlich geht es um Wandelmit grundlegendem, auch epochalem Charakter, weniger um das Bemühen, beispielsweise aus der historischen Konstellation ,Industriegesellschaft' nun die ,postindustrielle Gesellschaft' herzuleiten - ein Verfahren, das einst Rene König mit den Worten geißelte, auf diese Weisewerde lediglich " ... aus der Perspektive von Gestern die von Morgen... " umschrieben. (zitiert in Beck/Lau 2005, 107) Zwar wird dieErfahrung eines gesellschaftlichen Strukturwandels unterschiedlichinterpretiert, jedoch besteht ein Konsens darin, zum Verständnis undzur Erklärung des Wandels bedürfe es grundlegender Theorieinnovationen. Worin der innovative Kern besteht, ist wiederum von Theorie zuTheorie verschieden (z.B. bei Giddens: Entroutiniserung und epochenspezifische Mechanismen des Wandels). Unser Interesse richtet sichnun u.a. darauf, zu prüfen, ob sich die für die Deutung der Konzeptio-
W. Jäger · U. Weinzierl, Moderne soziologische Theorien und sozialer Wandel,DOI 10.1007/978-3-531-93404-4_ , © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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nen von Giddens & Kollegen als Theorien des Wandels abzeichnendenKriterien in weiteren Sozial- und Gesellschaftstheorien finden lassenoder andere Merkmale eine Zuordnung dieser Art rechtfertigen.
Wir beginnen mit Talcott Parsons, dem Altmeister der europäischenund amerikanischen Nachkriegssoziologie, und seinem kreativen,Nachbesserer' Richard Münch.
. 1 Talcott ParsonslRichard Münch: Theorie des StrukturFunktionalismus und ihre handlungstheoretische Umformung3
Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts beginnt Parsons dieAusarbeitung einer allgemeinen soziologischen Theorie als theoretischeGrundlage für alle sozialen Prozesse in jeder Gesellschaft, unabhängigvon Zeit und Raum. Die Stabilität einzelner Systeme in ahistorischenund apersonalen Zusammenhängen theoretisch zu begründen, ist seinAnliegen. Damit unternimmt Parsons einen "Paradigmenwechsel" insofern, als er eine Abkehr von allen theoretischen Versuchen der Klassiker wie Comte, Spencer, Marx vollzieht, die Veränderung von Gesellschaften auf den Begriff zu bringen. (vgl. Korte 1992, 177) Aber gerade dieser Wechsel macht den Reiz der Auseinandersetzung mit Parsonsaus, ist er doch gehalten, Veränderungsprozesse in Gesellschaften inseinem Ansatz zu erklären. Wenn wir uns nicht mit der allgemeinenAussage zufrieden geben wollen, sozialer Wandel in der Struktur einessozialen Systems sei der Wandel seiner normativen Struktur (vgl. Parsons 1976), müssen wir in einer feingliedrigen Auseinandersetzung mitdem Strukturfunktionalismus die Elemente von Veränderungen aufspüren. Dieses Vorgehen erfordert einige Anstrengungen, Hilfestellungenerhalten wir in der symbol- und handlungstheoretischen Umformungdurch Münch.
3 Dieses Kapitel ist eine Gemeinschaftsarbeit mit Wolfgang Adam (Saarbrücken).
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Parsons hat seine soziologische Theorie in mehreren Phasen entwickelt. In seinem ersten grundlegenden Werk "The Structure of SocialAction" formuliert er Ansätze einer sozialen Handlungstheorie in einerAnalyse der Arbeiten u.a. von Pareto, Durkheim und Weber. In denspäteren Phasen der Theorieentwicklung bezieht er schrittweise zunächst systemtheoretische und schließlich kybernetische Elemente inseinen Theorieautbau mit ein.
Für die Entwicklung der Theorie spielen auch wissenschafts- bzw.erkenntnistheoretische Fragen eine erhebliche Rolle. Während die erkenntnistheoretischen Auffassungen Parsons' häufig retrospektiv aufKant zurückgeführt werden, besitzt nach Wenzel (1990) die auf Henderson und Whitehead führende Methodologie des analytischen Realismus in Verbindung mit dem für Parsons zentralen Problem einerTheorie der Ordnung des sozialen Handeins eine über die Frühphasehinausgehende grundlegende Bedeutung.
1.1 AGIL-Schema
Die Entwicklung des für den Strukturfunktionalismus grundlegendenAGIL-Schemas knüpft an Ergebnisse der Kleingruppenforschung vonRobert F. Bales an. Dieser beobachtete experimentelle Kleingruppen,wie sie ihnen vorgegebene Probleme bearbeiteten und gelangte inschrittweiser Abstraktion zu einem Klassifikationsschema, das vierHandlungstypen als funktionale Erfordernisse hinsichtlich ihres je spezifischen Beitrags zum Fortbestand und Problemlösungshandeln derGruppe unterscheidet. Parsons universalisiert Bales' induktives Klassifikationsschema durch Abstraktion auf funktionale Erfordernisse, die injeder Art von Handlungssystem auftreten und begründet deduktiv ausGrundannahmen der allgemeinen Theorie umweltoffener, zielverfolgender Systeme, dass und warum genau diese vier funktionalen Erfordernisse erfüllt sein müssen, damit sich ein Handlungssystem dauerhaftreproduzieren kann. (Schimank 1996, 93 ff.) Im Kontext des allgemeinen System-Umwelt-Schemas lassen sich die verschiedenen Grundfunktionen wie folgt definieren:
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• Adaptation (A) bezieht sich auf die Bereitstellung generellerRessourcen und Kapazitäten, durch die das System auf einenmehr oder weniger weiten Bereich von veränderlichen Bedingungen und Anforderungen eingestellt ist und die somit ein flexibles und realistisches Reagieren des Systems ermöglichen sollen.
• Goal-Attainment (G) unterscheidet sich von der Anpassungsfunktion dadurch, dass es hier um die Herstellung partikularerSystem-Umwelt-Beziehungen im Hinblick auf kurzfristig angestrebte Zustände geht. Dies impliziert eine Verwendung adaptiver Kapazitäten rur spezifische Ziele und Bedürfnisse.
• Integration (I) bezieht sich auf das Problem der Aufrechterhaltung einer inneren Umwelt, durch welche mögliche Konfliktezwischen Systemeinheiten reguliert und differenzierte Funktionen so koordiniert werden, dass sie sich im Hinblick auf dieImplementierung und Aufrechterhaltung einer Grundstrukturwechselseitig verstärken.
• Latent Pattern Maintenance (L) umfasst Strukturen und Prozesse, die auf die Aufrechterhaltung spezifischer Grenzen zu Umweltsystemen spezialisiert sind. Die situationsunabhängige undlangfristige Bewahrung einer Identität und strukturellen Integrität des Systems steht hier im Mittelpunkt.
Handlungssysteme als umwe1toffene Systeme müssen einerseits sowohlihr äußeres Verhältnis zur Umwelt als auch ihr Verhältnis zu sich selbstso gestalten, dass die Systemreproduktion gewährleistet ist und andererseits als zielorientierte Systeme sowohl zukunftsbezogen die Mittelihrer Zielverfolgung beschaffen und einsetzen als auch gegenwartsbezogen Ziele erreichen, um daraus unmittelbare Befriedigung ziehen zukönnen. Das AGIL-Schema erhält diese Fassung:
• Adaptation (Anpassung; Außen- und Zukunftsbezug): EinHandlungssystem muss sich so an seine Umwelt anpassen, dasses aus dieser Mittel seiner Zielverfolgung mobilisieren kann.
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• Goal attainment (Zielerreichung; Außen- und Gegenwartsbezug): Ein Handlungssystem muss in seiner Umwelt selbst gesetzte Ziele verfolgen und erreichen.
• Integration (Innen- und Gegenwartsbezug): Ein Handlungssystem muss, um in der Umwelt Ziele verfolgen und erreichen zukönnen, intern seine Strukturen und Prozesse beständig entsprechend untereinander abstimmen.
• Latent pattern maintenance (Bewahrung latenter Strukturen; Innen- und Zukunftsbezug): Ein Handlungssystem muss zur dauerhaften Gewährleistung seiner inneren Ordnung generalisierteund unhinterfragte - deshalb latente - Ordnungsmuster ausbilden und aufrechterhalten.
Durch wiederholte Anwendung des AGIL-Schemas lassen sich dieConditio humana (das System der anthropologischen Grundfaktorenmenschlichen Handeins), das Allgemeine Handlungssystem und dasSoziale System sukzessive gliedern. Das soziale System entwickelterGesellschaften enthält als Subsysteme das ökonomische, politische,Gemeinschafts- und das sozialkulturelle System, die jeweils durch dieMedien Geld, Macht, Einfluss und Wertcommitment gesteuert werden.
1.2 Sozialer Austausch und Wandel durch Differenzierung
Im Vergleich zum stets partikularen und in der Zeitdimension begrenzten Entscheidungshorizont interaktiv verbundener Akteure ist die gesellschaftliche Definition von Sinn und die institutionelle Rahmung desHandeins relativ unabhängig von den Orientierungen konkreter Akteure, den spezifischen Objekten und Modi des sozialen Austauschs wieZ.B. von der Anwesenheit aller oder von einer auf die beteiligten Persönlichkeiten und auf spezifische Objekte eingestellten Kommunikationsform. Das heißt: Gesellschaftlicher Austausch vollzieht sich, vonden Akteuren aus gesehen, indirekt und in generalisierter Form. Generalisierter Austausch bedeutet, dass sich die Akteure allgemein verstandener und akzeptierter Tauschmedien bedienen können; Objekte
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des Austauschs sind allgemeine Rechte und Ansprüche, die für bestimmte "Güter" geltend gemacht werden können.
Das theoretische Instrumentarium der Parsonsschen systemischenAustauschtheorie lässt sich durch folgende Konzepte beschreiben. (vgl.Saurwein 1988, 76 ff.)
(1) Austausch wird in Form von Input-Output-Kategorien, Faktorund Produktbeziehungen zwischen Subsystemen thematisiert.Das Input-Output-Schema wird dabei auf das generelle VierFunktionen-Paradigma, das AGIL-Schema, bezogen. Systemekönnen nur Leistungen für andere erbringen, wenn diese zuvordurch die Mobilisierung von Ressourcen und deren Transformation entstanden bzw. "produziert" worden sind. "Entstehung"und "Verwendung" funktional signifikanter Leistungen implizieren eine Doppelung der Kreislaufbeziehungen, da jedes Systemsowohl "Faktoren" aus seiner Umwelt bezieht bzw. an diese abgibt als auch in einem "Produktenaustausch" mit seiner relevanten Umwelt steht. "Faktoren" sind Einsatzmittel, die zur Entstehung einer systemspezifischen Leistung benötigt werden, "Produkte" jeweils die "Ergebnisse" der systemspezifischen "Produktion", die in anderen Systemen "verwendet" (konsumiert)werden. Die Input-Output-Perspektive analysiert Austauschprozesse nicht von den Intentionen oder Motiven der involviertenAkteure her, sondern von den Konsequenzen für die beteiligtenSysteme und ihrer Relation zueinander. Da nun "Produkte" nichtvon den gleichen Einheiten abgenommen und konsumiert werden müssen, die zu ihrer Bereitstellung durch entsprechende Inputs beigetragen haben, lassen sich Austauschbeziehungen nichtlänger als Form direkter Tauschbeziehungen konzipieren. Austausch wird vielmehr vermittelt über intermediäre Mechanismen,die als generalisierte Medien des Tauschs fungieren.
(2) Die horizontale Differenzierung zwischen verschiedenen Bezugssystemen wird mit dem Konzept der strukturellen Differenzierung von Systemen in Subsysteme begründet. Das Konzeptdes funktionalen Primats und die These von der strukturellen
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Differenzierung als Ergebnis einer vergleichenden historischenTypisierung globaler Entwicklungstendenzen stellen eine ArtBrückenprinzip dar, das die analytische Ebene des Modells mitder empirischen Ebene verbindet. Die Frage, durch welche Prozesse strukturelle Differenzierung in Gang gesetzt wird bzw. zueiner "erfolgreichen" Reorganisation sozialer Strukturen führt,wird im Verlauf von Parsons' Theorieentwicklung zu Strukturwandel und sozialer Evolution unterschiedlich beantwortet. Inden späteren evolutionstheoretischen Arbeiten wird der Begriffder strukturellen Differenzierung (G) nicht mehr als Leitlinie aller gesellschaftlichen Entwicklung, sondern als ein Grundtyp neben anderen verstanden, die innerhalb des allgemeinen Analyseschemas als adaptive Standardanhebung (A), Inklusion (1) undWertgeneralisierung (L) bezeichnet werden. Die Prozesstypenbilden ein interdependentes Netz von Entwicklungslinien, die imkonkreten Fall in unterschiedlichen Systembeziehungen lokalisiert und in unterschiedlicher Gewichtung und Kombination inempirischen Mustern identifiziert werden sollen.
(3) Die vertikale Differenzierung zwischen Systemebenen, Strukturkomponenten und Prozessen wird als kybernetische Kontrollhierarchie formalisiert. Durch das Konzept der kybernetischen Kontrollhierarchie wird die multidimensionale Analytik des Funktionenschemas mit einem analytischen Mehrebenenmodell verbunden. Dabei lässt sich der Charakter der normativen Steuerungkybernetisch als informationale Steuerung auffassen, wobeiSteuerung jedoch nicht nur als Eingrenzung oder Unterdrückung"spontaner" Bewegungsabläufe, sondern auch als Freisetzenenergetischer Handlungsfaktoren für bestimmte "Systemziele"zu interpretieren ist. Während Information auf die Aufrechterhaltung von Differenzen oder differenzierten Strukturen gerichtetist, zielt Energie auf den Ausgleich von Differenzen und dieAuflösung von Unterschieden. In differenzierten Gesellschaftenbilden die politischen und ökonomischen Interessen individueller oder kollektiver Akteure die zentralen Momente sozialer
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Energie, während gesellschaftliche Werte und Normen primär informationale Bedeutung haben. Werte und Normen werden abernur dann zu empirisch relevanten Faktoren sozialer Organisation, wenn sie energetische Faktoren in bestimmter Weise bindenkönnen. Eine solche Bindung findet durch Prozesse der Institutionalisierung und Internalisierung normativer Strukturen statt.Institutionalisierung bedeutet nicht nur Spezifikation des Inhaltsvon kulturellen Bedeutungsmustern, sondern schließt die partielle Reinterpretation des Bedeutungsgehalts im Lichte veränderlicher Handlungsbedingungen und Zieldefinitionen ein. Einerseitsbesteht der hierarchische Aspekt des kybernetischen Kontrollschemas darin, dass die informationale Kontrolle verschiedeneStufen der Spezifikation durchläuft, während andererseits in umgekehrter Richtung eine Hierarchie der energetischen Wirksamkeit von informationalen Faktoren besteht. Betrachtet man dasAustauschschema unter dem Aspekt der vertikalen Vernetzung,dann übernehmen das sozialkulturelle Subsystem und das Gemeinschaftssystem der Gesellschaft die Steuerung des ökonomischen und des politischen Subsystems. Unter "Steuerung" ist jedoch keine vollständige Determination der untergeordnetendurch übergeordnete Strukturen zu verstehen, sondern die Steuerung erfolgt durch Begrenzungen der Variationsbereiche untergeordneter Systeme. Danach sind Systeme von niedriger Energie, aber höherer symbolischer Geordnetheit, auf Energiezuflüsse unterer Systeme angewiesen, dadurch aber gleichzeitig derTendenz ausgesetzt, dass Differenzen abgebaut werden.
(4) Die Frage der Integration und Kompatibilität unterschiedlicherAustauschsysteme wird als Gleichgewichtsproblem behandelt.Durch das Gleichgewichtskonzept erhalten die Prozesse des Austauschs zwischen den funktionalen Subsystemen einen einheitlichen Bezugspunkt, durch den der Grad der Geordnetheit undKompatibilität der Interrelationen ausgedrückt werden soll.Hierbei ist von zwei unabhängigen Größen auszugehen: Systemzustände werden zum einen durch die Veränderung der Relatio-
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nen zwischen Input- und Outputgrößen bestimmt. Zum anderenstellen generalisierte Interaktionsmedien, die diese Austauschprozesse steuern, eine eigenständige Quelle von Veränderungendar, da hierdurch die Allokation und die Geschwindigkeit desUmschlags der realen Ressourcen gelenkt werden. Die Definition eines gleichgewichtigen, selbstregulativen sozialen Systemsstellt lediglich eine Idealisierung dar, die eher negativ umschreibt, wie sich Prozesse entwickeln würden, wenn nichts ihreDynamik beeinflusste, und besitzt Bedeutung allein als Ausgangspunkt für die Frage nach den Bedingungen von zu beobachtenden empirischen Ungleichgewichten und Ungleichzeitigkeiten. Das Modell der Selbstregulation im kybernetischenGleichgewichtssystem betont erstens die Verknüpfung von symbolischen und "realen" Faktoren in sozialen Steuerungsprozessen, erlaubt zweitens die Analyse von Ungleichzeitigkeiten("leads" und "lags") zwischen dem Eintreten einer "Störung"und dem Einsatz korrigierender Steuerung und lenkt drittens dieAufmerksamkeit auf die "Dosierung", mit der die Steuerung erfolgt.
1.3 Steuerung durch Geld, Macht, Einfluss, Wertbindungen
Der für unseren Zusammenhang relevante Aspekt sozialer Medien liegtdarin, dass sie als Steuerungsgrößen für reale Prozesse fungieren undgleichzeitig deren Produkt darstellen, d.h. sie werden im Verlauf vonInteraktionsprozessen generiert. Die Generierung von Medien unterliegt Bedingungen, die sie von realen Wertschöpfungsprozessen abkoppeln, so dass sie nicht notwendig einer Nullsummenkonstanz unterworfen sind.
Parsons unterscheidet Geld, Macht, Einfluss und Wertbindungen alszentrale Medien auf der Ebene des sozialen Systems, die jeweils imökonomischen, politischen, gemeinschaftlichen bzw. sozialkulturellenSubsystem verankert sind und die als operative Mechanismen betrachtet werden, durch die die primären Funktionen des betreffenden Sys-
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tems bzw. Subsystems erfüllt werden. Er unterscheidet die Medienprimär durch den normativen Code, der ihrer Institutionalisierungzugrunde liegt und der den Erwerb, die Verwendung und Weitergabevon Medien regelt. Die Codestruktur eines Mediums enthält zwei Aspekte: Einerseits die Abgrenzung eines zentralen Wertprinzips, durchdas die spezifische Funktion des betreffenden Subsystems definiertwird und das den symbolischen Bezugsrahmen für die Operation desMediums abgibt; andererseits die Definition eines zentralen Koordinationsstandards, der als normative Bezugsgröße für die Entscheidungüber die "richtige" Verwendung des betreffenden Mediums fungiert.Weitere Merkmale zur Unterscheidung der Medien bilden ihre Einbettung in einen speziellen institutionellen Kontext, der als System vonRegeln aufgefasst werden kann, durch die einerseits die Absicherungder allgemeinen Akzeptanz, andererseits normative Grenzen des legitimen Gebrauchs des Mediums festgelegt werden, und schließlich auchdie Weise der Wertbemessung, in der ein Medium Werte symbolisiertund vergleichbar macht.
Geld drückt den Nutzwert eines Objekts in monetären Einheiten aus,wobei Nutzen nicht eine Eigenschaft des Objektes selbst, sondern dessen relative Relevanz für die Sicherstellung von gewünschten Niveausder Bedürfnisbefriedigung bezeichnet. Die Bewertung von Wertenkann hier auf einer metrische Skala abgebildet werden und der Standard der "Solvenz" oder Liquidität stellt ein normatives Kriterium desin Geld bewertbaren Erfolgs ökonomischer Aktivitäten dar, der sichnicht notwendig auf die Erzielung eines maximalen Gewinns, sondernzunächst einmal nur auf die Aufrechterhaltung einer generellenTauschbereitschaft bezieht.
Macht wird verstanden als generalisierte Kapazität, kollektive Leistungspflichten zu aktivieren bzw. Entscheidungen kollektiv verbindlichdurchzusetzen. Macht ist institutionell verankert in einem System vonRegeln, durch den der legitime Erwerb von Macht, die Teilnahme anMacht und der Umgang mit Macht definiert ist. Die zentrale Wertbedeutung des Mediums liegt hier auf der "Effektivität"; Leistungen werden hier einem kollektiven Bewertungsprozess unterworfen, wobei es
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in erster Linie um die strategische Bedeutung von Alternativen für einbestimmtes, kollektives Ziel geht. Zentraler Koordinationsstandard istdie "Befolgung" verbindlicher Entscheidungen bzw. die Einwilligungin die hiermit verbundenen Leistungsverpflichtungen. Die quantitativeDimension politischer Macht besteht im Ausmaß der Selektivität dergesetzten Prioritäten.
Einfluss operiert auf der Basis einer Prestigeordnung, deren primäresWertprinzip die Aufrechterhaltung solidarischer Beziehungen oder derAusgleich interner Spannungen zwischen Handlungseinheiten ist. DieBeiträge zur Implementierung dieses Wertmusters werden am Kriterium der Herstellung konsensueller Abstimmung gemessen. Konsenswird hergestellt durch die gemeinsame Akzeptierung von informalenund formalen Regeln und ihre Anwendung auf konkrete Fälle und Situationen. Es geht um ordinale Vergleiche des Rangs unterschiedlicherAnsprüche bzw. gesellschaftlicher ZielbÜlldel.
Wertbindungen stellen ein Medium dar, welches - gestützt auf einemoralisch sanktionierte Ordnung - Austauschprozesse durch die wechselseitige Verpflichtung zur Befolgung gemeinsamer Werte vermittelt.Die Signalisierung gemeinsamer Wertverpflichtungen ist jedoch nichtmit der konkreten Realisation zu verwechseln, sondern umschreibt eineallgemeine Verpflichtung, im Sinne gemeinsamer moralischer Werte zuhandeln bzw. sich daran zu orientieren. Das zentrale Wertprinzip beruhtdaher nicht auf der Evaluation wünschenswerter Zustände, sondern aufder Bewahrung der Integrität des Wertmusters als Voraussetzung weiterer Implementation. Erfolgskriterium für die Integrität von Wertmustern bildet die Beurteilung von Wertmustern nach ihrer inneren Konsistenz.
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1.4 Mönchs Umformung des AGIL-Schemas
In seiner symbol- und handlungstheoretischen Umformulierung desAGIL-Schemas geht Mönch zunächst abstrakt von Faktoren aus, diedie Vorhersagbarkeit von Ereignissen bestimmen. Dabei spielen zweiVariablen eine Rolle, zum einen die Komplexität der Antezedenzienund zum anderen die Kontingenz der Konsequenzen.
Die Ereignisse der Realität variieren von vollkommener Unvorhersagbarkeit zu vollkommener Vorhersagbarkeit. Die Vorhersage vonEreignissen geht von Antezedenzien aus, die zur Voraussage bestimmter Konsequenzen Anlass geben. Beide können im Grad ihrer Geordnetheit variieren, die Antezedenzien nach der Zahl von Ereignissen vonniedrigster zu höchster Komplexität, die Konsequenzen nach der Zahlmöglicher Folgeereignisse von niedrigster zu höchster Kontingenz. Ausder wiederholten Kreuztabellierung von niedriger und hoher Komplexi- .tät von Antezedenzien und niedriger und hoher Kontingenz von Konsequenzen entsteht ein in sich beliebig differenzierbares Vierfelderschema als Bezugsrahmen zur analytischen Ordnung der Realität. Es ergeben sich folgende vier Felder:
• Hohe Komplexität von Antezedenzien und hohe Kontingenz vonKonsequenzen.
• Hohe Komplexität von Antezedenzien und niedrige Kontingenzvon Konsequenzen.
• Niedrige Komplexität von Antezedenzien und hohe Kontingenzvon Konsequenzen.
• Niedrige Komplexität von Antezedenzien und niedrige Kontin-genz von Konsequenzen.
Bei der Anwendung dieses Ordnungsschema auf menschliches Handelnkönnen wir davon ausgehen, das sich die Relation von Antezedenzienund Konsequenzen im Verhältnis von Zeichen und daran orientiertenHandlungen äußert. Menschliche Handlungen werden als sinnhafteEreignisse durch Symbole und Interpretationen gesteuert. Handeln isteinerseits an Symbolen mit hoher oder niedriger Komplexität orientiert
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und ist andererseits stets eine mehr oder weniger kontingente Reaktionauf Symbole.
Die Zeichen bilden die Symbolwelt, die nach der Zahl diskreterSymbole von niedrigster zu höchster Komplexität variiert. Die Handlungen stellen die Handlungswelt dar, die nach der Zahl möglicherHandlungen von niedrigster zu höchster Kontingenz reicht. Auch diesebeiden Dimensionen lassen sich zur Aufstellung eines in sich differenzierten Ordnungsschemas beliebig wiederholbar kreuztabellieren. DieGrunddifferenzierung ergibt nach Münch (1991,336 f.) folgendes Vierfelderschema:
• Hohe Symbolkomplexität / hohe Handlungskontingenz.• Hohe Symbolkomplexität / niedrige Handlungskontingenz.• Niedrige Symbolkomplexität / hohe Handlungskontingenz.• Niedrige Symbolkomplexität / niedrige Handlungskontingenz.
Auf der Ebene der Objekttheorie kann dazu ein Bezugsrahmen von vierFaktoren formuliert werden, welche das Handeln jeweils in eines dieserdiskreten Handlungsfelder leiten:
Mittel erhöhen die Variabilität und Adaptivität des Handeins, erlauben die Verbindung von höchster Symbolkomplexität und höchsterHandlungskontingenz und bewirken eine Öffnung der Handlungsmöglichkeiten. (Feld der Adaptivität des Handelns (A) nach dem Prinzipder Optimierung von Zielen)
Ziele geben dem Handeln Gerichtetheit, reduzieren dadurch dieHandlungskontingenz trotz denkbarer symbolischer Alternativen undbewirken eine Spezifikation der Handlungsmöglichkeiten. (Feld derGerichtetheit des Handeins (G) nach dem Prinzip der Realisierung undMaximierung von Zielen)
Normen ergeben die Regelhaftigkeit von Handeln. Hier wird dieSymbolwelt normativ vereinfacht und gleichzeitig eindeutig das mitden Normen konforme Handeln bestimmt mit der Wirkung einerSchließung der Handlungsmöglichkeiten. (Feld der Identität bzw. Integration des Handeins (I) nach dem Prinzip der Konsistenz zu einemBezugsrahmen)
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Symbolische Bezugsrahmen verleihen dem Handeln Identität. DieSymbolwelt wird durch Abstraktion vereinfacht, aber die Kontingenzdes darunter subsumierbaren HandeIns bleibt hoch mit der Wirkungeiner Generalisierung der Handlungsmöglichkeiten. (Feld der Strukturiertheit des HandeIns (L) nach dem Prinzip der Konformität zu Normen) (vgl. Münch 1984, 32 f.)
Die vier Faktoren lassen sich damit in einem Koordinatensystemordnen, bei dem die Komplexität von Symbolen die Ordinate und dieKontingenz des Hande1ns die Abszisse bilden und in dem sich die formalen Strukturen von Objektbereichen jeder Art nach dem Grad ihrerGeordnetheit klassifizieren lassen. Der höchste Grad an Ordnung ergibtsich dabei - im Gegensatz zu Parsons - im integrativen System, da hohe Ordnung durch niedrige Symbolkomplexität und Handlungskontingenz definiert ist. Damit modifiziert Münch Parsons' kybernetischeHierarchie steuernder und konditionierender - bei Münch: dynamisierender - Faktoren entscheidend: Die Subsysteme des Handlungssystems lassen sich nach Münch damit letztlich überhaupt nicht mehr ineiner Hierarchie ordnen, und das Modell des Handlungsraums bringtwesentlich präziser ihre Beziehung untereinander und die Art ihrerWirkung auf das Handeln zum Ausdruck.
In Münchs Interpretation des AGIL-Schemas umfasst das Sozialsystem als Handlungsbereiche den ökonomischen Tausch, der den Handlungsraum erweitert (A), das politische Machthandeln, das den Handlungsspielraum spezifiziert (G), das den Handlungsraum schließendeGemeinschaftshandeln (I), und den Diskurs, der den Handlungsraumgeneralisiert (L). (vgl. Wenze11990, 45 ff.) Dabei lassen sich die Teilsysteme entsprechend ihrer Lage im Koordinatensystem von Symbolkomplexität und Handlungskontingenz nach ihrem Ordnungsgrad indynamisierende und steuernde Systeme unterscheiden - je höher derGrad der Unordnung in einem Subsystem, umso größer ist seine dynamisierende Wirkung, und je größer seine Ordnung, desto größer ist seine steuernde Wirkung - und dadurch in ihrem Verhältnis zueinanderbestimmen.
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Danach besitzen der Latent Pattern Maintenance- und der Goal Attainment-Bereich sowohl dynamisierende als auch steuernde Wirkung,während der Adaptions-Bereich die größte dynamisierende Wirkungund der Integrations-Bereich den größten steuernden Einfluss besitzt.
Als Formen der Beziehung zwischen den Systemen lassen sich unterscheiden: die Interpenetration (wechselseitige Beeinflussung unterErhaltung der Spannung zwischen Systemen), die Dominanz steuernderüber dynamisierende Systeme (z.B. der Gemeinschaft über die Wirtschaft), die Anpassung steuernder an dynamisierende Systeme, ihregegenseitige Isolierung, ihre Versöhnung ohne wechselseitige Beeinflussung und ihr ungeregelter Konflikt. (vgl. Jäger/Meyer 2003, 135)
Eine Lösung des Problems der sozialen Ordnung hält MÜllch (ganzauf der Linie von Parsons) nur durch normativen Konsens für möglich. Sein Begriff der Interpenetration ermöglicht eine Fassung desVerhältnisses von Handlung und Ordnung in einer dem entwickeltenSystemfunktionalismus adäquaten Weise. Handeln ist danach nichtnur Kompositum multipler Systemreferenzen, sondern auch von Austauschprozessen zwischen den analytisch abgegrenzten Systemen als einer Stufe der Ordnung zweiten Grades. (vgl. Wenzel 1990, 47)
Subsysteme und Steuerung durch Medien
Eine systemtheoretische Erweiterung erhält die Handlungstheorie,wenn nach den Handlungsfeldern im Handlungsraum Subsysteme undihre jeweiligen Umwelten aufgegliedert werden. Durch die wiederholteAnwendung dieses Ordnungsschemas kann das menschliche Handelnin sich und in seiner Umwelt als ein Komplex interdependenter Subsysteme begriffen werden, die sich durch besondere Elemente, Strukturenund Prozesse und durch die Erfüllung spezifischer Funktionen im Gesamtsystem auszeichnen. Die Prozesse innerhalb der Systeme und dieVernetzung der Systeme werden durch zirkulierende Medien gesteuert,die in einem System beheimatet sind, aber über dessen Grenzen hinausdessen Leistungen als Faktoren und Produkte in die anderen Systemehineintransportieren. Für die Medien gibt es Orientierungskategorien
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und Bewertungsstandards, Sinnmuster und Wertstandards, Wertprinzipien und Koordinationsstandards. (vgl. Münch 1991,337)
Das soziale System umfasst die folgenden vier Subsysteme:
Cl) Das ökonomische System ist durch Märkte und TauschhandeInbei Kalkulation von Nutzen oder Gewinn bestimmt. Das ökonomische Handeln ist am Prinzip der Optimierung verschiedenerZiele orientiert. Es wird durch Geld, geregelt in einer Eigentumsordnung, gesteuert. Das ökonomische System erfüllt dieFunktion der Anpassung und der Öffnung des Handlungsspielraums durch die Mobilisierung von Ressourcen und die Allokation von Ressourcen und Präferenzen nach dem Prinzip desgrößtmöglichen Gesamtnutzens bei hoher Symbolkomplexitätund hoher Handlungskontingenz (A). Viele Quellen stellen eineRessource bereit, und eine Ressource kann zu vielen Zweckenverwendet werden. Auf dem Markt kann Beliebiges nachgefragtwerden, und mit dem Angebotenen kann Beliebiges getan werden. Das Wertprinzip des Geldes ist Nützlichkeit, der Koordinationsstandard ist die Solvenz von Wirtschaftsunternehmen.
