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Möglichkeiten eines Konsensualprozesses nach deutschem Strafprozeßrecht* Von Professor Dr. Gunnar Duttge, München I. Einführung: Das Strafrecht in der Konsensgesellschaft Der „Konsens“ spielt im Sinne einer gesellschaftspolitischen Universalfor- mel nicht erst in unseren Tagen eine geradezu herausragende Rolle – vom Atom- und Energie- zum Migrationskonsens, vom Renten- und Gesund- heits- über den Bildungs- zum nicht weniger vermißten Konsens in der Bioethik oder neuerdings mit den Vereinigten Staaten von Amerika 1 : Inzwi- schen ist kaum noch ein Gegenstand von Allgemeininteresse vorstellbar, bei dem wir uns nicht aufgefordert sehen dürfen, nach möglichst umfassender Übereinstimmung und Harmonie zu streben. An solchem Bemühen um Verständigung zum Zwecke der Herstellung friedlicher Eintracht ist natür- lich zunächst ganz und gar nichts Schlechtes zu finden, solange dabei nur nicht vergessen wird, daß konsensuale Lösungen – jedenfalls aus externer Perspektive betrachtet – nicht etwa schon per se das beste oder auch nur ein akzeptables Resultat verbürgen: So können die Ratschlüsse eines „Konsens- kartells“ 2 nicht selten auch zu einem „faulen Kompromiß“, zu einem „Kon- sens der Verdrängung“ 3 oder mitunter selbst für die Beteiligten geradewegs in eine „Konsensfalle“ 4 führen. Nicht ohne Hintersinn verweist der consen- ZStW 115 (2003) Heft 3 * Überarbeitete Fassung meines Bayreuther Vortrages anläßlich der Strafrechtslehrer- tagung 2003. Besonderer Dank gebührt für ihr großes Engagement meinen Mitarbei- tern. 1 Beispielhaft Jäger, Der falsche Konsens (Atomausstieg und Renten), in: Freitag: Die- Ost-West-Wochenzeitung v. 23.6.2000; Kohler u. a. (Hrsg.), Zukünftige Energiepoli- tik: Konsens jetzt, 1998; Hailbronner, Reform des Zuwanderungsrechts: Konsens und Dissens in der Ausländerpolitik, Aus Politik und Zeitgeschichte B 43/2001; Bayertz (Hrsg.), Moralischer Konsens, 1996; ders., Dissens in Fragen von Leben und Tod: Kön- nen wir damit leben?, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/1999; Siep, Konsens und Dissens in Recht und Ethik, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7 (2002), S. 23; Robertson, Auf dem Weg zu einem neuen transatlantischen Konsens, Welt am Sonntag v. 3. 8. 2003; grundlegende Kritik bei Bohrer, Merkur 2002, 623, 628: „Konsensideolo- gie“ als „Krebs, der am deutschen Gemeinwesen frißt“. 2 Eindrucksvolle Beschreibung bei Joffe, Die Zeit, 11/2002: „Deutschland, einig Klün- gelland“. 3 Am Beispiel der Tierrechtsbewegung Walden, tierrechte 2.00. 4 Spiegel v. 12. 5. 2003 (Ausgabe 20/2003), S. 34ff.: „Die verstaubte Verfassung“. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Serv Authenticated Download Date | 12/8/14 12:24 AM

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Möglichkeiten eines Konsensualprozesses nach deutschem Strafprozeßrecht *

Von Professor Dr. Gunnar Duttge, München

I. Einführung: Das Strafrecht in der Konsensgesellschaft

Der „Konsens“ spielt im Sinne einer gesellschaftspolitischen Universalfor-mel nicht erst in unseren Tagen eine geradezu herausragende Rolle – vomAtom- und Energie- zum Migrationskonsens, vom Renten- und Gesund-heits- über den Bildungs- zum nicht weniger vermißten Konsens in derBioethik oder neuerdings mit den Vereinigten Staaten von Amerika1: Inzwi-schen ist kaum noch ein Gegenstand von Allgemeininteresse vorstellbar, beidem wir uns nicht aufgefordert sehen dürfen, nach möglichst umfassenderÜbereinstimmung und Harmonie zu streben. An solchem Bemühen umVerständigung zum Zwecke der Herstellung friedlicher Eintracht ist natür-lich zunächst ganz und gar nichts Schlechtes zu finden, solange dabei nurnicht vergessen wird, daß konsensuale Lösungen – jedenfalls aus externerPerspektive betrachtet – nicht etwa schon per se das beste oder auch nur einakzeptables Resultat verbürgen: So können die Ratschlüsse eines „Konsens-kartells“2 nicht selten auch zu einem „faulen Kompromiß“, zu einem „Kon-sens der Verdrängung“3 oder mitunter selbst für die Beteiligten geradewegsin eine „Konsensfalle“4 führen. Nicht ohne Hintersinn verweist der consen-

ZStW 115 (2003) Heft 3

* Überarbeitete Fassung meines Bayreuther Vortrages anläßlich der Strafrechtslehrer-tagung 2003. Besonderer Dank gebührt für ihr großes Engagement meinen Mitarbei-tern.

1 Beispielhaft Jäger, Der falsche Konsens (Atomausstieg und Renten), in: Freitag: Die-Ost-West-Wochenzeitung v. 23.6.2000; Kohler u. a. (Hrsg.), Zukünftige Energiepoli-tik: Konsens jetzt, 1998; Hailbronner, Reform des Zuwanderungsrechts: Konsens undDissens in der Ausländerpolitik, Aus Politik und Zeitgeschichte B 43/2001; Bayertz(Hrsg.), Moralischer Konsens, 1996; ders., Dissens in Fragen von Leben und Tod: Kön-nen wir damit leben?, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/1999; Siep, Konsens undDissens in Recht und Ethik, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7 (2002), S. 23;Robertson, Auf dem Weg zu einem neuen transatlantischen Konsens, Welt am Sonntagv. 3. 8. 2003; grundlegende Kritik bei Bohrer, Merkur 2002, 623, 628: „Konsensideolo-gie“ als „Krebs, der am deutschen Gemeinwesen frißt“.

2 Eindrucksvolle Beschreibung bei Joffe, Die Zeit, 11/2002: „Deutschland, einig Klün-gelland“.

3 Am Beispiel der Tierrechtsbewegung Walden, tierrechte 2.00.4 Spiegel v. 12. 5. 2003 (Ausgabe 20/2003), S. 34ff.: „Die verstaubte Verfassung“.

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sus etymologisch eben auch auf solch unerfreuliche Erscheinungen wie dieeiner konspirativen Verschwörung oder eines Komplotts5.

Von einem Anschlag auf die Rechtsstaatlichkeit unseres Strafprozessesoder gar schon einer „endgültigen Zerstörung des rechtsstaatlich-liberalenStrafverfahrens“6, von einem Einfallstor für unwürdiges „Schmierentheater“und „Kungelei“7 ist bereits seit langem die Rede, wenn es um die Einschät-zung der allseits bekannten „Urteilsabsprachen“ geht8. Obgleich sich ihrerder 4. Senat des Bundesgerichtshof in einer das Dunkel der Illegalität weit-räumig ausleuchtenden Grundsatzentscheidung dankenswerterweise an-genommen und dabei verdienstlich die „unverzichtbaren Prinzipien desVerfahrens- und des materiellen Strafrechts“ wieder in Erinnerung gerufenhat9, lassen beunruhigende Prozeßberichte darauf schließen, daß es offenbardennoch – jedenfalls in gewichtigen Teilaspekten (wie insbesondere hin-sichtlich der explizit für unzulässig erklärten Vereinbarung eines Rechts-mittelverzichts vor Urteilsverkündung)10 – nicht gelungen ist, die von derAbsprachendroge inzwischen schwerstabhängige Praxis wieder auf den Pfadder Tugend zurückzuführen11. Noch grundsätzlicher drängt sich allerdingsdie vor allem von Schünemann und Weigend in die Diskussion eingebrachteFrage auf, ob es nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, einerseitsvor allem aus Gründen der Prozeßökonomie und der Schonung justiziellerRessourcen eine „einverständliche Verfahrenserledigung“ zuzulassen, ande-rerseits aber das im Falle einer gelungenen „Verständigung“ dann doch nurnoch im formellen Sinne „urteilende“ Gericht weiterhin dem Gebot der

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5 Vgl. Menge-Güthling, Langenscheidt Großwörterbuch: Lateinisch-Deutsch, Stich-wort: „consensus“.

6 Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1, 53.7 Vgl. Schmidt-Hieber, StV 1986, 355; ders., NStZ 1988, 302, 303.8 Die dazu vorfindliche Literatur ist inzwischen kaum noch überschaubar und kann hier

deshalb nicht im einzelnen nachgewiesen werden, vgl. aber die Hinweise bei Schüne-mann, ZStW 114 (2002), S. 1, 27 Fn. 89.

9 Vgl. BGHSt. 43, 195, 203; zu den höchst ehrenwerten Motiven jenes „Mittelweges“näher Meyer-Goßner, StraFo 2001, 73f.

10 Siehe BGHSt. 43, 195, 204 f.11 In diesem Sinne DAV, Stellungnahme zu den Eckpunkten einer Reform des Strafver-

fahrens, Nr. 24/2001, abrufbar unter: http://www.ag-strafrecht.de/stellungeckpunkte2.htm, unter III.; Hamm, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 33, 44 f.; Jähnke, ZRP2001, 574, 575; Siolek, Festschrift für Rieß, 2002, S. 563, 581 (dort auch zu weiteren„Umsetzungsdefiziten“); Rieß, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 645, 649 („An-schein, als gehöre es unverändert zum Alltagsgeschäft“); Weider, Festschrift fürLüderssen, 2002, S. 773, 776 (muß Gegenstand der Absprache sein).

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„Wahrheitsfindung“ sowie der „schuldangemessenen Bestrafung“ verpflich-tet zu sehen12. Schließt das eine nicht per se das andere aus?

Diese Frage so zu stellen heißt, sie wohl auch bejahen zu müssen, weilsolche verfahrensinterne Disponibilität über den Prozeßgegenstand docheine Abhängigkeit von externen Maßstäben wie „materielle Wahrheit“ und„Schuld“ gerade ausschließt. Erst vor diesem Hintergrund erklären sich diejüngeren Bestrebungen nach einer Integration des sog. „Konsensprinzips“in das Strafverfahren als Alternative zur bisherigen Legitimation strafrecht-licher Sachentscheidungen mit der Folge, daß dieses Konsensprinzip gleicheinem Deus ex machina der Strafprozeßrechtslehre nun die ungeahnteChance verheißt, sich aus dem derzeitigen Dilemma endlich zu befreien –nämlich bei fortwährendem Beharren auf fundamentale Prinzipien und un-aufgebbare Verfahrensregeln infolge offenkundiger Mißachtung durch diePraxis mehr und mehr irrelevant zu werden –, und dabei neben dem An-liegen der Prozeßökonomie auch noch die Belange des Opferschutzes zu befördern13. Eben mit dieser Zielrichtung hat im Frühjahr 2001 das „Eck-punktepapier“ des Bundesjustizministeriums, ausweislich der Ankündigun-gen in der Bundestagssitzung vom 8. Mai 2003 nach wie vor aktuell undgedachte Grundlage eines „modernen reformierten Strafprozeßrechts derZukunft“ (schon im Herbst soll ein Referentenentwurf vorgelegt werden)14,nicht nur allgemein – recht nebulös – die „Förderung konsensualer Ele-mente“ ins Auge gefaßt, sondern sich zwecks Abkürzung der Hauptver-handlung insbesondere die Legalisierung der Urteilsabsprachen auf derBasis der höchstrichterlichen Grundsätze vorgenommen15. Solange abernicht geklärt ist, inwieweit es sich mit dem Anliegen eines Strafprozessesüberhaupt vereinbaren läßt, allgemein oder jedenfalls für bestimmte Kon-stellationen gleichsam im Sinne eines „zweiten Verfahrenstyps“16 auf dieKlärung der materiellen Wahrheit zu verzichten und das Ergebnis des Ver-fahrens in das Belieben der Prozeßsubjekte zu legen, kann darin bestenfalls

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12 Vgl. Schünemann, Festschrift für Rieß, 2002, S. 525, 538 f.; Weigend, NStZ 1999, 57, 63:„Quadratur des Kreises“.