(2) Das politische System umschließt Herrschaft und Konflikthandeln. Das politische Handeln ist am Prinzip der Maximierungund Realisierung eines Zieles orientiert; es wird durch politischeMacht, geregelt in einer Herrschaftsordnung, gesteuert. Das politische System erfüllt die Funktion der Zielverwirklichung undder Spezifikation des Handlungsspielraumes durch die Selektionund Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen beihoher Symbolkomplexität und niedriger Handlungskontingenz(G). Es können viele Alternativen gedacht werden, aber nur einewird verbindlich durchgesetzt. Das Wertprinzip politischerMacht ist politische Effektivität im Sinne von Entscheidungsfähigkeit, der Koordinationsstandard ist die Akzeptanz und Befolgung von Entscheidungen.
(3) Das sozial-kulturelle System umschließt Diskursstruktur undKommunikation. Diskurse werden mit Argumenten (Wertcom-
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mitments), geregelt in einer Diskursordnung, geführt. Das kommunikative Handeln ist am Prinzip der Konsistenz zu einer Ideeorientiert. Es wird durch Sprache gesteuert, geregelt in einergrammatischen Ordnung. Das sozial-kulturelle System erfüllt dieFunktion der sozial verbindlichen Symbolkonstruktion als eineKonkretisierung der Funktion der Bewahrung latenter Strukturenund der Generalisierung des Handlungsspielraums bei niedrigerSymbolkomplexität und hoher Handlungskontingenz durch diesoziale Konstruktion von Sinnmustem (L). Ein und dasselbe intersubjektiv definierte Sinnmuster ist in vielen sozialen Interpretationen und Handlungen verkörpert. Das Wertprinzip von Sprache bzw. von Argumenten (Wertcommitments) ist die Integritätvon Sinnmustem, der Koordinationsstandard ist die Konsistenzvon Symbolsystemen.
(4) Das Gemeinschaftssystem ist auf gegenseitige Verbundenheitgegründet, die durch das Commitment zu einer Gemeinschaftund ihren Normen (Einfluss), geregelt in einer Gemeinschaftsordnung, gesteuert wird. Das Gemeinschaftssystem beruht aufVereinigung und Vereinigungshandeln. Letzteres ist am Prinzipder Konformität zu gemeinsamen Normen orientiert und wirddurch Reputation, geregelt durch eine Reputationsordnung, gesteuert. Das Gemeinschaftssystem erfüllt die Funktion der Solidaritätserhaltung als eine Konkretisierung der Funktion der Integration und der Schließung des Handlungsspielraums bei niedriger Symbolkomplexität und niedriger Handlungskontingenzdurch die Sicherung von Solidarität, Zusammenhalt, Kooperation und gegenseitiger Unterstützung (1). In einer Gemeinschaftdefiniert eine gemeinsame Norm genau ein Handeln als verbindlich. Das Wertprinzip von Commitments (Einfluss) bzw. Reputation ist die Solidarität der Gemeinschaftsmitglieder, der Koordinationsstandard ist der soziale Konsens. (vgl. Münch 1991,340)
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Interpenetration und Differenzierung
Man kann die gesellschaftlichen Funktionsprobleme ordnen, indemman das Gesellschaftskollektiv im Handlungsraum der Conditio humana betrachtet, deren vier analytisch trennbare Dimensionen entsprechende Dimensionen der Umwelt der Akteure bilden, nämlich dieUmwelten der physiko-chemischen Prozesse bzw. "materiellen Gegebenheiten" (A), der Zielsetzungen anderer Akteure (G), der Konfliktezwischen Kollektiven und zwischen Individuen innerhalb der Gesellschaft (I) und der transzendentalen Bedingungen der Sinnkonstitutiondes menschlichen Handeins (L). Diese Umwelten stellen die Gesellschaft vor verschiedene Probleme, vor die Probleme der materiellenRessourcenversorgung, der kollektiven Entscheidungsfindung und durchsetzung, der kollektiven Solidaritätserhaltung und der Konstitution von Sinn in der Gesellschaft. Eine Bewältigung dieser Problemeerfordert eine verstärkte Interaktion der Gesellschaft mit der jeweiligenUmwelt, die als Interpenetration bezeichnet werden kann. In diesemFall wirkt die Umwelt durch ihre Problemstellungen auf die Gesellschaft als korporativer Akteur ein, und die Gesellschaft wirkt ihrerseitsdurch die Herausbildung besonderer regelmäßiger, institutionalisierterHandlungen auf die Umwelt ein und formt diese, ohne deren unabhängige Existenz jedoch zu beseitigen. Die entsprechenden regelmäßigenHandlungen bilden Subsysteme, die zwischen der Gesellschaft und denbesonderen Dimensionen der Umwelt als Interpenetrationszonen vermitteln - das ökonomische, politische, gemeinschaftliche und sozialkulturelle Subsystem der Gesellschaft.
Als "Interpenetration" wird dabei ein Vorgang bezeichnen, in demein (kollektiver) Akteur so in die Umwelt hineinwirkt und die Umweltso in das Handeln des (kollektiven) Akteurs, dass sich beide gegenseitig an den Randzonen umformen, ohne ihren Kern gegenseitig zu verändern. Je stärker die Randzonen ausgeprägt sind, umso mehr bildensie abgrenzbare Subsysteme, die zwischen (kollektivem) Akteur undUmwelt vermitteln; je enger sie selbst miteinander verbunden sind,umso mehr formen sie zusammen ein Subsystem, das Aspekte des (kollektiven) Akteurs und Aspekte der Umwelt in sich vereinigt.
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Haben sich auf die geschilderte Weise zwischen den Kern der Gesellschaft und ihre Umwelt in den vier abgrenzbaren Dimensionen diegenannten Systeme als gesellschaftliche Subsysteme geschoben, dannkann der Prozess der Interpenetration auf höherer Stufe erneut beginnen. Je mehr sich die Subsysteme in der Bewältigung ihrer besonderenProbleme verselbständigt haben, umso mehr treten sie sich selbst einander als Umwelten gegenüber, und umso drängender wird das Problem der Vermittlung zwischen ihnen. Die gesellschaftlichen Subsysteme verfugen über eigene Werte, Normen, Rollen und tragende Kollektive. Die Interpenetration dieser gesellschaftlichen Subsysteme erfordert nun die Interaktion ihrer Rollenträger und tragenden Kollektive. Jeregelmäßiger diese Interaktionen, z.B. in gemeinsamen Gremien, ablaufen, umso mehr formen sie selbst Subsysteme zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen. Zwischen die Subsysteme schieben sich aufdiese Weise neue Subsysteme. Bei Vollendung dieser Entwicklung hatsich die Gesellschaft von vier Grundsystemen in sechzehn feinere Subsysteme differenziert; die geschilderte Art der Differenzierung ist alsein Ergebnis von Interpenetration zu erklären. Am Anfang steht die(externe) Interpenetration von Gesellschaft und Umwelt, die zunächstzur Differenzierung in vier Grundsysteme fuhrt, deren (interne) Interpenetration wiederum die weitere Differenzierung in sechzehn Subsysteme bedingt. Dabei handelt es sich um eine Differenzierung unter Bewahrung von Integration. Gesellschaft und Umwelt werden dabei überimmer weitere und feinere Ketten verknüpft. Durch weitere externe undinterne Interpenetration kann sich der Prozess der Differenzierung vonSubsystemen bei Erhaltung der Integration letztlich unbegrenzt fortsetzen. (vgl. Münch 1982, 109-123)
Normatives Wertmuster der Moderne
Die normative Idee, die hinter dem Konzept der Interpenetration steht,ist die Idee der Modeme, die sich selbst wiederum durch die Vereinigung von an sich gegensätzlichen Wertideen in einem zusammenhängenden Wertmuster auszeichnet. Die konstitutiven Ideen sind diejeni-
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gen der Solidarität, Freiheit, Rationalität und aktiven Weltgestaltung.Entstanden ist das Wertmuster durch Verknüpfung der Traditionsstränge der aufklärerischen Rationalität, der bürgerlichen Freiheit, des protestantischen innerweltlichen Asketismus und des angelsächsischenKonstitutionalismus. Die Verbindung von Solidarität und individuellerFreiheit kann als institutionalisierter Individualismus, diejenige vonRationalität und aktiver Weltgestaltung als methodisch-rationaler Aktivismus bezeichnet werden.
Die allgemeine Gültigkeit dieses normativen Musters muss sich darin erweisen, dass dessen korrekte Anwendung eine Ordnung des Handelns und eine entsprechende Regelung von Konflikten mit größererReichweite gewährleistet als jedes andere normative Muster, insbesondere ohne jede manipulative Unterdrückung von Konflikten. SeineÜberlegenheit gegenüber Alternativen muss sich in der größeren Fähigkeit äußern, die verschiedensten Handlungsbereiche in eine zusammenhängende Ordnung zu integrieren. Falsifikationsinstanzen sind hierFälle, in denen die korrekte Anwendung des normativen Musters selbstKonflikte erzeugen und Ordnung auflösend wirken würde. Soweit dasnormative Muster der Modeme sich gegen entsprechende Falsifikationsversuche bewähren kann und in diesem Sinne alternativen Musternüberlegen ist, kann ihm eine universellere kulturelle Gültigkeit zugeschrieben werden.
Eine voluntaristische Ordnung (wir gehen noch genauer darauf ein)muss die menschliche Willensfreiheit in das Ordnungskonzept einschließen. Die Verknüpfung von Voluntarismus und sozialer Ordnungist nur möglich durch die Herausbildung von institutionellen Gerugen,in denen die gegensätzlichen Typen der Handlungsorientierung überzunehmend feinmaschigere Zwischenzonen als Träger ihrer Interpenetration miteinander verkettet werden. Hier ist der Platz, an dem dasKonzept der Interpenetration die Implementierung des modemenWertmusters zum Ausdruck bringt: die Integration von Rationalität,aktiver Weltgestaltung, Solidarität und Freiheit. Interpenetration bildetin diesem Sinn den Kern einer voluntaristischen Ordnung. Die Konstruktion von Institutionen nach dem Ideal extern und intern interpenet-
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rierender Subsysteme ist, absolut gesehen, eine aus dem interkulturellen Vergleich resultierende Übertreibung, die durch ergänzende Betrachtungen der historischen Konkretisierung in einzelnen Gesellschaften wieder relativiert werden muss.
Institutionen, welche die konstitutiven Wertideen der Modeme ineinem kohärenten Gefiige von Subsystemen implementieren, verfugen über eine voluntaristische Ordnung, die von den einseitigen Typen einer zufälligen, zwanghaften, konformistischen und ideellenOrdnung zu unterscheiden ist. Bei diesen Typen einseitiger Ordnungen handelt es sich stets auch um einseitige Konkretisierungen einzelner Ideen des modemen Wertmusters: Freiheit in der zufälligenOrdnung, aktive Weltgestaltung in der Zwangsordnung, Solidarität inder konformistischen Ordnung, Rationalität in der ideellen Ordnung.Alle diese einseitigen Ordnungen haben nur eine begrenzte regulativeKraft, die verloren geht, sobald Handlungsbereiche und -schichteninvolviert sind, die außerhalb der Reichweite der entsprechenden ordnenden Prinzipien liegen: Interessenkomplementarität, Sanktionsinstanz, solidarische Vergemeinschaftung, Vernünftigkeit. Während dieRationalisierungstheorie, wie von Weber konsequent zu Ende gedacht, im völligen Skeptizismus hinsichtlich der zukünftigen Möglichkeit von individueller Freiheit und sozialer Ordnung endet, zeigtdie Theorie der Interpenetration zugleich einen Weg zur Verknüpfungvon Freiheit, Rationalität, sozialer Ordnung und aktiver Weltgestaltung in einer voluntaristischen Ordnung auf. (vgl. Münch 1982, 2527)
Die normativen Ideen im kulturellen Wertmuster der Modeme aktive Weltgestaltung, Freiheit Rationalität und Solidarität können im VierFunktionen-Schema als Werte der Felder der Gerichtetheit (G), derAdaptivität (A), der kulturellen Identität (L) bzw. der Strukturiertheit(1) aufgefasst werden. Ihre Umsetzung in Normen erfolgt in Regeln derAusübung von Herrschaft (G), der Befriedigung von Interessen durchTausch (A), des rationalen Diskurses (L) und der gegenseitigen Verpflichtetheit von Gemeinschaftsmitgliedern (1). Im Vergleich gesehenbesteht die Besonderheit des Wert- und Normensystems der modemen
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westlichen Kultur in einer größeren Reichweite bis an die Extrempunkte des Handlungsraums und in einer festeren Integration durch Brückenzwischen den Werten und Normen der einzelnen Handlungsfelder.
Die Regeln der Solidarität bleiben nicht auf geschlossene und partikulare Gemeinschaften beschränkt (I), sondern erfahren eine kulturelleGeneralisierung zu einer universellen Solidarität (L), eine Öffnungdurch Pluralisierung (A) und eine Zweckbestimmung durch rechtlicheFormalisierung (G).
Freiheit bedeutet nicht nur situative Freiheit; die situative Freiheitwird durch den Markt und durch die Geld-Verwendung gesteigert, abersie wird durch die institutionalisierten Freiheitsrechte normativ so weitbegrenzt, dass keine Ausübung von Freiheitsrechten eines Individuumsdiejenige anderer Individuen beeinträchtigt (I); durch die persönlicheAutonomie ergibt sich eine kulturelle Generalisierung der Freiheit (L),durch Selbstbestimmung ihre Zweckspezifikation (G) und ihr Bezugzum politischen und persönlichen Handeln (A).
Rationalität ist nicht nur intellektuelle Sinnkonstruktion (L), sondernals normative Rationalität, wie sie z. B. zuerst durch das Naturrechtentwickelt wurde, mit dem Gemeinschaftshandeln verknüpft (I), durchexpressive Rationalität und professionelle Rationalität mit der Zwecksetzung und aktiven Weltgestaltung (G) und durch die kognitive Rationalität der modemen Wissenschaft mit der Freiheit im adaptiven Handeln (A).
Die aktive Weltgestaltung ist nicht einfach nur als zweckgerichteteWeltgestaltung eine durch willkürliche Zwecksetzung bestimmte instrumentelle Weltbeherrschung (G), sie ist vielmehr als normativeWeltgestaltung an die gemeinschaftliche Konsensbildung gebunden (I),als rationale Weltgestaltung der argumentativen Begründung unterworfen (L) und als adaptive Weltgestaltung :für Lernprozesse geöffnet (A).
Auf die geschilderte Weise werden die extremen Ausprägungen derWerte und Normen rur die einzelnen Handlungsfelder durch Wert- undNormverbindungen in ihren Interpenetrationszonen in einem vielfältigen Geflecht von Werten und Normen integriert. Nur auf diesem Wegekann ein Wert- und Normensystem eine Reichweite und interne Ver-
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flechtung erreichen, durch die es dem gesamten sozialen Handlungsraum eine durchgehende soziale Ordnung geben kann. Die historischeEntwicklung des hier konstruierten Wert- und Normenmusters der Modeme ist nach Analysen Webers durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren über eine lange Zeitspanne bestimmt worden,. die mitder altisraelitischen Jahwereligion begonnen hat und bis heute nichtbeendet ist. (dazu mehr bei Münch 1984,97 ff.)
Soziale Ordnung und Interpenetration
In der positivistischen Auffassung menschlichen HandeIns beruht Ordnung auf Zufall oder auf kausaler Determination. In einer umfassenderen Auffassung des HandeIns ist dagegen mit der grundsätzlichen Fähigkeit des Menschen, sowohl seine organischen Triebe als auch seineäußere Situation nach freiem Willen zu kontrollieren, zu rechnen. Werden über existierende Schichten zufällig oder kausal determiniertenHandeIns hinaus in idealistischer Auffassung Schichten der prinzipiellen Willensfreiheit in die Betrachtung einbezogen, kann auch die Ordnung des menschlichen HandeIns nicht allein auf Zufall oder auf kausaler Determination beruhen. In einer idealistischen Auffassung beruhtHandeln auf der Anerkennung entweder allgemeiner Prinzipien (rationalistische Variante) oder der konkreten Normen einer Gemeinschaft(historische Variante). Aus der Sicht des Positivismus bzw. Idealismusexistieren dann jeweils zwei Varianten, je eine freiheitliche und je einezwanghafte Variante der Lösung des Ordnungsproblems. Danach können vier Extremtypen von Ordnungen unterschieden werden:
Die zufällige utilitaristische Ordnung folgt aus situativen Interessenkonstellationen und wandelt sich ohne jede Voraussagbarkeit vonSituation zu Situation. Sie entspringt als eine freiheitliche Ordnungdem Zufall und impliziert eine äußere, situative Freiheit (freiheitlicheVariante der positivistischen Lösung),
Die Zwangsordnung basiert auf der Durchsetzungskraft einer zentralen Sanktionsinstanz. Sie folgt als eine Zwangsordnung aus kausaler
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Detennination durch äußeren Zwang (zwanghafte Variante der positivistischen Lösung).
Die ideelle Ordnung gründet auf allgemein gültigen Nonnen, die jedoch viel zu abstrakt sind, um das konkrete Handeln genügend regelnzu können. Sie ergibt sich als eine freiheitliche Ordnung aus der Rationalität allgemeingültiger Prinzipien und ennöglicht eine innere persönliche Freiheit.
Die konformistische Ordnung beruht auf der Geregeltheit des Handelns durch gemeinschaftlichen Konsens über Nonnen. Sie entsteht alseine zwanghafte Ordnung durch gemeinschaftlichen Konsens und bedeutet inneren Zwang (zwanghafte Variante der idealistischen Lösungdurch gemeinschaftliche Konsensbildung: Den Konsensus einer Gemeinschaft muss jedes Mitglied der Gemeinschaft als Mitglied akzeptieren.).
Die verschiedenen Extremtypen der Ordnung ennöglichen jedochnur unzureichende, unvollständige Lösungen des Ordnungsproblems:
Die zufallige Interessenkomplementarität als freiheitliche positivistische Lösung des Ordnungsproblems erlaubt nur die situative Freiheitund nicht die persönliche Freiheit der rationalen Kontrolle der eigenenTriebe durch das Individuum. Die zentrale Sanktionsgewalt als zwanghafte positivistische Lösung opfert die menschliche Freiheit der aufgezwungenen Ordnung. Allgemeingültige Prinzipien ennöglichen demMenschen die Freiheit von der Detennination durch unkontrollierteTriebe, die persönliche Freiheit, aber nicht die situative Freiheit vonInteressenentfaltung, wie z. B. nach dem liberalen Modell des Marktes.Allgemeingültige Prinzipien bilden im Extremfall nur eine ideelle Ordnung ohne faktische Wirkung im konkreten Handeln. Der gemeinschaftliche Konsensus unterwirft das Individuum dem Zwang der Gemeinschaft, verlangt Konfonnität und steht der individuellen situativenund persönlichen Freiheit entgegen. Er wird zur bloßen Gewohnheitohne allgemeineren Sinn, ohne Wandelbarkeit und auch ohne Durchsetzungskraft in den Sphären außerhalb des gewohnheitsmäßig Geltenden. Der gemeinschaftliche Konsens ist nur innerhalb der vergemein-
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schafteten Genossen wirksam (Binnenmoral), außerhalb jedoch völligwirkungslos (Außenmoral).
Eine Verknüpfung von Rationalität und Konsensus versucht dieKonsensustheorie der Gültigkeit, allerdings mit der Tendenz, die Rationalität auf Konsens zu stützen oder umgekehrt den Konsens auf Rationalität, wobei deren besondere Voraussetzungen verwischt werden.Außerdem wird die situative Freiheit des liberalen Marktmodells inihrer Bedeutung unterbewertet.
Von diesen einseitigen Typen ist eine Ordnung zu unterscheiden, dieauf der Verknüpfung aller vier Extremtypen beruht: die voluntaristischeals eine komplexe und kontingente Ordnung. Die voluntaristischeHandlungstheorie übernimmt die .idealistischen Lösungen des Ord-,nungsproblems als Alternativen zum Positivismus, schränkt sie in ihrerReichweite jedoch im Lichte der positivistischen Lösungen wiederumein und grenzt sich von ihnen dadurch ab, dass sie den allgemeingültigen Prinzipien und dem gemeinschaftlichen Konsens keine hinreichende motivierende Kraft rur das konkrete menschliche Handeln zuschreibt. Bedürfnisse, Interessen und Macht sind Grenzen von Vernunftund Konsens. Sie unterscheidet sich von positivistischen und idealistischen Handlungstheorien und hebt deren Lösungen des Ordnungsproblems in sich auf. Wenn wir jedoch weder die Möglichkeit von Vernunftund Konsens, wie der Positivismus, leugnen wollen, noch die Eigenständigkeit von Interessen, Bedürfnissen und expressiven Geruhlendurch ihre Unterordnung unter Vernunft und Konsens, wie der Idealismus, wegdefinieren wollen, dann müssen wir eine Lösung des Ordnungsproblems finden, die beide Positionen integriert. Es kommt aufeine Integration der gegensätzlichen Schichten des Handeins an, dieihre Eigenständigkeit und die Spannung zwischen ihnen nicht beseitigt,sondern bewahrt.
Die Lösung darur ist die Interpenetration der gegensätzlichenSchichten und die Herausbildung vermittelnder Subsysteme in den Interpenetrationszonen. Eine voluntaristische Ordnung besteht aus einemintegrierten Geruge von Regelebenen aus allen vier Extremtypen derOrdnung:
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(1) Allgemeine Nonnen und Werte dienen als Maßstäbe der Rechtfertigbarkeit konkreterer Nonnen. Diese allgemeinen Nonnenund Werte ergeben sich aus rationalen Diskursen und stellen diegenerelle überdauernde Identität einer Institution dar.
(2) Die Umsetzung der allgemeinen Werte und Normen in spezifische Regeln für spezifische Situationen bedarf besonderer Verfahren der Entscheidungsbildung. Die Verfahrensregeln selbstenthalten konkretere Bestimmungen als die allgemeinen Werteund Nonnen, sie sind jedoch im Vergleich zu den spezifischenRegeln für spezifische Situationen von fonnaler Natur. Siebestimmen die Fonn, nach der spezifischere Regeln gebildetwerden, aber nicht den Inhalt dieser Regeln. Sie sind das Gleichbleibende im Strome des ständigen Wandels der spezifischenRegeln und müssen deshalb in einem gemeinschaftlichen Konsens verankert sein.
(3) Dieser gemeinschaftliche Konsens ist stets historisch-konkretund deshalb auch partikularer und zeitlich befristeter als die generellen Werte und Normen. Die Durchführung und Durchsetzung der nach den Verfahrensregeln eingeführten spezifischenEntscheidungsregeln gegen die auf dieser Ebene stets denkbarenAlternativen müssen sich auf die Androhung oder Anwendungnegativer Sanktionen stützen. Die Sanktionsmittel müssen deshalb von der Gemeinschaft monopolisiert sein, welche die Verfahrensregeln trägt. Die Androhung und Anwendung der Sanktionen müssen selbst nach gemeinschaftlich getragenen Verfahrensregeln erfolgen.
(4) Der Wandel spezifischer Regeln ist auf die Öffnung der Entscheidungsverfahren für neue Infonnationen und veränderte Interessenlagen angewiesen. Trotz Durchsetzung der verabschiedeten spezifischen Regeln müssen Vorschläge für neue Regeln indie Entscheidungsverfahren eingebracht werden können.
Eine Ordnung mit den genannten Eigenschaften nennen wir eine voluntaristische Ordnung. Die Theorie, mit der wir das Entstehen einer solchen Ordnung erklären, bezeichnen wir als voluntaristische Handlungs-
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theorie. In diesem Sinne werden individuelle Autonomie und kulturelleAllgemeingültigkeit, individuelle Bedürfnisentfaltung und soziale Geordnetheit des Handeins miteinander vereinigt, ohne dass eine Seite deranderen untergeordnet würde. Ihre Spannung bleibt grundsätzlich erhalten. In der voluntaristischen Ordnung von Institutionen werden Idealität und Konformität, Utilität und Zwang »dialektisch« aufgehoben.Rationalität und Solidarität, aktive Weltgestaltung und Freiheit werdenentfaltet und integriert. (vgl. Münch 1984,617-622) Die Herausbildungdes Regelsystems einer voluntaristischen Ordnung des Handeins lässtsich auf der Ebene von Diskurs bzw. Konsensbildung als Prozess desAustauschs bzw. der Interpenetration zwischen rationalem DiskursÖkonomie, Politik und gemeinschaftlicher Lebenswelt analysieren.
So weit zunächst die Umformulierung Parsonsscher Kerngedankendurch MÜllch. Wir kehren jetzt zu Parsons zurück.
1.5 Ursachen der Differenzierung bzw. Evolution nach Parsons
Die Ursache für Differenzierungsvorgänge besteht in frühen Konzeptionen nach Parsons darin, dass das bisherige Differenzierungsmuster anLeistungsgrenzen stößt. Als mögliche zusätzliche Mechanismen, dieaus derartigen Leistungsdefiziten ein leistungsfähigeres neues Differenzierungsmuster erst hervorbringen könnten, kommen nach Schimank (1996, 119 ff.) Differenzierungspolitik und Evolution in Frage:
Im Fall der DijJerenzierungspolitik erkennen im Sinne einer akteurtheoretischen Fundierung von Differenzierung einsichtsvolle gesellschaftliche Akteure das funktionale Erfordernis und entwickeln einezutreffende Vorstellung darüber, durch welche Differenzierung es wiederum adäquat erfüllt werden könnte.
Im Fall der Evolution bringt diese zunächst immer wieder zufälligeVariationen von Systemstrukturen hervor, von denen viele aufgrundihrer geringen Leistungsfähigkeit schnell wieder verschwinden, manchesich jedoch als leistungsfähiger erweisen, daher überleben und evtl. auflängere Sicht das etablierte Strukturmusterverdrängen können. Evolution setzt danach keinerlei auf Problembewusstsein beruhenden Gestal-
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tungswillen voraus und ergibt so gelegentlich und rein zufällig eineLeistungssteigerung. Das neue Differenzierungsmuster erweist sichu.U. im Vergleich zum vorherrschenden als so vorteilhaft, dass anderswo das neue Muster imitiert wird und sich so in einem um sichgreifenden Diffusionsprozess allmählich gesellschaftsweit durchsetzt.
In seiner ab Mitte der 1960er Jahre entwickelten Theorie der soziokulturellen Evolution übergeht Parsons selbst das Defizit der Ursachenerklärung und behandelt Differenzierungsmuster im Rahmen der evolutionstheoretischen Fragestellung, in welchen Hinsichten gegebene historisch vorgefundene - Muster einem Gesellschaftssystem evolutionäre Vorteile verschaffen, d.h. ihm ermöglichen, sich gegenüber denHerausforderungen durch ihre natürliche Umwelt und in der Konkurrenz mit anderen Gesellschaftssystemen zu behaupten.
Die evolutionären Vorteile werden, strikt funktionalistisch, gemäßdem AGIL-Schema auf die vier funktionalen Erfordernisse gesellschaftlicher Reproduktion bezogen. Evolutionäre Vorteilhaftigkeit unterstellt dabei nicht mehr Leistungsdefizite bzw. gravierende Reproduktionsprobleme eines Musters als Bedingung rur Differenzierung bzw.gesellschaftliche Entwicklung; auch ein gut funktionierendes Musterkann trotzdem durch ein neues abgelöst worden sein, das noch besserfunktioniert.
Parsons beschränkt sich in seiner Analyse auf die wenige wichtigenDifferenzierungsmuster, sog. "evolutionäre Universalien", die in sichgeordnete Entwicklungen oder ,Erfindungen' darstellen, die fiir dieweitere Evolution so wichtig ist, dass sie nicht nur an einer Stelle auftreten, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unterganz verschiedenen Bedingungen diese ,Erfindung' machen. DerenAusbildung als Komplexe von Strukturen und entsprechenden Prozessen steigert die langfristige Anpassungskapazität von lebenden Systemen einer bestimmten Klasse derartig, dass nur diejenigen Systeme, diediesen Komplex entwickeln, höhere Niveaus der generellen Anpassungskapazität erreichen. Dabei können allerdings U.U. auch Gesellschaftssysteme, die ein bestimmtes evolutionäres Universal nicht her-
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ausbilden, neben jenen, die dieses Universal entwickelt haben, fortbestehen.
Die Einseitigkeit in dieser Bestimmung des evolutionären Universals, sich ausschließlich auf Anpassung als nur eines der vier grundlegenden Funktionserfordernisse des AGIL-Schemas zu beziehen, hatParsons bald korrigiert und evolutionäre Wandlungsvorgänge als Kopplung von Leistungssteigerungen bei der Erfüllung aller vier Funktionserfordernisse aufgefasst. Differenzierungsvorgänge können nicht fürsich stehen, sondern müssen abgestimmt und unterstützend begleitetsein durch die übrigen funktionalen Erfordernisse des AGIL-Schemas.Er analysiert Gesellschaftstypen - animalische, primitive, archaische,intermediäre, modeme Gesellschaft - auf evolutionäre Fortschritte alsinstitutionelle Entwicklungen hin, die jene mit höheren Kapazitätenausgestattet haben, verschiedene Probleme auf komplexere Weise zulösen und dadurch zum nächst höheren Typ überzugehen, als multidimensionalen Prozess in allen vier Dimensionen:
• Steigerung der strukturellen Differenzierung als Verwirklichungeines komplexen Gefüges spezifischer Ziele durch Differenzierung bestimmter funktionaler Handlungseinheiten innerhalb eines organisierten Ganzen;
• Steigerung der höhergradigen Anpassungsfähigkeit an die natürliche Umwelt als notwendige Ergänzung der Differenzierungdurch Mobilisierung knapper Ressourcen, d.h. durch kumulatives Lernen zur Entwicklung immer intelligenterer Technologienund zu immer umfassenderem, komplexerem, tieferem wissenschaftlichen Wissen auf der Basis der rationalen Kritik in Diskursen;
• Steigerung der Fähigkeit zur Integration bzw. breiteren Inklusionverschiedenster Gruppen und Individuen in eine immer komplexer werdende, aber dennoch integrierte gesellschaftliche Gemeinschaft als Evolution von Strukturen der Solidarität bis zuhöchst komplexen Formen in modemen Multi-GruppenGesellschaften im Sinne einer fortschreitenden Universalisierungvon grundlegenden Bürgerrechten und von Teilhaberechten an
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 63
den allgemein begehrten gesellschaftlichen Leistungen wie Warenkonsum, Bildung oder medizinischer Versorgung;
• Steigerung der Fähigkeit zur Wertgeneralisierung durch Herauslösung von Systemen kultureller Leitideen durch Abstraktion auskonkreten lokalen und historischen Bezugskontexten zur Gewinnung besserer Mittel zur Gründung, Legitimation und Kritik bestimmter Normen, Institutionen, Entscheidungen und Handlungen durch ein konsistentes Ideensystem in immer umfassenderenBezügen.
Differenzierung bzw. Entwicklung findet damit zudem als Annäherungder gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse an das AGIL-Schemastatt; höherstufige Gesellschaftstypen sind den vorhergehenden durchgrößere Annäherung an die Struktur des Schemas überlegen.
Evolutionäre Universalien und soziale Evolution
Die Entwicklung der verschiedenen historischen Gesellschaftstypenlässt sich damit von den frühesten Formen bis zur Moderne als Evolution nachzeichnen:
Primitive Gesellschaften, wie die australischen Aborigines, sind engum die in Form von Verwandtschaftsstrukturen institutionalisierte gesellschaftliche Gemeinschaft zentriert und weisen gegenüber animalischen Proto-Gesellschaften evolutionär fortgeschrittenere Strukturenauf:
• Menschliche Sprache, magische Religion und ein konstitutiverSymbolismus, die zusammen eine gemeinsame Identität schaffen. (Strukturerhaltung)
• Rituale und Solidaritätsstrukturen auf der Grundlage von verzweigten und komplex geregelten Verwandtschaftsstrukturen(Blutsverwandtschaft und speziellen Heiratsregeln), die einegrößere Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern zuverlässig zurKonformität anhalten können. (Integration)
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• Fortgeschrittenere gesellschaftliche Arbeitsteilung nach Geschlechts- und Alterskategorien. (Zielerreichung)
• Fortgeschrittenere Werkzeuge bzw. Technologien im Umgangmit natürlichen Ressourcen und Gefährdungen der Umwelt.(Anpassung)
• Höhere Formen primitiver Gesellschaften, wie die afrikanischenKönigreiche, haben einen höheren Abstraktionsgrad des Glaubenssystems erreicht, eine komplexere gesellschaftliche Gemeinschaft, die aus verschiedenen Clans besteht, eine komplexere Arbeitsteilung sowie eine höher entwickelte Technologie.
Die Überwindung der Stufe primitiver Gesellschaften erfolgte durchdas Aufkommen von zwei evolutionären Universalien: sozialer Schichtung als Erweiterung der Strukturierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und - die erste unterstützend - die explizite kulturelle Legitimierung gesellschaftlicher Zustände durch Kodifizierung von Wertmustem; mit der Folge der Ablösung der Statuszuteilung nach verwandtschaftlicher Herkunft durch soziale Schichtung nach Prestige aufgrundvon erbrachten Leistungen und der Ersetzung von Tradition als Geltungsgrund von Ordnungen durch die kulturelle Legitimation im Lichteallgemeiner Werte.
Diese beiden evolutionären Universalien wurden in den frühenHochkulturen, z.B. Mesopotamien oder Ägypten, etabliert und weisenfortgeschrittenere Strukturen auf:
• Die Erfindung der Schriftsprache und die Abstraktion religiösenGlaubens zu einem Gedankensystem, das die göttliche und irdische Ordnung trennt, als Kennzeichnen der kulturellen Entwicklung. Die irdische Ordnung ist dabei der göttlichen Ordnung untergeordnet. Diese Trennung erlaubt die Einbettung eines größeren Spektrums von Institutionen in kulturelle Ideensysteme. Insbesondere kann Schichtung, also die Besserstellung bestimmterGesellschaftsmitglieder gegenüber den anderen, so gerechtfertigt werden; und auch die politischen Projekte der Führungseliten können sich durch die Berufung auf die betreffenden Wert-
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muster gesellschaftliche Unterstützung verschaffen. (Strukturerhaltung)
• Die Integration von wesentlich mehr Gruppen in eine gesellschaftliche Gemeinschaft durch ein einheitliches Glaubenssystem, organisierte Arbeit und politische Herrschaft. Schichtungschafft Herrschaftspositionen, die die Konformität mit den gesellschaftlichen Normen wirkungsvoller und weitreichenderdurchsetzen können als Verwandtschaftsstrukturen. (Integration)
• Eine viel komplexere Teilung der Arbeit. Dennoch war die Solidarität zwischen einfachen Leuten und den Leuten, die in einem Amt an administrativen und politischen Entscheidungenteilhatten, geteilt. Zugleich entsteht durch Schichtung so einedauerhafte gesellschaftliche Führungselite, die dazu in der Lageist, kollektive Ziele zu setzen und über deren Verfolgung zuentscheiden. (Zielerreichung)
• Eine Entwicklung der Technologie durch spezialisiertes, kom-plexes und abstrakteres Wissen. (Anpassung)
Das ägyptische Pharaonenreich entwickelte erfolgreich eine bürokratische Organisation der Arbeitsteilung. Die archaischen Gesellschaftenzeigen den Beginn der Differenzierung von institutionellen Komplexenwie Religion, Arbeit und Politik von der gesellschaftlichen Gemeinschaft, unter Beibehaltung ihrer Verbindung durch politische Herrschaft. Der wichtigste integrierende Faktor für diese differenzierteninstitutionellen Komplexe war die Herrschaft eines Königs bzw. Pharaos.
Die Herausbildung der vormodernen Hochkulturen vollzog sichdann über die Entstehung zweier weiterer evolutionärer Universalien:bürokratische Herrschaft, also die Entstehung formaler Organisationenund die Entstehung von Geld als Medium wirtschaftlichen Tauschesund Märkten als sozialen Orten, die Tauschgelegenheiten etablierten.Diese Universalien konnten sich in den chinesischen, indischen, islamischen und römischen Imperien entwickeln und weisen als fortgeschrittene Strukturen auf:
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• Formale Organisationen etablieren eine von Persönlichkeit undsozialem Rang unabhängige Amtsautorität für bestimmte kollektiv bindende Entscheidungen. (Zielerreichung).
• Eine Erweiterung der Technik und des Gebrauchs der Schriftsprache, die dadurch zu einer Basis für eine bis dahin nichtmögliche Abstraktion menschlichen Denkens und Wissenswurde. ReligIon, Philosophie und Mathematik entwickelten sichzu weit umfassenden, weit verbreiteten Gedankensystemen.(Strukturerhaltung)
• Eine weit gefasste gesellschaftliche Gemeinschaft, die aus verschiedenen Stämmen, Clans, Kasten und Schichten bestand.Dessen ungeachtet war die Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft nach hohen und niedrigen Rängen differenziert, je nachPosition innerhalb der Hierarchie der Gruppen. (Integration)
• Eine komplexere Arbeitsteilung, die durch politische Administration und Märkte organisiert wurde. Formale Organisationenetablieren eine von Persönlichkeit und sozialem Rang unabhängige Amtsautorität für bestimmte kollektiv bindende Entscheidungen. (Anpassung)
• Zudem eine Weiterentwicklung von Technologie und empirischem Wissen durch Erfindungen auf experimenteller Basis. Sokonnten wirtschaftliche Aktivitäten über den lokalen Naturaltausch hinauswachsen; Gewinnstreben konnte als genuin wirtschaftlicher Handlungsantrieb institutionalisiert werden und dieweitere Steigerung wirtschaftlicher Produktion vorantreiben.
Die institutionellen Bereiche von Religion, Politik und Wirtschaft differenzierten sich von der gesellschaftlichen Gemeinschaft in Form vonautonomen Systemen mit eigenen Trägerkasten und -ständen. Ihre Integration basierte hauptsächlich auf der Übereinstimmung von funktionaler Differenzierung mit der Hierarchie der Kasten und Stände. BeimÜbergang zur modernen Gesellschaft kommen zwei weitere evolutionäre Universalien hinzu: ein universalistisches Recht - anknüpfend an dasRömische Recht - als Möglichkeit der Integration, das sich in Form des
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Rechtsstaates dann auch von kulturellen Wertmustern auf der einen undpolitischer Macht auf der anderen Seite separierte, und die demokratische Assoziation im politischen System, in der die Führung von derdurch Wahlen erteilten Zustimmung der übrigen Mitglieder abhängt,als Möglichkeit der Zielerreichung.
Bürokratische Organisation, Märkte und Geld, universalistischeNormen und demokratische Vereinigung sind schließlich die zentralenevolutionären Errungenschaften moderner Gesellschaften. StrukturelleVeränderungen entlang aller vier Dimensionen der Evolution unterscheiden das System der modemen westlichen Gesellschaften von jedem anderen Gesellschaftstyp:
• Ein Ideensystem, das universelle Gültigkeit beansprucht und einen ständigen Druck auf die Gesellschaft ausübt, sich ihm zu nähern. (Strukturerhaltung)
• Ein Staatsbürgerschaftssystem, das eine Vielfalt von Gruppen ineine gesellschaftliche Gemeinschaft einschließt. (Integration)
• Ein differenziertes Regierungssystem, das als Agent der permanenten Veränderung tätig ist. (Zielerreichung)
• Ein System des rationalen Kapitalismus, das eine nie da gewesene Fähigkeit entwickelt hat, durch permanente technologischeInnovationen immer höhere Ansprüche zu erfiillen. (Anpassung)
Modeme Gesellschaftssysteme sind somit fiir Parsons im Verhältnis zuihren historischen Vorgängern nicht etwas völlig anderes, nämlich einMehr an Möglichkeiten zur Erfiillung aller vier Funktionserfordernissegesellschaftlicher Reproduktion. In dieser Sichtweise ist es dann auchnur konsequent, dass Parsons zu einer prinzipiell optimistischen Einschätzung der Zukunft moderner Gesellschaften gelangt. Rückschrittekommen in evolutionären Vorgängen nicht vor, weil entsprechendezufällige Variationen in der Konkurrenz mit anderen Gesellschaftssystemen nicht längerfristig überlebensfähig sind. Es gibt höchstens lokaleund temporäre Regressionen, in die Parsons z.B. den deutschen Nationalsozialismus und auch den Sozialismus in Osteuropa eingestuft hat.(vgl. Münch 2004, 117 ff.)
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Modernisierung und gesellschaftliche Gemeinschaft
Das für Parsons' Modernisierungstheorie zentrale Konzept der gesellschaftlichen Gemeinschaft beinhaltet, dass mit der Ausdifferenzierungder institutionellen Ordnungen des Kapitalismus, des Rechts, der Bürokratie, der Demokratie und der Wissenschaft ein Strukturwandel derSolidaritätsbeziehungen einhergehen muss, der zu einer von allen partikularen Herkunftsbindungen befreiten Form ziviler Vergemeinschaftung freier Bürger, der modemen Bürgergemeinschaft als Trägerin desWertkomplexes des von Parsons sog. "Institutionalisierten Individualismus" führt. Sie bildet eine Form des Individualismus, die durch dasRecht sowohl vor der inneren Selbstzerstörung durch rücksichtslosenEgoismus als auch vor der äußeren Bedrohung durch autoritäre Mächtegeschützt ist. Die Bürgergemeinschaft entfaltet sich mit der Zahl undVitalität freier Vereinigungen, die den Bürger in eine wachsende Zahlvon Mitgliedschaften einbinden und dabei zweierlei bewirken: einerseits die Inklusion des Bürgers in die Gesellschaft, andererseits dieVervielfachung seiner Loyalitäten, wodurch sich einerseits eine vielfältige und vielschichtige Vemetzung der Bürger, andererseits eine Stärkung ihrer Individualität ergibt. Die Bürger werden unabhängiger voneinzelnen Bindungen, zugleich aber offener für eine größere Zahl vonLoyalitäten. Die moderne gesellschaftliche Gemeinschaft zeichnet sichdemgemäß durch einen wachsenden Pluralismus der Vereinigungenund eine zunehmende Individualität ihrer einzelnen Mitglieder aus.
Dass es sich dabei um einen Teil der Modernisierung handelt, derschwieriger zu bewältigen ist als die Ausdifferenzierung von Kapitalismus, Recht, Demokratie, Bürokratie oder Wissenschaft, macht diehistorische Entwicklung deutlich. Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Fundamentalismus sind bis heute Zeichen für die mangelnde Modernisierung der Solidaritätsbeziehungen.Selbst der radikale Multikulturalismus, der Gruppenrechte an die Stellevon Individualrechten setzen will, ist nach Münch (2004, 125 ff.) eineForm der fundamentalistischen Gegenbewegung gegen die Herausbildung einer modernen pluralistischen und individualistischen gesellschaftlichen Gemeinschaft.
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1.6 Evolution nach Münch
Das Problem von Differenzierung, Rationalisierung und sozialer Ordnung unter modernen Bedingungen lässt sich nach MÜllch aus der Perspektive eines radikalisierten, reformulierten und teilweise verändertenParsonsschen Ansatzes der Handlungstheorie behandeln. In dieserSichtweise wird »Differenzierung« als ein Prozess aufgefasst, in demdas Handeln zunehmend über die Grenzen der Regulierung innerhalbeiner geschlossenen Gemeinschaft hinaus schreitet. Dieser Prozessführt zu einer Abtrennung des ökonomischen Tausches, des politischenMachthandelns und des intellektuellen Nachdenkens über die Welt vomGemeinschaftshandeln in wechselseitigen Beziehungen der Solidarität.Dadurch entstehen neue Systeme der Interaktion jenseits der Grenzendes Gemeinschaftshandelns:
• Ökonomischer Tausch, in Begriffen der Handlungstheorie einSystem, das den Spielraum des HandeIns öffnet und auf frei,nach den Nutzenerwägungen der Individuen gewähltem Handelnberuht. (Adaptation, Öffnung)
• Politisches Machthandeln, in Begriffen der Handlungstheorie einSystem, das den Spielraum des HandeIns spezifiziert und dasHandeln auf spezifische Ziele ausrichtet. (Goal attainment, Spezifikation)
• Rationaler Diskurs als spezialisiertes, auf Argumentation aufgebautes Nachdenken über die Welt, in Begriffen der Handlungstheorie ein System, das den Spielraum des HandeIns durch dessen Subsumtion unter allgemeine Ideen generalisiert. (Latentpattern maintenance, Generalisierung)
Der Prozess der »Rationalisierung« muss in dieser Perspektive in zweiSchritte unterteilt werden. »Rationalisierung« bedeutet zunächst dasTranszendieren der Grenzen des Gemeinschaftshandelns in der Richtung der Etablierung des intellektuellen Nachdenkens über die Welt umseiner selbst willen: das Entstehen des rationalen Diskurses als eineForm der Interaktion, die sich von den gemeinschaftlichen Bindungenemanzipiert hat (L). In diesem Sinne deckt der Prozess der Rationalisie-
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rung nur eine von drei Dimensionen der Differenzierung ab. (KulturelleRationalisierung) Im zweiten Schritt meint »Rationalisierung« dieDurchdringung der Sphären des Handeins außerhalb des rationalenDiskurses durch das rationale Nachdenken über die Welt. Gemeinschaftsleben (I), politisches Handeln (G) und ökonomisches Handeln(A) geraten unter den Druck der Rationalisierung im Sinne der rationalen Wahl von Assoziationen, der rationalen Rechtfertigung von Entscheidungen und der rationalen Kalkulation von Chancen der Bedürfnisbefriedigung. (Gesellschaftliche Rationalisierung) (vgl. Münch1991,317 f.)
Rationalisierung ist zunächst eine Eigenschaft der modernen westlichen Kultur. Sie bedeutet auf kultureller Ebene die Annäherung an dieobjektive Gültigkeit (Wahrheit) von Sinnkonstruktionen, Normen, Expressionen und Kognitionen, aber nie das Erreichen der objektiven Gültigkeit. Sie schreitet in dem Maße fort, in dem die Kultur von Intellektuellen nach der Logik der Argumentation geformt wird. (KulturelleRationalisierung)
Eine unterscheidende Eigenart der jüdisch-christlichen Religion imVergleich zu den anderen Weltreligionen ist jedoch viel weniger ihreintellektuelle Rationalisierung - mit Wurzeln im Hellenismus und derAufklärung -, sondern vielmehr die zentrale Position der aktiven Gestaltung der Welt nach religiös-kulturellen Ideen. Die religiös-kulturelleDurchdringung der Welt ist das unterscheidende Kennzeichen der Entwicklung der jüdisch-christlichen Religion. (Gesellschaftliche Rationalisierung)
Das Gemeinschaftshandeln wurde dem Druck der Universalisierungausgesetzt, das ökonomische Handeln dem Druck der ethischen Kontrolle, das politische Handeln dem Druck der Verwirklichung universeller Werte. Je mehr sich die religiöse Kultur der Welt näherte, umsomehr musste sie die Gesetze der profanen Sphären als zu formendesMaterial begreifen. In diesem Prozess vollzog sich umgekehrt eine gegenläufige Durchdringung der Kultur durch die Sphären der Welt. (vgl.Münch 1991,329 f.)
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 71
Prozess der Interpenetration
Das Herzstück der okzidentalen Entwicklung ist eine Eigenart, die imGegensatz zu einer reinen Logik der Rationalisierung und Differenzierung nach den inneren Gesetzen von Systemen des Handeins steht: Interpenetration. Der Prozess der Interpenetration verlangt eine andereErklärung. Nicht so sehr die Intellektualisierung der Religion ist derUrsprung dieser Entwicklung, sondern das jüdisch-christliche Hinausschreiten über die Kultur in die Welt hinein. Die Interpenetration vonSubsystemen des Handeins ist ein Mittel der Integration von Sphärender Welt, die so weit voneinander entfernt sind wie der intellektuelleDiskurs, die gemeinschaftliche Solidarität, das politische Entscheidenund die ökonomische Kalkulation.
Auf diese Weise entsteht eine komplexe und kontingente, aber auchäußerst konfliktreiche Ordnung, die in der Tat Rationalität und Geordnetheit verbindet, wie Habermas es intendiert, aber nicht durch die begriffliche Gleichsetzung von Rationalität und Konsensus, sonderndurch deren Verknüpfung als zwei sehr verschiedene Phänomene inZonen der Interpenetration, die zwischen ihnen liegen. Rationalität,gegründet auf der permanenten Erzeugung von Dissens, Konsensus,basierend auf gemeinschaftlicher Solidarität, und kollektives Entscheiden müssen zum Beispiel in der öffentlichen Diskussion miteinanderverknüpft werden, die von diesen unterschiedlichen Ressourcen lebtund die Funktion der Übermittlung der Produkte von einem Systemzum anderen erfüllt. Was kulturell gültig ist, das ist in dieser Perspektive auch gültig für das politische Handeln. In diesem Sinne kann nachMünch Habermas gefolgt und Luhmanns Theorie der diskret zerteiltenSystemdifferenzierung zurückwiesen werden. Aber die gültigen kulturellen Ideen lassen verschiedene Wege der Konkretisierung offen, überdie politisch entschieden werden muss. Hier muss Luhmann gefolgtund Habermas zurückgewiesen werden.
Konsensus ist möglich in modemen Gesellschaften. Hier ist vonWeber abzuweichen und Habermas zu folgen. Aber dieser Konsensusfußt auf Solidarität, nicht auf rationaler Diskussion. So muss hier dieÜbereinstimmung mit Habermas eingeschränkt werden. Rationalität ist
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auch möglich in der Entwicklung von Normen. Hier ist mit Habermaszu argumentieren, jedoch gegen Weber. Aber diese Rationalität wirdvon permanentem Dissens begleitet. In dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zu Habermas und Übereinstimmung mit der Sicht Webers.Der Charakter, den die modeme Ordnung des HandeIns nach diesemModell erreicht, beruht auf der Kombination faktischer, normativer undvoluntaristischer Merkmale. Notwendig sind nicht einfache Lösungendes Ordnungsproblems, sondern zunehmend komplexere.
Darüber hinaus besitzen die bestehenden Theorien von Luhmannund Habermas zur Differenzierung und Rationalisierung der Gesellschaft nach Münch weitere, ihnen gemeinsame Mängel:
• Sie begreifen Differenzierung nicht adäquat als einen Prozess,der von einem Zustand der Begrenzung des HandeIns durch naturwüchsige Gemeinschaftsbande ausgeht und zur Entwicklungvon Sphären des HandeIns jenseits der Grenzen des Gemeinschaftslebens führt.
• Sie verstehen Rationalisierung nicht präzise genug als einenzweistufigen Prozess, der zunächst die Differenzierung des rationalen Diskurses vom Gemeinschaftsleben bedeutet, dann aberdie Durchdringung der anderen Sphären des HandeIns (des Gemeinschaftshandelns, des ökonomischen und politischen Hande1ns) durch den rationalen Diskurs.
• Die Erklärungen, die diese Theorien für die Prozesse der Differenzierung und Rationalisierung bieten, sind reine Entwicklungslogiken: eine Logik der wachsenden Komplexität der Welt undihrer Reduktion durch Systembildung und -differenzierung, eineLogik der intellektuellen Rationalisierung oder eine Logik derRationalisierung gesellschaftlicher Subsysteme.
• Die Konsequenzen, die sich im Lichte dieser Theorien aus derDifferenzierung und Rationalisierung der Gesellschaft ergeben,verlaufen entweder zu reibungslos in die Richtung von Integration, wie in Luhmanns Gleichsetzung von Differenzierung und Integration, oder sie werden auf eine bloß faktisch gegebene Un-
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vollständigkeit reduziert, wie in der Weber-Interpretation vonHabennas.
Auf die Frage nach den Chancen sozialer Ordnung unter modemenBedingungen bieten die Theorien entweder zu einfache Antworten, wieLuhmanns Theorie oder eine zu einseitig rationalistische wie Habermas' Theorie. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie keinen Zugang zumProzess der Interpenetration haben, derjenigen Eigenart, durch die sichdie modeme westliche Kultur von allen zuvor und außerhalb ihrerGrenzen existierenden Kulturen unterscheidet. In der hier vorgeschlagenen Perspektive ist Differenzierung ein Prozess der Etablierung vonSphären des Handelns außerhalb der Grenzen des Gemeinschaftslebens. Rationalisierung ist zuerst eine Dimension der Differenzierung,sodann ein Prozess der Durchdringung der differenzierten Sphären desHandelns durch die rationalisierte Kultur. Differenzierung muss alseine nicht intendierte Folge der Etablierung von Interaktionen zwischenFremden erklärt werden. Diese Interaktionen können zufallig auftreten.(vgl. Münch 1991,332 f.)
Interpenetration der gesellschaftlichen Subsysteme
Wie dargelegt, sind die zunehmende Interpenetration von Subsystemendes Handeins und die Herausbildung von immer breiteren Interpenetrationszonen ein Kennzeichen neuer Entwicklungsschübe der Modeme.Auf der Ebene der gesellschaftlichen Subsysteme lässt sich dies so darstellen, dass sich zwischen Märkten, politischen Entscheidungsverfahren, Diskursen und gesellschaftlichen Vereinigungen neue Subsystemeals Interpenetrationszonen bilden. Diese Subsysteme lassen sich alsTeile eines jeweiligen Muttersystems verstehen, die außer der Logikdes Muttersystems auch die Logik der anderen Systeme in sich hineinnehmen. Daraus ergibt sich in einem ersten Konstruktionsschritt folgendes Bild:
Im ökonomischen System verbindet sich der durch Geld gesteuerteWirtschaftsmarkt mit der durch Macht gesteuerten Wirtschafts- und
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Technologiepolitik, der durch Reputation gesteuerten wirtschaftlichenVereinigung und dem durch Sprache gesteuerten wirtschaftlichen Diskurs.
Im politischen System verbindet sich die durch politische Macht regulierte Herrschaft mit der durch Geld gesteuerten Haushalts- und Finanzökonomie des Staates, der durch Reputation gesteuerten politischen Vereinigung und dem durch Sprache gesteuerten politischenDiskurs.
Im sozial-kulturellen System verbindet sich der durch Sprache gesteuerte kulturelle Diskurs mit dem durch Geld gesteuerten Kulturmarkt, der durch Macht gesteuerten Kulturpolitik und der durch Reputation gesteuerten kulturellen Vereinigung.
Im Gemeinschaftssystem verbindet sich die durch Reputation gesteuerte gesellschaftliche Vereinigung mit der durch Macht gesteuertenGesellschaftspolitik, dem durch Geld gesteuerten Vereinigungsmarktund dem durch Sprache gesteuerten öffentlichen Diskurs. (vgl. Münch1991,341 f.)
Zunächst beruht die Steigerung der Leistungen eines gesellschaftlichen Subsystems auf internen Prozessen.
• Das ökonomische System steigert die ökonomische Akkumulation im Sinne einer Steigerung des Bruttosozialproduktes durchvermehrten Einsatz von Kapital, Arbeit, Organisation und Wissen auf der Basis von Geldinvestition. Geld wird durch Geldinvestition vermehrt. Beispiel: Durch höheren Kapitaleinsatz werden höhere Gewinne erzielt.
• Das politische System steigert die politische Akkumulation imSinne einer Steigerung der kollektiv verbindlichen Entscheidungen durch vermehrten Einsatz von Macht. D.h. es werdenmehr gesellschaftliche Probleme in größerem Umfang als zuvorgelöst. Zugleich wird in diesem Prozess Macht durch die Investition vorhandener Macht weiter gesteigert. Eine Regierungkann mit Hilfe ihrer Macht Gesetze machen, die ihr helfen, ihreMacht weiter zu steigern. Beispiele: Machiavellismus, MargretThatchers Entmachtung der britischen Gewerkschaften.
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 75
• Das System der gesellschaftlichen Gruppen und Vereinigungensteigert die solidarische Akkumulation im Sinne einer Steigerung der gesellschaftlichen Solidarität; d.h. es ist für eine immergrößere Zahl von Menschen möglich, im Bedarfsfall Unterstützung zu finden. Dies geschieht durch den vermehrten Einsatzvon Reputation. Beispiel: Eine Wohlfahrtsorganisation kann mitHilfe ihrer Reputation immer umfangreichere Solidaritätsaktionen zustande bringen. Zugleich vergrößert sich damit ihre Reputation. So wird Reputation durch die Investition von vorhandener Reputation gesteigert.
• Das sozial-kulturelle System steigert die kulturelle Akkumulation im Sinne einer Erweiterung sinnstiftender Ideen, moralischerNormen, ästhetischer Objekte und kognitiven Wissens durchvermehrten Einsatz von Sprache in kulturellen Diskursen.Zugleich wird auf diesem Wege die Reichhaltigkeit der Sprachevergrößert. Sprache wird erweitert durch Anwendung der schonvorhandenen Sprache auf neue Problemstellungen. Beispiel:Wissenschaftler wenden eine vorhandene Theorie auf neuePhänomene an. Die Formulierung von Sätzen über diese Phänomene bereichert die Sprache der Theorie, da diese Sätze zuvor noch nicht von der Theorie formuliert worden waren. DieTheorie wird durch einen neuen Anwendungsbereich reichhaltiger.
Diese internen Prozesse der ökonomischen, politischen, solidarischenund kulturellen Akkumulation verbinden sich mit externen Prozessender Akkumulation in den Zonen der Interpenetration der gesellschaftlichen Subsysteme, in denen sich verschiedene Systemlogiken miteinander verschränken. (vgl. Münch 1991,345 f.)
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Handlungstheoretisch-genetisches Modell der Evolution
Strukturunterschiede zwischen verschiedenen Ausformungen der modemen Gesellschaft analysiert Münch an Hand eines Modells aufGrundlage einer handlungstheoretischen Interpretation evolutionstheoretischer Kategorien. Danach stellt das vorwiegend latente Wertesystem einer Gemeinschaft einen ,genetischen Code' dar, der sich in ,Genotypen', ,Phänotypen' und ,phänotypischen Institutionen' manifestiert.
Den auf der Interpenetration zwischen Kultur und Gesellschaft beruhenden kulturellen Code moderner Gesellschaften charakterisiertMünch durch die Bestandteile Universalismus und Individualismus,Rationalismus und Aktivismus. Als Kriterien der ,inneren Logik' derRationalisierung des kulturellen Codes der westlichen Gesellschaftenführt er die sinnhafte Konsistenz, die kognitive Wahrheitsfahigkeit, dienormative Richtigkeit, die expressive Identitätsverbürgung sowie dieargumentative Begründung und ihre Gültigkeit an.
Als Genotypen sieht Münch die Interpretationen des Wertesystemsan, durch die das Wertesystem sich sowohl reproduziert als auch wandelt. Durch die Orientierung der Gesellschaftsmitglieder an der Kulturwerden diese in das Wertesystem sozialisiert. Sie tradieren überkommene Deutungen (Reproduktion) und bringen neue Deutungen hervor(Variation).
Die Phänotypen werden durch die Anwendung dieser Wertinterpretationen in konkreten Handlungssituationen (in Entscheidungsprozessen) hervorgebracht. Hier können innovative Interpretationen des Wertesystems zu sozialem Wandel führen. Welche der möglichen Wertinterpretationen institutionalisiert werden, wird durch den inhaltlichenAspekt der Interpretation (L), durch die Gemeinschaft (I), durch dieZielselektion der Handlungssphäre (G) und durch die Interessenartikulationen (A) und vor allem von der Art der Beziehung der Subsystemebestimmt, denn nur bei einer Interpenetrationsbeziehung zwischen denSystemen kommt eine Institutionalisierung überhaupt zustande.
An Hand dieses Modells unternimmt Münch eine umfassende Analyse des institutionellen Aufbaus der modemen Gesellschaft am Leitfa-
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den des charakteristischen Verhältnisses zwischen Protestantismus undGesellschaft am Beispiel Englands, der USA und Deutschlands sowiezwischen Katholizismus und Gesellschaft in Frankreich.
Evolution und Dynamik der Kommunikationsgesellschaft
Die Ursache für die zunehmende Durchdringung der Gesellschaft mitKommunikation bildet nach Münch ein auf den Idealen der Aufklärungberuhendes kulturelles Wertmuster, das durch seinen permanentenVergleich mit der Wirklichkeit eine Spannung und Dynamik zwischendem gesellschaftlich Wirklichen und Möglichen erzeugt.
Die Aufklärer entwarfen auf Vernunft begründete, abstrakte Gesellschaftsmodelle, die zu erreichen als Ideal gilt; in der Modeme kannjedoch die Wirklichkeit niemals der Vernunft entsprechen, sondern sichdieser nur immer nur anzunähern versuchen. Die Modeme bildet eindurch ständige Veränderung immer zu verfolgendes, aber letztlich unvollendbares Projekt: Veränderung ist das Grundprinzip der Moderne.
Soziale Bewegungen spiegeln hierbei die Entwicklung der Modemewider, indem sie - in Orientierung an den allgemeinen Leitidealen derFreiheit und der Gleichheit und davon abgeleitet an spezifischerenWerten wie etwa gleichen Rechten für alle, Wohlstandsmehrung, Umweltschutz usw. - auf die Diskrepanz zwischen legitimen Rechten undgesellschaftlicher Wirklichkeit hinweisen und intervenierend zur Auflösung traditionaler Lebenswelten und Glaubensbestände und der Entfaltung modemen Lebens zumindest beitragen. Die Entwicklung vonKultur und Gesellschaft aus der Dynamik ihrer Widersprüche, die stetsAktivitäten zum Bewältigung der Widersprüche hervorrufen und dadurch doch selbst wieder neue Widersprüche erzeugen, bildet als endloser Prozess von Erzeugung, Bewältigung und Wiedererzeugung vonWidersprüchen die Dialektik von Kultur und Gesellschaft der Modeme,die den Motor ihrer unablässigen Veränderung und das sie von allenanderen Kulturen unterscheidendes Merkmal darstellt. (vgl. Münch1991,20 f.)
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Interpenetration der Kommunikationsgesellschaft
Die Dynamik der Entwicklung ist für Münch dadurch gekennzeichnet,dass vergrößerte Zonen der Interpenetration zwischen Diskursen,Märkten, Vereinigungen und politischen Entscheidungsverfahren entstehen, welche die Handlungsfelder durch Vernetzung, Kommunikation, Aushandeln und Kompromissbildung restrukturieren.
Die europäische Gesellschaftsbildung unterliegt einem kulturellenWandlungsprozess in Richtung Universalismus, in dem die partikularenElemente ihre Bedeutung verlieren; die regionalen Kulturen büßen ihrelebensweltliche Verankerung und Orientierungsfunktion ein und werden zu vermarktbaren Elementen einer universalen europäischen Einheitskultur.
In der Weltgesellschaft vernetzen sich Ökonomie, Markt, Politik,Demokratie, gesellschaftliche pluralistische Vereinigungen. Kultur undGesellschaft entwickeln sich aus der Dynamik von Widersprüchen undspezifischer Problemkomplexe, die durch neue Erfahrungen, Universalisierungen und Enttraditionalisierungen, Falsifikationen von Wissen,Vorgängen der Dezentrierung und Interessenkonflikten in soziokulturellen Lebenswelten hervorgebracht werden.
Diese Entwicklung befreit die Menschen von nationalstaatlichenGrenzen und Zwängen und eröffnet ihnen in einem neuen Schub derIndividualisierung neue Handlungsmöglichkeiten; gleichzeitig findetaber auch eine neue, noch nicht überschaubare und kontrollierbare Vergesellschaftung statt, durch die die Menschen in Handlungszusarnmenhänge hineingezogen, von weit entfernt getroffenen Entscheidungenbetroffen werden, an deren Gestaltung sie noch einen viel kleinerenAnteil haben als auf der Ebene des Nationalstaates oder lokaler Gemeinden. Als Folge ergibt sich nach Münch eine zwangsläufige Deregulierung des sozialen Lebens, eine Tendenz zur Anomie, d.h. zur Regellosigkeit, und zum ungeregelten Kampf aller gegen alle, weil aufglobaler Ebene die eingelebten nationalstaatlichen Institutionen ihrenDienst versagen. Im Spannungsfeld zwischen globaler Dynamik undlokalen Lebenswelten müssen daher die soziale Integration und dieAusbalancierung des Verhältnisses zwischen individueller Freiheit und
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sozialer Bindung neu gestaltet werden. Die durch die kulturelle, politische und ökonomische Mobilisierung erzeugten Konflikte können nachMünch nur konstruktiv gelöst werden, wenn sich vermittelnde Institutionen herausbilden, die den Austausch von Leistungen und Konfliktlösungen regeln; Ziel institutioneller Innovationen der Dritten Modemesoll daher der Aufbau einer globalen Mehrebenendemokratie sein.