13 Eindrucksvolle Beschreibung dieses Zusammenhangs bei Kunz, in: Sociology of Crimeand Law Enforcement, S. 11 (http://socio.ch/cri/t_kunz1.htm).

14 Ankündigung des SPD-Rechtspolitikers Stünker, 43. Sitzung des Deutschen Bundes-tages, Prot. 15/43, 3515 f.

15 Eckpunktepapier der Regierungskoalition zu einer Reform des Strafverfahrens v. 6. 4.2001, in: StV 2001, 314, insbes. Ziff. 1, 4 und 8; dazu erläuternd Däumler-Gmelin, StV2001, 359.

16 Scharfsinnig Weigend, NStZ 1999, 57, 63.

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eine „Scheinlösung“ liegen17. Nicht um die Urteilsabsprachen selbst geht esalso – sie bilden für meine Überlegungen als besonders eindrucksvolles Kri-senphänomen nur den Hintergrund –, sondern vielmehr um jene Grund-frage nach den normativen Grenzen einer (Teil-)Privatisierung des Strafver-fahrens18. Diese Aufgabenstellung verlangt methodisch nicht nur und schongar nicht prioritär einen Blick auf die bereits im geltenden Recht angelegten„konsensualen Elemente“19, sondern in erster Linie eine Vergewisserungüber den fundamentalen Zweck des Strafverfahrens. Denn nur derjenige, derweiß: wozu, kann ermessen, welche Mittel dafür unverzichtbar sind. Da-gegen muß das, was schon ist, noch lange nicht richtig sein20.

II. Argumente gegen eine Legitimation des Verfahrensabschlusses durch Konsens

1. Zweck des Strafverfahrens

a) Rechtsfrieden durch „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“

Die damit zentrale Frage nach dem Zweck des Strafverfahrens ist erfreu-licherweise allerdings schon Gegenstand einer Reihe umfänglicher Unter-suchungen gewesen21, so daß unsere Überlegungen hieran nahtlos anknüp-fen und sogleich die wesentlichen Aspekte herausheben können. Danachdürfte heute jedenfalls insoweit – und zwar: begründeter (!) – Konsens be-stehen, daß die alte Goldschmidtsche Sichtweise – das Verfahren sei aufnichts anderes gerichtet denn auf die Herstellung von Rechtskraft22 – zwarkeineswegs unzutreffend, aber doch in einem entscheidenden Aspekt defi-zitär ist: sonst müßten wir uns etwa auch mit einem Verfahrensabschluß

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17 Wie hier bereits Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1, 55 ff.; kritisch auch Freund, GA2002, 82, 88 ff.

18 Treffende Kennzeichnung dieser Fragestellung schon bei Eser, ZStW 104 (1992), S. 361,376 ff.: „Reprivatisierung des Strafverfahrens: Zukunftsmodell oder Irrweg?“.

19 So aber die durchgängige Diskussion (insbesondere mit Blick auf § 153a StPO); vgl.BGHSt. 43, 195, 203.

20 Klassisch Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 5: „Niemals ist etwas schondeshalb richtig, weil es ist oder weil es war – oder auch, weil es sein wird“.

21 Aus der jüngeren Vergangenheit vor allem Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dog-matik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 15 ff.; Sternberg-Lieben, ZStW 108(1996), S. 721, 725 ff.; Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S. 178 ff.; Wei-gend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 173 ff.

22 Vgl. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S. 151.

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durch Würfelspiel o. ä. zufriedengeben. Nichts anderes als diese Orientie-rung an einem materiellen Bezugspunkt ist daher gemeint, wenn häufig her-vorgehoben wird, der Strafprozeß diene vor allem der Durchsetzung desmateriellen Rechts23. Weil dieses nur (idealiter: gesetzlich) bestimmte Ver-haltensweisen mit strafrechtlicher Sanktion bedroht, deren Ausmaß sich in-nerhalb eines gewissen Rahmens stets nach der Schuld des Täters zu richtenhat, impliziert die „Durchsetzungsfunktion“ des Strafverfahrens notwendigdie zutreffende „Feststellung“ – oder besser: Rekonstruktion24 – von wirk-licher schuldhafter Tatbegehung und eine fehlerfreie „Anwendung“ des ma-teriellen Rechts in Grund und Höhe der Strafe – mit anderen Worten: Willsich das Strafverfahren nicht von der grundlegenden Zwecksetzung desStrafrechts insgesamt abkoppeln (was die Frage aufwerfen würde, welchenSinn das Verfahren dann eigentlich noch erfüllen soll), muß es der Ergebnis-richtigkeit und – als unverzichtbare Voraussetzung hierfür25 – dem Strebennach möglichst umfassender Aufklärung des relevanten Sachverhalts ver-pflichtet bleiben, damit sich die tatbedingte Störung des Rechtsfriedensüberwinden läßt26. Dieser „Rechtsfriede“ – verstanden im normativen Sinneals ein „Zustand, bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartetwerden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat wieder beruhigt“(Schmidhäuser)27 – ist daher nicht etwa neben „Wahrheit“ und „Gerechtig-keit“ überflüssig oder nur irgendein „Nebenzweck“28, sondern zentralerFokus aller materiell- wie formell-strafrechtlichen Regelungen, die in ihrer –freilich spezifischen – Ausprägung teilhaben an der fundamentalen Rechts-friedensfunktion der gesamten staatlichen Rechtsordnung. In Anlehnung an

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23 Zahlreiche Nachweise bei Weigend (Anm. 21), S. 191 Fn. 62.24 Dazu etwa Arthur Kaufmann, Über Gerechtigkeit, 1993, S. 266 f., 287 f.: „aktiv-gestal-

tender Akt“; radikaler dagegen Grasnick, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 207,208 f.: „Konstruktion, nicht Rekonstruktion“; siehe auch S. 225: „Die soziale Welt ins-gesamt: eine Welt aus lauter Konstrukten“.

25 Zu diesem Verhältnis bereits (klarstellend) Schmidhäuser, Festschrift für Eb. Schmidt,1961, S. 511, 512; siehe auch Müller-Dietz, Zeitschrift für evangelische Ethik 15 (1971),S. 257, 261 ff.; Weigend (Anm. 21), S. 178: „Zwischenziel“.

26 Wie hier am „Rechtsfrieden“ ausgerichtet auch Rieß, Festschrift für Schäfer, 1980,S. 155, 170; Volk (Anm. 21), S. 183 ff., 200 ff.; Weigend (Anm. 21), S. 195 ff., 213 f. (aller-dings eher im Sinne eines sozialpsychologischen Phänomens); weiterhin Paeffgen(Anm. 21), S. 30 f. (freilich nur als einer von zwei „Legitimatoren“ neben „Gerechtig-keit“).

27 Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 511, 522.28 So aber Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 721, 727.

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Kants Friedensschrift läßt sich auch sagen, daß erst das Recht den gesetz-losen status naturalis zu überwinden und Frieden in der Gesellschaft zu stif-ten vermag29.

Gewiß: Dieses soeben beschriebene „klassische“ Verständnis leidet offen-sichtlich an einer Reihe keineswegs nur geringfügiger Vergröberungen.Nicht nur sind mit den Leitbildern der „Ergebnisrichtigkeit“ und „Wahr-heit“ bekanntlich keine Größen bezeichnet, die dem begrenzten mensch-lichen Beurteilungs- und Erkenntnisvermögen restlos zugänglich sind; auchhandelt es sich bei dem Strafprozeß natürlich nicht um ein „historisches For-schungsvorhaben“30, weil das dem Verfahren „eingegebene normative Pro-gramm“31 die Wahrheitssuche von vornherein auf jene nur innerhalb diesesRahmens überhaupt relevanten Sachverhaltsausschnitte begrenzt. Zudem istselbst eine dergestalt „justizielle Wahrheit“32 keine schon vorab „ausge-prägte Münze“ (Hegel)33, sondern erst ein Produkt des Verfahrens – mit dentreffenden Worten Volks gewissermaßen eine „virtual reality“34, was dieübliche Redeweise von einer „Ermittlung“ der Wahrheit als ebenso laien-haft-naive Vorstellung erscheinen läßt wie jene der Rechts-„findung“35.Dies alles ist ohne jeden Zweifel richtig, ändert aber gleichwohl nichts andem ausschlaggebenden Gesichtspunkt, daß sinnvolles Handeln und Ent-scheiden des Menschen eben doch entgegen radikal-konstruktivistischerAuffassung nicht nur das subjektunabhängige Bestehen einer „Wirklichkeit“postulieren muß36 – man erinnere sich nur an Gössels Flugkapitän, derglaubt, die Realität bestehe allein in seiner Vorstellung37 –, sondern weiter-gehend auch von der prinzipiellen Möglichkeit einer Annäherung der eige-

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29 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Einleitung zum zweiten Abschnitt: „Der Friedens-zustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status natu-ralis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist. … Er muß also gestiftet werden …,welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann“.

30 Zu Recht beanstandet von Volk, Festschrift für Salger, 1995, S. 411, 412 f.31 Treffend Krauß, in: Jäger (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, 1980, S. 65, 78.32 Preuß, KritJ 1981, 109, 112 f.33 Phänomenologie des Geistes, in: Bonsiepen/Heede (Hrsg.), Gesammelte Werke, Bd. 9,

1980, Vorrede.34 Volk, Festschrift für Salger, 1995, S. 411, 413.35 Insoweit völlig berechtigte Kritik bei Grasnick, GA 2000, 153 ff.; zum „Verfahren der

Rechtsgewinnung“ grundlegend die gleichnamige Schrift von Arthur Kaufmann, 1999.36 Durchaus eingeräumt von Grasnick, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 207, 217

(„… in der allein schon deshalb von uns nicht geleugneten, ja nicht einmal leugbarenRealität“), 226.

37 Vgl. Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß?, 2000, S. 13.

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nen Wahrheitsbilder an diese objektive Wirklichkeit ausgehen muß, mag derersehnte Zustand einer „Deckungsgleichheit“ auf der Basis der alten Korres-pondenztheorie38 ebenso wie ihrer verbesserten Varianten (ambitioniertinsbesondere die Konvergenztheorie Arthur Kaufmanns39) auch niemals er-reichbar, geschweige denn für Menschen mit der nötigen definitiven Sicher-heit verifizierbar sein40. Die Menschheitserfahrung belegt im übrigen hin-länglich, daß es trotz dieser nicht hintergehbaren Begrenztheit in geradezuerstaunlichem Maße gelungen ist, handlungsrelevante Wahrheiten zu ent-decken bzw. fortzuschreiben, die für das soziale Verhalten des Menschen(zumindest vorübergehend, d. h. vorbehaltlich einer besseren „Erkenntnis“)eine verläßliche Grundlage bilden. Radikale Skepsis gegen jegliches Vermö-gen selbst einer „Annäherung“ an das in diesem Sinne der menschlichen Er-kenntnis vorausliegende „Sein“ erscheint deshalb nach einem treffendenBonmot Peter Janichs „wie ein Mistelzweig ohne Wirtsbaum“41.

Wer solches Streben als sinnloses Unterfangen ansähe, nähme die Gleich-wertigkeit eines jeden beliebigen Wahrheitsbildes in Kauf42, was nicht nurallgemein den Anforderungen und Erfahrungen unserer Lebenswelt zuwi-derliefe43, sondern mit Blick auf das Strafverfahren selbst dem von kon-struktivistischer Seite zugrunde gelegten anspruchsärmeren Leitbild einer„rationalen Akzeptierbarkeit“44 die Grundlage entzöge. Denn wieso solltedie willkürliche Behauptung irgendeiner abwegigen „Konstruktion“ von„Wirklichkeit“ für irgendjemanden rational akzeptierbar sein – für das Ge-richt, für die Staatsanwaltschaft, für den Verteidiger oder gar für einen Be-

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38 Klassisch Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate (zitiert aus: Zimmer-mann [Hrsg.], Von der Wahrheit, 1986), quaestio 1, a. 1: „veritas est adaequatio in-tellectus et rei“. Thomas schreibt diese Formel allerdings Isaac Israeli zu und weist aufihren aristotelischen Ursprung hin; dazu auch Deckert, ARSP 82 (1996), S. 43.

39 Kaufmann, ARSP 72 (1986), S. 425, 440 ff. (= Über Gerechtigkeit [Anm. 24], S. 278 f.);zustimmend Gril, Die Möglichkeit praktischer Erkenntnis aus Sicht der Diskurstheo-rie, 1998, S. 161 ff.; Häberle, Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 15, 22.

40 Zu den methodischen Schwierigkeiten näher Janich, Was ist Wahrheit?, 1996, S. 30 ff.41 Janich (Anm. 40), S. 114; beachtenswert auch S. 126: „Eine Theorie der Wahrheit muß

nicht abstrakt und sub specie aeternitatis erklären. Durch die handlungsorientierendeFunktion der Wahrheit bleibt sie eingebunden in die Kohärenz gemeinschaftlicher Pra-xen unter kulturhistorischen Bedingungen.“

42 Gössel (Anm. 37), S. 18, spricht zu Recht von „Willkür“.43 Zur „Kraft“ der hieraus resultierenden „Intuition“ in Auseinandersetzung mit einigen

Gegnern der Korrespondenztheorie näher Krüger, Deutsche Zeitschrift für Philoso-phie (DZPhil) 43 (1995), S. 919.

44 Grasnick, JR 1998, 179, 183.

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schuldigten, der auf dieser Basis eine strafrechtliche Sanktion hinzunehmenhätte? Das gilt um so mehr, wenn man dabei die wichtige Konsequenz unse-rer präsumtiven Verknüpfung des Verfahrens mit dem Regelungsprogrammdes materiellen Rechts nicht aus den Augen verliert, was die Rechtsfriedens-funktion des Strafrechts in der Tat gewissermaßen zur „Schicksalsgenossinder Strafzwecke“ macht45. Selbst wenn sich nämlich der Sinn einer Bestra-fung in einem Einwirken auf den Delinquenten erschöpfte (was sich nach in-zwischen eingetretener Abkühlung der seinerzeitigen „Resozialisierungseu-phorie“46 heute kaum noch annehmen läßt), bliebe doch das Bemühen umeine möglichst realitätsgetreue Rekonstruktion des verdachts- und am Endeauch sanktionsbegründenden Geschehens ebenso unverzichtbar wie dasStreben nach einer zutreffenden Bewertung des Vorfalls – wie sollte sich dieHoffnung auf Akzeptanz dieser Sanktion und ein „Lernen am Mißerfolg“sonst begründen lassen?47 Sind mit der konkreten Tat per definitionem auchnoch elementare Belange der Allgemeinheit betroffen – so mit der vorherr-schenden Lehre der „Integrationsprävention“48 das Bedürfnis nach allge-meiner Stärkung der Rechtstreue durch nachhaltige Verdeutlichung desNormbruchs (ohne darüber hinaus den trotz aller modernistischen Kritikmeines Erachtens nicht auslöschbaren Aspekt der Vergeltung bemühen zuwollen)49, dann bedarf es hierfür erst recht eines Prozedere, das eben auchjene Allgemeinheit als „ernsthafte … und umfassende Auseinandersetzung“in dieser Sache verstehen kann, wie dies jüngst Weßlau in ihrer grundlegen-den Monographie zum „Konsensprinzip im Strafverfahren“ überzeugendnachgewiesen hat50. Es ist also nicht die Unerreichbarkeit vollkommenzweifelsfreier Erkenntnis, sondern vielmehr der vorzeitige Abbruch dahin-gehenden Bemühens51, der jene mit dem Betreiben eines Strafverfahrens

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45 Treffend Weigend (Anm. 21), S. 211; vgl. auch Volk, Festschrift für Salger, 1995, S. 411,413: „Die materielle Wahrheit ist … die Wahrheit des materiellen Rechts“.

46 Zu den Gründen näher Roxin, Allg. Teil I, 3. Aufl. 1997, § 3 Rdn. 16 ff.47 Sehr zu Recht betont von Jähnke, ZRP 2001, 574, 577.48 Näher Müller-Dietz, Festschrift für Jescheck, 1985, S. 813; Zipf, Festschrift für Pallin,

1989, S. 479.49 Wie hier (neben anderen) jüngst nochmals bekräftigend Höffe, Gibt es ein interkul-

turelles Strafrecht?, 1999, S. 67 ff.; ders., Gerechtigkeit, 2001, S. 78 ff.; im Sinne der wohlvorherrschenden (ablehnenden) Sichtweise beispielhaft Roxin, Allg. Teil I, § 3Rdn. 8 ff., 44.

50 Vgl. Weßlau, Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamt-reform?, 2002, S. 116.

51 Als entscheidendes Legitimationsproblem erkannt bei Weßlau (Anm. 50), S. 256, dortallerdings mißverständlich verbunden mit der Folgerung, daß wegen der theoretisch

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intendierten Zwecke beeinträchtigt und – mehr noch – den Sinn eines eigen-ständigen Strafrechts neben einer zivilrechtlichen Verständigung per Ver-gleich von Grund auf in Frage stellt.

Von hier aus läßt sich ein erstes Zwischenresultat festhalten: Nur inner-halb jenes engen Rahmens, der die Anforderungen von Aufklärungspflichtund Schuldprinzip nicht unterminiert, bleibt Raum für eine konsensualeVerfahrenserledigung, weil die Mehrdimensionalität eines jeden strafrecht-lichen Konflikts52 den konkret Prozeßbeteiligten keine weitergehende Ver-fügungsbefugnis über den Prozeßgegenstand eröffnet. Nicht das Ziel, son-dern allein das Bestehen verschiedener Wege dorthin begründet somitMöglichkeiten der (hierauf begrenzten) Disposition, die nicht zuletzt auchder Verfahrensgerechtigkeit als einem zur „Ergebnisrichtigkeit“ hinzutre-tenden Grundwert geschuldet sind. Hierin kann man mit Weßlau natürlicheine Legitimation durch Konsens „auf zweiter Stufe“53 sehen, wenn dabeinur beachtet bleibt, daß über die Aufklärungspflicht innerhalb ihrer Reich-weite nicht disponiert54, insbesondere von dieser nicht dispensiert werdenkann und somit die eigentliche Legitimationsbasis für das jeweils erzielteVerfahrensergebnis eben doch eine solche nicht-konsensualer Natur ist.

b) Legitimation durch Verfahren

Daraus erhellt zugleich, daß den Prozeßsubjekten – insbesondere auch derVerteidigung – die Möglichkeit der Partizipation an dem Herstellungspro-zeß der Entscheidungsgrundlagen damit keineswegs verwehrt ist, sondernganz im Gegenteil ungeachtet des hohen Eigenwertes einer substantiellenund chancengleichen Teilhabe auch zwecks Vermeidung von Fehlurteilenauf „falscher“ Tatsachenbasis geradezu wünschenswert erscheinen muß. DasFesthalten an einer „übergeordneten rechtsstaatlichen Funktion des materi-ellen Wahrheitsbegriffs“55 versperrt also nicht die Option zu einer stärker

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niemals ausschließbaren Möglichkeit weiterer Aufklärung „das Konsensprinzip alsLegitimationsfaktor … unvermeidbar“ sei; dazu sogleich im Text.

52 Gemeint im Sinne der betroffenen Konfliktsebene; vgl. näher Röhl, Rechtssoziologie,1987, § 52.

53 Vgl. Weßlau (Anm. 50), S. 197 ff.; ähnlich bereits Habermas, Faktizität und Geltung,1992, S. 278: „zwangloses Einverständnis“.

54 Dazu Schlüchter, Festschrift für Spendel, 1992, S. 737, 746; in der Sache auch Weßlau(Anm. 50), S. 199: keine Anerkennung eines „disponiblen Wahrheitsbegriffs“.

55 Zu der sich auch Volk, Festschrift für Salger, 1995, S. 411, 416 Fn. 22, trotz einiger Ak-zentverschiebungen weiterhin bekennt.

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adversarial konzipierten Verfahrensstruktur, wie sie neuerdings zur Stär-kung der „Waffengleichheit“ zwischen den Prozeßsubjekten und zwecksBeförderung eines fairen Verfahrens vermehrt gefordert wird56. Nur fehltsolcher Verfahrensgerechtigkeit für sich – als reiner Verfahrensgerechtigkeit(„pure procedural justice“)57 – jedwede die Verfahrensfairneß übersteigendeinhaltliche Orientierung; die daraus resultierenden Anforderungen – gleich-sam unsere „Spielregeln“58 – können als solche ohne das ihnen vorgegebenenormative Programm der sozialen Funktion des Strafverfahrens nicht ge-recht werden. Luhmanns metatheoretische Beschreibung einer „Legitima-tion durch Verfahren“ läßt das im übrigen deutlich erkennen, wenn dort da-von die Rede ist, daß im Sinne eines „sozialen Mechanismusses“, genauer:der „Vorstellungsübertragung auf Grund intersubjektiv zwingender (!)Gewißheit“ kein Verfahren „Wahrheiten in dieser spezifischen Funktionmissen“ könne, weil ein solches „sich sonst ins Uferlose immer andererMöglichkeiten verlieren“ würde59, so daß eben doch eine „Überzeugung“des Publikums unverzichtbar ist, alles sei „mit rechten Dingen“ zugegangen,d. h. es sei „in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahr-heit und Recht (!) ermittelt“ worden60. Freilich darf dies nicht nur gleichsamals Theaterstück „gespielt“ werden (wie es bei Luhmann vernehmlich an-klingt)61, besetzt mit mehr oder weniger talentierten Laienschauspielern,darf sich das Verfahren also nicht darin erschöpfen, lediglich den „Anscheinrechtsstaatlichen Prozessierens“ zu erwecken, wenn die mit der Verhängungvon Kriminalstrafe erhofften Wirkungen auch noch auf längere Sicht wenig-stens vorstellbar bleiben sollen. In diesem Sinne hat der LuhmannschenSichtweise auch Habermas zu Recht entgegengehalten, daß ein Verfahren

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56 Für eine „partizipatorische Ausgestaltung“ vor allem auch des Ermittlungsverfahrensinsbesondere DAV (Anm. 11), unter I. und II.; strikt ablehnend dagegen die Stellung-nahme des Deutschen Richterbundes v. Juni 2001, abrufbar unter: http://www.drb.de/pages/html/stellung/st-eckpunkte.html, insbes. Ziff. 3: „… ist bereits im Ansatzverfehlt“.

57 Begriff nach Rawls, A Theory of Justice, 1971 (2. Aufl. 1999), dt. (auf der Grundlageeines revidierten Textes): Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 106 f.

58 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52, 67 f., m.w. N.59 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1993, S. 24.60 Luhmann (Anm. 59), S. 123; siehe auch S. 17: „So wenig bestritten werden kann, daß

es sinnvoll und wertvoll ist, sich im gerichtlichen Verfahren um die Feststellung derWahrheit zu bemühen …“.

61 Luhmann (Anm. 59), S. 123: „Verfahren … als Drama“; wie hier auch Neumann, in:Scholler/Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus. Arthur Kaufmann zum 65. Ge-burtstag, 1989, S. 73, 80; Weigend (Anm. 21), S. 201 Fn. 103.

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sich doch niemals aus sich selbst heraus „legitimieren“ könne, sondern „stetsnur indirekt, durch Verweisung auf Instanzen, die ihrerseits anerkannt seinmüssen“ und deren Entscheidungen „als die Erfüllung anerkannter Normengelten dürfen“62. In diesem Lichte erweist sich das Konzept einer „Legiti-mation durch Verfahren“ daher lediglich als eine Art „Teilerklärung“63, diedas Wesentliche jedoch nicht zu erfassen vermag (und auch gar nicht erfas-sen will!).