Eine differenzierungstheoretische Deutung sozialen Wandels lehnter dabei als unzulänglich ab. Und die Vorstellung, die gesellschaftlicheEntwicklung vollziehe sich aufgrund einer globalen, Gesellschaftenübergreifenden und umweltunabhängigen Steuerungsdynamik ist rurihn nicht akzeptabel. Münch betont dabei die historische Einmaligkeitempirischer Handlungsabläufe gegenüber einer abstrakten, etwa alleindifferenzierungstheoretischen Auffassung von Evolution bzw. globalerSteuerungsdynamik und betrachtet sozialen Wandel nicht als linearenProzess, vielmehr als eine vielfach gebrochene, von historischen Zufällen abhängige Entwicklung.
Gemäß dem Interpenetrationstheorem kann sozialer Wandel wie beiHabermas in Sackgassen ruhren. Neue Strukturelemente müssen wiederum interpenetrieren, wenn sie nicht pathologische Effekte erzeugensollen; ein neues kulturelles Muster, das lediglich aufgrund einer situativ adaptivitätssteigernden Selektion inkludiert wurde, könnte durchauszu einem späteren Zeitpunkt die weitere Anpassung der Gesellschaft anihre Umwelt behindern. (vgl. Jäger/Meyer 2003, 146 ff.)
Auf der Grundlage der globalen Telekommunikationstechnologienwerden die sozialen Verflechtungen weltweit gesteigert durch eine gesellschaftliche Kommunikation, die sich in zunehmenden Maße beschleunigt, globalisiert, verdichtet und vermehrt, und deren Gesetzmäßigkeiten und ihren Auswirkungen eine immer größere gesellschaftliche Bedeutung zukommt. Die modeme Gesellschaft wandelt sich vonder Industrie- zur modemen Kommunikationsgesellschaft. Dabei bedeuten Kron zufolge (2000, 48):
• Kommunikative Durchdringung der Gesellschaft: Kommunikative Prozesse und ihre Gesetzmäßigkeiten bestimmen das gesellschaftliche Geschehen.
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• Verdichtung der Kommunikation: Ein immer enger geflochtenes,grenzüberschreitendes Netzwerk von Kommunikation vernetztimmer mehr Kommunikatoren.
• Beschleunigung der Kommunikation: Die Menschen werdenimmer schneller über immer mehr informiert.
• Globalisierung der Kommunikation: Durch Kommunikationwerden immer weiter institutionelle, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen überschritten, wobei in diesem Prozess jede einzelne Kommunikation überall auf der Erde Wirkungen hervorzurufen vermag.
Politische Steuerung als gesellschaftlicher Prozess
In politikwissenschaftlicher Sicht bedeutet politische Regulierung dieErzeugung und Anwendung von Regierungsmacht auf effektive unddemokratisch legitimierte Art und Weise. Soziologisch dagegen wirdder gleiche Prozess analysiert als Problem der umfassenden gesellschaftlichen Konfliktbeilegung im Bereich der Interpenetration zwischen Regierung und Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Frage,wie Konflikte artikuliert und beigelegt, auf welche Weise neue Werte,politische Ziele und Interessen in die Konfliktbeilegung einbezogenwerden, d.h. wie gesellschaftliche Erneuerung stattfinden, wie neuesoziale Bewegungen aufgenommen werden und wie neuer Konsensentstehen kann.
Politikgestaltung wird nicht als Problem des Regierens und der effektiven, demokratisch legitimierten politischen Regulierung der Gesellschaft interpretiert, sondern als Problem des sozialen Wandels undder sozialen Integration im Sinne der Fähigkeit der Gesellschaft zurKonfliktbeilegung im Einklang mit der gesellschaftlichen Erneuerung,der Inklusion neuer sozialer Bewegungen und der Konsensbildung. Einentsprechendes Analysemodell enthält als Bestandteile das Netzwerkder beteiligten Akteure (Policy-Netzwerk), die Professionen, die Situationen definieren und Problemlösungen erarbeiten, die institutionellenRegeln des Politikprozesses und die kulturellen Vorstellungen zur Le-
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gitimierung von Entscheidungen. Diese sind gegenseitig voneinanderabhängig und bilden Rahmen und Stil der politischen Regulierung mitdemgemäß spezifischen, ebenso gegenseitig voneinander abhängigenFähigkeiten der politischen Regulierung in Bezug auf gesellschaftlicheErneuerung, Konfliktbeilegung, Inklusion und Konsensbildung.
Politik wird dabei aufgefasst als dynamischer Prozess, in dem Ressourcen im Rahmen von politischen Institutionen und politischer Kulturmobilisiert und in kollektiv bindende Entscheidungen umgesetzt werden:
Zur Durchsetzung von kollektiv verbindlichen Entscheidungen bedarf es der Mobilisierung von politischer Macht. Politische Macht imSinne von Durchsetzungsfähigkeit gegen Widerstand besteht im Zugang zum Monopol der legitimen Gewaltanwendung und wird in Demokratien durch Mehrheiten von Wählerstimmen gewonnen. Bei Parlamentswahlen überträgt der Wähler seine Stimme auf Abgeordnete,die mit ihrer Stimme Gesetze verabschieden, die ihrerseits notfalls mittels legitimer Polizeigewalt - gegebenenfalls nach gerichtlicher Prüfung - durchgesetzt werden.
Wenn politische Entscheidungen nicht allein mit Hilfe von Machtdurchgesetzt, sondern in ihrer Implementation auch auf die Kooperation der Bürger gestützt werden sollen, muss als zusätzliche RessourceEinfluss - als Fähigkeit, andere Personen zur Unterstützung und Kooperation bei der Verwirklichung eines politischen Programms zu bewegen - mobilisiert werden, der im Unterschied zur politischen Machtnicht auf Zugang zum Gewaltmonopol, sondern auf Solidarität, Achtung, Respekt, Reputation, Gefolgschaft oder Anerkennung eines Führungsanspruchs beruht.
Für politische Entscheidungen muss Zustimmung durch sachlicheRichtigkeit gesichert werden und daher bei der Ausarbeitung von Gesetzesprograrnmen der nötige Sachverstand durch Gutachten von Experten mobilisiert werden. Darüber hinaus können politische Entscheidungen nur Legitimität gewinnen, wenn sie sich als vereinbar mit denin der Kultur verankerten Grundwerten und Grundnormen - Grundrechten - erweisen und einen Beitrag zu ihrer Verwirklichung leisten.
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Politische Programme erfordern schließlich in der Regel Geldmittel,die durch Steuereinnahmen aus dem Wirtschaftskreislauf abgeschöpftwerden müssen. Ihr verfügbarer Umfang hängt von der Prosperität derWirtschaft ab, die die Regierungen sowohl durch günstige Rahmenbedingungen als auch durch Anreize für Investitionen in der Wirtschaftspolitik sichern müssen. (vgl. Münch 2004, 134 ff.)
Kooperatives Konfliktmanagement als neuer Regulierungstypus
In allen entwickelten Demokratien lassen sich gegenwärtig Tendenzenausmachen, die in die Richtung des Wettbewerbsmodells weisen, dassich als pluralistische Mehrebenendemokratie entfaltet. Der ehemalskohärent handelnde Staat verwandelt sich in allen entwickelten Demokratien tendenziell in eine Vielzahl von Foren des kooperativen Konfliktmanagements, von der lokalen bis zur globalen Ebene.
Kooperatives Konfliktmanagement bzw. Regieren im Netzwerk bildet sich in Europa als neuer Regulierungstypus heraus, in dem sich diekooperativen Elemente der alten Regulierungstypen mit den Elementendes Pluralismus und Wettbewerbs des amerikanischen Regulierungstypus verbinden, wobei aber die spezifischen Regulierungstypen desKompromisses, des Konflikts und der Synthese im Hintergrund sichtbar bleiben. Der Typus unterscheidet sich vom Korporatismus(Deutschland), Etatismus (Frankreich) und Pluralismus (USA) durchdie Kombination der Orientierung an individuellen Interessen statt amGemeinwohl mit der Praxis der Konsentierung zwischen Regierungenund Interessengruppen auf europäischer Ebene statt der Mehrheitsherrschaft und bildet sich in einer pluralistischen Wettbewerbsdemokratieim Mehrebenensystem zwischen lokaler Gemeinde und globalen Regimen auf der Basis einer dicht vernetzten und aktiven Zivilgesellschaftheraus. Der Versorgungs- und Vorsorgestaat verliert deshalb an Integrationskraft, weil er nicht mit der Mobilisierung der Individuen oberhalb und unterhalb seiner Regulierungsebene Schritt halten kann.
Integration im Rahmen des sich herausbildenden, tendenziell liberalen Mehrebenenregimes ist ein Prozess der fortwährenden Verhand-
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lung. Die Qualität der Integration äußert sich dann vor allem im Zugang zu Netzwerken und Entscheidungsverfahren und in der Transparenz solcher Verfahren: Es kommt mehr auf die Befähigung des Individuums zur Selbstverantwortung an als auf dessen allumfassendenSchutz durch den Staat. Die neue Form der Integration stellt nicht mehrin weiser Vorsorge gleiche und ökologisch verträgliche Lebensbedingungen für alle her, sondern sorgt allein für faire Verfahren des Interessenausgleichs, Chancengleichheit und Unterstützung für die Gestrauchelten, um ihr weiteres Mitspielen zu sichern. Auch die Erhaltung desökologischen Gleichgewichts kann nicht mehr für sich in Anspruchnehmen als die faire Berücksichtigung im Kampf der Interessen. DerWeg vom Vorsorgestaat zur aktiven BÜfgergesellschaft führt uns in derTat in eine andere Moderne. (vgl. Münch 2004, 150 ff.)
1.7 Neuer Regelungstypus und sozialer Wandel
Zur Erklärung des sozialen Wandels in Richtung des neuen Regulierungstypus des kooperativen Konfliktmanagements wird eine Theoriedes sozialen Wandels benötigt, die grundsätzlich fünf Ebenen desWandels unterscheidet:
(1) Die langfristige evolutionäre Entwicklungslogik gibt auf langeSicht auf Dauer stabilisierbare Bahnen der Entwicklung vor.Dies bedeutet zunächst, dass Institutionen der politischen Regulierung zunehmend komplexere Risiken zu kontrollieren habenund deshalb ihre Kapazität zur Erfassung solcher Risiken steigern müssen: Das geschieht durch die zunehmend breitere Mobilisierung von wissenschaftlichem und technischem Sachverstand, insbesondere durch die Einbeziehung unterschiedlicherdisziplinärer und paradigmatischer Perspektiven. Dieser institutionelle Wandel zielt auf die Steigerung der Anpassungsfahigkeitan komplexer werdende Risiken. Die Antwort auf komplexereRisiken durch komplexere Beobachtungsinstrumente verlangtauch komplexere Formen der Entscheidungsfindung durch die
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strukturelle Differenzierung von Entscheidungsverfahren. DieserAnforderung entspricht Z.B. die Herausbildung von Regulierungsagenturen, denen es obliegt, die allgemeinen Vorgaben vonGesetzen, die im Parlament verabschiedet wurden, klein zu arbeiten, zu konkretisieren und in spezifische Standards in einemeigenen Normsetzungsverfahren umzusetzen. Auf diese Weisebildet sich eine neue, funktional auf Normsetzung spezialisierteArena des politischen Entscheidens heraus. Das politische System erreicht eine weitergehende strukturelle Differenzierung, dieneue Fragen der Inklusion von Interessengruppen in die Entscheidungsverfahren aufwirft. Von breiteren Bevölkerungsschichten werden die Ergebnisse der Normsetzung nur getragen,wenn die Beteiligung an Normsetzungsverfahren über den engenKreis dominierender Experten und Interessengruppen hinausgeht und einem breiten Spektrum von Perspektiven und Interessen der Zugang möglich ist. Transparenz, Zugänglichkeit und dieVerantwortlichkeit rur das Gemeinwohl sind entscheidende Kriterien rur Normsetzungsverfahren, um das Erfordernis der Inklusion errullen zu können. Schließlich bedarf die Regulierungkomplexer gewordener Risiken durch Normsetzungsverfahreneiner Verallgemeinerung der Rechtfertigungsgründe rur dieNormsetzung.Die Orientierung von Sicherheitsstandards an dem allgemeinenPrinzip des Standes der Technik unter Berücksichtigung derKosten (Verhältnismäßigkeit) erlaubt im Unterschied zur inhaltlichen Fixierung technischer Verfahren eine ständige Anpassungder Verfahren an den Fortschritt des Wissens. Die Orientierungan dem traditionell Gegebenen wird durch die Orientierung amErkenntnisfortschritt ersetzt. Für die politische Regulierung vontechnischen Risiken ist das eine Form der Wertegeneralisierung,die das Festhalten an bestimmten Praktiken nur insoweit erlaubt,als sie im Lichte der neuesten Erkenntnis zu rechtfertigen sind.Das gilt auch fiir die Ablehnung von Neuerungen, etwa im Be-
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reich der Gentechnik, die auf Dauer nur so weit wirksam ist, alssie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen kann.Die langfristige evolutionäre Entwicklungslogik impliziert somiteinen Wandel von Regulierungsinstitutionen in Richtung derSteigerung von Anpassungsfähigkeit, struktureller Differenzierung, Inklusion und Wertegeneralisierung. Sie folgt dem Gesetzder Beantwortung gesteigerter Umweltkomplexität in Gestaltvon komplexer werdenden technischen Risiken durch die Steigerung der Eigenkomplexität politischer Entscheidungsverfahren.Ob sich diese evolutionäre Entwicklungslogik faktisch vollzieht,hängt von der Entfaltung der Entwicklungsdynamik auf derzweiten Ebene, von der Beharrungskraft gegebener Entwicklungspfade auf der dritten Ebene und vom Ausgang der Entwicklungskonflikte auf der vierten Ebene des sozialen Wandels ab.
(2) Die mittelfristige Entwicklungsdynamik wird durch den Umfangvon technischen Innovationen vorangetrieben. Wissenschaft,Technik und Industrie bilden einen Innovationskomplex, der alsMotor der Entwicklungsdynamik fungiert. Je weniger Fesseln sieunterworfen sind, umso stärker entfaltet dieser Innovationskomplex seine dynamische, Entwicklung vorantreibende Kraft. Diewachsende wirtschaftliche Konkurrenz und der erweiterte Handlungsspielraum für Forschung, technische Entwicklung und industrielle Produktion in der offenen Weltwirtschaft geben demInnovationskomplex eine besondere Schubkraft, die einen wachsenden Druck auf die Anpassung von Institutionen der politischen Regulierung an die gestiegene Komplexität technischerRisiken ausübt.
(3) Mittelfristige institutionelle Entwicklungspfade bestimmen, inwelchem Tempo, in welcher Form und mit welchem Anpassungserfolg die gewachsene Entwicklungsdynamik durch Institutionenwandel verarbeitet wird. Dieser Entwicklungspfad wirdvom Gesetz der Trägheit von Institutionen und der entsprechenden Pfadabhängigkeit von Entwicklung beherrscht. VorhandeneInstitutionen haben die traditionale Legitimität des Gegebenen,
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das Bedürfnis der Vermeidung von Störungen eines in sich kohärenten Institutionenmusters durch neue Elemente und die Transaktionskosten von Veränderungen auf ihrer Seite. Deshalb erfolgen Veränderungen mit umso größerer Verzögerung, je mehr sieeine Abweichung vom existierenden Institutionenmuster verlangen. Sie werden entweder abgestoßen oder so weit absorbiert,dass sie sich dem vorhandenen Gefüge unterordnen und demgemäß keine Störung verursachen. Hat sich die Entwicklungsdynamik verstärkt, dann muss das Beharren auf den gegebenen Institutionen mit entsprechenden Funktionsdefiziten, in unseremFall mit Defiziten einer technische Innovationen ermöglichendenund zugleich kontrollierenden politischen Regulierung technischer Risiken erkauft werden.
(4) Die mittelfristige soziale Konstruktion von Ordnung betrifft diesoziale Konstruktion von Ordnung durch die Weltsicht und dasRationalitätsverständnis der maßgeblichen Trägerschichten derOrdnung. Die alte Ordnungsphilosophie der sachlichen Problemlösung durch Experten wird durch die neue Ordnungsphilosophiedes kooperativen Konfliktmanagements verdrängt, die als Konstruktion aus dem Konflikt zwischen dem etablierten Expertenkartell und den auf Beteiligung drängenden neuen Akteuren - alternative Wissenschaft, weitere Disziplinen und Umweltschützer- hervorgeht.
(5) In kurzfristigen Entwicklungskonflikten entlädt sich die Spannung zwischen der Veränderungskraft der Entwicklungsdynamikund der Beharrungskraft von Entwicklungspfaden zwischen Modernisierern und Bewahrern, zwischen den Profiteuren der neuenOrdnung und den Profiteuren der alten Ordnung. Die bestehenden Institutionen werden von allen politischen Kräften gestützt,deren Interessen sie unmittelbar und mittelbar dienen. Das etablierte Netzwerk von Beamten, Experten und Interessenten wehrtVeränderungen in dem Maße ab, in dem sie ihre Positionen gefährden würden. Diejenigen Teile des Netzwerks, die unter demwachsenden Regulierungsdefizit leiden, werden jedoch bereit
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sein, sich für Veränderungen zu öffnen. Der entbrannte Machtkampf geht umso mehr zu Gunsten der Modernisierer aus, je tiefer die Regulierungskrise wirkt, je mehr die alte Regulierungsphilosophie an Überzeugungskraft verloren hat und je mehr dieBewahrer des Bestehenden in den Verdacht geraten, das Gemeinwohl dem Festhalten an Privilegien zu Gunsten ihrer partikularen Interessen zu opfern. Gelingt es den Modernisierern, dieBewahrer in die Ecke eines das Gemeinwohl schädigenden Partikularismus zu treiben und Position um Position im Machtgemge zu erobern, werden sie zu den Trägem eines Institutionenwandels, der den Entwicklungspfad an die neuen Herausforderungen der Entwicklungsdynamik anpasst und die Gesellschaftein Stück weiter auf dem Pfad der evolutionären Entwicklungslogik vorantreibt.
Zusammenfassung: Mit diesem Modell einer Theorie des sozialenWandels auf mnf Ebenen verknüpfen sich die sonst unverbundenen, fürsich selbst aber ungenügenden Ansätze der Evolutionstheorie (Entwicklungslogik), des Funktionalismus (Entwicklungsdynamik), des Institutionalismus (Entwicklungspfad), des Sozialkonstruktivismus (sozialeKonstruktion) und der Konflikttheorie (Entwicklungskonflikte). Sozialer Wandel wird dabei nicht nur im positivistischen Sinn kausal erklärt,sondern auch im hermeneutischen Sinn als sinnhafter Vorgang begriffen, als Herausbildung einer neuen Ordnung, deren Sinn es zu verstehen gilt. (vgl. Münch 2004, 153 ff.; Jäger/Meyer 2003, 130 ff.)
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2 Niklas Luhmann: Systemtheorie - die Radikalisierung desFunktionalismus
Luhmanns Verdikt, sozialer Wandel sei ein "erfolglos diskutiertesThema", ist noch aus dem Einleitungskapitel in Erinnerung. Die dortskizzierte Begründung betten wir in seinen Gesamtansatz mit hohemAbstraktionsniveau ein.
Während des 16. Deutschen Soziologentags 1968 in Frankfurt/M.stellt Luhmann seine Variante der Systemtheorie vor, die heute als eineder bedeutendsten Makrotheorien gilt. Luhmann baut auf dem strukturfunktionalistischen Ansatz von Parsons auf, wandelt ihn jedoch in diefunktional-strukturelle Systemtheorie um, deren Kern die dynamischenProzesse in der modemen Gesellschaft darstellen.
2.1 Grundlegende Annahmen
Luhmann betrachtet die modeme Gesellschaft aus einem neuen Blickwinkel. Grundlegende systemtheoretische Annahme ist, die sozialeEvolution (zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung, Erweiterungdes lebensweltlichen Erfahrungshorizonts, Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche wie Recht, Wirtschaft, Politik, in denennach jeweils eigenen Logiken unabhängig von anderen Systemenkommuniziert wird), ruhre zu immer komplexeren, rur den Einzelnenunüberschaubaren Formen sozialer Wirklichkeit und gesellschaftlichenLebens. Dieser Prozess erschwere den Aufbau bzw. die Aufrechterhaltung einer individuellen Identität. Es sei daher Aufgabe der sozialenSysteme (Institutionen, Regierungen, Unternehmen u.a.), durch dieReduktion von Komplexität, durch das Erfahrbar-INachvollziehbarMachen die Sinn- und Identitätssicherung zu ermöglichen. Diese Orientierungen bilden das Gravitationszentrum des Luhmannschen Denkensund sie scheinen in vielen Texten durch.
Luhmann bezeichnet die Systeme als Funktionssysteme, weil sie jeweils eine wichtige gesellschaftliche Funktion exklusiv errullen. AlleSysteme weisen eine ähnliche Strukturierung auf und sind autonom,
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d.h. sie erzeugen die Regeln, nach denen sie operieren, in eigener Regieebenso wie auch die Elemente, aus denen sie bestehen. Diesen Vorgangnennt Luhmann Autopoiesis. (s.u.) Die Systeme orientieren sich an einer Leitdifferenz, einem (binären) Code; "Codes bestehen aus einempositiven und einem negativen Wert und ermöglichen die Umformungdes einen in den anderen". (Luhmann 2004, 266)
Schon in seinen frühen Publikationen weist Luhmann Komplexitätund funktionale Differenzierung als die zentralen Merkmale modernerGesellschaften aus. Diese Komplexität, diese Überfülle von Möglichkeiten - es stehen immer mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns offen als aktualisiert werden können - gelte es mit Hilfe vonWissen(schaft) als Orientierungshilfe zu reduzieren. Im Grad der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften, dem ständigen Ausbau und der Ausdifferenzierung verschiedener Subsysteme, die jedochin einem wechselseitig aufeinander ausgerichteten Zusammenhangbleiben, sieht Luhmann ein entscheidendes Kriterium gesellschaftlicherEntwicklung.
Neben dem Vorrang des Funktionsbegriffs gegenüber der Strukturprägt er ein eigenes Systemverständnis. Wichtig ist, in welchem Verhältnis die Systeme zueinander stehen, wie sie funktionieren. Er sieht(Sub-)Systeme nicht als einfach gegeben an, sondern fragt nach denVoraussetzungen für Systembildung. Systeme entstehen durch Stabilisierung einer Differenz von Innen und Außen (Umwelt). Etwas wirdzum System durch eindeutige Abgrenzung von der Umwelt, durchGrenzziehung bzw. Selbstselektion. Umwelt bezeichnet alles, was die im Vergleich zu dieser Umwelt weniger komplexen - Systeme umgibt.Luhmann unterscheidet drei Ebenen der Systembildung: Interaktions-,Organisations- und Gesellschaftssystem. Gesellschaft ist "das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen." (1975, 11) Alle gegenwärtigen Gesellschaften sind nach Luhmann in unterschiedlicher Ausprägung komplex und durch modemeKommunikationsmittel im Prinzip kommunikativ erreichbar.
Im Gegensatz zu Parsons lehnt Luhmann die Bezugnahme auf Normen und ein allgemeines gesellschaftsübergreifendes, handlungsleiten-
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des Wertsystem als Zentrum des sozialen Wandels ab. Er hat weder einInteresse an der Art und Weise, wie ein gesellschaftlicher Normenkonsens entsteht, noch dafür, in welche steuerbare Richtung die gesellschaftliche Entwicklung geht bzw. gehen sollte. Luhmann ist einzigund allein an der fortschreitenden Komplexität der modemen Gesellschaften gelegen, die durch funktionale (Aus-)Differenzierung leistungsfahiger, jedoch auch anfälliger für Störung werden. Gegen dasÜberhandnehmen von Komplexität und Konfliktanfälligkeit und zurSchaffung von Sicherheit müssen Luhmann zufolge an Stelle von Normen von den Betroffenen akzeptierte Verfahren (z.B. bürokratischeVorgänge, Wahlen, Prozesse) treten. Hier zeigt sich wiederum deutlicheine eigenständige Position gegenüber Parsons. Luhmanns Legitimationsbegriff ist wertfrei; ihm geht es nicht um Konsensherstellung oderZustimmung zum System.
2.2 Autopoietische Wende
Nach 1980 vollzieht Luhmann einen Paradigmenwechsel. Sein Systembegriff wird um Selbstreferenz/Selbstorganisation oder Autopoiesis erweitert. Zwar bleibt die System-Umwe1t-Differenz im Wesentlichen erhalten, ist aber für den Erhalt eines Systems nicht mehr ausschlaggebend. Soziale Systeme und psychische Systeme (Alter undEgo; nicht ,Person', die bei Luhmann lediglich Themen von oderAdressen in Kommunikationen meint, nicht jedoch reale Menschen)werden ihrer Tendenz nach immer geschlossener, selbstbezogener undreorganisieren bzw. reproduzieren sich autopoietisch und sichern ihrenFortbestand aus sich selbst heraus nach inneren, ,eingebauten' systemspezifischen Gesetzmäßigkeiten. Was systemintern abläuft, kann nichtin andere Systeme übertragen werden. Lebende Systeme hören auf zuexistieren, sobald ihre operative Geschlossenheit zerstört wird. EineSteuerung von außen ist letztlich unmöglich, sie führt zur Zerstörungund zum Identitätsverlust.
Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Ein-
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schränkung der geeigneten Kommunikationen gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Statt Handlungen - wie in seinen Werkender 70er Jahre - kreieren nun Kommunikationen als solche ein System.Systeme bestehen aus Kommunikationen, nicht aus kommunizierendenMenschen oder Beziehungen. Kommunikation ist rur Luhmann nicht anSprache gebunden, störanfallig in hohem Maße und beinhaltet das Zusammenspiel von Information, Mitteilung und Verstehen. Auf Akzeptanz oder Reaktionen kommt es bei diesem Kommunikationsverständnis nicht an.
Mit dem Begriff der Kontingenz fasst Luhmann (1992, 96) wertfreidie zahllosen Handlungsmöglichkeiten ("alles, was weder notwendignoch unmöglich ist") der gegenwärtigen Gesellschaften. Die heutigeWirklichkeit wandele sich so schnell, dass den psychischen Systemender gegenwärtigen Gesellschaft stets mehrere Handlungsmöglichkeitenoffen stünden, mit denen sie wechselseitig aufeinander einwirken undHandeln beeinflussen. In Kommunikationsprozessen tritt diese doppelteKontingenz häufig auf, wobei die Positionen des Handelnden und desBeobachtenden rasch wechseln und so kaum auseinander gehalten werden können. Damit fUhrt Luhmann einen weiteren Begriff ein, den derBeobachtung im Sinne von "Handhabung von Unterscheidungen"(1987,63). Es gibt Beobachtungen erster und zweiter Ordnung; letzterebezeichnet die Beobachtung von Beobachtung; d.h. das eigene Verhalten wird beobachtet. Die Soziologie ist eine Theorie der Beobachtung"zweiter Ordnung".
2.3 "Fürs Überleben genügt Evolution"
Zunächst einmal gilt: "Wandel kommt vor, das kann nicht gut bestrittenwerden. Und was sich wandelt und wie tief der Wandel greift, ist lediglich eine Frage des Zeitraums, den man vor Augen hat. ... Man möchtenicht nur wissen, was sich wandelt und in welcher Richtung der Wandel geht; es wäre vorab wichtig, zu klären, was überhaupt gemeint ist,wenn von Wandel gesprochen wird... Von Änderung kann man nur in
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Bezug auf Strukturen sprechen" (Luhmann 1987, 470 f.), denn diesehielten "Kontinuierbares (und daher Änderbares) relativ konstant, und"garantier(t)en trotz der Irreversibilität der Ereignisse" - die, an denZeitpunkt gebunden, sich nicht ändern könnten - "eine gewisse Reversibilität der Verhältnisse". Ein über Strukturen identifiziertes Systemkönne "auf der Ebene der Erwartungen" lernen, "Festlegungen wiederauflösen, sich äußeren oder inneren Veränderungen anpassen". Für dieTheorie selbstreferentieller Systeme unveränderbar sei lediglich das,"was so schnell vergeht, dass fiir Änderungen keine Zeit bleibt." ..."Die Schranke rur Strukturänderungen ... liegt in den Problemen derselektiven Kombination von sofort wieder verschwindenden Ereignissen; sie liegt also in der Funktion der Strukturen." (Luhmann 1987,472f.)
Eine Gesamttheorie "des" sozialen Wandels, eine allgemeine Theorie, müsse anders als bisher vorgelegte Theorien vorgehen, von einemanderen Ansatz ausgehen, und Luhmann greift dazu den Begriff der"autopoietischen Selbsterhaltung" (ebd., 474 ff.) auf. Wie dargelegt,verläuft Autopoiesis selbstreferentiell geschlossen; sie kennt nur zweiEntwicklungsmöglichkeiten: anhaltende oder abbrechende Reproduktion. Als Folge der Geschlossenheit orientieren sich die Systemoperationen nur an sich selbst. Das macht Luhmann prägnant am Beispiel desausdifferenzierten Wirtschaftssystems deutlich:
" ... (D)ies Wirtschaftssystem (operiert) als ein ,autopoietisches'Subsystem unter funktionaler Autonomie. Es ist geschlossen durch rekursive Zirkularität. Es besteht aus Zahlungen, die auf Grund von Zahlungen möglich sind und weitere Zahlungen ermöglichen. In diesemSinne werden die Elemente des Systems durch die Elemente des Systems produziert, und die Umwelt des Systems enthält keinerlei Elemente dieser Art. Zugleich ist das Wirtschaftssystem aber auch ein offenes,da seine Operationen auf Bedürfnisse seiner gesellschaftlichen und seiner menschlichen Umwelt abgestimmt sind und da seine Funktion inder Sicherstellung der Aussicht auf Bedarfsdeckung in der näheren Zukunft besteht. In diesem Sinn ist Geschlossenheit des Systems Bedingung seiner Offenheit und umgekehrt." (1984, 308)
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Jedes systemintern erzeugte Ziel ändert sich im Prozess der Systemoperationen fortwährend. Der beständige Wandel, einzig und allein aufSelbsterhaltung ausgerichtet, muss als ziellos angesehen werden. MitHilfe der Unterscheidung von Struktur und Ereignis lassen sich evolutionäre Vorgänge besser darstellen. Auftretende Ereignisse ruhren zuStrukturveränderungen. Um ihres Erhaltes willen ändern sie sich ineiner Weise, dass Anschlussmöglichkeiten rur weitere Strukturoperationen bleiben. So ändern sich Z.B. Erwartungsstrukturen mit jedem Ereignis, jeder Errullung oder Enttäuschung in einer Weise, dass sie bessere Anschlussmöglichkeiten fUr zukünftige Erfüllungen oder Enttäuschungen anbieten können.
"Strukturänderung setzt Selbsterhaltung voraus, so viel ist immerklar gewesen... Autopoiesis ist also die Bedingung darur, dass eineStruktur sich ändern oder nicht ändern kann. Durch Autopoiesis wirdder Tatsache Rechnung getragen, dass kein Objekt seine Position in derZeit ändern (sondern eben nur: sich selbst oder anderes ändern) kann."(1987,474 f.)
Luhmann zufolge nach muss die Gesellschaft allerdings nicht ersthoch komplexe Probleme lösen, "... um ihr Überleben zu sichern. FürsÜberleben genügt Evolution. Auch der viel benutzte Krisenbegriff istinadäquat. Er suggeriert eine zeitliche Dringlichkeit tiefgreifenderStrukturänderungen..." (Luhmann 1987,645)
Was hier optimistisch klingt- selbst wenn "Überleben" an sich wohldie minimalistischste Variante darstellt - wird noch relativiert:
"Die Evolution hat schon immer in hohem Maße selbstdestruktivgewirkt. Kurzfristig und langfristig. Wenig von dem, was sie geschaffen hat, ist erhalten geblieben... Den Selbstverständlichkeiten und kulturellen Formen, der 'Lebenswelt' unserer heutigen Gesellschaft, wirdes genau so ergehen. Daran kann niemand ernsthaft zweifeln. ... Es istnicht auszuschließen, ja, genau betrachtet, wahrscheinlich, dass dieMenschen als Lebewesen wieder verschwinden werden." (Luhmann1992, 149)
Letztlich interessiert Luhmann nicht, in welche politisch steuerbareoder eben nicht steuerbare Richtung die gesellschaftliche Entwicklung
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gehen sollte. Die Systemtheorie behauptet die prinzipielle Unsteuerbarkeit selbstreferentieller Teilsysteme:
"Es gibt in der Gesellschaft keine Instanz, die diesen Wandel steuern könnte in Richtung auf ein erwünschtes Gesamtresultat; es gibt aberviele Möglichkeiten, ihn zu beeinflussen. ... Der soziale Wandel aber,der sich im Zusammenspiel von System und Umwelt einstellt, entziehtsich der genauen Vorhersage und Kontrolle, und zwar eben deshalb,weil die Umwelt mitwirkt." (1981, S. 143)
Luhmann ist einzig und allein an der fortschreitenden Komplexitätder modemen Gesellschaften gelegen, die durch ihre funktionale AusDifferenzierung gleichzeitig leistungsfähiger, aber auch anfälliger fürStörung werden. Gesellschaftliche Entwicklung ist als zunehmendeAusdifferenzierung autonomer, selbstreferentiell operierender funktionaler Teilsysteme charakterisiert, die spezifische Teilsystemrationalitäten ausbilden und das "Moment der Verselbständigung und Eigenlogik" (Adloff) in sich tragen. In diesem Sinn befindet sich Gesellschaftin einem fortwährenden Zustand sozialen Wandels, der zur laufendenAnpassung der gesellschaftlichen Strukturen zwingt; zudem ziehendiese neuen Strukturen weiteren sozialen Wandel nach sich. Wandel istalso die Voraussetzung von Evolution und die genügt zum Überleben.Ob Luhmanns Sicht von Evolution und sozialem Wandel tatsächlich"neodarwinistischen Mechanismen" folgt, wie Schmidt-Wellenburg2005 meint, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Zumindestauf den ersten Blick jedoch gibt es eine Affinität zu dem Evolutionsbiologen Reichholf: "In den Jahrmilliarden ihrer Existenz hat die Natur derErde weit größere Krisen und Katastrophen überstanden als den Menschen." (2006, 346)
Kommen wir nochmals auf die These von der Unsteuerbarkeit derTeilsysteme zurück. Durch die Unterscheidung von System und Umwelt definiert Luhmann Gesellschaft als ein Gesamtkonstrukt neu, dasvormals nach hierarchischen Prinzipien aufgebaut war. Die in diesemZusammenhang hervorgehobene Eigenständigkeit von Teilsystemenschließt die Möglichkeit von Interdependenzen zwischen den Teilsys-
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ternen nicht aus, das besagt zunächst lediglich, dass einzelne Systemeanderen Teilsystemen nicht mehr ausdrücklich über- oder untergeordnet sind. Dieses wiederum verweist zum einen auf die Emanzipierungvon Systemen aufgrund der fortschreitenden Differenzierung in modernen Gesellschaften. Die Systemtheorie liefert so eine schlüssige Erklärung dafür, warum das Primat des politischen Systems an Bedeutungverliert und gesellschaftliche Steuerung zunehmend schwieriger ist.Zum anderen ist die operationale Geschlossenheit von Systemen eineweitere Erklärung dafür, warum Steuerung in der Praxis häufig nichtintendierte Wirkungen hervorruft oder ins Leere läuft. Luhmanns These, eine gezielte Steuerung könne aufgrund des Zeitfaktors nicht gelingen, weil Steuerung in eine "offene Zukunft" projiziert werde, in derdie Eckdaten von Steuerung zum Zeitpunkt der Planung nicht bekanntsein könnten, ist sicherlich radikal, erscheint aber bei Steuerungsintentionen durchaus bedenkenswert. Dennoch ist Luhmann kein "Steuerungsnihilist" (Koob 1999, 59), der jegliche und damit auch indirekteSteuerung (im Luhmannschen Sinn: Beeinflussung) kategorisch ausschließt, zumal Luhmann ja symbolisch generalisierte Steuerungsmedien wie Geld, Macht, Vertrauen u.a. vertraut sind. Die Konstruktionseiner Systemtheorie macht eine Offenheit der Teilsysteme zur Umweltzwingend erforderlich, wodurch Steuerungsimpulse prinzipiell im System Reaktionen hervorrufen können. Luhmann begreift Steuerung alseinen hoch komplexen Vorgang: Soziale Systeme bilden wegen ihreroperativen Geschlossenheit und Selbstreferenz eine Eigenlogik undEigendynamik aus, mit deren Hilfe sie die Regeln der Reproduktion alsSysteme selbst bestimmen. Allein durch einen Übersetzungsprozess derSteuerungsintention der Umwelt in den systemintemen Code kann diesem Sachverhalt entsprochen werden, um dann Veränderungen im System auszulösen. Die mit dem Übersetzungsprozess verbundene Kontingenz macht Steuerung also außerordentlich schwierig. Die Neuere Systemtheorie nach Willke 2001 allerdings vertritt eine eher steuerungsoptimistische Sicht durch die Konstruktion einer dezentralen Kontextsteuerung und in der Form der Anregung zur Selbststeuerung von Systemen.
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Ob nun gedämpfter Optimismus oder ausgeprägte Skepsis, am Endeeiner umfangreichen Studie zur Steuerungsproblematik resümiert Wiesenthai (2006, 233 f.): "Es besteht in sozialtheoretischen, makrosoziologischen und politikwissenschaftlichen Denkzusammenhängen ,(d)ieweit verbreitete Ansicht, dass staatliche Steuerung eine Illusion sei'(Prätorius), während ,auf der empirischen Ebene die Erfolge von staatlicher Steuerung durchaus beachtlich erscheinen' (von Beyme.)." Wiesenthai begründet diesen Widerspruch mit der Komplexität der Gesellschaft und deren sozialen Prozesse. Einerseits werde durch Modelle dasannäherungsweise Begreifen der komplexen Strukturiertheit von Weltmöglich. Jedoch bezögen sich die theoretischen Aussagen wegen derbegrenzten menschlichen Fähigkeiten zur Informationsaufnahme und-verarbeitung auf grob vereinfachte, letztlich irreale Sachverhalte. Andererseits handelten die Akteure (Politiker, Unternehmer, Stadtplaneru.a.) unter den Bedingungen von hoher Unsicherheit in einem dynamischen und komplexen Raum mit Gespür für die Variablen, von denender Handlungserfolg abhänge. (vgl. ebd.) "Sie vermeiden völligintransparente Situationen, setzen angesichts diffuser Kausalitäten nichtalle Ressourcen auf eine Karte, sondern versuchen, die Bedingungender Möglichkeit des Handlungserfolgs durch Abstimmung mit potentiell kooperierenden ,Partnern' zu verbessern." (2006, 234) In derLuhmannschen Theorie jedenfalls ist der Staat nichts außerhalb derGesellschaft; er stellt lediglich eines der Funktionssysteme von Gesellschaft dar, ist weder Zentrum noch Spitze und fällt folglich als Steuerungskern der Gesellschaft aus.
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An Stelle einer Zusammenfassung von Luhmanns systemtheoretischbegründeter Abstinenz gegenüber sozialem Wandel und möglichenSteuerungsaktivitäten beziehen wir uns auf die bislang schärfste Kritikan dem Gesamtansatz, wie sie die "Theorie reflexiver Modernisierung"von Beck/Lau 2005 formuliert hat. Der auf Binarität (z.B. rentabel nicht rentabel) beruhende Ansatz von Luhmann "..perfektioniert dieEntweder-oder-Logik des Sozialen und macht daher blind für neueKomplexität und Kontingenz der filigran unterscheidbaren, besonderenSowohl-als-auch-Wirklichkeiten." (2005, 130)4 Luhmanns Hauptdefizitliegt in dieser Sicht darin, die Ebene der institutionellen Ordnung ,unterhalb' der funktionalen Teilsystem auszuklammern, gerade auf derfänden jedoch die "epochalen Wandlungsprozesse" statt. (ebd.) Diesekönnten von der Systemtheorie, für die zwischen funktionalen Teilsystemen und Organisationen kaum etwas gesellschaftlich Relevantesexistiere, nicht gesehen und nicht empirisch erfasst werden. Es sei daher nicht verwunderlich, dass die Systemtheorie große Schwierigkeitenhabe, einen Grundlagenwandel innerhalb der Modeme zu beschreiben;einen Wandel, der die institutionelle Logik, die ,Verfassung' modernerGesellschaften in ihrem Legitimationsmodus fundamental verändere.(vgl. ebd.)
4 Diese grundsätzliche Kritik gilt allerdings nicht nur Luhmann, wenn man wiez.B. Foucault darin übereinstimmt, dass alle Gesellschaften durch Gegensatzpaare konstituiert werden. In den europäischen Gesellschaften tritt Foucault zufolgeallerdings die Besonderheit zum Vorschein, dass der binäre Code ,NormaVPathologisch' heißt und mit diesem Code zudem eine Technik der Überfiihrung des Pathologischen in das Normale mit gedacht ist. "Die Integration der europäischen Gesellschaft wird also nicht lediglich durch die Exklusion des Anderen bewerkstelligt, sondern insbesondere durch die Möglichkeit der Hereinnahme des ausgeschlossenen Anderen." (Kaven 2006, 139)
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3 Amitai Etzioni: Theorie der gesellschaftlichen Steuerung
Auf Initiative Etzionis entstand 1993 mit dem "The CommunitarianNetwork" eine praktisch-politische Reformbewegung, um dem aus seiner Sicht zunehmenden Demokratiedefizit in der modemen Gesellschaft entgegenzuwirken. Das Aufkommen des Kommunitarismus wareine Reaktion auf die Sinn- und Orientierungskrise liberaler Gesellschaften mit ihrem Verlust an Solidarität, Verbindlichkeiten und anGemeinsinn stiftenden Werten. Die Ursachen für diese negativen Erscheinungen werden im Individualismus und in dem Leitbild des mündigen, bestehende Wert- und Sozialordnungen kritisch reflektierendenMenschen geortet. Kommunitaristische Auffassung ist, dass die Forderung nach schrankenloser Autonomie und Selbstbestimmung des Individuums den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft untergräbt unddas gesellschaftliche Wertesystem aushöhlt. Etzioni "vertritt die Strategie einer aufgeklärten Remoralisierung der Zivilgesellschaft. Die Individuen sollen ... ihre Selbstbestimmung in responsiven Gemeinschaftenorganisieren." (Reese-Schäfer 2001, 70) Allerdings zieht das kommunitarische Denken eine klare Trennlinie zu Sektierertum, religiösemFundamentalismus oder Totalitarismus jeder Ausformung. Kommunitarier sehen die Gesellschaft selbst, nicht den Staat als wichtigen undrichtigen Akteur in Fragen der Werte und Moral, als die Instanz, dieeinen Wandel im sozialen Verhalten der Menschen oder der Gesamtgesellschaft herbeizuführen in der Lage ist. Sie verweisen auf Erfahrungen mit "moralischen Dialogen" und plädieren für staatliche Zurückhaltung. "Eine 'good society' soll die Balance zwischen sozialer Ordnung und Autonomie anstreben und damit auch zwischen kollektivistischem Sozialstaat und neoliberaler Feindseligkeit gegenüber allemStaatlichen". (Reese-Schäfer 2001, 72, auch Lange 2000)
Etzioni hat den Kommunitarismus als eine Bewegung zur Verbesserung der moralischen, sozialen und politischen Umwelt auf eine pragmatische, mit einer liberalen Gesellschaft kompatiblen Ebene gebracht.Während der Liberalismus den Menschen als isoliertes Individuumbetrachtet, betonen die Kommunitaristen die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft; sie befürworten die freie Entfaltung des
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Einzelnen, solange sie sozial verträglich ist. Die absolute Gleichheitaller Menschen wird im Kommunitarismus zugunsten der prinzipiellenGleichheit verworfen. Soziale Ungleichheiten dürften allerdings nichtzu Privilegien bzw. Diskriminierung in anderen Bereichen fuhren.Konkret geht es um die Rekonstruktion der Gemeinschaft, der Community, um die Wiederherstellung der Bürgertugenden, um ein neuesVerantwortungsbewusstsein der Menschen, um die Stärkung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft. Gemeinschaft verankert Etzioniletztlich in der Natur des Menschen und erklärt sie, wie auch die "Gemeinschaft von Gemeinschaften", zum Grundtyp sozialer Aggregate eine Sicht, die eigentlich seit Ferdinand Tönnies' Differenzierung inGemeinschaft ("Wesenswillen") und Gesellschaft ("Kürwillen") undHelmuth Plessners "Grenzen der Gemeinschaft" soziologisch als überwunden gilt. Kommunitarische Gesellschaften verstehen sich alsgrundsätzlich demokratische Gesellschaften mit Massen partizipativemCharakter. Treffen verschiedene Gesellschaften aufeinander, Z.B. imGlobalisierungprozess, sind "Megaloge" (gesellschaftsübergreifendeDialoge) zu fiihren, die demokratischen Rahmenbedingungen entsprechen und aus denen nicht unerhebliche Wandlungen in den Grundwerten von Gesellschaften resultieren können.
Etzionis Entwurf einer "Aktiven Gesellschaft" ist ein klassischesWerk kommunitaristischer Sichtweise, in dem er die Überwindung sozialer Entfremdung durch eine Vielzahl lokaler, permanenter, nie endgültig abzuschließender Aktivitäten in einer aktiven Gesellschaft beschwört. Seine These beruht auf der Wissensbasierung der postmodernen Gegenwartsgesellschaft, was eine Neubewertung bzw. Neuuntersuchung der Einflüsse von Natur- und Sozialwissenschaften auf gesellschaftliche Prozesse erfordere. Geradezu überschwänglich preist Senghaas (1969, 118 ff.) in seiner Rezension Etzionis "The Active Society"als ein Buch aus der Praxis für die Praxis, das sich jedoch eben auch als"hoch theoretisches Plädoyer für die gesellschaftliche Selbstregelungvon unten her, die "societal guidance", erweise. Etzioni sei ein "Ansatz(gelungen)..., in dem zum ersten Mal sozialtechnische Vernunft, alsoinstrumentelle, organisatorische Rationalität... mit praktischer Ver-
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nunft", also dem Anspruch der "Mündigkeit, authentischer Existenzund kritischer Einsicht" verbunden sei. Er habe eine allgemeine Theorie auf höchstem Niveau vorgelegt. Kaum ein Wissenschaftler habeVergleichbares versucht, nämlich "die Formulierung einer makrosoziologischen Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse." Für diese Einschätzung spricht die intensive Rezeption des Kommunitarismusin der politischen Theorie der Gegenwart (z.B. Haus 2003); hier werden neue Antworten auf Fragen zu den Grundlagen der modernen Politik diesseits einer bloß individualistischen und neoliberalistischen Theorie und Praxis vermutet. Aus philosophischer Sicht hält Röttgers dagegen Etzionis Konzeption mit ihrem "oh, es muss alles anders und sowie früher werden" rur die "schlechteste" unter den aktuell diskutiertenGegenwartsdiagnosen. (2002, 398 ff.)
Ungeachtet dieser Kritik schaffte Etzioni mit diesem Buch zwar deninternationalen wissenschaftlichen Durchbruch, doch fand sein makrosoziologischer Ansatz nicht die erhoffte Aufmerksamkeit der scientificcommunity, so dass seine Theorie der gesamtgesellschaftlichen Steuerung (Selbstregelung) letztlich weitgehend unbeachtet blieb. Nebeneiner allgemeinen soziologischen Theorie, die sich mit der Erforschunguniverseller Eigenschaften sozialer Einheiten beschäftigt, hält Etzionidie Erarbeitung einer speziellen Makrosoziologie - sie betrifft Gesellschaften, Subgesellschaften und Kombinationen von Gesellschaften rur erforderlich. Die rur die Aspekte sozialen Wandels relevantenMerkmale dieser Konzeption zeichnen wir im Folgenden nach.
3.1 Ausgewählte Grundlagen
Ausgangspunkt der Konzeption ist, Wandel unterliege kontrollierbaren,jedoch auch sich der Kontrolle der Beteiligten entziehenden Faktoren,sei also eine Mischung aus gesteuerter und ungeplanter Veränderung.In den Annahmen über dieses "Mischungsverhältnis" unterscheidensich kollektivistische von voluntaristischen Theorien. (vgI. Etzioni1975,676 ff.)
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Erstere begreifen gesellschaftliche Zustände als Folge quasi organischer Beziehungen zwischen den Teilen eines gesamtgesellschaftlichenGanzen und beschäftigen sich vor allem mit dem ungeplanten Wandel.Voluntaristische Theorien dagegen betrachten gesellschaftliche Zustände als Ausdruck des Willens oder Bewusstseins eines makroskopischenIndividuums und richten daher ihr Hauptaugenmerk auf den geplantenWandel.
Etzionis Interesse an einer gesamtgesellschaftlichen Steuerung desWandels führt nun beide Ansätze zusammen und füllt diese durch kybernetische Anleihen (der Regierungsapparat als Kontrollsystem, "dasdie Gesellschaft mit Entscheidungszentren, Kommunikationsnetzenund Rückkoppelungsmechanismen versieht" (1975, 675)) und machttheoretische Überlegungen auf (Steuerungsfahigkeit der Eliten; Fähigkeit einer gesellschaftlichen Einheit, sich auch gegen Widerstand anderer Einheiten durchzusetzen). Zentral sind zudem die Bedingungen füreine Selbsttransformation der Handlungseinheiten. Je größer die Fähigkeit dazu, desto ausgeprägter das Bewusstsein für funktionale Alternativen, aber auch ihr Wissen um die Folgewirkungen getroffener Entscheidung sowie für zu erwartende Gegenwirkungen anderer Handlungseinheiten. In Etzionis Theorie der gesamtgesellschaftlichen Steuerung kommt der Unterscheidung von aktiven Einheiten mit bzw. passiven Einheiten ohne Selbststeuerungskapazität daher eine besondereBedeutung zu. Erstere verfügen über ein allerdings unterschiedlichesAusmaß an Selbststeuerungsfähigkeit bzw. Fähigkeit zur Selbsttransformation, während in passiven Einheiten die Makroeinheiten unfähigzur Setzung kollektiver Ziele sind und an die Stelle zielgerichtetenHandeins lediglich Reaktion tritt.
Der Aktivitätsgrad einer Einheit hängt von kybernetischen Fähigkeiten, von Macht (Kontrollfahigkeit) und der Fähigkeit zur Konsensbildung ab. Kontrollfähigkeit und Konsensbildung ergeben Führungsfahigkeit; dabei kann eine Einheit ihr Handeln nur durch eine verbesserteKombination dieser beiden Faktoren - der Steuerungsmechanismen optimieren. Der Staat ist die Organisation zur Kontrolle und Konsenserzeugung. Dessen gesellschaftliche Steuerungsaktivitäten zeichnen
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sich prinzipiell durch zwei unterschiedliche Kontrollinstanzen aus: soziale Kontrolle und Offenheit für Bedürfnisse. "Die eine Instanz kontrolliert Mitgliedseinheiten und spezifiziert ihre Bindungen an gesellschaftliche Werte; die andere hat die Funktion sicherzustellen, dass dieKontrolle gegenüber den Bedürfnissen der Mitglieder sensibel bleibt."(1975,32)
Nun ist, wie beschrieben, die Handlungsfähigkeit einer Einheit(Staat und andere) nicht allein von der Kontrollfähigkeit bestimmt; esbedarf der Abstimmung. Konsens also muss erzeugt werden; er ist dasErgebnis wechselseitiger Beeinflussung und muss bei veränderten Lagen stets neu gefunden werden. Wechselbeziehungen zwischen Kontrolle und Konsens bestimmen das Maß an Widerstand und somit dieHandlungsfähigkeit bei Prozessen des Wandels. Die Suche nach einerStruktur, die mehr Steuerung und höheren Konsens ermöglicht, siehtEtzioni noch nicht abgeschlossen. (vgl. 1975, 168)
3.2 Gesellschaftstypen
Mit Hilfe der Dimensionen Kontrolle und Konsensus entwickeltEtzioni nun Idealtypen von Gesellschaft:
• Aktive Gesellschaft: hohes Aktivitätsniveau, hohes Konsensniveau durch normative Macht, größte Fähigkeit aller Typen zurSelbstlransformation.
• Passive Gesellschaft: niedriges Kontrollniveau, kollektivistischer und statischer Konsensus, Mobilisierbarkeit für gesamtgesellschaftliche Ziele kaum gegeben, hoher Grundkonsens möglich, Fähigkeit zur Konsensusbildung niedrig.
• Übersteuerte (overmanaged) Gesellschaft: hohe Kontrolle, niedriger Konsens.
• Ungesteuerte (drifting) Gesellschaft: niedrige Kontrolle, hoherKonsens.
Zu letzterem Typus zählen kapitalistische Demokratien, die erst in deroffensichtlichen Krise Konsensus zum Handeln zu mobilisieren in der
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Lage sind, ihre Steuerungsfähigkeit jedoch nicht entscheidend erhöhenkönnen und sich daher Veränderungen vielfach in der Anpassung vonkonservativen an progressivere Subgruppen erschöpfen, womit sie ihren Rückstand gegenüber aktiven Gesellschaften nicht minimierenkönnen. "Kapitalistische Demokratien sind (auch) deshalb ungesteuerteGesellschaften, weil die einflussreichen Subgruppen die gesellschaftlichen Ressourcen für ihren eigenen Konsum und ihre eigene Macht einsetzen, indem sie die Kontrollen, die einen solchen Missbrauch verhindern könnten, neutralisieren oder in den Dienst ihrer eigenen Interessenstellen. In jedem Fall hat die Gesellschaft als ganze die Steuerung ihrerProzesse und Wandlungen nicht in der Hand." (1971, 170)
3.3 Theorie sozialer Praxis als Theorie des Wandels
Etzioni setzt sich für die Etablierung einer Makrosoziologie ein, dieGesellschaften als Gesamteinheiten, ihre einzelnen Komponenten unddie sich wandelnden Kombinationen zwischen ihnen zum Gegenstandhat. Sein integrativer Ansatz zielt auf eine bessere Theorie des gesamtgesellschaftlichen Wandels, insbesondere für modeme und sich modernisierende Gesellschaften, in denen beide Wandlungsprozesse allgegenwärtig sind. Mit kybernetischen Kategorien korrigiert er die Auffassung, Gesellschaft werde durch gemeinsame Sentiments und Wertezusammengehalten. Hinzu tritt der der Einbau der Kategorie ,Macht' indie Konzeption.
Die Theorie der gesamtgesellschaftlichen Steuerung begreift Transformation als einen Prozess und untersucht systematisch die Quellendes Wandels (gesellschaftliche Energie, Ressourcen, Macht). Insofernerschiene es gerechtfertigt, Etzionis innovativen Ansatz erneut aufzugreifen, der sich als Gegenpol zur systemtheoretischen Fassung derTheorie funktionaler Differenzierung darstellt, die im weitesten Sinnauf individuelle oder kollektive Akteure verzichtet. Adloff (1999, 149f.) sieht denn auch Etzionis Steuerungstheorie anschlussfähig an aktuelle Debatten über politische Steuerungsmöglichkeiten in modemen Gesellschaften, während die Systemtheorie bei starker Betonung der evo-
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lutionistischen Komponente ja die Steuerbarkeit selbstreferentiellerSysteme grundsätzlich ausschlösse.
Trotz seines Eintretens für die Ausarbeitung effektiver Steuerungsmethoden, die den Zielsetzungen der Gesellschaft insgesamt und nichtnur denen einzelner Interessensgruppen dienen, verhehlt Etzioni einGrundproblem nicht. "Je größer (nämlich) im Vergleich zum ungeplanten Wande1 der Anteil des gesteuerten Wandels ist, desto größer ist(marxistisch gesprochen) die Gefahr der Verdinglichung (Form derEntfremdung, die das Bewusstsein bzw. das Denken betrifft, d. A.) undder Verfalschung von Zielsetzungen." (1971, 147) Er diagnostiziert einDemokratiedefizit in der modemen bzw. postmodernen Gesellschaft,das durch die "Aktivierung des Selbst" anstelle von "Passivität, Ruhe,über sich hinweg handeln lassen, ohne zu reagieren", abzubauen sei.Die sich aus ihrer Passivität emanzipierende, aktive Gesellschaft seijedoch keinesfalls als Rückfall in eine "Pseudogemeinschaft" gedacht,sei nicht Flucht aus der Gesellschaft. "Im Prozess der gesellschaftlichenAktivierung gewinnen nicht nur mehr Menschen Anteil an ihrer Gesellschaft, indem sie ihre Strukturen neu formen, sondern die Mitgliederselbst werden transformiert; sie machen Fortschritte zusammen mit derGesellschaft, die sie verändern." (1975, 38)
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Zusammenfassung: Etzionis Theorie einer sozial orientierten Praxisentwirft zielgerichtete Strategien für einen Wandel der bestehendenGesellschaft zu einer aktiven, besseren Gesellschaft. In diesem Kontexteröffne, so Etzioni, die "Wissensgesellschaft" neue Möglichkeiten, daweder der Erwerb noch die Verbreitung von Wissen den Gesetzen derKnappheit unterlägen, und durch die neuen Kommunikationstechnologien eine weltumspannende Vergrößerung des Ausmaßes von Wissenund auch von Selbstorganisationsfähigkeit möglich sei. Die herausragende Rolle des Staates sieht Etzioni in dessen Rolle als Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Konsenses, als Werkzeug gesellschaftlicher Mobilisierung und Aktivität begründet. "Der Staat ist die großeOptionfür fundamentalen gesellschaftlichen Wandel." (1975, 523) DerStaat fördert die Herausbildung einer sich aus obrigkeitsgesteuerterPassivität emanzipierende aktiven Gesellschaft. Sie setzt sich ausselbstbewussten Akteuren und Gruppen zusammen, die durch engagiertes Handeln Ziele verwirklichen und die Ebenen der Gesellschaft beeinflussen, auf denen soziale Bedingungen ausgehandelt werden können.Damit steht Etzionis Wertschätzung der Rolle des Staats im krassenWiderspruch zu der O.g. Position von Luhmann.
4 Hartrnut Esser: Theorie der soziologischen Erklärung-Wider den petrifizierenden Strukturfunktionalismus
Während sich die Theorieansätze von Etzioni und Luhmann zwar amFunktionalismus in reformerischer bzw. in radikalisierender Absicht,reiben', dennoch dem Ursprünglichen auf unterschiedliche Weise undIntensität verhaftet bleiben, schlägt Esser mit dem Ansatz einer ,multilinearen' Evolutionstheorie des sozialen Wandels einen völlig anderenWeg ein. Diesen nachzuzeichnen, erfordert eine ähnlich breite Auseinandersetzung mit Essers Modell der ,soziologischen Erklärung' wiezuvor mit der Konzeption von Parsons und Münch.
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Bekanntlich ist Soziologie eine Wissenschaft mit vielfältigen Paradigmen. Diesen Sachverhalt spiegelt auch die gegenwärtige deutschsprachige Soziologie mit unterschiedlichen Theorieansätzen wider. Sosieht sich der Rational Choice-Ansatz, auch als methodologischer Individualismus bezeichnet, dessen bekanntester deutscher Vertreter Hartmut Esser im Folgenden zu diskutieren ist, u.a. der weiterhin bedeutsamen Kritischen Theorie (Jürgen Habermas), der Phänomenologie(Alfred Schütz) oder der einflussreichen soziologischen Systemtheorie(Niklas Luhmann) gegenüber.
Werden Emergenzphänomene besonders in der Makrosoziologieund in systemtheoretischen Ansätzen betont, wird z. B. Gesellschaft inder Systemtheorie aus der Perspektive von Kommunikation und NichtKommunikation in sozialen Systemen und nicht aus der Sicht des individuellen Handeins betrachtet, fUhrt der methodologische Individualismus Aggregatphänomene auf rationale Entscheidungen und auf dasdaraus resultierende Handeln einzelner Individuen zurück. Ausgangspunkt der Rational Choice-Theorie ist die Annahme, das Individuumsei der Gesellschaft vorgeordnet; entsprechend gilt Gesellschaft alsResultante zielorientierter Handlungen autonomer Akteure. (vgl. Kappelhoff 2000, 219) So seien "Sätze über gesellschaftliche Gruppen undSachverhalte vollständig auf Sätze über Individuen reduzierbar", bauten sich "soziale Situationen oder Akteure... aus individuellen Handlungen, Motivationen usw." auf, ließe sich "individuelles Verhalten...nicht durch gesellschaftliche Faktoren bzw. makrosoziologischeGesetze erklären." (Rönsch in Fuchs-Heinritz u.a. 1994,293) Die Rational-Choice-Theorie beharrt zwar auf ihrer streng individualistischenFundierung, übersieht jedoch nicht "die wechselseitige Bedingtheit vonIndividuum und Gesellschaft". (Kappelhoff2000, 220)
Mit seiner Sozialtheorie will Esser die verschiedenen Paradigmender Soziologie überwinden, es geht ihm um die Einheit der Soziologiean Stelle der Zersplitterung des Faches. Zur Erreichung dieses Ziels hater den Rational Choice-Ansatz stark ausgebaut. Dessen Grundidee besagt: Menschliche Entscheidungen sind rational, Menschen wissen, wassie wollen, wissen, was wichtig ist und wägen dementsprechend ab,
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 107
was rur oder gegen verschiedene Optionen spricht. Der Ansatz gehtvom ,homo oeconomicus' der Werterwartungstheorie (WE-Theorie)aus.
4.1 Ausgewählte Grundannahmen
Zentraler Gegenstand der Theorie von Esser sind kollektive Phänomene, nämlich typische soziale Situationen, ihre Reproduktion und derWandel ihrer Strukturen. Soziale Situationen sind mit Greshoff (2006,163) durch zwei Merkmale charakterisiert. Zum einen dadurch, dass inihnen mindestens zwei Akteure im wechselseitigen Bezug aufeinanderhandeln, die beide damit auch rechnen und sich daran ausrichten. Zumanderen durch soziale Strukturen (kulturelle Frames), welche als Rahmen dieses Zusammenhandeln ermöglichen und daraus hervorgehen.
Esser bezeichnet Individuen als Handlungsträger, aus deren individuellen Handlungen unter verschiedenen Bedingungen soziale Phänomene erklärbar sind. Dazu verwendet er eine Spielart der WertErwartungstheorie, die bei subjektiven Vorstellungen der Akteure ansetzt. Der Kern aller Rational Choice-Theorien besteht aus wenigenAnnahmen bzw. Hypothesen (Motivations- und Selektionshypothesebzw. Hypothese der Handlungsbeschränkung) und -einer Entscheidungsregel, nach der Individuen intentional handeln, die von ihnenwahrgenommenen Handlungsalternativen nach deren Kosten und Nutzen rational bewerten und schließlich die Handlungsalternative auswählen, die ihnen subjektiv gesehen den größten zu erwartenden Nutzenoder aber auch die geringsten Kosten verspricht.
Die Akteure müssen folglich zwischen mindestens zwei Alternativenihre Entscheidung treffen können. Sowohl die Nutzenorientierung alsauch die Regel der Nutzenmaximierung, die Esser "rational" nennt "Rationalität ist also auf die Regel der Selektion des Handeins bezogen,nicht auf subjektive Interessen, Ziele, Bewertungen und Erwartungen,also nicht auf das, was man die Randbedingungen der Selektion nennt"(Greshoff/Schimank 2006, 13) -, sind für die Erklärung von Handlungen besonders wichtig.
108 II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II
Akteure haben Ziele, sind an der Kontrolle und Nutzung weitererRessourcen (die Nutzenproduktion geschieht wesentlich über Ressourcen der Außenwelt) interessiert, und somit sind Handlungen letztlichimmer ein Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen, zur Verwirklichung eines Wunsches respektive zur Erreichung eines Zieles. Mittelund Ziel sind von individuellen Präferenzen abhängig. Allerdings reduzieren Handlungsbeschränkungen - natürliche (z.B. Zeitmangel) undsoziale (z.B. Normen) Restriktionen - die jeweiligen Handlungsalternativen, beschränken den Handlungsspielraum. Wahrscheinlich ist zudem, dass ein Mensch eine Handlungsalternative vor dem Hintergrundunvollständiger Informationen auswählt, und so seine subjektiven Erwartungen von Nutzen oder Kosten im Hinblick auf die Eintrittswahrscheinlichkeit stets einer gewissen Irrtumsanfalligkeit unterliegen.