In Anlehnung an Neumann64 läßt sich somit als weiteres Zwischenresul-tat festhalten, daß die prozedurale Gerechtigkeit zwar eine notwendige, aberkeine hinreichende Bedingung ist für einen „akzeptierbaren“ – und das heißtnach dem bisher Gesagten: einen die Wiederherstellung des Rechtsfriedensermöglichenden – Abschluß des Strafverfahrens. Oder anders gewendet: Dievon Skeptikern durchaus zu Recht betonten – freilich verabsolutierten – Po-stulate einer erforderlichen Argumentation und Kommunikation im „Dis-kurs“ bilden nicht etwa für sich schon das Ziel65, sondern lediglich die (imeinzelnen noch auszudifferenzierenden) Mittel zu jenem bereits angeführtenganz anderen (materiellen) Zweck.

c) Moderne Vertrags- und Diskurstheorie(n) sowie kritischer Rationalismus

Von vertrags- und diskurstheoretischen Konzeptionen können wir dabeilernen, welchen idealisierten Anforderungen sich jene „Spielregeln“ mög-lichst annähern sollten, damit der Rechtsentscheid nicht zuletzt auch hin-sichtlich seines verfahrensmäßigen Zustandekommens als zureichend ge-rechtfertigt gelten kann. Die dabei in Rede stehenden, sich im übrigenauffallend ähnelnden66 Ausgangs- bzw. Diskursbedingungen im berühmten„Urzustand“ (Rawls)67 respektive in der „idealen Sprechsituation“ (Haber-mas)68 eröffnen gleichsam im Sinne einer regulativen Idee zweifelsohne auch

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62 Vgl. Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechno-logie?, 1971, S. 244.

63 Aufschlußreich Machura, Zeitschrift für Rechtssoziologie 14 (1993), S. 97 ff., insbes.103.

64 ZStW 101 (1989), S. 52, 70; siehe auch Schreiber, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung undKonsens, 1965, S. 71, 77 f.; Zippelius, Festschrift für Larenz, 1973, S. 293 ff., insbes. 302.

65 So aber Grasnick, Festschrift für Pötz, 1993, S. 55, 70: keine „statische“, sondern „dy-namische Wahrheitstheorie“.

66 Interessanter Vergleich bei McCarthy, DZPhil 44 (1996), S. 931.67 Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 57), S. 34 ff., 111 ff., 159 ff.68 Festschrift für Schulz, 1973, S. 211 ff. (auch in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theo-

rie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 127, 177f.); vgl. weiter die Diskursregelnbei Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 234ff.

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für das Strafverfahren ein weites Spektrum an diskussionswürdigen Innova-tionen zur Stärkung einer gleichberechtigten, ungeschmälerten und effek-tiven Mitwirkung aller Beteiligten69. Es ist aber stets die Inbezugnahmejener (idealisierten) Diskursbedingungen, bei deren Annäherung sich zu-mindest tendenziell im Wege einer komparativen Voraussage eine „relativeRichtigkeit“ erhoffen läßt, nicht etwa – wie immer wieder zu hören ist70 –der reale Konsens, der allen Diskurstheoretikern doch gerade nicht als Indizoder Kriterium für den behaupteten Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruchgilt, sondern vielmehr umgekehrt bloß als seinerseits kritisch zu überprüfen-des Faktum. Erst der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation, so lesen wir beiHabermas71, biete „Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzieltenKonsensus den Anspruch eines vernünftigen Konsensus verbinden dürfen;zugleich ist er ein kritischer Maßstab, an dem jeder faktisch erzielte Konsen-sus auch in Frage gestellt … werden kann“. Sonst bliebe es von vornhereinunmöglich, den „falschen von einem wahren Konsensus, oder Meinungenmit naivem Geltungsanspruch von Wissen … (zu) unterscheiden“72. Nichtweniger deutlich heißt es bei Alexy73: „Ein Mißverständnis wäre es zu mei-nen, daß nach der Diskurstheorie etwas schon dann wahr sei, wenn alle esfür wahr halten. Nicht der Konsens ist … entscheidend, sondern die Durch-führung der Diskursprozedur. … Es ist deshalb unzutreffend, der Diskurs-theorie zu unterstellen, daß sie den Konsens als Grund für die Richtigkeitoder Wahrheit ansieht“.

Bedarf es aber stets eines „unter vernünftigen Menschen erzielten Kon-senses“74, was bei Verzicht auf jene (methodisch untaugliche) Maßfigur75 inWahrheit nichts anderes meint als einen in der Sache „begründeten Kon-sens“76, dann erwächst die Legitimation in Wahrheit nicht einmal aus dem

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69 Nach Röhl, Zeitschrift für Rechtssoziologie 14 (1993), S 1, 26 f., führen beide in eine„Theorie der Verfahrensgerechtigkeit“; ebenso auch die Einschätzung von Radtke,Festschrift für Schreiber, 2003, S. 375, 385.

70 Vgl. etwa Grasnick, GA 1990, 483, 491: „konstitutive Rolle“ des Konsenses als ein „un-trügliches Kriterium“; vgl. dagegen schon Luhmann (Anm. 59), S. 15: „Kann dennWahrheit dadurch erreicht werden, daß alle Beteiligten zwanglos reden, was ihr Gewis-sen ihnen eingibt?“

71 Festschrift für Schulz, 1973, S. 211, 258.72 Habermas (Anm. 62), S. 223.73 Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, 1995, S. 119.74 Habermas (Anm. 62), S. 222.75 Im Kontext des Fahrlässigkeitsbegriffs ablehnend Duttge, Zur Bestimmtheit des

Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, insbes. S. 143f., 208.76 So explizit Habermas, Festschrift für Schulz, 1973, S. 211, 239f.

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faktischen Durchlaufen einer bestimmten Prozedur, sondern letztlich wie-derum aus „dem eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argu-ments“77, eben kontrafaktisch aus den von Konsens oder Dissens ganz un-abhängigen „guten Gründen“78, von denen wir annehmen, daß ihnen undder auf ihrer Grundlage ergangenen Entscheidung „jedes zurechnungsfähigeSubjekt zustimmen müßte, wenn es seine Meinungen nur lange genug inuneingeschränkter und zwangloser Kommunikation prüfen könnte“79. Jene„Rationalitätslücke“ aber, resultierend aus der nicht restlos überbrückbarenDifferenz „zwischen der bloß plausibilisierenden Kraft eines einzelnen sub-stantiellen Grundes und der im Prinzip stets unvollständigen Folge vonArgumenten einerseits, der Unbedingtheit des Anspruchs auf die einzigrichtige Entscheidung andererseits“, wird erst „durch das argumentativeVerfahren der kooperativen Wahrheitssuche idealiter geschlossen“80.

Das heißt für das Strafverfahren: Wer nicht unter einer spezifischen Formjuristischer Kurzsichtigkeit leidet und nur die – vermeintliche oder tatsäch-liche – Nützlichkeit des Ergebnisses für die je konkreten Prozeßbeteiligtenvor Augen hat, muß an dem schon zur Genüge betonten Streben nach (einersomit nicht im Sinne etwa eines John Dewey, William James oder RichardRorty „pragmatisch“ verkürzten81) Wahrheit und einer gerechten Entschei-dung festhalten. Soweit ausschließlich Interessen Privater betroffen sind,mag es innerhalb äußerster Grenzen (insbesondere §§ 134, 138 BGB) be-rechtigt sein, daß diese kraft ihrer Privatautonomie auf vertraglichem Wegeoder nach entbranntem Konflikt selbst vor Gericht im Wege eines Pro-zeßvergleiches (vgl. § 794 Nr. 1 ZPO, § 779 BGB) ihre Angelegenheiten

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77 Habermas, Festschrift für Schulz, 1973, S. 211, 240; verschiedentlich wiederholt, etwain: DZPhil 44 (1996), S. 715, 735, und in: Wahrheit und Rechtfertigung, 1999, S. 230 ff.,261.

78 Wie hier Tschentscher, Rechtstheorie 34 (2002), S. 43, insbes. 47, 54 ff., 59, unter Ver-weis auf Raz, in: Alexander (Hrsg.), Constitutionalism. Philosophical Foundations,1998, S. 162 f.: „So even if real consent is a source of authority, it is far from clear thathypothetical consent is. I know of no argument which shows that it is“.

79 Habermas (Anm. 74).80 Habermas (Anm. 53), S. 279. Diese allgemeine Zielbestimmung schließt die Annahme

eines „Eigenwerts“ prozeduraler Rechtsregeln nicht aus; dahingehend aber die KritikNeumanns, Rechtstheorie 27 (1996), S. 415, 424ff.

81 Dazu näher Hörnle, „Justice as Fairness“ – ein Modell auch für das Strafverfahren?Münchner Habilitationsvortrag v. 23.1. 2003; siehe auch Janich (Anm. 40), S. 50: „endetin einer resignativen Bezugnahme … auf das subjektiv Angenehme“. Zu Rortys prag-matischer Wende treffend Habermas, DZPhil 44 (1996), S. 715, 728 Fn 32: „abolitioni-stisches Wahrheitsverständnis“.

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selbst regeln und die Hoheitsorgane dabei lediglich ihre „guten Dienste“ an-bieten. Sobald aber schützenswerte Interessen der Allgemeinheit hinzutre-ten – was selbst im Zivilrecht in manchen Konstellationen (z. B. die Klärungvon Statusverhältnissen wie Ehe und Abstammung oder im Arbeitsrecht dieEinhaltung bestimmter Mindestarbeitsbedingungen)82 der Fall ist, im Straf-recht jedoch per definitionem (sonst wäre es kein Strafrecht mehr) –, kanndie Entscheidung dieser Rechtssache nicht mehr dem – wie die Absprachen-praxis zeigt: mitunter geradezu willkürlichen – Belieben der Prozeßbeteilig-ten überlassen bleiben (erinnert sei nur an das offenbar ganz und gar nichtseltene Phänomen der „Sanktionenschere“83). Wenn daher jene, denen dieWahrnehmung der Allgemeininteressen treuhänderisch anvertraut wordenist, für derartige vorwiegend utilitaristisch motivierte84 „Verfahrenserledi-gungen“ das Siegel ihrer besonderen Beglaubigung hergeben, so ist das selbstbei gutgemeintem Vertrauen auf die (vermeintliche) „Vernünftigkeit“ deseigenen Tuns (was von Rechtspraktikern immer wieder versichert wird)noch immer eine gewaltige Pflichtvergessenheit, im schlechteren Falle einespezifische Form professionaler Korruption, die institutionell einem nach-haltigen Glaubwürdigkeitsverlust der Strafjustiz Vorschub leistet und –wenn das Ruder nicht herumgeworfen wird – in einem nicht mehr reparab-len Offenbarungseid enden kann.

Es bleibt also dabei: Das Streben nach zutreffender Rekonstruktion des„wahren“ Geschehens gehört zu den unverfügbaren Essentialia eines jedenStrafprozesses und wird in dieser fundamentalen Qualität nicht dadurch inFrage gestellt, daß sich innerhalb von mit begrenzten Ressourcen gesteuer-ten Verfahren natürlich niemals „garantieren“ läßt, es werde „stets Wahrheitgefunden, stets eine richtige Entscheidung getroffen“85. Diese Einsicht, daßalso menschliche Erkenntnis nicht unfehlbar, sondern prinzipiell irrtumsan-

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82 Im einzelnen Marburger, in: Staudinger, BGB, 13. Bearb. 1997, § 779 Rdn. 5ff.; Pecher,in: MK BGB, Bd. 5, 3. Aufl. 1997, § 779 Rdn. 5ff.; interessante Verallgemeinerung beiGrunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, § 11 II 3: „In den von Amtswegen einzuleitenden Verfahren fehlt die Dispositionsbefugnis der Beteiligten …“.

83 Dazu Salditt, Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 65, 71 f.; siehe auch Schüne-mann, Festschrift für Baumann, 1992, S. 361, 376; Terhorst, GA 2002, 600, 601 sowieden eindrucksvollen Prozeßbericht von Weider, StV 2002, 397f.

84 Zu den „Vorzügen“ einer absprachebedingten Verfahrenserledigung für Gericht undStaatsanwaltschaft eingehend Schünemann, Gutachten zum 58. Deutschen Juristentag1990, B 27ff.

85 Zur Fehlerhaftigkeit eines solchen Verständnisses (bei Luhmann [Anm. 59], S. 20 f.) be-reits Paeffgen (Anm. 21), S. 37; treffend Neumann (Anm. 61), S. 73, 75: „Ein prokla-miertes Ziel wird nicht dadurch diskreditiert, daß zu seiner Erreichung nur be-schränkte Mittel eingesetzt werden können“.

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fällig ist und daher fortwährend unter dem Vorbehalt nachfolgender bessererErkenntnis steht, führt auf der Basis des kritischen Rationalismus denknot-wendig zu der weiteren Gewißheit, daß für die „rationale Akzeptierbarkeit“des Verfahrens nicht mehr (aber eben auch nicht weniger!) als ein hinrei-chender Grad an „Bewährung“ entscheidend sein muß. Dieser beurteilt sich,wie Popper schon in seiner „Logik der Forschung“ eingehend beschriebenhat, nach der Strenge und Intensität der unternommenen Prüfung86 undtrifft sich in diesem Aspekt bemerkenswert, reduziert man nur die dort be-gegnende Idealisierung auf ein „menschliches Maß“, mit jener einer diskurs-ethischen Wahrheitstheorie (in ihrer universalpragmatischen Variante) er-klärtermaßen zugrunde liegenden „Inspiration“, die von einer „wahren“Aussage nämlich immer dann sprechen will, wenn diese (freilich: „unter denanspruchsvollen Bedingungen eines rationalen Diskurses“) „… allen Ent-kräftungsversuchen standhält“87. Wie Habermas freilich selbst klargestellthat, läßt sich die zwischen „Wahrheit“ (als Ideal) und ihrer „Rechtfertigung“(unter realistischen Verhältnissen durch Angabe von Gründen) bestehendeKluft auch durch eine Idealisierung der Bedingungen für aktuelle Rechtferti-gungsprozesse nicht wirklich schließen, weil „alle realen, in der Zeit ablau-fenden Diskurse gegenüber Lernprozessen in der Zukunft provinziell blei-ben“, wir also niemals wissen können, „ob sich Aussagen, die uns heuteselbst unter annähernd idealen Bedingungen als gerechtfertigt erscheinen, inZukunft gegen Entkräftungsversuche tatsächlich behaupten“ werden. Daherbleibt nur, uns mit einer „rationalen Akzeptabilität unter möglichst idealenBedingungen als einem hinreichenden Beleg für Wahrheit zufriedenzu-geben“88 und auf diese Weise wenigstens eine Art von „relativer Richtig-keit“89 zu erhoffen. Wenn es auch niemals genügend Argumente für die Be-hauptung gibt, daß wir tatsächlich „die Wahrheit“ erreicht haben, findensich aber in allen Lebensbereichen sehr wohl (mehr oder minder) „starkeund gute Argumente dafür, daß wir uns der Wahrheit ein Stück genäherthaben (könnten)“90.

Eben hierin liegt nun auch der ausschlaggebende Grund dafür, daß nichtnur der Verzicht auf dergestalt „wahrheitsfördernde“ Bedingungen (die eine

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86 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 1935, 10. Aufl. 1994, S. 198 ff. (Ziff. 79 ff.), insbes.S. 213 (Ziff. 82), sowie S. 339 ff. (Anhang IX); siehe auch Albert, ARSP 1960, 391, 400.

87 Habermas, DZPhil 44 (1996), S. 715, 734.88 Habermas, DZPhil 46 (1998), S. 179, 190.89 Alexy (Anm. 73), S. 124ff.90 Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, 4. Aufl. 1984, S. 58.

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„hinreichende“, d. h. den Umständen entsprechend bestmögliche Prüfungerst ermöglichen) und statt dessen die Übernahme des Ergebnisses eines vonvornherein strategisch motivierten Aushandlungsprozesses, sondern auchjede ersichtlich beschrittene „Abkürzung“ auf dem Weg zu einer „richtigen“Entscheidung auf „wahrer“ Tatsachengrundlage von vornherein keinerleiVertrauenswürdigkeit besitzt. Sollte unter diesen Umständen (aus „objek-tiver“ Sicht) dennoch eine „Annäherung“ an Wahrheit und Ergebnisrichtig-keit gelingen, so wäre das blinder Zufall oder ein Wunder, aber gewiß nichtdas Resultat einer „begründeten Bevorzugung“91. Die für das Strafverfahrenunaufgebbare Aufklärungspflicht verlangt deshalb – wie Weßlau92 zutref-fend hervorgehoben hat – aus gutem Grunde, daß „zunächst möglichst alle inBetracht kommenden Beweisquellen ermittelt … und alle tatsächlich erreich-baren und rechtlich zulässigen Beweismöglichkeiten soweit (wie möglich)ausgeschöpft werden müssen, bis ein Informationsstand erreicht ist“, der dierealistische93 Möglichkeit einer Änderung der Beweislage ausschließt.

2. Blick auf das geltende Strafprozeßrecht

a) Sühnevergleich im Privatklageverfahren (§§ 380, 391 StPO)

Dieser Sichtweise werden nun allerdings viele entgegenhalten, daß dochschon das geltende Recht manche „konsensual“ geprägte Abkürzung bei derWahrheitssuche kennt, angefangen von diversen Zustimmungs- und Ver-

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91 Kurzformel jener Ausführungen, die sich in verschiedenen Werken Poppers ausgebrei-tet finden, vor allem in: Tatsachen, Maßstäbe und Wahrheit: eine weitere Kritik desRelativismus (1961) (abgedruckt in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 7. Aufl.1992, Bd. 2, S. 460 [Anhang]); Vermutungen und Widerlegungen, 1963/1994, Teilbd. 1,S. 312ff.; Objektive Erkenntnis (Anm. 90), S. 83ff.; Replies to my Critics, in: Schilpp(Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper, 1974, Abschn. 13/14 (zum Teil abgedruckt in:Miller [Hrsg.], Karl R. Popper. Lesebuch, 2000, S. 96); guter Überblick bei Gadenne,in: Keuth (Hrsg.), Karl Popper. Logik der Forschung, 1998, S. 125, sowie treffend ders.,in: Gadenne/Wendel (Hrsg.), Rationalität und Kritik, 1996, S. 57, 77: „Vorziehen alsGrundlage für unsere Handlungen sollten wir die bestgeprüfte Theorie. Gemeint istdie am strengsten geprüfte, nicht falsifizierte, also die bestbewährte Theorie“; dazu ver-tiefend Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, 2000, S. 128ff.

92 (Anm. 50), S. 186.93 Wenn sich die „entfernte Möglichkeit“ einer Änderung des Verfahrensergebnisses nie-

mals ausschließen läßt, kann nur die „Beweisprognose des lebenserfahrenen und sorg-fältig abwägenden Richters“ maßgeblich sein; so zu Recht Schlüchter, Festschrift fürSpendel, 1992, S. 737, 740 f.; dies., in: SK StPO, § 244 Rdn. 37; zu weit gehend deshalbWeßlau (Anm. 50), S. 186: „noch nicht einmal die fernliegende Möglichkeit einerÄnderung der Beweislage“.

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zichtserklärungen über weitreichende Möglichkeiten der beschleunigtenVerfahrenserledigung – insbesondere nach § 153a StPO und im Strafbefehls-verfahren – bis hin zu einem (im Unterschied zu den aktuellen Bestrebungennach Einführung eines „strafgerichtlichen Wiedergutmachungsvergleichs“)94

sogar Art und Umfang der strafrechtlichen Sanktion unmittelbar bestim-menden vergleichsweisen – und damit dem von der Dispositionsmaximebeherrschten Zivilprozeß geradezu entsprechenden – Abschluß des Privat-klageverfahrens nach § 380 oder § 391 StPO. Aus dem letztgenanntenAspekt ergibt sich freilich der erstrebte Nachweis eines womöglich schon delege lata dem Strafprozeß immanenten „Konsensprinzips“ mit Sicherheitnicht: Denn es handelt sich dabei – argumentum aus § 376 StPO – doch umFälle, in denen es an einem „öffentlichen Interesse“ an der Strafverfolgungfehlt, die Durchsetzung des materiellen Strafrechts daher weder aus general-noch aus spezialpräventiven Gründen (und ebensowenig zur „Vergeltung“)95

geboten erscheint, weil hier „der Rechtsfrieden über den Lebenskreis desVerletzten hinaus (nicht) gestört worden“ ist (wie Nr. 86 Abs. 2 RiStBV aus-drücklich erklärt). Dann ist es aber nur das äußere Gewand, das dieses Ver-fahren zu einem strafrechtlichen macht96, so daß sich die leitende Erwägungdes historischen Gesetzgebers geradezu von selbst versteht, dem „Interessedes Staates“ entspreche in diesen Fällen eben weniger die Verhängung einerStrafe, sondern eher die „Beseitigung des Klagerechts durch Vergleich“97.Bekanntlich erfolgt diese „Beseitigung“ inzwischen ohnehin vorwiegend imWege einer Einstellung nach § 383 Abs. 2 StPO98, so daß die Funktion derPrivatklage heute mehr denn je vor allem darin zu liegen scheint, daß es zuihr gar nicht erst kommt (Rieß)99 – wozu auch, wenn es doch am „öffent-lichen Interesse“ fehlt. Vor diesem Hintergrund sollte ihre Abschaffung da-her gerade mit Blick auf die heutige Belastung des Justizapparates nicht

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94 Dieser soll nur jene „aus der Straftat erwachsenden vermögensrechtlichen Ansprüche“erfassen, die bisher gesondert auf zivilrechtlichem Wege eingefordert werden müssen;vgl. § 404a StPO-E i.d.F. des Fraktionsentwurfs (CDU/CSU) eines Gesetzes zur Stär-kung der Rechte der Opfer im Strafprozeß (2. Opferschutzgesetz) v. 8. 4. 2003, BT-Drucks. 15/814, sowie Bundesratsentwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Ver-fahren der Justiz (Justizbeschleunigungsgesetz) v. 11. 7. 2003, BR-Drucks. 397/03.

95 Siehe o. bei Anm. 49.96 So bereits von Birkmeyer, DJZ 1909 Sp. 1057 f.97 Materialien, in: Hahn, Bd. I, 1880, S. 277.98 Vgl. Hilger, in: Löwe/Rosenberg, StPO (L/R), 25. Aufl. 1999, vor § 374 Rdn. 4.99 Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. Gutachten zum 55. Deutschen Ju-

ristentag 1984, C 23.