Individuelle Handlungen orientieren sich überdies fast ausschließlich an kurzfristigen Zielen, die unmittelbaren Aspekte der Situationsind wichtiger als zukünftige. Entscheidungsgrundlage ist faktisch immer die Höhe des kurzfristig zu erwartenden Nutzens, was zu einemMissverhältnis zwischen kurzfristigen Orientierungen und langfristigenFolgen (Negieren später anfallender Kosten Z.B. Lungenkrebs bei Rauchern) führt. Rationale, Nutzen maximierende Wahlhandlungen schließen unegoistisches, altruistisches Verhalten nicht aus. Zuwendung oderAnerkennung durch andere oder aber auch ein gutes Gewissen istschließlich auch ein Nutzen.
Nun bestimmt jedoch kein Einzelakteur das Ergebnis seines sozialenHandeins selbst, denn in sozialen Systemen handeln zumindest zweiAkteure, die ihre Handlungen aufeinander abstimmen müssen, sich anden wechselseitigen Erwartungen, Bewertungen und Entscheidungenorientieren, also unter der Bedingung der doppelten Kontingenz handeln. So steht "im Zentrum des Interesses von Essers Soziologie ...nicht das Zustandekommen von Einzelhandein, sondern die Dynamikhandelnden Zusammenwirkens mehrerer Akteure. ... Dabei geht Esser... davon aus, dass handelndes Zusammenwirken nicht immer, aberdoch oft transintentionale Effekte zeitigt. Handeln verfehlt oftmals, mitanderem Handeln interferierend, seine Intentionen mehr oder weniger
11 Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart 11 109
stark, und produziert stattdessen nicht selten ganz unerwünschte Folgen; oder es realisiert zwar Intentionen, aber bringt daneben noch weitere, vielleicht sozial viel gewichtigere Effekte hervor." (Greshoff/Schimank 2006, 2 f.)
4.2 RREEMM-Modell und die ModelIierung sozialer Prozesse
Die Gesellschaftswissenschaften wenden im Allgemeinen zwei unterschiedliche Menschen-Modelle an, den ,homo sociologicus' als Modellder Soziologie und den ,homo oeconomicus' als Modell der (neoklassischen) Ökonomie. Die in der Soziologie vor allem von Ralf Dahrendorfdurch seine gegen Ende der 50er Jahre vorgenommene Rezeption deramerikanischen Rollentheorie bekannt gemachte Figur des ,homo sociologicus' verwirft Esser (1993, 231 ff.) mit der Begründung, ihm fehleeine explizite und präzise Selektionsregel für das Handeln. Auch der,homo oeconomicus' übersehe zentrale Merkmale der erklärenden Modellbildung in der Soziologie; er könne Z.B. nicht lernen und definieredie Situation nicht in Abweichung von objektiven Gegebenheiten. (vgl.ebd., 237) An die Stelle dieser beiden, für soziologische Erklärungenungeeigneten Modelle setzt Esser nun das RREEMM-Modell
Der Mensch des RREEMM-Modells, das ursprünglich auf WilliamH. Meckling zurückgeht, ist in der Erweiterung durch Siegwart Lindenberg ein "Resourceful, Restricted, Expecting, Evaluating, Maximizing Man". (vgl. Esser 1993,238)
Der Akteur sieht "sich Handlungsmöglichkeiten, Opportunitätenbzw. Restriktionen ausgesetzt", kann "aus Alternativen seine Selektionen vornehmen" und "dabei findig, kreativ, reflektiert und überlegt,also: resourceful, vorgehen", hat "immer eine 'Wahl', sieht, "dass dieseSelektionen über Erwartungen (expectations) einerseits und Bewertungen (evaluations) andererseits gesteuert sind; und dass die Selektion desHandeins aus den Alternativen der Regel der Maximierung folgt. DieseRegel ist explizit und präzise - und anthropologisch gut begründet"(ebd.) und nicht einseitig wie die Modelle des homo sociologicus bzw.des homo oeconomicus; sie ist zudem einfach, überschaubar und flexibel.
110 II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II
Esser will soziales Geschehen verstehend erfassen und erklären.Sein dreischrittiges Modell zur Überführung kollektiver Phänomene aufindividuelle Handlungen stellt Esser in einem Makro-Mikro-MakroSchema dar, in dem er den Zusammenhang zwischen Individuum undGesellschaft aus individualistischer Sicht analysiert.
SozialeSituation -----------------------------~
(d)
KollektivesExplanandum
(a) (c)
Akteur )
(b)
a: Logik der Situationb: Logik der Selektionc: Logik der Aggregationd: kontinuierendes
Aggregationsniveau
Handlung
Quelle: Hartmut Esser, Grundmodell der soziologischen Erklärung(aus: Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 1993,98, leicht verändert)
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 111
Von der Makro-Ebene, also einer rekonstruierbaren sozialen Situationmit objektiven Handlungsalternativen und Restriktionen fiir den Akteurausgehend, erfolgt der Wechsel zur Mikro-Ebene.
• Die" Logik der Situation" modelliert, wie die an sich objektiveSituation vom Akteur (dem Individuum) mit seinen wahrgenommenen Alternativen subjektiv definiert, aufgenommen bzw.wahrgenommen wird.
• Die" Logik der Selektion" modelliert, welche Handlungsalternative vom Akteur aus welchem Grund ausgewählt werden. Esserbevorzugt :fiir diesen Schritt die "subjective expecting utility"Theorie, die Werterwartungstheorie zur Erklärung rational motivierten individuellen Handeins oder Verhaltens, wobei das motivierte Handeln einer Person anhand und in Abhängigkeit von eigenen Erwartungen und Bewertungen im Hinblick auf die Erreichbarkeit eines von ihr gesetzten und von ihr in seiner Wertigkeit :fiir ihn selbst bestimmten Zieles erfolgt. (vgl. Lautmannin Fuchs-Heimitz u.a. 1994, 739)
• Vom Handeln mit kurzfristigen Ergebnissen und Konsequenzenauf der Mikro-Ebene geht es zurück zur Makro-Ebene. Im dritten Schritt, der "Logik der Aggregation" wird modelliert, wiemittel- und langfristig individuelle Handlungen, deren Ergebnisse und Effekte sich zu kollektiven und damit Makro-Folgen desHandeins aggregieren. Dies geschieht unter Zuhilfenahme vonTransformationsregeln und -bedingungen.
"Logik der Situation"
Die soziale Situation, in der sich ein Akteur befindet, wird rekonstruiert, eine subjektive Deutung/Definition dieser Situation vorgenommen, eine Rahmen-Analyse ("framing") erstellt, mit deren Hilfeder jeweilige Akteur seinen Anteil bzw. seine Mitwirkung definiert,sich positioniert/verortet. Hierbei werden Handlungsoptionen, Grenzensetzende Restriktionen und Präferenzen erfasst. Dabei sind aus der
112 II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II
Sicht des Individuums äußere Handlungsbedingungen wie materielleOpportunitäten und Restriktionen, institutionelle Regeln und der kulturelle Bezugsrahmen maßgeblich für die Einschätzung der objektivenBeschaffenheit von Situationen. Grundlage dafür ist - wie auch für die"Logik der Selektion" - die Werterwartungs-Theorie, die festgelegt,"welche Situationselemente Aufschluss darüber geben, wie der Handelnde zum einen Nutzenwerte und zum anderen Wahrscheinlichkeiten,mit denen bestimmte Handlungsalternativen bei der Realisierung bestimmter Nutzengrößen f6rderlich sind, subjektiv einschätzt." (Schimank/Kron/Greshoff 2002, 357)
Esser geht von einer subjektiven Situationsdefinition durch den jeweiligen Akteur aus, dessen Perzeption durch persönliche und sozialeFaktoren beeinflusst sein kann. Dennoch sind Akteure zumeist in derLage sind, die gegebenen Situationen in ihrer objektiven, realen Beschaffenheit zu erkennen. Und wo sie dazu nicht fähig sind, dies nichttun, lägen "wiederum zumeist keine höchst idiosynkratischen, soziologisch kaum fassbare Deutungen vor, sondern intersubjektive, also sozial geteilte und soziologisch erklärbare (Fehl-)Deutungen, wie sie sichu.a. in kollektiven Täuschungen bemerkbar machen, die dann auch ZU
self-fulfilling bzw. self-destroying prophecies werden könnten." (ebd.)
"Logik der Selektion"
Esser zufolge kommen Handlungstheorien nicht daran vorbei, aufzuzeigen, nach welchen Regeln Akteure selektieren. Individuelles Handeln erklärt Esser in einem handlungstheoretischen Dreischritt: In derKognition der Situation, der Evaluation der Konsequenzen einer bestimmten Handlung und der Selektion der Option mit dem größtenNutzenwert, der höchsten Nutzenerwartung.
Bieten sich mehrere Handlungen zur Erreichung eines Zieles an,wählt das Individuum immer die Handlung aus, die subjektiv gesehenden größten zu erwartenden Nutzen bringt, respektive die geringstenKosten nach sich zieht. Das Individuum wählt also die Alternative mitder jeweils besten Nutzen-Kosten-Bilanz.
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 113
Esser erläutert seine "anthropologisch fundierte Maximierungsprämisse" (Schimank/KronJGreshoff, 2002, 355) so: "..., dass es in der Tatein allgemeines, evolutionär bewährtes Hauptprinzip des erfolgreichenUmgangs mit dem Restriktionsproblem und der optimalen Selektionaus möglichen Alternativen gibt, das auch dann noch seine Geltungnicht einbüßt, wenn die Restriktionen mehr und mehr zu solchen dergesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit werden. Dieses Prinzip der Logik lässt sich in einer Regel und in zwei Grundvariablen zusammenfassen. Nämlich: Maximiere die eigene Fitness unter den internen Erfordernissen des Organismus und unter den Bedingungen in derjeweiligen (sozialen wie nicht-sozialen) Umgebung." (Esser 1993,222)
Selbst objektiv nicht rational aussehende Selektionen können sichfür den (subjektiven) Akteur als durchaus rational erweisen und widersprechen nicht den Aussagen des Rational Choice-Ansatzes, schmälernnicht dessen Erklärungswert. Auch altruistisches, kooperatives, unegoistisches Handeln ist im Sinne von Nutzenmaximierung rational.Zur Vereinfachung der Entscheidung und des Selektionsprozesses, zurVerringerung der Kosten bei der der Suche nach Alternativen wie auchzur Erleichterung der Nutzenbewertung integriert Esser "habits" und"frames" in sein Konzept.
"Habits" bezeichnen ansozialisierte Relevanzsysteme, also nichtverbindlich vorgeschriebene oder gar sanktionierte Verhaltensweisen,insbesondere Muster sozialer Interaktion, gelernte, auf bestimmte Umgebungsreize und durch gehäufte Wiederholung zunehmend leichter,"automatischer", routinemäßig, selbstverständlich und damit unbewusstablaufende Reaktionen in bestimmten Situationen. (vgl. Treiber/Klimain Fuchs-Heinritz u.a. 1994,248).
Mit Hilfe der "frames" vergleicht das Individuum in der Kognitionsphase eine gegebene Situation mit den gespeicherten Merkmalen einertypischen Situation, nimmt eine typische Situationsdeutung vor undwählt aus der Sicht des Akteurs der Situation angemessene, rationaleZielprioritäten aus. Erst die erhöhte Wahrscheinlichkeit, eine ,bessere'Lösung zu finden oder gegebenenfalls durch Nicht-Wahrnehmung eineranderen existierenden Handlungsalternative Opportunitätskosten (also
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einen Nutzen-Entgang zu erleiden), wird das Individuum dazu bringen,nicht nach normativ gestützten Verhaltensroutinen zu handeln, sondernnach neuen Alternativen zu suchen.
"Logik der Aggregation"
Der dritte Schritt des Erklärungsmodells zeigt auf, wie sich individuelleHandlungen und deren Folgen mittel- und langfristig zu kollektivenFolgen und damit zu Makro-Folgen des Handeins aggregieren. "Gegenstand der 'Logik der Aggregation' ist die Erklärung der Reproduktion bzw. Veränderung sozialer Gebilde. Hieran wird noch einmal ganzdeutlich, dass Esser mit seiner Soziologie nicht allein das Handeln Einzelner in den Blick nimmt. Zwar begreift er den Erhalt/Wandel solcherGebilde als Folge des Handeins von Akteuren, die Erklärung der zuGrunde liegenden Prozesse über eine bloße Summierung dieser Handlungen lehnt er aber als individualistischen Fehlschluss ab. Das Ganzehat, so Esser, eine neue Qualität, die sich über die Explanation der Teilenicht erfassen lässt. Die Reproduktion sozialer Systeme ist also aus denEigenschaften und dem Handeln von Akteuren alleine nicht herleitbar.Das macht eben ihre Emergenz aus." (SchimankiKronlGreshoff 2002,360)
Wie mit der "Logik der Aggregation" individuelle Handlungen inein zu erklärendes kollektives Phänomen übergeführt werden, veranschaulicht Esser am Beispiel des Entstehens des sozialen Systems,Freundschaft'. SchimankiKronlGreshoff (2002, 360 f.) beschreiben eswie folgt:
"Ein soziales System begreift (Esser) als den 'Ablauf der Reproduktion oder Veränderung typischer sozialer Situationen. Es ist die fortlaufende Sequenz der immer wieder neu erzeugten sozialen Situationen'.Solche Situationen bestehen aus mindestens zwei miteinander verbundenen Akteuren."
Deren Interdependenz ist durch die Kontrolle über und das Interessean den jeweiligen Ressourcen gegeben, die zu wechselseitigen Transaktionen, zum Austausch von Ressourcen, motivieren. Maßgeblich für dieEntstehung des sozialen Systems "Freundschaft" ist, dass sich über die
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,Logik der Situation' und ,Logik der Selektion' als Folge der wechselseitigen Kontakte schließlich eine Einstellungsveränderung ergibt, eszu einer eine Freundschaft charakterisierenden Einstellungen kommt,und zwar sowohl bei ego als auch bei alter, und so das MakroPhänomen ,Freundschaft' entsteht, dessen Zustandekommen Esser aufdas soziale Handeln der beiden Akteure, also auf ein Mikro-Geschehenzurückführt und damit ein Makrogeschehen mikrofundiert.
4.3 Sozialer Wandel
Sozialen Wandel verortet Esser neben der sozialen Differenzierung, dersozialen Ungleichheit und der sozialen Ordnung als vierten sozialenProzess, der allen gesellschaftlichen Vorgängen zugrunde liege. DieSuche nach Regelmäßigkeiten bzw. makrosoziologischen Gesetzensozialen Wandels habe die Soziologie lange Zeit bestimmt. Gesetzejedoch gebe es nicht, da Veränderungen auf "Makro-Mikro-MakroSequenzen" fußen, "die es über die Logik der soziologischen Erklärungzu dekomponieren gelte." (2000a, 376) Esser begreift Wandel im Sinne der systematischen und nachhaltigen Änderungen gesellschaftlicherStrukturen, als einen im Wesentlichen Prozess der offenen Evolution.
Das wird am Beispiel,Wandel des Bildungswesens' deutlich. DieKonkretisierung sozialen Wandels vollzieht Esser an der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre; sie beruht auf einer bewussten politischen Entscheidung, ist als exogen angeregter sozialer Wandel der Gesellschaft anzusehen und hat zu einer der nachhaltigsten Änderungender institutionellen Strukturen der westlichen Industriegesellschaftengeführt, mit erheblichen Wirkungen auch auf andere gesellschaftlicheStrukturen. (vgl. 2000a, 310 ff.)
Esser zufolge bezeichnet jeder soziale Wandel einen Prozess, dersich durch "die Vertiefung auf die Mikro-Ebene, die möglichen Varianten in der Definition der Situation etwa, die komplexen Interdependenzen der Akteure oder die Komplikationen bei der Aggregation der individuellen Effekte in kollektive Folge erklären ließe. Auch bei den beiden Prozessen von Klassenplazierung/Bildungssystem und Bildungs-
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system/soziale Klasse handele es sich um " .. , 'genetische' Prozesse derAbfolge von aneinander anschließenden Sequenzen" (2000a, 329),"...jeweils um ein doppeltes, hintereinander angeordnetes Problem dersoziologischen Erklärung." (2000a, 318) Nachfolgend soll gezeigt werden, wie "man sich diesen doppelten Vorgang nun aber konkret als'Prozess' vorzustellen" habe, "bei dem sich die eine Sequenz aus deranderen auch 'logisch' ergibt." (2000a, 319)
Erwartet wurde, dass sich im Zuge dieses Wandels der Bildungslandschaft eigentlich auch die soziale Ungleichheit, zumindest im Hinblick auf die Statusvererbung, reduzieren müsste.
Akteure im ersten Schritt der soziologischen Erklärung sind die jeweiligen Herkunftsfamilien aus bestillllIiten sozialen Klassen, die dieBildungsentscheidungen :fUr ihre Kinder auf Grund der ihnen als vorteilhaft erscheinenden Logik der Situation selektieren, und ihre Kinderbestimmte Schulen mit bestimmten Bildungsabschlüssen besuchen. Ineinem zweiten Schritt "sind die Positionsträger in den verschiedenenFunktionssystemen des Arbeitsmarktes die 'entscheidenden' Akteure:Sie platzieren die Bewerber mit den verschiedenen Bildungsabschlüssen - und den sonstigen Merkmalen, wie insbesondere auch das dersozialen Herkunft und des damit verbundenen Kapitals - auf die verschiedenen vakanten Positionen und 'inkludieren' sie damit in diebetreffenden Funktionssysteme - mit allen Folgen :fUr die gesellschaftliche Lage der Kinder." (ebd.) Dabei kommt es durch ein Ungleichgewicht zwischen Anspruchsberechtigten und zur Verfügung stehendenPositionen auf einen bestimmten Zeitraum bezogen wieder zu sozialerUngleichheit.
In der Realität berechtigen nun (auch die höchsten) Bildungszertifikate lediglich zur Übernahme einer dem Abschluss entsprechendenPosition, sind dafür heutzutage eine unabdingbare Voraussetzung, garantieren eine solche aber nicht. Die Wahrscheinlichkeit, eine dem Bildungsabschluss adäquate Position einnehmen zu können, wird Boudon1980 zufolge mit jeweils 70% zu einem gewissen Zeitpunkt veranschlagt, denn die jeweils entsprechenden Positionen haben sich nichtparallel zur durch die Maßnahmen der Bildungsreform gestiegenen
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 117
Zahl der Bildungsabschlüsse vermehrt, was eine - "strukturell bedingte- schärfere Konkurrenz unter den Bewerbern mit den höheren Bildungsabschlüssen" (Esser 2000a, 326) nach sich zieht. Grund dafür ist:Der Überschuss der Bewerber muss mit den jeweils nächst niedrigerenPositionen vorlieb nehmen, und das kommt einer "kumulativen" Abwertung der Bildungsabschlüsse gleich - so besteht soziale Ungleichheit fort, die jedoch nicht (mehr) auf einer Zuweisung von Positionenund auf Undurchlässigkeit zwischen Klassen und Schichten beruht.
Mit Blick auf das Bildungsverhalten der Individuen hat die externpolitisch angestoßene Bildungsreform einen Wandel bewirkt, der Bildung zu einem "Positionsgut" werden ließ, das wiederum zu einem"Prozess eines Wettlaufs um die höhere Bildung" führte. Esser (2000a,329): "Jeder soziale Wandel ist ein Prozess - ein Prozess der Genesebestimmter Sequenzen der Änderung der gesellschaftlichen Strukturen.Und auch vollkommen stabile Strukturen sind ... nichts als die Folgevon solchen ,genetischen' Prozessen der Abfolge von aneinander anschließenden Sequenzen einer soziologischen Erklärung: Eltern ausbestimmten sozialen Klassen schicken ihre Kinder systematisch aufbestimmte Schulen, und die Arbeitgeber verteilen die Positionen wiederum systematisch nach den Schulabschlüssen. Und daraus ergibt sichdann die Reproduktion der sozialen Ungleichheit oder ggf. auch ihrWandel. Die 'Logik' des sozialen Wandels besteht also nicht aus irgendwelchen übergreifenden 'Gesetzen' des sozialen Wandels, sondernaus der 'Situationslogik' des immer wieder neu zu erklärenden 'Anschlusses' von einzelnen Sequenzen der soziologischen (Tiefen-) Erklärung an die vorhergehende."
Das Modell der soziologischen Erklärung bestreitet also allgemeingültige Gesetze des sozialen Wandels auf der Makro-Ebene. Zwar siehtauch Esser "gewisse Regehnäßigkeiten des Wandels", jedoch "erklären" sie den Wandel nicht, "sie beschreiben ihn nur." Regelmäßigkeitenseien "kein Explanans für eine Theorie des sozialen Wandels ... sondernnur ihr Explanandum." ... "Über eine regelgerechte soziologische Erklärung" müsse "immer erst noch erklärt werden ... wie die Akteuredazu kommen, die Prozesse des Wandels so voranzutreiben, wie es die
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Gesetze des sozialen Wandels postulieren." (ebd., 330)
Systematisierung der verschiedenen Formen des Wandels
In Anlehnung an Boudon 1980 und vor allem Hemes 1976 entwickeltEsser eine Heuristik zur Analyse des sozialen Wandels. Bevor wir darauf eingehen, eine kurze Skizzierung des für Esser zentralen Modellsvon Hernes. Danach muss die Modellierung sozialen Wandels dreiForderungen errullen: a) Stabilität und Wandel erklären, b) Wandel alsErgebnis interner und externer Ursachen erklären, c) die Effekte individueller Handlungen auf einer Makroebene abbilden. Nach Hernes bedingen Mikro- und Makroebene einander. Die Makroebene, die sozialeStruktur, gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen ein individueller Akteur seine Handlungen wählt und auf diese Weise die soziale Strukturverändert. Dasselbe gilt rur Beziehungen von Gruppen zur Makroebene. Für Hemes geht die soziale Ordnung dem sozialen Wandel voraus;Wandel ist ein Prozess, der ausgehend von einer sozialen Struktur ineiner anderen sozialen Struktur mündet, und zwar in drei möglichenFormen:
• Als Ergebnis-Struktur (output structure), die sich infolge einesWandels einstellt oder eingestellt hat.
• Als Prozess-Struktur (process structure), welche die entsprechende Ergebnis-Struktur hervorbringt.
• Als Parameter-Struktur (parameter structure) - die Variablen,die das Ergebnis des Prozesses hervorbringen.
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 119
Esser nimmt nun diese Grundgedanken auf und verarbeitet sie in einerHeuristik wie folgt:
Typen von Prozessen des sozialen Wandels
Ebene der einfache erweiterteÄnderung Reproduktion Reproduktion Transition Transformation
Output
Parameter
Prozess
Quelle: Esser 2000a, 344
+ +
+
+
+
+
• Bei einfacher Reproduktion, also im Fall der Wiederherstellungder Ausgangsbedingungen eines Prozesses, in dem ein jeweiligerOutput "über einen in seinen Funktionen und Parametern unveränderten inneren Prozess" immer wieder gleichen Output erzeugt, wie z. B. im Fall der Reproduktion der sozialen Ungleichheit, bleiben alle drei Ebenen, Output-, Parameter- und Prozessstruktur stabil.
• Bei erweiterten Reproduktion ändert sich zwar die Outputstruktur, nicht aber die Parameter- und Prozessstruktur; das Systemändert sich somit an "der Oberfläche des sichtbaren Outputs".
• Im Fall der Transition ist dann der Wandel sowohl der Outputstruktur wie auch der Parameter der Funktionen zu verzeichnen,lediglich die Struktur der Funktionen des Prozesses selbst bleibterhalten.
120 11 Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart 11
• Wenn die Veränderungen auf allen drei Ebenen stattfinden,spricht Esser von der Transformation des Systems in ein völliganderes System, die Änderung der den Prozess tragenden funktionalen Parameter eingeschlossen. (Beispiel: Wandel der Feudalgesellschaft zu modemen, funktional differenzierten Industrieund Dienstleistungsgesellschaften)
Evolution und Ko-Evolution
Evolutionen im Sinne eines besonderen Vorgang des sozialen Wandels,bei dem sich die Systeme allmählich transformieren, versteht Esser(2000a, 356) als "Prozesse, bei denen sich ein gleichgewichtig reproduzierendes System zufällig in seinem Zustand ändert, ein neues Gleichgewicht in einer bestimmten Umwelt findet und dabei Systeme, die sichnicht geändert haben, allmählich verdrängt und sich in der jeweiligenUmgebung stabilisiert. Es ist eine spezielle Art der Transformationeines Systems in einen neuen Typ, der die anderen verdrängt." DurchMutation bzw. durch Selektion über differentielle Reproduktion ist dasneue System in einer speziellen Umwelt erfolgreicher; das führtschließlich zur Retention, der strukturellen Stabilisierung des neuenSystemtypus für eine gewisse Zeitspanne.
Evolution bezeichnet jedoch nicht einen Entwicklungsprozess derGesellschaft, der vom sozialen Handeln der Menschen unabhängig aufein vorgegebenes objektives Ziel zustrebt bzw. zutreibt; Evolution bedeutet auch nicht Überlegenheit der neu entstandenen Systeme. Jedochaufgrund ihrer Differenziertheit, wegen ihrer Unabhängigkeit gegenüber Umwelt überkommen sie schließlich doch die alten Systeme."Die Evolution ist blind, und niemand kann wissen, wann alles zu Endeist oder wieder in einen Zustand regrediert, der schon längst überwunden schien.... Alles hängt davon ab, ob die Systeme zu ihrer jeweiligenUmwelt 'passen' oder nicht. Und was heute eine überlegene Fitnessbedeutet, mag morgen das entscheidende Handicap für die erfolgreichere differentielle Reproduktion sein." (ders., 358)
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 121
Darüber hinaus führt Esser die Perspektive einer Ko-Evolution ein.Diese Begrifflichkeit stammt ursprünglich aus der Biologie und beschreibt die gemeinsame Entwicklung von einander unabhängigen, aufeinander wirkenden Arten. Esser wendet diesen Terminus rur die gemeinsame und simultane Ausbildung von Strukturmerkmalen sozialerGebilde und psychischen Dispositionen von Individuen an. Paradefalleiner soziologisch-verstehenden Rekonstruktion einer gesellschaftlichen Ko-Evolution ist ihm die ,Protestantische Ethik' Max Webers:" ...wie dabei die institutionell und materiell geprägten Interessen derMenschen ihre kulturellen Vorstellungen und Ideen beeinflussen unddiese wiederum die Institutionen und wie das alles in ein Gleichgewichtund schließlich in eine sich verselbständigende Eigendynamik geratenkann." (2000a, 375) Eigendynamik meint die kausale, endogen angelegte Folgerichtigkeit der Prozesse. Das ließe auf mögliche ,Gesetze'des sozialen Wandels schließen - falschlicherweise, denn exogene Einflüsse sind weder ausschaltbar noch vorhersehbar bzw. voraussagbar,zumal nicht in hoch komplexen System wie modeme Gesellschaften.
4.4 Organisatorischer Wandel
Organisationen sind soziale Strukturen mit bestimmten Eigenschaften,die im Unterschied zu anderen Strukturen planmäßig geschaffen wurden und aus Individuen bestehen, die zielgerichtet und arbeitsteilig miteinander arbeiten. Dass Organisationen keineswegs immer effizient undoptimal handeln, ist rur den Rational Choice-Ansatz kennzeichnend;der Annahme unintendierter Handlungskonsequenzen als kollektivesErgebnis individueller Handlungen kommt eine zentrale Bedeutung zu.Die Organisationsumwelt ist in diesem Ansatz eher unscharf definiert,sie ist die Summe aller Individuen und Rahmenbedingungen, die nichtzum hierarchisch strukturierten Kollektiv zählen. (vgl. Abraham 2001,6) Aus der Sicht des Rational Choice-Ansatzes dienen Organisationenletztlich lediglich einem Ziel, nämlich der individuellen Produktion vonNutzen in einem kollektiven Handlungszusammenhang.
122 11 Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart 11
Nicht nur Institutionen, auch etablierte Organisationen sind einemständigen Wandlungsprozess unterworfen, der meist von der materiellen Basis ausgeht. Beispiel: "Das Ausbleiben oder Anwachsen des kollektiven Ertrags, die Zunahme der Aufwände für ihren Betrieb, dasAnwachsen der inneren Spannungen insbesondere. Dem folgt, wie dasauch für andere soziale Systeme und Gebilde üblich ist, die Erosion derLegitimität der institutionellen Regeln, der Verfassung und der Autorität der Leitungspersonen, und schließlich auch die Abschwächung dermentalen Verankerung der Organisationskultur." (Esser 2000b, 265)Und so steht auch das Ende von Organisationen zumeist mit der Veränderung der Erträge aus dem Unternehmen und den Kosten für die Weiterführung in der gewohnten Art oder deren Änderung in Zusammenhang - ,,(d)en evolutionären Exit besorgt ... der Markt." (ebd.)
Nicht alle Arten des Wandels einer Organisation jedoch kennzeichnet diese Radikalität. Prinzipiell müssen sich alle Organisationen, dieüberleben wollen, den sich ändernden Verhältnissen anpassen.
"Anpassender" Wandel verändert die Ziele der Organisation oderdie internen bzw. externen Strukturen. Zum Wandel von Zielen wird eskommen, wenn beispielsweise der Zweck einer Organisation erfüllt istoder wenn das Organisationsziel keine gesellschaftliche Unterstützungmehr erfährt, die Organisation jedoch nicht einfach aufzulösen ist. Derstrukturelle Wandel "betrifft die Art und Weise der 'Organisation' derOrganisation und ihrer inneren wie äußeren Beziehungen. Der Strukturwandel ist meist eine Art evolutionärer 'Anpassung' an sich ändernde Verhältnisse, und es ist gerade die Fähigkeit zum flexiblen Wandelder Strukturen, die das Überleben von Organisationen wahrscheinlichermachen. Es gibt freilich auch Organisationen, deren Leistung geradedarin besteht, dass sie sich eben nicht wandeln und gerade dann inProbleme kämen, wenn sie es denn täten." (Esser 2000b, 266) Ziel- undStrukturwandel können voneinander unabhängig vor sich gehen, bedingen sich jedoch meist gegenseitig.
Abraham macht im Fall der gezielten Veränderungen einer Organisation auf ein zusätzliches Problem aufmerksam, das aus der strategischen Interdependenz der Akteure erwächst. Aufgrund der unterschied-
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lichen Präferenzen und Informationsstände der einzelnen Organisationsmitglieder bestünden unterschiedliche Interessen bezüglich der Reaktion auf Umweltänderungen. Obwohl die Organisationsleitung einengroßen Anteil der Entscheidung über den gezielten Wandel besitze, seidie Umsetzung der Maßnahmen von einer Vielzahl von Akteuren in derOrganisation abhängig. Sowohl Entscheidungen über Strategien derUmweltanpassung als auch deren Umsetzung könnten daher unintendierte Effekte hervorbringen, die im schlimmsten Fall sogar die Auflösung der Organisationen nach sich zögen. (vgl. Abraham 2001, 14)
Der Fortbestand einer Organisation hängt von einer erfolgreichenAuseinandersetzung mit ihren äußeren und inneren Umwelten ab. "Esist... eine Frage des evolutionären Überlebens." Organisationen überleben nach dem sog. Population-Ecology-Ansatz der Organisationstheorie "evolutionär durch Variation, Selektion und differentielle Reproduktion und weil wie bei jeder Evolution niemand wissen kann, welche'Variation' in einer sich stets wandelnden Umwelt einen Reproduktionsvorteil hat und welche nicht, gibt es auch kein verlässliches Rezept,das Überleben zu sichern.... Ex ante gibt es kein Mittel der Vorhersage,wohin die Evolution führt." (Esser 2000b, 267 f.)
4.5 Institutioneller Wandel
Essers Institutionsverständnis bezieht sich auf die Erwartung der Einhaltung von Regeln mit dem Anspruch einer verbindlichen Geltung. Zuunterscheiden ist nach externen und internen Institutionen. Erstere definieren einen Rahmen von Regeln, der die Ausbildung von speziellenRegeln erst möglich macht (Beispiel: politische Verfassung einer Gesellschaft). Letztere bezeichnen jene Regeln, die im Rahmen der externen Institutionen entstanden sind. "Die Absicherung einer institutionellen Ordnung beruht vor allem auf der Schaffung eines stabilen Rahmens externer Institutionen." (Esser 2000b, 41). Institutionellen Wandel im Sinne einer Änderung der bestehenden Ordnung führt Esser aufWidersprüche zwischen den Interessen und Möglichkeiten der Menschen (Akteure) und den Anforderungen einer gültigen und legitimier-
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ten Ordnung zurück, da keine Gesellschaft in der Lage sei, Institutionalisierung ohne Widersprüche zu bewerkstelligen. Widersprüche sindalso das Movens des institutionellen Wandels, "Ausgangspunkt einesjeden institutionellen Wandels ist .,. die Organisation der Nutzenproduktion." (Esser 2000b, 368)
Formen institutionellen Wandels
Esser unterscheidet verschiedene Formen des Wandels, die sich gegenseitig nicht ausschließen: Reichweite, exogener und endogener, geplanter und ungeplanter, evolutionärer und revolutionärer Wandel.
(1) Reichweite
Von enormer Reichweite und eigentlich eine wegen der damit zwangsläufig verbundenen "massiven Ab- oder gar Umwertungen von Kapitalien" nur gewaltsam durchführbare Änderung wäre es, "die gesamteVerfassung als den externen Rahmen aller weiteren internen Institutionen einer Gesellschaft oder einer Organisation zu ändern." Statt dessengilt im Allgemeinen, dass "die Änderung interner Regeln ... allmählich,experimentell und konsensuell erfolgen" wird. Allerdings könnten auchersichtliche Fehlentwicklungen im internen Regelsystem, gepaart mitmangelnder Bedürfnisbefriedigung und divergierenden Interessen amErhalt der bestehenden Ordnung "Bestrebungen, den kompletten Rahmen der externen Institutionen umzuwälzen" (Esser 2000 b, 368), hervorrufen.
(2) Exogener und endogener Wandel
Oft sind exogene Ereignisse - Esser führt als Beispiel das Interessean/das Aufkommen von Eigentumsrechten bei den Labradorindianernim Zusammenhang mit der Kolonialisierung Nordamerikas an - Auslöser von Wandel, er betrachtet jedoch auch jegliche bewusste Gesetzgebung und Verträge als Formen eines exogen verursachten institutionellen Wandels.
Bei endogenem Wandel hingegen ändern sich Institutionen aus sichheraus - "ohne äußere Einwirkung und allein durch ihre intern angeleg-
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 125
te Dynamik. ... Er ist in der Logik der Institutionalisierung selbst angelegt. Darur gibt es zwei verschiedene Sichtweisen - eine optimistischeund eine pessimistische." (ebd., 369)
Optimisten verweisen auf Instititutionen, die sich in freier Entwicklung - nach ihrer endogenen Eigenlogik - und bei extrem geringen externen Eingriffen im Fall erkennbarer Fehlern den menschlichen Bedürfnissen so hervorragend angepasst hätten, als wäre eine ,höhere Intelligenz' (ähnlich der unsichtbaren Hand bei Adam Smith) an ihrerPlanung beteiligt gewesen. In die Regeln sei "...das Wissen und Lernenunzähliger Menschen eingeflossen. Kurz: Die Evolution institutionellerRegeln bedeute ein kollektives Lernen und ruhre zur Entstehung vonInstitutionen, die allen nützen." (Esser 2000b, 371)
Pessimisten ruhren ins Treffen, dass die auf ihren individuellen Vorteil bedachten Menschen ihre Regelkenntnisse in einer gesellschaftlichunproduktiven Weise rur sich nützen würden, und schließlich ruhre dieZunahme der Spannungen zwischen Interessen und Institutionen erstdazu, "dass die legitimierenden Ideen immer weniger Überzeugungskraft" hätten "und schließlich zur revolutionären Umwälzung der gesamten Verfassung der Gesellschaft ruhrten". (Esser 2000 b, 371)
Esser hält beide Meinungen, solange sie so allgemein und keinerleiWiderspruch duldend formuliert sind, rur falsch.
(3) Geplanter und ungeplanter Wandel
Institutionen ändern sich fortwährend, im Allgemeinen ungeplant, inkleinen Schritten und so unmerklich, dass erst im Nachhinein und ingrößerem zeitlichen Abstand diese Veränderungen allgemein ersichtlich werden.
Aber auch beim geplanten institutionellen Wandel, also gezieltdurch Verträge, Gesetze, Dekrete beispielsweise von Regierungen herbeigefiihrten Veränderungen, kommt es zu ungeplanten, unbeabsichtigten, nicht voraussehbaren oder nur nicht mit gedachten Folgen. Dieerforderlichen (raschen) Korrekturen von Fehlentwicklungen, Überflüssigem, nicht mehr Zeitgemäßem oder gar gesamtgesellschaftlichUnproduktivem unterbleiben dann jedoch nur allzu oft - weil riskant,
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mit Kosten verbunden und daher nicht opportun bzw. letztlich gar unmöglich. So gelingen oft institutionelle Änderungen trotz eines massiven kollektiven Interesses wegen der ,Pfadabhängigkeit' einer Entwicklung nicht, kann sich eben eine einmal vorhandene Institution unumkehrbar selbst gegen die Interessen an der Nutzenproduktion derHandelnden richten.
(4) Evolutionärer Wandel
Esser bezeichnet "die fallweise und inkrementale Änderung internerinstitutioneller Regeln ohne festes Ziel eines Endergebnisses als evolutionären institutionellen Wandel", und meint, "revolutionär sei ein institutioneller Wandel dann, wenn er plötzlich passiert und sich auf dasgesamte System der politischen Verfassung der externen institutionellen Regeln bezieht." (2000b, 370) Revolutionären Wandel sieht Esserals (mögliche) Folge rück gestauten Wandlungsbedarfs, fehlendemschrittweisen evolutionären Wandels oder auch in dessen Versagen.
Essers Fazit: "Letztlich könnte man ... jeden institutionellen Wandel. .. als ,evolutionär' bezeichnen." (Esser 2000 b, 370) Man müssteallerdings "...Evolutionsvorgänge - wie alle Prozesse - kausal, dasheißt: von hinten getrieben erklären, und darf sie nicht final, das heißt:auf ein Ziel bezogen, ansehen. Die Evolution selbst ist ganz und garsinnlos und hat kein Ziel - auch wenn das hinterher so aussehen mag.Sie beruht aber sehr wohl auf mehr oder weniger komplex verflochtenen und kausal verketteten Ursachen, die sich erklärend rekonstruierenlassen." (Esser 1993, 191) Und: "Es gibt keinen Gesamtplan der Geschichte, auf den die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hinausliefe. Und alles, was die Menschen tun, ist ein weiterer Schritt ineinem gigantischen evolutionären Geschehen, von dem niemand weiß,wohin es steuert, und noch nicht einmal, wie der nächste Schritt aussehen wird." (2000b, 370) Hier werden Affinitäten zu Luhmann deutlich,dessen "Exzellenz" in den Systembeschreibungen Esser lobt, aber seine
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 127
"miserablen" Erklärungen rügt.5
(5) Revolutionärer Wandel
Revolutionen seien abrupte, zumeist auch gewaltsame und kompletteÄnderungen der externen Institutionen einer Gesellschaft, die nach sichzögen, dass damit auch in der Regel eine Änderung der grundlegendensozialen Produktionsfunktionen, der Interessen an und der Kontrolleüber gewisse Ressourcen verbunden sei. Daher gebe es in einer Gesellschaft immer Gruppen, die an einer Revolution kein Interesse hätten:die jeweiligen Herrscher, deren Macht und Kapital auf der Gültigkeitder jeweils etablierten institutionellen Ordnung beruhe. Naiv und falschsei auch die Auffassung, der zufolge bereits die Not der Massen und dieZuspitzung der Interessengegensätze geradezu zwangsläufig zu einerrevolutionären Änderung der Verfassung einer Gesellschaft führten.Ganz im Gegenteil verhinderten erfahrungsgemäß große Not und extreme Entbehrungen eher revolutionäres Aufbegehren. Für alle Revolutionen gelte, dass sie Spezialfalle des Problems des kollektiven Handelns seien und gerade große Gruppen sich auch bei dem heftigstenInteresse daran nur sehr schwer aktivieren ließen. (vgl. Esser 2000b,380 ff.) In der Folge sind, wie Weede (1992, 281) argumentiert, "Revolutionen, die nicht nur Regierungen ablösen, sondern auch zu tief greifendem sozialen Wandel fiihren, ... sehr, sehr selten." Esser schließtdaraus, dass "gerade die Erklärung von Revolutionen" sehr auf die besondere Logik der Aggregation zu achten habe und das heißt: "Die theoretische Modellierung" müsse "hier ganz besonders auf die speziellenempirischen historischen Umstände achten." (Esser 2000b, 398)
5 So Esser im Rahmen eines soziologischen Kolloquiums in der FernUniversitätHagen am 21. Juli 2004.
128 II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II
4.6 Sozialer Wandel als multilineare Evolution
Das ,Modell der soziologischen Erklärung' findet keine Antwort aufdie Frage nach Gesetzmäßigkeiten einer allgemeinen Theorie des sozialen Wandels, außer der Einsicht, dass es Gesetze prinzipiell nicht gebenkann. Zwar tun sich im Konzept der Evolution günstigenfalls empirische 'Richtungen' des Wandels auf, "aber ... keine Unvermeidlichkeit,keine Unumkehrbarkeit und kein festes Ziel der 'Entwicklung' ... kein'Gesetz' des sozialen Wandels und auch keines einer unilinearen Evolution.... Die Beobachtung einer unilinearen Sequenz muss theoretischin verschiedene Schritte zerlegt werden, und dann wird klar, dass anjedem Übergang ein neues Erklärungsproblem beginnt und dass jeweilsauch ganz neue externe Ereignisse eintreten können, die den 'endogenen' Pfad der Entwicklung stoppen, umkehren oder auf eine ganz andere Bahn mit einer evtl. neuen eigenen Entwicklungsdynamik zu bringenvermögen." (Esser 2000a, 323)
Entsprechend dem Konzept der ,multilinearen Evolution' entfaltensich Gesellschaften entlang von unterschiedlichen Pfaden und generieren unterschiedliche Typen von Gesellschaften mit jeweils eigenerEntwicklungsdynamik; dabei können sich die verschiedenen koexistierenden Pfade und Typen wiederum gegenseitig beeinflussen. Für eine,evolutionäre' Erklärung des sozialen Wandels schöpft Esser die Möglichkeiten des ,Modells der soziologischen Erklärung' aus: "Es musseine Mikrofundierung der Prozesse und Mechanismen" geben, wozu es"einer expliziten handlungstheoretischen Grundlage (bedarf, d.V.), ausder sich die Folgen der situationsbezogenen Reaktionen der Akteureauf die sich ändernden Umstände ableiten lassen. Und die Folgen müssen wieder zu den situationalen Umständen 'rekursiv' rück verbundenwerden, möglichst unter Angabe bestimmter Mechanismen und Regelmäßigkeiten der 'strukturellen Selektion'." (Esser 2000a, 394)
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 129
Zusammenfassend gilt: Es ist die Art des Denkens, die Essers Konzeption so diskussionswürdig macht: Sein dialogisches Argumentieren, dasandere Positionen einbezieht und Widersprüche sichtbar macht, seinefortwährende Selbstbefragung, die Klarheit des Gedankens und dessenpräzise Formulierung. Hinzu tritt, in Anlehnung an Kurt Masur: Esserweiß, wann der Kreis ausgeschritten ist; mehr gibt es zum sozialenWandel nicht zu sagen.
5 Zygmunt Bauman: Soziologie der flüssigen Moderne
Einen weithin konsensual verwendeten Begriff zur Diagnose und Analyse der Gegenwartsgesellschaft stellt die "Individualisierung" dar. Dieindividualisierte Gesellschaft allerdings gibt es nicht, Tendenzen dazusind jedoch unübersehbar und zeigen sich in der Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen, in dem Bedeutungsverlust von Schicht undKlasse, in der Neudefinierung der Geschlechterrollen, der Unverbindlichkeit der Institutionen des Zusammenlebens, in der Staatsschwächeu.a.m. Partnerschaften, Mitgliedschaften, zwischenmenschliche Verpflichtungen werden zu Verpflichtungen auf Zeit
Für das Individuum, keineswegs frei von Zwängen der Bürokratieund institutionellen Anforderungen, ergibt sich nunmehr die Notwendigkeit, eine Vielzahl von bedeutsamen Entscheidungen rur die Gestaltung des Selbst, rur die Biographie eigenständig zu treffen, die jederzeitrevidierbar, an sich ändernde Gegebenheiten anpassbar sein müssen Entscheidungen, die rur frühere Generationen durch die Gesellschaftbzw. Institutionen vorgegeben waren. Doch bleibt die Freiheit, "letztendlicher Zweck und Ziel der Emanzipationsanstrengungen", allesselbst zu gestalten, nicht lediglich Option, sondern wird paradoxerweise zum Zwang. Die Postmoderne will "die Zerstörung erzwungenerEinschränkungen und geistiger Blockaden." (Bauman 1995a, 7) DasIndividuum ist auf sich selbst gestellt, frei von normativen Zwängenauf sich selbst "zurückgeworfen", sozial nicht mehr verortet - rat-los,
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denn: "Wie eitel scheint es, in einer Welt, in der alles geht, Menschenzu ermahnen, dorthin - statt anderswohin zu gehen." (ebd.)
Aktivität, Eigeninitiative, Flexibilität, eine hohe Frustrationsschwelle, das eigenständige Setzen von Zielen, langfristige Planung gepaartmit Anpassungsbereitschaft, Bereitschaft zur Improvisation etc. wirddem Individuum abverlangt. Ausdauer, die Fähigkeit zur Koordination,Integration u.a.m. werden zur unabdingbaren Voraussetzung - einSachverhalt, der ein Scheitern nicht ausschließt, zumal im Kontext persönlich nicht zu beeinflussender Umstände (z.B. Konjunkturverlauf,unzureichende Ressourcen). Die gleichsam sprunghaft angestiegenePluralisierung von Lebensformen, religiösen oder politischen "Bekenntnissen", von sozialen Gruppierungen, von Werten als logischeFolge der Individualisierungsbestrebungen ist in der Postmoderne umfassender, vielgestaltiger, einschneidender und intensiver geworden, istnicht mehr bloße Entfaltung oder Weiterentwicklung von Einheit. Dasgleichberechtigte Nebeneinander oder auch Gegeneinander, die Vielfaltohne übergeordnetes Ordnungsprinzip kennzeichnet die Postmoderne,in der es keine Steuerung durch ein zentrales Kontrollorgan mehr gebenkann. Oder wie Bauman das ausdrückt: "Postmoderne ist die erregendeFreiheit, jedes beliebige Ziel zu verfolgen und die verwirrende Unsicherheit darüber, welche Ziele es wert sind, verfolgt zu werden, und inwessen Namen man sie verfolgen sollte." (1995a, 5) Ambivalenz undUnsicherheit sind die Grundbefindlichkeiten der Postmoderne; der Gewinn an Freiheit wird mit dem als bitter empfundenen Verlust an Sicherheit bezahlt.
In diesem Zusammenhang schreibt Bauman der Globalisierung erhebliche Bedeutung zu. Ihre Gesellschaften prägende Kraft steht imkrassen Widerspruch zur Unschärfe des Begriffs. Bereits der Beginnder Globalisierung wird zeitlich mit dem Aufkommen des Kapitalismus, dem Wirken internationaler Konzerne als "global players", mitder Entwicklung Raum und Zeit bedeutungslos machender Kommunikationsmedien und Informationstechnologien und der Möglichkeit deruneingeschränkten Mobilität des Kapitals höchst unterschiedlich festgelegt, das Phänomen an sich vornehmlich ökonomisch betrachtet.
11 Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart 11 131
Bauman vertritt die These, erst durch den Zerfall der Sowjetunion1989, also nach dem Ende einer der beiden Supermächte, die die Weltunter sich aufgeteilt hatten, sei nun kein Zentrum zur Regelung undLeitung von Weltangelegenheiten mehr vorhanden. So fallt auch seineBewertung von Globalisierung ambivalent aus: Zwar sei man dem Zielder "einen" Welt näher gekommen, doch habe das nicht die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt bewirkt, vielmehrbeherrsche, ja diktiere lediglich die Macht des Marktes das Leben undZusammenleben global. Bauman sieht in "Globalisierung" den entzauberten Gegenbegriff zum Paradigma der "Universalisierung". Mit derallein wirtschaftlichen Globalisierung werde Unordnung, Ungleichheitund ohnmächtige Passivität der Mehrzahl der Beteiligten fortgeschrieben, vergrößere sich die Kluft zwischen Arm und Reich. (l997b, 315ff.) Diese Sicht teilen wohl alle Theoretiker der Gegenwartsgesellschaft.
5.1 Wandel des Gesellschaftstyps: Von der Moderne zur Postmoderne
Was ist - oder war - die Modeme? Dieser Begriff meint zunächst einesystematische Abgrenzung des in die Gegenwart hineinreichenden,durch Demokratie, kapitalistische Marktwirtschaft, wohlfahrtsstaatlicheAbsicherung und Massenkonsum geprägten (westlichen) Gesellschaftstyps gegenüber vormodemen, stark stratifizierten Gesellschaften mit jeeigenen Traditionen und Lebensformen, vielfach stabilisiert durch Religion und religiös abgesegneter Machthierarchie. Andererseits stehtder Begriff fiir einen Gesellschaftstyp, der das durch den Verlust dieserreligiösen Gewissheiten auftretende Vakuum, "die elementare Ungewissheit in den Griff bekommen (musste), die jetzt nicht mehr unterVerweis auf eine natürliche und gottgewollte Ordnung in Handlungsverpflichtungen umgemünzt werden" konnte. (Bonacker 2002, 296) Sosteht die Modeme auch für die Notwendigkeit, in dieser nun allgemeinen Verhaltens- und Erwartungsunsicherheit eine neue, sich vom vormodemen Ordnungsprinzip unterscheidende Ordnung über Institutio-
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nen ZU etablieren. Die Modeme ging an diese Aufgabe im Glauben andie Möglichkeit der Verwirklichung einer vollkommenen sozialen Ordnung und eines zielgerichteten, sinnhaften gesellschaftlichen Wandelsauf dem erfolgreichen Weg zur besten aller möglichen Gesellschaften,in der die Individuen die gesellschaftlich festgelegten Rollen übernehmen und vorgegebene Normen befolgen.
Bauman sieht die Modeme als Reaktion auf den durch die Renaissance, die das Fundament für jegliche Entwicklung der europäischenKultur legte, ausgelösten Pluralismus und ihrer Skepsis gegenüber jeglicher universalistischer Ordnung, deren Schaffung allerdings das erklärte (nach Bauman illegitime) Ziel der Modeme war; einer Modeme,die "sich selbst als eine ,Kultur' oder ,Zivilisation' im Sinne bewussterAktivität" verstand und "aus diesem Selbstbild heraus" (1999, 7) handelte. Die Modeme widersetzte sich der Skepsis und Diversifizierung,indem sie Universalität und Sicherheit durch eine generalisierende,rationale Ordnung mit Gewissheiten zu erreichen suchte, jedoch in Tateinheit mit dem rücksichtslosen Drang, alles Chaotische, Zwiespältige,Fremd- und Andersartige auszumerzen, das Unerklärliche und Unbeherrschte durch Planung und Kontrolle zu ersetzen. Die grundlegendenVoraussetzungen für diesen geplanten Gesellschaftswande1, für dieAusführung des rational konstruierten Gesellschaftsentwurfs siehtBauman in der Trennung von Politik und Ökonomie und der Gründungvon Nationalstaaten.
"Die Modeme ist das Zeitalter artifizieller gesellschaftspolitischerEntwürfe, das Zeitalter der Planer, Visionäre und ,Gärtner', die dieGesellschaft als jungfräuliches Stück Land auffassen, das unter fachmännischer Obhut zu bestellen und zu kultivieren ist. ... Aus der Sichtmoderner Macht schienen die Möglichkeiten der ,Menschheit' unbegrenzt, das Individuum hingegen ,unvollkommen', hilflos und korrekturbedürftig." (Baumann 1992, 128) Sowohl der kapitalistische Westenals auch der kommunistische Osten teilten diese "gemeinsamen modernen Werte", den Glauben, "dass eine gute Gesellschaft nur eine Gesellschaft sein könne, die sorgfältig geplant, rational verwaltet und gründlich industrialisiert wäre." (1995b, 420)
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 133
Die Wirklichkeit zu verbessern, Verwirklichung des "kühne(n)Entwurf(s) einer besseren, vernünftig-rationalen sozialen Ordnung"(1992, 121), war das erklärte Ziel der Moderne, und die umwälzendenwissenschaftlich-technischen Entwicklungen halfen in Verbindung miteiner hoch entwickelten, streng nach rationalen Prinzipien arbeitsteiligorganisierten Bürokratie mit, sie diesem Ziel dem Anschein nach eingutes Stück näher zu bringen. Zugleich gelang es, die dunklen Seitenund Misserfolge der Moderne zu verdrängen bzw. zu verschleiern, hattedoch, so Bauman, "die Moderne ... die unheimliche Fähigkeit, Selbstanalyse zu hintertreiben; sie verhüllte die Mechanismen der eigenenReproduktion mit einem Schleier von Illusionen ..." (1995c, 12)
Baumans Blick auf die moderne Gesellschaft ist eher von Skepsisdenn von Zuneigung oder gar Bewunderung geprägt. Er legt die Fingerin die Wunden der Moderne und weist nach (und das ist der rote Faden,der sich durch sein Werk zieht), dass auch die größten Verbrechen Teilder Moderne waren, sich vielmehr sogar erst durch die Moderne herauskristallisierten und auch das "entsetzlichste(s) Unrecht in derMenschheitsgeschichte nicht durch eine Erosion der Ordnung möglichgeworden war, sondern im Gegenteil durch deren Übermacht und Totalität." (1992, 166) Erst die Moderne habe den Holocaust möglich gemacht hat, "der Genozid weder eine Anomalie noch eine Fehlfunktiondarstellt, sondern demonstriert, wohin die rational-technisierten Tendenzen der Moderne fUhren können, wenn sie nicht kontrolliert undabgemildert werden, wenn der Pluralismus sozialer Kräfte aufgehobenist und mithin das moderne Ideal einer bewusst geplanten und gesteuerten, konfliktfreien, geordnet-harmonischen Gesellschaft nicht funktioniert." (1992, 129)
Aus Baumans Sicht wird die Moderne zum nicht zu rechtfertigendenExperiment, der Welt eine einheitliche Ordnung aufzuzwingen, was siezu bewerkstelligen trachtete, indem sie, nach der Bewertung und Klassifizierung des Vorgefundenen, "die großartige Vision der Ordnung inlauter kleine lösbare Probleme einzuwechseln" versuchte, diese "Fragmentierung" jedoch "das Problem-Lösen in eine Sisyphusarbeit" verwandelte. (1995b, 30) Und wiewohl sich seiner Beurteilung nach die
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Modeme nur dadurch selbst ennöglichte, "dass sie sich eine unmögliche Aufgabe" (1995b, 25) stellte, unerreichbare Ziele anpeilte und sozum "besessenen Marsch nach vorne" wurde, gesäumt von "bitterenAbenteuern" und "nichtigen Hoffnungen" (1995b, 26), blieb dennochbis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts der Glaube an Machbarkeit und Fortschritt, Rationalisierung und Industrialisierung, an dieSegnungen der modemen Zivilisation, ja selbst an die Möglichkeit,soziale Probleme endgültig lösen zu können, ungebrochen, wurdenZweifel am angepeilten Ziel oder dem richtigen Weg nur vereinzeltgeäußert.
Erst Jahrzehnte später war alles anders; teils angestoßen durch exogene Ereignisse wie Waldsterben, Luftverschmutzung, Artensterben,Tschernobyl bis Rinderwahn, erodierte der ungetrübte Glaube an denFortschritt schleichend, und mit einer gewissen Verspätung geriet selbstdas Wort "Wandel", bis dahin ganz selbstverständlich mit positivem,linearem Fortschritt und Aufwärtsentwicklung verbunden, in ein schiefes Licht. Die zweifelhaften Segnungen, die unbeabsichtigten und unerwünschten Nebenwirkungen der Modeme und ihrer Technik gerietenins Blickfeld, und obwohl die Volkswirtschaften (noch) prosperierten,die Arbeitsplätze und soziale Sicherheit rur fast alle gewährleistet waren, wurden unterschwellige, auch unbegründete, diffuse Ängste wach.Die großen sozialen Utopien hatten sich verbraucht. Das Interesse verschob sich von der Gestaltung durch Wissenschaft und Technik auf dieBeobachtung von Gefahren als Folge oder zumeist nicht intendierteNebenfolgen früher gesetzter Handlungen, auf die Problematik vonProblemlösungen. Die Moderne begann über sich selbst nachzudenken,und dieses prüfende Nachdenken, dieses Reflektieren, ist postmodern.Die Postmoderne entstand als Reaktion auf die Modeme, " ... ist dieModeme, die sich selbst aus der Distanz betrachtet, ... sich mit ihrereigenen Unmöglichkeit abfindet; eine sich selbst kontrollierende Modeme, eine, die bewusst aufgibt, was sie einstmals unbewusst getanhat." (1995b, 249)
Von einem "vorteilhaften Ausgangspunkt", jedoch nach wie vor"enger Nachbarschaft zur Modeme ... sind wir jetzt imstande (besser:
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sind wir jetzt bereit und gewillt), einen kühlen und kritischen Blick aufdie Modeme in ihrer Totalität zu werfen, ihre Leistungen zu bewerten,ein Urteil über die Solidität und Angemessenheit ihrer Konstruktion zufällen." (1995b, 428)
Wiewohl Etzioni bereits Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts den Beginn der Postmoderne mit 1945 ansetzte, bleibt bis heuteumstritten, ob die Modeme tatsächlich von der Postmoderne als neuemGesellschaftstyp abgelöst wurde oder sich eine derartige Ablösung zumindest abzeichnet. Diese Verunsicherung spiegeln auch die zahlreichen Wortschöpfungen wieder, die dem Wandel gesellschaftlicherVerhältnisse gerecht werden wollen, wie z.B. Dienstleistungsgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, Informationszeitalter oder postindustrielle Gesellschaft, letzterer ein Ausdruck, der lange die soziologischen Debatten dominierte. Während aber die Vertreter einer postindustriellen Gesellschaft eine Fortsetzung und Steigerung, die Revisionder Modeme, zum Ziel haben, ist für die Postmoderne eben die Abkehrvon den Fortschritts- und Avantgardevorstellungen charakteristisch, derAbschied von den sog. Einheit stiftenden "Meta-Erzählungen", die ihreLegitimationsfunktion verloren haben.
Bauman sieht die Postmoderne letztlich als "eine Chance der Modeme" (1995b, 404) stellt aber klar, dass der Begriff Postmoderne fürein Vielerlei steht. Sie sei sowohl
"ein Freibrief, zu tun, wozu man Lust hat, und eine Empfehlung, nichtsvon dem, was man selbst tut oder was andere tun, allzu ernst zu nehmen. Sie ist die Geschwindigkeit, mit der die Dinge sich verändernund das Tempo, in dem die Stimmungen einander folgen, so dass siekeine Zeit haben, zu Dingen zu versteinern. Sie ist die Aufmerksamkeit, die gleichzeitig in alle Richtungen gelenkt wird, so dass sie sichauf nichts länger konzentrieren kann und nichts wirklich eingehend betrachtet wird. Sie ist ein Einkaufszentrum, voll gestopft mit Waren, deren Gebrauchswert vor allem im Hochgefühl liegt, den ihr Kauf verschafft; und eine Existenz, die einer lebenslangen Gefangenschaft imEinkaufszentrum gleicht. Postmoderne ist die erregende Freiheit, jedesbeliebige Ziel zu verfolgen und die verwirrende Unsicherheit darüber,
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welche Ziele es wert sind, verfolgt zu werden, und in wessen Namenman sie verfolgen sollte. Die Postmoderne ist all das und vieles mehr.Aber sie ist auch - vielleicht mehr als alles andere - ein Geisteszustand... , der sich vor allem durch seine alles verspottende, alles aushöhlende, alles zersetzende Destruktivität auszeichnet. " (1995a, 5 f.)
Und weiter heißt es:
"Der postmoderne Geisteszustand ist der radikale (obgleich sicherlichunerwartete und aller Wahrscheinlichkeit nach unerwünschte) Sieg dermodernen (also dem Wesen nach kritischen, ruhelosen, unbefriedigten,unersättlichen) Kultur über die moderne Gesellschaft, die sie durch dieradikale Nutzung aller ihrer Potentiale zu verbessern trachtete. Vielekleine siegreiche Schlachten summierten sich zu einem siegreichenKrieg. In rastlosen, sturen Emanzipationsbemühungen wurde eineHürde nach der anderen genommen, eine Schranke nach der anderenzerstört. Jeden Augenblick geriet eine bestimmte Einschränkung, einbesonders schmerzhaftes Verbot unter Beschuss. Das Ergebnis warschließlich eine universelle Demontage machtgestützter Strukturen.Unter den Trümmern der alten, ungeliebten Ordnung ist jedoch keineneue, bessere Ordnung aufgetaucht. Die Postmoderne, (und in dieserHinsicht unterscheidet sie sich von der Moderne, deren rechtmäßigeErbin und Folge sie ist) strebt nicht danach, eine Wahrheit durch dieandere, einen Schönheitsrnaßstab durch einen anderen, ein Lebensidealdurch ein anderes zu ersetzen. Stattdessen teilt sie die Wahrheit, denMaßstab und das Ideal in solche ein, die schon dekonstruiert sind undsolche, die gerade dekonstruiert werden. Sie bereitet sich auf ein Leben ohne Wahrheiten, Maßstäbe und Ideale vor." (l995a, 7)
Diese Auflösung der Einheit wird von Bauman positiv gesehen; er beftirwortet den postmodernen Wandel, steht jedoch den sich abzeichnenden Entwicklungen nicht unkritisch gegenüber. Für ihn ist die Postmoderne "ein "Ort der Gelegenheit und ein Ort der Gefahr." (1995b, 413)
So bedeutet auch die "Postmoderne nicht notwendig das Ende, dieDiskreditierung oder Verwerfung der Moderne. Postmoderne ist nichtmehr (aber auch nicht weniger) als der moderne Geist, der einen langen, aufmerksamen, nüchternen Blick auf sich selbst wirft..." (1995b,
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428), und nun eben ex post feststellen kann und muss, dass Universalismus nicht herstellbar, eine Illusion ist, Pluralismus, Kontingenz,Ambivalenz und Ambiguität hingegen unausrottbar und unvergänglichsind.
5.2 Akteure und Ursachen des Wandels
Wird der Wandel der Welt etwa seit jeher letztlich von den Ideen einerkleinen Gruppe hochbegabter, charismatischer Menschen: Religionsstifter und Interpreten religiöser Glaubenswahrheiten, herausragendeWissenschafter, Denker, Künstler angetrieben? Von Ideen und Theorien, deren Umsetzung durch die Nutzer und Benutzer möglicherweiseverfälscht oder gar missbraucht wurden und werden? Verbirgt sich hinter der Suche nach der Wahrheit das Verlangen nach Steuerung derGesellschaft zum eigenen Vorteil, Vermehrung des Einflusses und auchmateriellen Profits weniger?
Was bewirken Joci imaginarii (Baumann 1995b, 25), die letztlichwie alle Horizonte unerreichbar sind, gleichwohl jedoch die Richtungdes Wandels mitbestimmen, "zielgerichtetes Gehen" (1995b, 26) ermöglichen, ja fordern? Machen die Menschen (welche?) also ihre Geschichte tatsächlich selbst? Wohl nicht immer so, wie sie möchten, eherohne Garantie für beständige Aufwärtsentwicklung und ohne Aussichtdarauf, ihre Intentionen in der gewünschten Form und mit dem geplanten Ergebnis umzusetzen zu können. Oder ist auch das letztlich einTrugschluss, gilt stattdessen Mephistopheles Aussage in Goethes Faust:"Der ganze Strudel strebt nach oben: Du glaubst zu schieben, und duwirst geschoben"? (Faust 4117) Es entwickelt sich?