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mehr allzu schwer fallen100, zumal die jüngsten Reformen mit dem Täter-Opfer-Ausgleich einem neuen Institut (erheblichen) Raum eröffnet haben,mit dem sich das offenbar nach wie vor bestehende Bedürfnis nach einemSühneverfahren (§ 380 StPO) wohl ohne weiteres auffangen ließe.

b) Zustimmungs- und Verzichtserklärungen

Auch die über die gesamte StPO verstreuten Zustimmungs- und Verzichts-möglichkeiten101 bilden keine Durchbrechungen unseres Strebens nach„Wahrheit“ und „Ergebnisrichtigkeit“: Denn entweder fehlt es wegenerwiesener Bagatellhaftigkeit der Tat wiederum schon an einer Rechtsfrie-densstörung (von hinreichendem Gewicht) und demzufolge am öffentlichenInteresse an einer „Bestrafung“ des Beschuldigten (was die Verfahrensein-stellungen nach § 153102 und § 153b103 StPO rechtfertigt) oder es wird wieim Falle des § 61 Nr. 5 StPO die Pflicht zur Wahrheitsermittlung regelmäßiggar nicht tangiert (was den Gesetzgeber inzwischen veranlaßt, parallel zuden anderen Verfahrensordnungen auch für den Strafprozeß einen Verzichtauf die Regelvereidigung ernstlich in Aussicht zu nehmen)104. Sollte esausnahmsweise aber einmal anders liegen, bleibt die Wirkkraft der Auf-klärungspflicht hier wie auch in den anderen Verzichtskonstellationen erst-instanzlicher Provenienz – man denke nur an § 245 oder § 251 StPO – jeden-falls von einer dahingehenden Erklärung der Prozeßsubjekte vollkommenunberührt, so daß etwa ein Zeuge trotz allseitigen Einverständnisses mit derVerlesung eines früheren Vernehmungsprotokolls gleichwohl persönlich

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100 Hierfür schon Rössner, in: AK StPO, 1996, vor § 374 Rdn. 11 f.; Grebing, GA 1984, 1,17; Rieß, Festschrift für Schäfer, 1980, S. 155, 204; Schöch, NStZ 1984, 385, 389; Velten,in: SK StPO, vor § 374 Rdn. 28 ff.; eingehende Diskussion bei Weigend (Anm. 21),S. 479 ff., 491; pointiert Volk, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2002, § 39 Rdn. 4: „riskant undteuer, wenig aussichtsreich und nicht selten eine größere Irritation als die Tat selbst“.

101 Im einzelnen: §§ 61 Nr. 5, 110 Abs. 2, 168a Abs. 3 Satz 6, 217 Abs. 3, 245 Abs. 1 Satz 2,249 Abs. 2, 251 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 (gegebenenfalls i.V. m. § 255a Abs. 1), 266Abs. 1, 302, 303, 325, 470 Satz 2 Alt. 1 StPO.

102 Etwa Beulke, in: L/R, 25. Aufl. 2001, § 153 Rdn. 1, 30, 35: erwiesenermaßen „gering-fügige Verfehlungen“, für deren Verfolgung kein „öffentliches Interesse“ (vergleichbar§ 376 StPO) besteht.

103 Dazu Beulke, in: L/R, § 153b Rdn. 1: „meist unter dem Gesichtspunkt der Gering-fügigkeit“.

104 § 59 StPO-E i. d. F. des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung derJustiz v. 30. 5. 2003, BR-Drucks. 378/03 (S. 8 mit Begründung auf S. 52); ähnlich –wenngleich mit einem unbestimmter formulierten Gesetzesvorschlag – der Bundes-ratsentwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes (Anm. 94).

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gehört werden muß, wenn der Inhalt jener Niederschrift nicht geeignet ist,seine nochmalige Vernehmung in der Hauptverhandlung zu ersetzen105. DieVerzicht- und Rücknehmbarkeit von Rechtsmitteln (§§ 302 f. StPO) ruhtschließlich erkennbar auf der Annahme einer in erster Instanz bereits einmalin hinreichendem Maße erfolgten Aufklärung des Sachverhalts; vor diesemHintergrund ist es natürlich einsichtig, daß der Eintritt der Rechtskraft nurnoch bei entsprechender Intervention der Prozeßsubjekte aufgeschoben zuwerden braucht, wobei die (nicht hinnehmbare) Situation defizitärer Sach-verhaltsermittlung abgesichert ist durch die Aufklärungsrüge (§ 337 i.V. m.§ 244 Abs. 2 StPO) sowie gegebenenfalls durch das Wächteramt der Staats-anwaltschaft mit der Befugnis – und in derartigen Fällen dann zweifelsohneauch mit der Verpflichtung106 –, nach § 296 Abs. 2 StPO vorzugehen (vgl.auch Nr. 147 Abs. 3 Satz 1 RiStBV). Insgesamt liegt solchen Gestaltungs-rechten daher keinerlei Ersetzung des Wahrheits- durch ein „Konsensprin-zip“ zugrunde, sondern es ist vielmehr der Gedanke einer in den benanntenProzeßlagen jeweils fehlenden Relevanz der Aufklärungspflicht, der sieträgt, weil die Sachverhaltsermittlung entweder bereits hinlänglich erfolgt istoder aber ein dahingehendes Defizit den Weg zu einer „konsensualen Ab-kürzung“ und Erledigung des Verfahrens sperrt.

c) Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO

Im Falle des § 153a StPO kann freilich von einem unberührt bleibendenStreben nach bestmöglicher Aufklärung – und zwar nicht nur in seinerHandhabung durch die Praxis107, sondern bereits nach seiner rechtlichenAusgestaltung – beim besten Willen nicht mehr gesprochen werden, ob-gleich viele keineswegs müde werden zu betonen, es müsse der Sachverhalterst „durchermittelt“ sein, ehe dieser Weg beschritten werden dürfe108. Daskann doch aber für den Hauptanwendungsfall des § 153a Abs. 1 StPObestenfalls zu einem hinreichenden Tatverdacht, nicht aber zu einer„Schuldspruchreife“ führen, weil eine dergestalt inhaltserfüllte – eben „be-

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105 Vgl. statt vieler Schlüchter, in: SK StPO, § 251 Rdn. 2, 23, 55, 67, 84 (m. w. N.).106 Zurückhaltender Hilger, in: L/R, 25. Aufl. 1998, § 296 Rdn. 6; Meyer-Goßner, StPO,

46. Aufl. 2003, § 296 Rdn. 4: „pflichtgemäßes Ermessen“; wie hier aber Frisch, in: SKStPO, § 296 Rdn. 9.

107 Exemplarisch LG Bonn NStZ 2001, 377 m. abl. Anm. Beulke/Fahl, NStZ 2001, 426;berechtigte Kritik an der Rechtspraxis allgemein etwa bei Dahs, NJW 1996, 1192; sieheauch Jung, GA 2002, 65, 77.

108 So etwa Rieß, Festgabe für Koch, 1989, S. 215, 219.

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gründete“ – Schuldüberzeugung (nicht zuletzt auch bei der im Ermittlungs-verfahren erfahrungsgemäß eher dürftigen „Präsenz“ einer mit nur beschei-denen Kontrollbefugnissen ausgestatteten Verteidigung)109 sich regelmäßigerst am Ende einer Hauptverhandlung nach entsprechender Beweisauf-nahme bilden lassen wird110. Da die Richtigkeitsgewähr nicht allein voneinem höchstpersönlichen Dafürhalten, sondern effektiv vom Umfang derSachaufklärung und einer ihr hinreichend Raum gebenden Verfahrensgestal-tung abhängt, wird sie bei einer Einstellung schon im Ermittlungsverfahrenaufgrund bloßer „Aktenwahrheit“ in der Sache zwangsläufig preisgegeben:Was sollte denn, wenn nicht das Fehlen der für einen Schuldnachweis erfor-derlichen Substanz, auch sonst der Grund dafür sein, daß die Schuldfragehier zur Vermeidung eines sonst augenfälligen Verstoßes gegen die Un-schuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK)111 eben auch formaliter offenblei-ben muß112?

Dringlich wird damit allerdings das hierin offenbar werdende Problemder Legitimation eines solchen Verzichts auf Klärung der Schuldfrage trotzFeststellung eines im Unterschied zu § 153 StPO durchaus vorhandenen„öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung“, das weitere Ermittlungendoch eigentlich veranlassen würde. Der Gedanke einer im Bagatellbereichvorzugswürdigen Vermeidung von Kriminalstrafen samt einer damit einher-gehenden Stigmatisierung „geringfügig Gestrauchelter“113 greift für § 153aStPO jedenfalls bei seinem heutigen – durch das Rechtspflegeentlastungs-gesetz 1993 erheblich erweiterten114 – Anwendungsbereich nicht mehrdurch, zumal selbst damit noch immer keinerlei Begründung gegeben ist,

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109 Möglichkeiten „erweiterter Teilhaberechte im Ermittlungsverfahren“ diskutiert Dedy,Ansätze einer Reform des Ermittlungsverfahrens, 2002, insbes. S. 111 ff.

110 Überzeugend BVerfGE 74, 358, 373; Beschl. v. 5. 5. 2001 (2 BvR 413/00): „Erst diedurchgeführte Hauptverhandlung schafft die prozessual vorgesehenen Voraussetzun-gen dafür, Feststellungen zur Schuld zu treffen und die Unschuldsvermutung gegebe-nenfalls zu widerlegen“; siehe auch Weßlau (Anm. 50), S. 43 ff.

111 Diesen Zusammenhang betonen insbesondere BVerfG NJW 1990, 2741; 1991, 1530;NStZ-RR 1996, 168; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 1, 33. Ein Teil der Strafrechtslehrenimmt freilich dennoch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK an; Nachweise beiWeßlau (Anm. 50), S. 41.

112 Inkonsequent und verfehlt ist allerdings die Kostenregelung des § 467 Abs. 5 StPO;dazu jüngst die Kontroverse zwischen LG Frankenthal (Beschl. v. 20.1. 2003) undOLG Zweibrücken (Beschl. v. 26. 2. 2003), demnächst in StV 2003 m. Anm. Duttge.

113 In diesem Sinne noch BGHSt. 28, 69, 70.114 Dazu näher Schlüchter, Weniger ist mehr. Aspekte zum Rechtspflegeentlastungsgesetz,

1992.

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welche die Auferlegung von Rechtsfolgen erklären könnte, deren strafrecht-lich geprägter und sanktionierender Charakter sich wegen ihrer das Straf-verfolgungsinteresse kompensierenden, sogar in weitreichendem UmfangStrafklageverbrauch auslösenden Wirkung (vgl. § 153a Abs. 1 Satz 6 [ge-gebenenfalls i.V. m. Abs. 2 Satz 2] StPO) wohl kaum mehr ernstlich bestrei-ten lassen dürfte. Insbesondere: Daß die Auflagen und Weisungen mangelssozialethischen Tadels nicht „strafähnlich“ sind115, berechtigt noch langenicht zu der Annahme einer „nicht-strafrechtlichen“ Natur116 jener auf-erlegten Folgen – immerhin stehen sie am Ende eines Strafverfahrens undwerden nach der StPO angeordnet. In ihrer Not zeichnet die herrschendeMeinung daher das Bild einer „kooperativen Verfahrensbeendigung“117 undsieht in § 153a StPO einen neuartigen Verfahrenstyp der „freiwilligen Selbst-unterwerfung“118, was zwar die Rechtswirklichkeit recht präzise beschreibt,unser Legitimationsproblem jedoch eher verschärft denn löst: So setzt diedabei in Anspruch genommene Regel „volenti non fit iniuria“ doch eine denEingriff und sein Zustandekommen umfassende Dispositionsbefugnis desBeschuldigten voraus, die dann aber – wäre sie wirklich anzunehmen – auchaußerhalb der von § 153a StPO gezogenen Grenzen – nur Vergehen, keine„schwere Schuld“ – ihre rechtfertigende Kraft entfalten müßte, ebenso wiees auch im materiellen Recht keinen Unterschied macht, ob etwa das mitEinwilligung des Berechtigten zerstörte Eigentum von geringerem oderhohem Wert gewesen ist. Wenn das Vorgehen nach § 153a StPO aber nur beihinreichendem Tatverdacht gestattet ist119, wird implizit anerkannt, daß dieangeblich „freiwillige“120 Leistungserbringung – die aus den verschieden-

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115 Allgemeine Meinung; vgl. BGHSt. 28, 174, 176; Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rdn. 12;siehe auch BT-Drucks. 7/1261, S. 28.

116 So aber Beulke, in: L/R, § 153a Rdn. 9 („eine Sanktion besonderer, nichtstrafrechtlicherArt“), freilich entgegen Rdn. 8 („Übel …, das ihn wegen des Tatvorwurfs trifft und …ihm von den Strafverfolgungsbehörden eben wegen dieser Wirkung auferlegt wird“);ebenso Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1, 60 („nicht-strafrechtlicher Natur“); vgl.dagegen Stuckenberg, ZStW 111 (1999), S. 422, 460.

117 Vgl. Beulke, in: L/R, § 153a Rdn. 2, 10.118 Schöch, in: AK StPO, § 153a Rdn. 4; Krehl, in: Heidelberger Kommentar (HK), StPO,

3. Aufl. 2001, § 153a Rdn. 1; Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rdn. 12; Rieß, in: Schreiber(Hrsg.), Strafprozeß und Reform, 1979, S. 113, 117.

119 Herrschende Meinung; vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rdn. 7.120 Berechtigte Bedenken insbesondere bei Erb, Legalität und Opportunität, 1999,

S. 245 ff. mit beachtenswertem Vorschlag einer nachträglichen Überprüfung ohne Ver-urteilungsrisiko; vgl. auch Britz/Jung, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 307, 314:„Einwilligung im Schatten des Strafverfahrens“; Perron, Festschrift für Hanack, 1999,S. 473, 480: „Unterwerfung unter eine Sanktion abpressen“; Roxin, Strafverfahrens-recht, 25. Aufl. 1998, § 14 Rdn. 15.

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sten Gründen erfolgen kann und deshalb nicht als Schuldnachweis taugt121 –diese Legitimation gerade nicht zu bewirken vermag. Schließlich erschienees ja auch reichlich befremdend, wenn man sich unter Berufung auf eine„Einwilligung“ des Betroffenen einfach „von rechtsstaatlichen Grundanfor-derungen freizeichnen“ könnte122. Dieser Einwand muß dann allerdings ingleicher Weise für den Legitimationsversuch einer „Kombination von hin-reichendem Tatverdacht mit Unterwerfung des Beschuldigten“ (Schüne-mann)123 gelten, weil auch zwei (zu) kurze Leitern eben nicht dazu verhel-fen, einen hohen Kirschbaum zu erklimmen!

d) Strafbefehlsverfahren

Wer ehrliche Antworten sucht, wird nicht an der Einsicht vorbeikommen,daß es in Wahrheit – natürlich – kein anderer Gedanke ist als jener der Pro-zeßökonomie und der Entlastung der Strafjustiz, der den großen prakti-schen Erfolg und die expansive Tendenz aller beschleunigten Sonderverfah-ren trägt, nicht nur nach § 153a StPO, sondern ebenso des Strafbefehls-verfahrens124. So hat die Bundesregierung bereits anläßlich des Entwurfseines StVÄG 1984 unmißverständlich herausgestellt, daß sie das Strafbe-fehlsverfahren neben § 153a StPO als „wichtigstes strafprozessuales Rechts-institut zur ökonomischen Erledigung“ von Strafverfahren ansieht, ihm gareine „für das praktische Funktionieren der Strafgerichtsbarkeit“ schlechter-dings „entscheidende Bedeutung“ beimißt125. Schon der merkwürdige Zu-satz, grundlegend dafür sei nicht zuletzt ein „hinreichend großer Anteil vonrechtskräftig werdenden Strafbefehlen“126 (um dies sicherzustellen, müßte

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121 Vgl. Beulke, in: L/R, § 153a Rdn. 9: „Schuldneutralität der Auflagenerfüllung“.122 Treffend Britz/Jung, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 307, 308, deren Über-

legungen daher folgerichtig „in die Forderung nach einer Gesamtrevision des § 153aStPO in rechtsstaatlicher Absicht“ (S. 317) münden.

123 Gutachten (Anm. 84), B 94 mit Fn. 256.124 Bezogen auf das Jahr 1999 betrug der Anteil der Anträge auf Erlaß eines Strafbefehls im

Verhältnis zu den bei den Staatsanwaltschaften insgesamt erledigten Verfahren 13,79 %;Einstellungen nach § 153a StPO hatten einen Anteil von 5,07 % (zum Vergleich: An-klagen: 12,41 %), Statistisches Bundesamt, Rechtspflege: Staatsanwaltschaften (1999),2002, Tabelle: 2.2.1. (S. 18); weitere Zahlen bei Heinz, Festschrift für Müller-Dietz,2001, S. 271 ff.

125 Vgl. BT-Drucks. 10/1313, S. 12 f.; siehe zu § 153a StPO auch die Begründung zumRechtspflegeentlastungsgesetz, BT-Drucks. 12/1217, S. 34: „… hat sich in der Praxis alsunentbehrliches und wirksames Mittel zur Entlastung der Strafrechtspflege bei gleich-zeitiger Wahrung der kriminalpolitischen Notwendigkeiten [?] erwiesen.“

126 BT-Drucks. 10/1313, S. 13.

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nur der Einspruch abgeschafft werden!), läßt jedoch die mangelnde Sensibi-lität, ja mehr noch das völlige Ausblenden der hier wegen der urteilsgleichenWirkung (nicht Qualität!)127 des Strafbefehls nochmals dramatisch gestei-gerten Legitimationsproblematik erkennen, für die in der Strafrechtswissen-schaft wenig überraschend – sofern überhaupt diskutiert – parallel zu § 153aStPO genau dieselben (untauglichen) „Konzepte“ von „Unterwerfungs-“und „Überzeugungstheorien“ ins Feld geführt werden128. Belings anschau-liches Bild von einem „Versuchsverfahren“129 macht demgegenüber begreif-lich, daß es sich dabei de facto um eine „Unterstellung“ oder „Fiktion“ vonstrafrechtlicher Schuld130, also in Wahrheit um eine Verdachtsstrafe han-delt131, gleichsam um einen nach bloßer Schlüssigkeitsprüfung („summari-sches Verfahren“) zustande gekommenen Mahn- bzw. sogar schon um einen„Vollstreckungsbescheid“132, dessen Inhalt vor möglichem Eintritt derRechtskraft aber nicht ein einziges Mal der Feuerprobe einer substantiellenkritischen Analyse (unter Beteiligung aller Prozeßsubjekte) ausgesetzt war.Die Verantwortung für die „Richtigkeit“ der Übelszufügung wie überhauptder strafrechtlichen Inpflichtnahme des Beschuldigten ist vielmehr der Kon-trolle der dafür zuständigen Organe effektiv entzogen und anstelle dessendem willkürlichen Belieben und der Fähigkeit des Betroffenen zur Verteidi-gung überantwortet.

Nun ist die Erhaltung einer arbeitsfähigen Strafjustiz selbstverständlichein Gut von überragender Wichtigkeit. Aber selbst die größte Bedrängniskann es nicht rechtfertigen, d. h. als begründet und sachlich richtig auswei-sen, daß auch nur ein einziger Beschuldigter aufgrund unzulänglicher Sach-verhaltsermittlung – und damit das „Fehlurteil“ sehenden Auges in Kaufnehmend – eine kriminalrechtliche Sanktion erdulden muß, und zwar ganzunabhängig davon, ob es dabei nun um eine „einschneidende“ oder vielleichtnoch erträgliche Rechtsfolge geht133 (was immer man darunter auch konkretverstehen mag). Denn auch für „minderschwere Sanktionen“ gibt es – jeden-

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127 Vgl. Eb. Schmidt, JR 1962, 469, 470.128 Dazu eingehende Diskussion bei Weßlau, in: SK StPO, vor § 407 Rdn 12 ff., m. w. N.129 Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1905, S. 472 und 474 Fn. 2.130 Dahingehend H. Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), S. 36, 62 f.; siehe auch BVerfGE 3,

248, 254; 65, 377, 383.131 Ebenso bereits Schünemann, Gutachten (Anm. 84), B 69 f.132 In diesem Sinne bereits Oetker, Festschrift für Dernburg, 1900, S. 73, 120 Fn. 72: Straf-

befehlsverfahren als „Versuch, einen Vollstreckungstitel außerhalb des Prozesses zu er-lassen“.

133 So aber die Differenzierung bei Weßlau, in: SK StPO, vor § 407 Rdn. 17 a. E.

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falls im Strafrecht – keinen Raum für „Narrenfreiheit“134! Sollten wir daherwirklich schon so weit sein, daß bei Wegfall derartiger „vereinfachter Ver-fahren“ oder demnächst zu erwartender noch weiter beschleunigter und ent-formalisierter „Schnellverfahren“ (etwa unter Verzicht auf die heute nochvorgesehene Schriftform beim Strafbefehlsantrag, wie das der kürzlich ver-abschiedete Regierungsentwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes zwecks„Bürokratieabbau“ und „Erschließung“ weiterer „Effizienzreserven in derJustiz“ vorsieht)135 nicht weniger als der Untergang einer „funktionsfähigenStrafrechtspflege“ droht (was freilich nicht schon durch bloße Behauptungerwiesen wäre: Immerhin hält der jüngste Alternativentwurf zur Reform desErmittlungsverfahrens selbst auf der Grundlage des [von ihm kritisch beur-teilten] derzeitigen Systems eine erhebliche Anwendungsbeschränkung des§ 153a StPO durchaus für realisierbar)136, dann bliebe zwar in der Tat wohlderzeit kein anderer Ausweg, als diese „Sonderverfahren“ gleichsam als„Notstandsmaßnahmen“ vorübergehend hinzunehmen, ebenso wie dasBundesverfassungsgericht etwa beim Fehlen einer gesetzlichen Eingriffsbe-fugnis des öfteren einen – freilich zeitlich befristeten – „Übergangsbonus“zugebilligt hat137. In solch episodischer Hinnahme eines in der Sache unddaher auf Dauer inakzeptablen Rechtszustandes liegt aber nicht mehr als dieallein pragmatisch begründete Wahl des kleineren Übels, bedingt durch dasmomentane Fehlen besserer Alternativen zur Bewältigung der massenhaftenKleinkriminalität, bedingt aber vor allem durch das (schon seit langem be-

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134 In Anlehnung an Lion Feuchtwanger: „Das Privileg der richterlichen Unabhängigkeitwurde erfunden, um die Bürger und ihre Rechte vor einer politisch gegängelten Justizzu schützen, und nicht, um Narrenfreiheit für Juristen einzuführen“.

135 Vgl. § 408a Abs. 1 Satz 2 StPO-E i. d. F. des Justizmodernisierungsgesetzes (Anm. 104),BR-Drucks. 378/03, insbes. S. 1: „überholte prozessuale Formalien erschweren eineoptimale effiziente Verfahrenssteuerung“; „spürbare Effizienzgewinne“; S. 15 f. (vor-geschlagene Gesetzesfassung); S. 25: „Masterplan Bürokratieabbau“ zwecks Erschlie-ßung neuer „Effizienzressourcen“ insbesondere durch Beseitigung „überholter For-malien“; S. 64 f. (Begründung des neuen § 408a StPO: „beschleunigt den Ablauf desVerfahrens“).

136 Bannenberg u. a., Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV),2001, S. 83 (bei „Vergehen …, wenn eine höhere Strafe als Geldstrafe bis zu einhun-dertachtzig Tagessätzen nicht zu erwarten ist“) und S. 85: bisherige Gesetzeslage „istgeeignet, Skepsis und Mißtrauen gegenüber der Strafrechtspflege zu wecken“; sieheauch die Erläuterungen bei Schöch, Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 29, 35:„Ziel, gegenüber der … wildwuchernden Praxis … den Anwendungsbereich … aufBagatelltaten zurückzuführen“.

137 Dazu Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, S. 216 ff.,m.w. N.

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klagte138) Versagen des Gesetzgebers vor der Aufgabe einer sachgerechtenEingrenzung – anstelle der fortwährend bewirkten Ausweitung – des mate-riellen Strafrechts. Des schlechten Gewissens, das uns dabei zu Recht quält,sollten wir uns jedoch – vor dieser bedeutenden Wegmarke stehen wir heute– unter keinen Umständen auch noch dadurch zu entledigen suchen, daß wirden Notstands- und Ausnahmecharakter solcher Verfahrensweisen zur Be-schwichtigung der Gemüter einfach in Abrede stellen und diese nunmehr zuunverzichtbaren, da inzwischen „etablierten“139 Normalverfahren deklarie-ren. Ebenso wie die stetige Erhöhung der Staatsverschuldung in der trügeri-schen Annahme einer mittlerweile lieb gewonnenen „Normalität“ keinerleiZukunft verspricht, wäre auch die Zulassung einer inhaltlich nicht mehr hin-reichend abgesicherten oder gar dem willkürlichen Belieben der Prozeßsub-jekte ausgelieferten Verfahrensbeendigung wegen der damit einhergehendenradikalen „Umwertung unserer bisherigen Werte“ letztlich gleichbedeutendmit der Verabschiedung eines glaubwürdigen Strafprozesses140. Erinnert seian die erfahrungsgesättigte Einsicht: Konsens bewirkt Macht, häufig abereine unvernünftige und trotz des Konsenses „verwerfliche Macht“141.