Nach Bauman ist Geschichte keine "gerichtete Bewegung" (1995a,222), die modemen Theorien häufig zugrunde gelegte "Hauptmetaphereines Prozesses mit Wegweiser" (1995a, 223) hält er für falsch, dieIdee eines linearen Fortschritts für unhaltbar. In der Postmoderne müsse man von der "Zufälligkeit des übergreifenden Resultats unkoordinierter Aktivitäten" (ebd.) ausgehen, auch "beständige lokale Transformationen summieren sich nicht ..., um schließlich eine erhöhte Ho-
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mogenität, Rationalität oder ein organisches System des Ganzen zufördern oder gar zu sichern." Auch wäre "kein aktueller Zustand ... dasErgebnis eines vorangegangenen, noch hinreichender Grund für dennächsten." (l995a, 224) Für Bauman ist die Geschichte offen, und nurdie Menschen, die diese Gesellschaft durch die wechselseitige Bedingtheit von Handlung und Struktur beständig wiederherstellen, sind fürEntwicklungen und Veränderungen, für sozialen Wandel verantwortlich. Die Vision von der Gestaltung der Zukunft, der bewussten Planung des Wandels (das Credo der Modeme) wirke unter eingeschränkten Bedingungen weiter, gepaart mit der Erkenntnis, dass es keine allgemeingültigen Regeln und Rezepte gebe, man nicht darauf vertrauenkönne, dass Steuerungsversuche die Komplexität in der bevorzugtenRichtung veränderten.
Entsprechend charakterisiert Bauman seine eigene sozialwissenschaftliche Theorie nicht nur als Bestandteil, sondern auch als Mediumzur Veränderung einer Kultur, sieht in Theorien Ideensysteme und Instrumente zur Selbsterschaffung und Regulierung von Kultur, derenBestandteil sie nicht nur sind, sondern die sie auch verändern und ziehtParallelen zwischen der modemen Sozialstruktur und der dazu zählenden Mentalität. (vgl. Bonacker 2002,293 ff.) Aus der Sicht, dass Theorien ihren kulturellen Kontext, in dem sie situiert sind, gleichzeitig auchimmer verändern, versucht Bauman, die Veränderungen von der Modeme zur Postmoderne auf der Struktur- und Mentalitätsebene zu beschreiben und zu analysieren.
Strikt wendet sich Bauman gegen die Vermischung von der Suchenach wissenschaftlicher Wahrheit und konkretem Steuerungsinteresseund erteilt der Rolle des Wissenschaftlers oder auch Philosophen als"Gesetzgeber" (legislator) eine eindeutige Absage, unterstützten geradedoch die Wissenschaftler das Streben nach einer vollkommenen politischen Ordnung. Allerdings tragen sie auch, so Bauman, ein gerütteltMaß an Mitschuld an den Gräueln und Fehlentwicklungen der Moderne, die sie durch ihre Erkenntnisse antrieben und legitimierten, wardoch "der Wille zur Wahrheit ... letztlich fundiert in einem gesellschaftlichen Interesse an der Steuerung sozialer Institutionen, einer Steue-
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 139
rung, deren kognitive Grundlage das wissenschaftlich gewonnene Wissen liefern soll. Als ,interpreter' - dieser Begriff enthält eine Doppelbedeutung: eines Interpreten, der zugleich als ,Übersetzer' agiert - gibtder Wissenschafter das Deutungsinteresse hingegen auf und kann nunden Versuch einer interpretativen Erschließung fremder Sichtweisenübernehmen. Dass es sich hierbei im Sinne von Giddens' doppelterHermeneutik um Interpretationen von Interpretationen handelt, stelltsich für Bauman ausdrücklich nicht als Verlust, sondern als Anerkennung der irreduziblen Ambivalenz der sozialen Gegenstände dar."(Reckwitz 2006, 7 f.)
5.3 Wandel der Integrationsinstanzen
Grundlage der Transformation vormoderner Gesellschaften mit vornehmlich Religion als Integrationsinstanz in modeme Gesellschaftenwar, wie bereits hervorgehoben, der Nationalstaat. Als Bündel von Institutionen, als neue zentrale Integrationsinstanz integrierte er alle alsformal gleiche (gleich zu machende) Staatsbürger, verfügte über dieMöglichkeiten und Mittel, allgemein verpflichtende Regeln und Normen aufzustellen und beanspruchte für sich das legitime Recht von deren Durchsetzung gegenüber den Mitgliedern der Gesellschaft.
Als Reaktion auf den im Übergang der vormodernen zur modemenGesellschaft erlittenen Verlust einer natürlich gewachsenen, sozialvollzogenen Ordnung versuchte die Modeme der alle Bereiche erfassenden Unsicherheit die Gewissheit entgegenzusetzen, das unerreichbare Ziel einer perfekten Ordnung durch normative Regulierung zu etablieren, und diese "Wiederherstellung der Ordnung (das heißt einer Situation, die in subjektiver Wahrnehmung beruhigend als Gewissheit ankommt) durch den Druck der Reglementierung war nur unter der Bedingung realisierbar, dass jeder, der reglementiert werden sollte, unterden Einfluss einer oder mehrerer panoptischer Institutionen gestelltwurde" (1997a, 175), die für die perfekte Integration der Individuen zusorgen hatten.
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Nun haben jedoch die traditionellen Staatsformen und Institutioneninnerhalb weniger Jahrzehnte stark an Effizienz und vor allem an Akzeptanz verloren. Ebenso ziehen in jüngerer Zeit der Zusammenschlussvon Nationalstaaten zu übernationalen Staatengebilden, die Globalisierung des Marktes, die Mobilität des Kapitals und die vielfach beschworene Mobilität und Flexibilität der Individuen einen Bedeutungsverlustder Nationalstaaten nach sich. In Verbindung mit der Auflösung des"kulturellen Selbstbewusstseins der universalistischen Modeme ... ineinen Pluralismus von heterogenen Lebensformen und -stilen, die nichtmehr homogenisierbar sind", sieht Bauman einen Wechsel der Integrationsinstanz. Nunmehr gilt: Integrationsinstanz der Postmoderne, fürdie auch "Arbeitsorientierung keineen) Maßstab mehr für vernünftigesVerhalten" (1995a, 76) darstellt, sei der "Markt, der die normative Regulierung der Modeme dereguliert und die modemen Basisinstitutionenund die mit ihnen verbundenen normativ verankerten Rollenbilder und-vorgaben auflöst." (Bonaker 2002,297 f.)
Denn mit dem Wandel der sozialkulturellen Strukturen gehen nachBauman auch (psychosoziale) Veränderungen der kollektiven Mentalität parallel. Diese entwickelt sich jedoch nicht allein durch strukturelleVeränderungen, spiegelt auch nicht den Zustand der jeweiligen Gesellschaft wider, vielmehr steht sie in engem Zusammenhang mit demWissen über eben diese Sachverhalte ("Geist der Modeme" / "Postmoderne als Geisteszustand') und hängt mit der Sozialstruktur und derInnensicht über die Gesellschaft, letztlich mit ihrer eigenständigenSelbstbeschreibung zusammen. Sozialstruktur und Mentalität sind Pendants, die zusammen erst die soziale Wirklichkeit, er-schaffen. (vgl.Bonacker 2002, 293 ff., 299)
Mit der Schwächung des postmodernen Staates, seinem Verlust anEffizienz, an Akzeptanz und an Steuerungsvermögen durch Politik,durch die Fragmentierung und Entstrukturierung der Gesellschaft undmit der Entstehung einer weltweiten Konsumgesellschaft vollzieht sichVergesellschaftung nun über den Markt. Die postmoderne Gesellschaftverfügt jetzt über eine neue Form gesellschaftlicher Integration, kontrolliert über Verführung und Repression. Im sozialen Sinn bedeutet
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"Postmoderne hauptsächlich die Entstehung einer globalen Konsumkultur, in der ehemals soziale und politische Fragen zu Fragen der privaten Wahl und des individuellen Geschmacks werden." (Bonacker2002,310)
Während die Modeme über zwingende Normen und Regeln integrierte, muss das postmoderne Individuum sich seine Normen und Regeln, sein "Gefängnis" selbst erschaffen.
5.4 Gegenübergestellt: Moderne und Postmoderne
Bauman zufolge charakterisiert "das Fließende die gegenwärtige soziale Welt" und er sieht darin einen "fundamentalen historischen Wandel"angedeutet, leugnet jedoch auch nicht die "Existenz von Festem", das"dauerhaft in der Zeit existiert." (Ritzer/Murphy 2002,52)
Was blieb und bleibt, was wiederholt sich? Aus postmoderner Perspektive haben ohne Zweifel epochale, machtvolle Veränderungenstattgefunden, die sich allerdings langsam abspielen, quasi schleichendAlthergebrachtes unterwandern und die nötige Anpassung der Individuen an die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen, ja,sie logisch nächste Schritte sogar antizipieren lassen.
In der Absicht zu prüfen, ob man tatsächlich von einem "Epochenbruch" sprechen kann, stellt Reese-Schäfer (2002, 339) Modernität undPostmoderne bei Bauman in einer Zusammenfassung gegenüber:
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Moderne Postmoderne
VVahrhehsanspruch Rhetorik und FiktionSelbstvertrauen VerunsicherungMantel der VVissenschaft Ästhetische IntegrationPriesterliche Askese HedonismusKrieg gegen Differenz und Plura- VielfaltlitätFeste Identhät Spiel der Identitäten"wirkliche VVelt" KunstTotalitäre Sinnvorgabe Mangel an SinnScharfe Grenzziehungen Porosität der GrenzenTeleologische Orientierung Inkonsistenz von Gesche-
hensabläufenLogikkult Launenhaftigkeit der Logik
Bauman will die Postmoderne zwar als von der Modeme abgrenzbare Epoche verstanden wissen, jedoch weder als "die letzte, noch darf sieals Folge einer linearen Geschichtsentwicklung, als Ende einer Erfolgsoder Misserfolgsgeschichte des Säkularisierungsprozesses betrachtetwerden." (Bonacker 2002, 310)
Und obwohl auch er keinen vollständigen Bruch zwischen Modemeund Postmoderne vollzogen sieht, selbst den Gebrauch des Begriffs"Postmoderne" in seinen späteren VVerken vielfach vermeidet, reichendie von ihm konstatierten Veränderungen, die im VVesentlichen auchempirisch gestützt sind, wohl dazu aus, von einem folgenreichen (folgenschweren?) größeren kulturellen VVandel zu sprechen.
II Sozialer Wandel in soziologischen Theorien der Gegenwart II 143
5.5 Überblick: Baumans soziologische Theorie der Postmoderne
Im Begriff "Postmoderne", bestimmt als "ein sich selbst reproduzierendes, sich pragmatisch selbst erhaltendes und logisch in sich abgeschlossenes soziales Verhältnis, das durch eigene, besondere Merkmale definiert ist" (1995a, 223), sieht Bauman "die treffende Veranschaulichungder Merkmale" gesellschaftlicher Verhältnisse in reichen europäischenGesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts, die "ihre gegenwärtigeGestalt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts angenommen haben."Der Begriff lenke "die Aufmerksamkeit auf Kontinuität und Diskontinuität ... als den zwei Seiten der komplizierten Beziehung zwischen dengegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Formation, dieihnen voranging und sie erzeugte." Bauman diagnostiziert eine "intime,genetische Bindung" der "neuen, postmodernen gesellschaftlichen Verhältnisse zur Moderne." Allerdings mache das "Verschwinden bestimmter, entscheidender Charakteristika" es unmöglich, "die gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin angemessen als modem zu beschreiben." (1995a, 221)
Für Bauman kann die Postmoderne
"als voll entwickelte Modeme interpretiert werden, die das ganzeAusmaß der voraussehbaren Folgen, der von der Modeme geleistetenhistorischen Taten auf sich nimmt; als eine Modeme, die anerkennt,welche Wirkungen sie im Verlauf ihrer Geschichte produziert hat, allerdings versehentlich, selten bewusst, durch das Fehlen von Planung,statt durch Planung, als Nebenprodukte, die oft als Abfall galten. Mankann sich die Postmoderne als eine Modeme vorstellen, die sich ihrerwirklichen Natur bewusst ist - Moderne für sich. Die auffallendstenMerkmale des postmodernen Zustandes - institutionalisierter Pluralismus, Vielfalt, Kontingenz und Ambivalenz - sind alle in ständigsteigendem Ausmaß von der modemen Gesellschaft produziert worden; in einer Zeit, in der die Institutionen der Modeme, von der modemen Mentalität vertrauensvoll reproduziert, für Universalität, Homogenität, Monotonie und Klarheit kämpften, sah man in ihnen jedochZeichen des Scheiterns, nicht des Erfolges, Beweise für die Unvollständigkeit der jeweiligen Anstrengungen. Der postmoderne Zustand
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kann deshalb einerseits als Modeme beschrieben werden, die sich vomfalschen Bewusstsein emanzipiert hat; andererseits als neuer Typ gesellschaftlicher Verhältnisse, gekennzeichnet durch die offene Institutionalisierung von Charakteristika, welche die Modeme - in ihren Plänen und ihrer Steuerungspraxis - sich zu eliminieren anschickte und,da ihr das nicht gelang, zu verbergen suchte." (1995a, 222)
Diese "doppelte Differenz" (ebd.) rechtfertige eine eigene soziologische Theorie der Postmoderne "die mit den Konzepten und Metaphernder modernen Modelle entschieden bricht und sich aus dem geistigenBezugssystem herauszieht, in dem sie entwickelt worden sind". TrotzUnterschieden hinsichtlich des Letztziels (Universalisierung, Rationalisierung, Systematisierung) oder des Organisationsprinzips läge allenModellen der Moderne "eine gemeinsame Sicht der modernen Geschichte als gerichtete Bewegung" zugrunde, und auch "die ihnenzugrunde liegende Hauptmethapher eines Prozesses mit Wegweiser"könne "nicht beibehalten werden." (ebd.)
Eine Theorie der Postmoderne könne "nur in einem kognitivenRaum konstruiert werden, der durch andere Annahmen strukturiert ist;sie braucht ihr eigenes Vokabular." (ebd.) Zu den "Bedingungen theoretischer Emanzipation" (l995a, 223) zählt Bauman (hier stellt er sichgegen Parsons) als Voraussetzung rur seine zu entwickelnde Theoriedie Einsicht in das grundsätzliche und fortdauernde Ungleichgewichtder gesellschaftlichen Bedingungen, die sich
"aus Elementen zusammen(setzten), deren Autonomiegrad ausreicht,die Vorstellung von einer Totalität als eines kaleidoskopartigen, vorübergehenden und kontingenten Resultats von Interaktionen zu rechtfertigen. Die geordnete, strukturierte Natur der Totalität kann nicht furselbstverständlich gehalten werden; noch kann eine pseudorepräsentative Konstruktion einer solchen Totalität das Ziel theoretischer Aktivitäten sein. Die Zufälligkeit des übergreifenden Resultats unkoordinierter Aktivitäten kann nicht als Abweichung von einem Muster behandelt werden, das die Totalität beizubehalten versucht; jedes Muster,das vorübergehend aus zufälligen Bewegungen autonomer Subjekteentstehen mag, ist ebenso willkürlich und unmotiviert wie eines, dasan seiner Stelle hätte auftreten können oder wie das, von dem es ersetzt
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werden wird, wenn auch nur rur eine bestimmte Zeit. Jede Ordnung,die gefunden werden kann, ist ein ortsgebundenes, auftauchendes,transitorisches Phänomen; seine Natur kann am besten in der Metaphereines Strudels erfasst werden, der in einem dahinsträmenden Fluss entsteht und seine Gestalt nur während eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums und nur auf Kosten eines unabhängigen Stoffwechsels und einerbeständigen Inhaltsemeuerung beibehalten kann." (1995a, 223 f.)
Bauman verwirft die "Metapher des Fortschritts". Der postmoderneZustand stelle einen "Ort ständiger Mobilität und Veränderungen" ohnevoraussehbare, klare Entwicklungsrichtung dar, wobei ein aktuellerZustand weder das Ergebnis von noch Grund fiir weitere Zustände sei."Der postmoderne Zustand ist sowohl unterdeterminiert als auch unterdeterminierend. Er ,entbindet' die Zeit, schwächt den beschränkendenEinfluss der Vergangenheit und verhindert erfolgreich die Kolonialisierung der Zukunft." (224)
Überdies müsse eine Theorie der Postmoderne auch auf die BegriffeSystem und Gesellschaft (im orthodoxen und organismischen, Totalitätvorgebenden Sinn) verzichten. Gesellschaft wäre durch die Kategorieder Gesellschaftlichkeit (sociality) zu ersetzen, ein Begriff, der versucht, "die prozessuale Modalität der gesellschaftlichen Realität wiederzugeben, das dialektische Spiel von Zufall und Struktur (oder vomStandpunkt des Subjekts, von Freiheit und Abhängigkeit); ... eine Kategorie, die sich weigert, den strukturierten Charakter des Prozesses fürselbstverständlich zu halten - die stattdessen alle vorgefundenen Strukturen als Resultate eines Prozesses betrachtet."(224)
Er sieht als Charakteristikum der Moderne das engmaschige Netzvon (ideologischer) Kontrolle aller natürlichen und sozialen Abläufe,einen hemmungslosen, unentwegten Drang zur Herstellung einer einheitlichen Ordnung mit damit einhergehender Markierung bis hin zurEliminierung alles Nicht-Konformem, Anderem, Chaotischem, allernicht im Regelwerk fassbaren Unsicherheiten, Zweifelhaftem undschließlich aller Nicht-Konformer.
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Soziologische Theorien der Modeme konzentrieren sich auf Homogenisierung und Konfliktlösung - mit dem Nationalstaat als "der einzigen Totalität in der Geschichte, die ernsthaft imstande war, die Ambitionen einer künstlich aufrechterhaltenen und gesteuerten Monotonie undHomogenität zu pflegen.... Die unstrukturierte und unregulierte Spontaneität der autonomen Subjekte wurde von vornherein als destabilisierend und sogar als antisoziales Element definiert, das der ständigeKampf um das Überleben der Gesellschaft dazu ausersehen hatte, gezähmt oder vernichtet zu werden." (225)
Nach Bauman müsse eine soziologische Theorie der Postmodernedie Aufmerksamkeit dem Subjekt zuwenden, "Gesellschaftlichkeit,Lebensraum, Selbstkonstitution und Zusammensetzung des Selbst inder Theorie der Postmoderne an der zentralen Stelle zu platzieren, diein der orthodoxen modemen Gesellschaftstheorie für die KategorienGesellschaft, normative Gruppe (wie Klasse und Gemeinschaft), Sozialisation und Kontrolle reserviert war." (ebd.)
Zu den zentralen, mathematisch gestützten (revolutionären) Grundsätzen einer soziologischen Theorie der Postmoderne zähle die Erkenntnis, dass der Lebensraum unter postmodernen Verhältnissen einkomplexes System sei, damit unvorhersehbar und nicht von statistischsignifikanten Faktoren kontrolliert. Im Lebensraum, frei von "deterministischer Logik", kann statistisch Unbedeutendes sich als relevant, jaals im Voraus nicht erkennbar Entscheidendes für das darauf folgendeStadium herausstellen. "Die "Systemartigkeit" des postmodernen Lebensraums gehorcht nicht mehr der organismischen Metapher, was bedeutet, dass die Subjekte, die innerhalb des Lebensraums handeln, nichtauf Funktionalität und Dysfunktionalität festgelegt werden können."(226)
Im postmodernen Lebensraum gibt es keine Agentur, keine Totalität,keine "Organisation", die zu einer umfassenden Steuerung oder Koordination in der Lage wäre. Zwar ist die Vielzahl der im Lebensraumoperierenden Subjekte mit ihren unterschiedlichen, engeren oder umfassenderen Zwecken zum Teil voneinander abhängig, "aber die Abhängigkeiten können nicht festgelegt werden und deshalb bleiben ihre
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Handlungen (und deren Folgen) beständig unterdefiniert, das heißt autonom." (227) Im mit den anderen Subjekten geteilten Lebensraum sinddie Subjekte weitgehend frei, ihre Ziele optimal und maximal entsprechend ihrer Fähigkeiten und Ressourcen zu verfolgen, Probleme zulösen, zu minimieren oder zu eliminieren.
Während die moderne Gesellschaftstheorie im Sinne einer "wertfreien Wissenschaft" Politik und Theorie strikt zu trennen suchte, ist nachBauman dies einer postmodernen Gesellschaftstheorie auf Grund derErkenntnis der "grundlegende(n) Kontingenz und (des) Fehlen(s) vonsubjektübergreifenden oder dem Subjekt vorangehenden Grundlagender Gesellschaftlichkeit und der strukturierenden Formen, die sich inihr ablagern", nicht nur nicht möglich, vielmehr "wird deutlich, dassdie Politik der Subjekte das Zentrum des Lebensraums bildet ... seineExistenzweise" (1995a, 231 f.) sei, und deshalb "alle Beschreibungendes postmodernen Lebensraums ... von Anfang an Politik einschließen"müssten.
Die Möglichkeit einer Trennung von Theorie und Politik in der modernen Gesellschaftstheorie beruhte auf der Anmaßung des modernenNationalstaates, Politik als Staatsmonopol zu beanspruchen, die erstdurch "die schrittweise, aber unaufhaltsame Erosion des nationalstaatlichen Monopols" (232) beendet wurde.
Trotz der Aussicht auf eine gewisse Abschwächung bleiben auch unter postmodernen Verhältnissen Ungleichheit und Umverteilung (nichtausschließlich konsumierbarer Werte; der Gegensatz besteht eher in derMöglichkeit oder eben Verweigerung der Fähigkeit zur autonom entwickelten SelbstkonstitutioniSelbstdefinition mit dem Ziel der Befreiung der menschlichen Subjektivität, in der uneingeschränkten Wahlfreiheit für alle sozialen Schichten) dominante Konfliktthemen und "einständiges Merkmal des postmodernen Lebensraums". (233)
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5.6 Eine soziologische Theorie der Moral?
In der Postmoderne fallen ethische und moralische Entscheidungen aufdas nun eigenverantwortliche Individuum "als letzte moralische Instanz" zurück, dem, wie Bauman es formuliert, "gleichzeitig die Sicherheit der universellen Orientierung" genommen und die Moral "privatisiert" (1995a, 23) wurde. Dieser Sachverhalt jedoch fUhrt dazu,dass das sich überfordert und irritiert fUhlende Individuum nach breiterer allgemeiner Akzeptanz seiner moralischen Entscheidungen strebt,wiewohl es nach Bauman unmöglich ist und bleibe, allgemein undüberall gültige, nicht ambivalente moralische Regeln aufzustellen.
Seine Überlegungen zu einer individuellen Moral legt Bauman inseinen "Vorüberlegungen zu einer soziologischen Theorie der Moral"(1992, 184 ff.) dar, Schlüsse, "die eine umfassende, adäquate soziologische Moraltheorie aus dem Holocaust zu ziehen hätte." (184)
Die empirische Analyse menschlichen Verhaltens fUhrt Bauman zudem Schluss, dass Moral nicht Folge gesellschaftlicher Prägung sei,vielmehr auf dem moralischen Gewissen, im tief verwurzelten GefUhlvon Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem menschlichen Gegenüber, dem Mitmenschen, entspringt. Nur ein von sozialen Beschränkungen freies Individuum und nur Pluralismus gäbe dem handelnden Individuum als dem natürlichen Träger des Handeins die moralische Verantwortung zurück. (vgl. 1995b, 70)
Im Bestreben, "Emanzipation vom religiösen und magischen Denken" (1992, 184) und strenge Wissenschaftlichkeit zu demonstrieren,hielten die gängigen soziologischen Theorien Distanz zu Moral unddamit verbundenen Phänomenen und leugneten jegliche Eigenständigkeit moralischer Normen. "Grundannahrne ... ist, moralische Phänomene seien generell aus den nichtmoralischen Institutionen erklärbar, dieihnen verbindliche Kraft verleihen, ... sozio-kausal" (185) und somitaus ihrer Funktion für die Gesellschaft, das Überleben der Gesellschaft,dem Bedürfnis der Individuen nach gesellschaftlicher Integration, erklärbar. Durkheims Aussagen wie: "Der Mensch ist ein moralischesWesen, weil er gesellschaftlich lebt." Oder: "Moral ist in keiner Formaußerhalb der Gesellschaft anzutreffen" bzw. "Das Individuum unter-
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wirft sich der Gesellschaft, und diese Unterwerfung ist die Voraussetzung rur seine Befreiung", zitiert Bauman als nach wie vor in der Soziologie gültig, und diese Sicht, alle Moral sei gesellschaftlich, Moralsei als Produkt gesellschaftlicher Prozesse und Institutionen zu sehen,schließe die (anmaßende) Einstellung ein, dass, wenn Moral in jedemFall sozial erzeugt sei, es jeder Gesellschaft somit letztlich frei stünde,ethische Grundsätze zu formulieren und deren Gehorsam einzufordern,moralisches Verhalten, soziale Konformität autoritär festzulegen. Sogesehen verletze "ein Tabu ... , wer annahm, bestimmte existentielle,durch die ,Anwesenheit der Anderen' gegebene heilsame moralischeZwänge könnten unter Voraussetzungen durch entgegenwirkende soziale Zwänge neutralisiert oder unterdrückt werden..." (1992, 189) - einSchluss, den Bauman allerdings aus seiner Analyse des Holocaustzieht, in dem unmoralische Taten in Errullung der gegebenen Normenmassenhaft von durchaus ,normalen' Menschen in gehorsamer Ptlichterrullung begangen wurden.
In einer "pluralistisch-heterogenen Welt" wären "sozial vermittelteMoralsysteme... grenzenlosem Relativismus unterworfen", was abernicht auf die menschliche Entscheidungsfahigkeit zwischen Gut undBöse zuträfe, und weil "der Sozialisationsprozess. .. der Manipulationder moralischen Fähigkeit - nicht ihrer Erzeugung" diene, seien "Autorität und Verantwortung rur moralische Entscheidungen ... bei der allein ausschlaggebenden Instanz zu suchen: beim Individuum", undnicht "im gesellschaftlichen, sondern im zwischenmenschlichenRaum..." (1992, 193) "Die starken moralischen Impulse" existieren"vorgesellschaftlich" (213), sind nicht gesellschaftlich bedingt, vielmehr habe die Zivilisation moralisches Verhalten eher reduziert. Moralisches Verhalten sei das Resultat des im Inneren des Individuums festverankerten Geruhls der Verantwortung dem Mitmenschen gegenüber,und die Aufgabe der postmodernen Individuen bestehe in der Wiedergewinnung dieses Geruhls von Verantwortung, das aus der Begegnungmit dem Antlitz, der Nähe des Anderen, entsteht.
Wiewohl die Vorstellung von Moral ohne ethisches Gesetz rur Gesetzgeber quasi unvorstellbar erscheint, deren Folge notgedrungener-
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weise "eine Welt ohne Moral" sein müsse, hält Bauman dagegen, dassMoral bei Bedarf entstünde, moralische Praktiken und Alltagshandlungen sich ohne übergreifende verbindliche Normen oder auch parallel zuihnen entwickeln würden, "dass mit dem Untergang einer wirksamenGesetzgebung die Moral nicht schwindet, sondern ganz im Gegenteilzu sich selbst kommt." (1997a, 64 f.) Bauman wendet sich gegen dieseiner Meinung nach reduktionistische Sicht der orthodoxen Soziologieeiner gesellschaftlich erzeugten und funktionellen Moral; einer Soziologie, die als moralisch nur gelten lässt, was sozial sanktioniert ist.
5.7 Vorläufiges Fazit
Baumans Überlegungen zur Gestalt der Moderne, zur Ethik und Moralsetzen den Holocaust zum Ausgangspunkt, zudem die Annahme einer"durch und durch individualisierten Welt" (1999, 361), ohne auf dieseWeise individualisierungstheoretisch angeleitete Zeitdiagnosen etwanach Beck zu variieren. "Die Postmoderne ist eine Chance der Moderne. Toleranz ist eine Chance der Postmoderne. Solidarität ist die Chance der Toleranz. Solidarität ist eine Chance dritten Grades." (1995b,404) Bauman verkennt keineswegs die Gefahren, die in der Postmoderne von Deregulierung, fehlender Sicherheit, ungewohnter Freiheit,Vielfalt, Differenz und der Fremdheit des Anderen ausgehen. In der wenn auch durch nichts Stabiles gespeisten Hoffnung - , dass gelingenmüsse, dass das Anderssein des Anderen nicht nur respektiert und toleriert, sondern schließlich in Solidarität umgewandelt wird, sieht er dieChance, rur die Verwirklichung von Freiheit und Individualität, ja dieMöglichkeit eines Zusammenlebens in Frieden. Toleranz und Solidarität sind die Grundwerte einer "regenbogengleiche(n), polyseme(n) undmannigfaltige(n) Kultur, die sich ihrer Vieldeutigkeit nicht schämt, diesich zurückhält, Urteile zu fällen, die notgedrungen tolerant gegenüberanderen ist, weil sie endlich sich selbst gegenüber tolerant ist, gegenüber ihrer letzten Kontingenz und der Unerschöpflichkeit der Deutungen." (1995b, 197).
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Diese Sicht unterscheidet Bauman diametral von Vertretern desKommunitarismus Etzionischer Prägung - sie nämlich pulverisierendas Erfordernis von Toleranz zugunsten der Idee einer stabilen und mitWerten besetzten Gemeinschaftlichkeit. (vgl. Joas/Knöbl2004, 665)
Ein Interview Baumans mit dem tazMagazin vom 29. April 2006 filtert die Hauptmerkmale seiner Sicht zum sozialen Wandel etwa wiefolgt heraus:
Die Postmoderne ist eine Antwort auf die Modeme, eine Manifestation des modemen Geistes, der einen langen, aufmerksamen und nüchternen Blick auf sich selbst wirft und unbewusst Getanes bewusst aufgibt. Detalliert beschreibt Bauman die Veränderungen, auch die Befindlichkeiten der vom Wandel Betroffenen, die aus dem Garten derModeme entkommen sind - einem Garten, der nur Monokultur duldeteund aus dem alles Andersartige, die Einheitlichkeit und Ordnung Störende zum Schutz des Erwünschten und Rechtmäßigen entfernt werdenmusste. Die Entkommenen finden sich nun im postmodernen Garten(im Dschungel?) wieder, der zwar rur alle und alles Platz anbietet, abereben nicht alle hoch kommen und gedeihen lässt. Hier zeigt BaumanAffinität zu Luhmann, wenn er die Welt als ein sich aus sich selbst heraus veränderndes System sieht. Entsprechend skeptisch ist Baumangegenüber geplantem und gesteuertem sozialen Wandel, das gilt rurGesetzgeber und Intellektuelle gleichermaßen. Die Vorstellung einer,guten Gesellschaft' nennt er nach den totalitären Gesellschaftssystemen des 20. Jahrhunderts schlichtweg abwegig. In der Utopielosigkeitder ,flüssigen Modeme' sieht Bauman "eine faszinierende Erfahrung,denn keine andere Gesellschaft in der Vergangenheit lebte mit der Vorstellung, dass es weder eine göttliche Ordnung der Dinge noch einemenschenbestimmte gibt. Flüchtige Gesellschaften leben von einemMoment zum nächsten." (ebd.)
Allerdings: Die negativen Folgen einer gegenwärtig interessengesteuerten Globalisierung von Kapital, Handel, Information, Kriminalität undTerrorismus erfordere eine Planung und Steuerung im Sinne einer "po-
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sitiven Globalisierung" über eine "postnationale Ordnung" auf globalerEbene - "eine globale politische Willensäußerung, eine Art demokratischer Meinungsbildung, was die Modeme zuvor im nationalen Bezugssystem ,Staat' geschaffen hat." (ebd.) Das wäre das Einzige, das fiireinen Wandel der Gesellschaft zum Positiven geleistet werden müsse.Da der "globale Ort" allerdings niemandem gehöre, müsse "eine ArtGerichtsbarkeit garantiert werden." (ebd.)