Wer dieser Entwicklung nicht den Weg bereiten will, muß die Preisgabeder „rule of law“142 qua „mittelalterlichem Ablaßhandel“143 auf den Flurenunserer Gerichte mit aller Kraft zu verhindern trachten, freilich auch schondas Bemühen um Implementierung eines (durchaus regelgeleiteten) „nicht-streitigen“ (Meyer-Goßner)144 bzw. „einverständlichen“ Verfahrens alszweitem Verfahrenstyp (Wagner)145 kritisch bewerten, weil sich damit ja

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138 Vgl. die Diskussion bei Naucke, Gutachten zum 51. Deutschen Juristentag 1976,D 85 ff., m. w. N.; zuletzt insbesondere Berz, Festschrift für Blau, 1985, S. 51, 66; Vulte-jus, ZRP 1999, 135; Heinz, Festschrift für Müller-Dietz, 2001, S. 271, 300.

139 Die Behauptung, das Verfahren nach § 153a StPO sei „von der Rechtsgemeinschaft ak-zeptiert“, war zum Zeitpunkt ihrer Äußerung (Stellungnahme des Bundesrates zumEntwurf eines StVÄG 1984, BT-Drucks. 10/1313, S. 49) nicht weniger falsch als heute.

140 Nach Röhl, Zeitschrift für Rechtssoziologie 14 (1993), S. 1, 13, erhöht ein „gedealter“Verfahrensabschluß die Akzeptanz und positive Einschätzung desselben nicht einmalfür die betroffenen Straftäter.

141 Carl Schmitt, Kant-Studien 35 (1930), S. 28, 35 mit dem Zusatz: „Macht bewirkt Kon-sens“!

142 Zur Herkunft dieses Begriffs vgl. die Hinweise bei Stern, Das Staatsrecht der Bundes-republik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 764 f.; weiterführend jüngst Denninger,Festschrift für Lüderssen, 2002, S. 41.

143 Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeßrecht, 1999, S. 147 Fn. 50, unter Verweisauf einen Bericht in der „Zeit“ v. 15.11.1996, S. 18; siehe auch Weigend, JZ 1990, 774,776: „vertrauliche Telefon- oder Korridordiplomatie“.

144 NStZ 1992, 167.145 Festschrift für Gössel, 2002, S. 585.

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unvermeidlich die Ersetzung der Aufklärungs- durch die zivilprozessualeDispositionsmaxime verbinden würde146 (abgesehen von den vielen weite-ren damit einhergehenden – und nicht ohne weiteres zu lösenden – Einzel-fragen, insbesondere das Problem der „Freiwilligkeit“ und – damit zusam-menhängend – das Verhältnis jener beiden Verfahrensarten zueinander; auchdie Frage nach der Anfechtbarkeit von Entscheidungen in einem solcherart„einverständlichen Verfahren“ u.v. m.). Dies wäre ein zu hoher Preis, der fürdie Entlastung der Strafjustiz und für das Anliegen der Prozeßökonomie ge-zahlt werden müßte, weil mit solcher „Flexibilisierung“ und „Informalisie-rung“ des Verfahrens nicht mehr das Recht mit seiner legitimierenden Kraftwirkte, sondern (zunehmend) nur noch die unkontrollierte Macht des Stär-keren in dem sich immer mehr ausbreitenden „rechtsfreien Raum“147. Unddie dürfte – das ist schon heute abzusehen – wenigstens auf längere Sicht beiden Gerichten liegen, was somit einer Entwicklung Tür und Tor öffnenwürde, für die Salditt eindrucksvolle Worte gefunden hat: „Ein Strafrecht,das unter der Herrschaft des Zweifelssatzes von der Feststellung schwierigeräußerer und innerer Tatsachen abhängt, und ein Strafprozeß, der bis zumUrteil praktizierte Unschuldsvermutung ist, prägen den distanzierten,zögernden, unparteilichen Richter. Ein … Strafprozeß der Absprachen, derdem Opfer schon vor dem Urteil Genugtuung verschaffen will, prägt ganzanders. Interventionen des Richters, die das Prozeßverhalten des (bestreiten-den) Angeklagten mit dem Ziel beeinflussen wollen, Geständnis und Kon-sens herbeizuführen, … (sind nichts anderes als die) Ausübung von Macht.Die richterliche Maßnahme verzichtet dann darauf, das formelle und materi-elle Recht in den notwendigen umständlichen Schritten nachzuvollziehen.Daraus folgt der Verlust der Legitimation durch den Willen des parlamenta-rischen Gesetzgebers …“. Und am Ende könnte der „konsensuale Prozeß“dann womöglich insgesamt „das Richteramt und damit zugleich das Verfah-ren zerstört (haben)“148. Dies alles darf nicht ernstlich riskiert werden, zu-mal dem immerfort geltend gemachten149 Anliegen der Justizentlastungdoch auch auf ganz andere – und wesentlich „verträglichere“ – Weise Rech-nung getragen werden könnte: Indem nämlich endlich jene Aufgabe ins

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146 Von Wagner, Festschrift für Gössel, S. 585, 593, 599, durchaus eingeräumt.147 Natürlich nicht im Sinne Arthur Kaufmanns!148 Salditt, Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 65, 74 f.149 Bemerkenswerte Infragestellung mit Blick auf die angeblich aus praktischer Sicht un-

verzichtbaren „Absprachen“ aber bei Jähnke, ZRP 2001, 574, 576: „Die Pensen derKammern sind deswegen nicht unterschiedlich.“

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Werk gesetzt wird, von der wir uns durch die verführerischen Sirenenklängeeines „Konsensprinzips“ mehr denn je nicht abbringen lassen sollten – näm-lich die nicht nur bruchstückhafte, sondern konzeptionell von Grund aufneu durchdachte Gesamtreform des Normalverfahrens150.

3. Ausweg: Neustrukturierung des Normalverfahrens

Zu einer derartigen Neustrukturierung in Richtung eines „beschleunigtenNormalverfahrens“ können hier freilich nur noch wenige besonders wichtigerscheinende Aspekte angesprochen werden: Im Mittelpunkt muß dabeiheute die Erkenntnis stehen, daß wir uns den Luxus einer duplizierten (unddaher überschießenden) Beweisführung – zunächst im Ermittlungsverfahrenund dann aufs neue in der Hauptverhandlung – offensichtlich nicht mehr lei-sten können151. Weil schon aus Gründen der Verfahrensgerechtigkeit vielesfür eine stärkere Rechtsposition der Verteidigung im Ermittlungsverfahrenspricht152 – dort, wo nicht selten bereits wichtige Vorentscheidungen fal-len153, drängt sich der Gedanke geradezu auf, diesen Reformimpuls mit demAnliegen der Prozeßökonomie zu verbinden, indem auf der Grundlage einerchancengleichen Partizipation der Verteidigung schon in diesem frühen Ver-fahrensstadium der relevante Sachverhalt so belastbar wie irgend möglichrekonstruiert und in seiner so ermittelten Komplexität auch möglichst unge-schmälert erhalten bleibt, so daß die hier bereits gewonnenen Beweise fürdas weitere Verfahren ohne zusätzliche Mühen und insbesondere auch ohne

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150 Überzeugend Gössel, in: L/R, 25. Aufl. 2000, vor § 407 Rdn. 60: Die sich immer mehrrealisierende „Gefahr eines Zwei-Klassen-Strafrechts … wäre vermeidbar, würde sichder Gesetzgeber auf eine der Höhe der Zeit zum Beginn des dritten Jahrtausends ge-recht werdende Gesamtreform einlassen – und nicht bloß darauf, das Normalverfahrenimmer weiter, möglicherweise bis zur Bedeutungslosigkeit, durch vereinfachte Verfah-ren … zurückzudrängen“; skeptischer zu einer „Gesamtreform“ dagegen Rieß, ebda.,Einl. Abschn. E Rdn. 182 ff., insbes. Rdn. 191: „…kaum erreichbar“ und „darüber hin-aus nicht wünschenswert“.

151 So vor allem Weigend, ZStW 113 (2001), S. 271, 281 ff., 302 f., mit überzeugender Be-gründung der auch hier zugrunde gelegten „Wechselwirkung zwischen Parteimitwir-kung im Ermittlungsverfahren und Lockerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ (S. 283); siehe weiterhin Rieß, Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 15, 23 f.

152 Zuletzt Roxin, Festschrift für Hanack, 1999, S. 1, 18f.; ausführliche Diskussion mitkonkreten Vorschlägen bei Dedy (Fn. 109).

153 Wegweisend Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 395; Wolter, Aspekteeiner Strafprozeßreform bis 2007, 1991, S. 35: nicht die Hauptverhandlung, sonderndas Ermittlungsverfahren „ist Kern und Höhepunkt des Strafprozesses“; siehe auchSchünemann, ZStW 114 (2002), S. 1, 20; Roxin (Anm. 120), § 37 Rdn. 1.

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Sorge um ihren möglichen Verlust zur Verfügung stehen. Das berechtigteUnverständnis der Bevölkerung über die Mehrfachbelastung von Zeugen(bei deren schwindender Erinnerungsfähigkeit!) erschöpft sich nicht injenem Personenkreis, den das Zeugenschutzgesetz154 als besonders schutz-bedürftig ausgewiesen hat, sondern betrifft sämtliche Auskunftspersonenund damit die Grundstruktur des Verfahrens. Wird die Verteidigung in dieLage versetzt, ihre Kontrollfunktion schon während eines kontradiktorischausgestalteten Ermittlungsverfahrens effektiv (also nicht nur durch Ge-währung einer dahingehenden „Gelegenheit“ in Anlehnung an § 255a Abs. 2Satz 1 StPO)155 auszuüben (insbesondere durch Anwesenheits- und Frage-rechte nach verpflichtender Benachrichtigung und gegebenenfalls auch Ab-sprache über die Termine), so bestehen keine durchgreifenden Bedenkenmehr, diese Beweisergebnisse – vor allem auch von Zeugenvernehmungen –unter erweitertem Einsatz der für Sonderlagen des Zeugenschutzes bereitsvorgesehenen Videotechnik (vgl. §§ 58a, 255a StPO) in die Hauptverhand-lung zu transferieren. Wie die „Eckpunkte“ zutreffend hervorheben, be-wirkt die Nutzung der modernen Kommunikationstechnologie auf dieseWeise ein Mehr an „Opferschutz“, verhilft aber auch allgemein zu einer „er-heblichen Qualitätsverbesserung der Dokumentation“156. Vor diesem Hin-tergrund steht die zum Teil betonte „schützende Form der Unmittelbar-keit“157 einem „Transfer“ solchermaßen (noch einmal: unter Mitwirkungder Verteidigung!) entstandener und damit gewissermaßen „geprüfter“Ermittlungsergebnisse in die Hauptverhandlung nicht entgegen, weil die„Unmittelbarkeit“ nur in das Ermittlungsverfahren vorverlagert wird, wasdazu führt, daß sich der Eindruck von der Beweisperson dadurch sogarwesentlich besser erhalten läßt als innerhalb einer – mitunter lang andauern-den158 – Hauptverhandlung. An einer solchen gesondert durchzuführendenHauptverhandlung nach vorangegangener Anklageerhebung sollte aller-dings schon wegen ihrer nochmals aufklärungsfördernden „Konzentrations-

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154 Vom 30. 4.1998, BGBl. I S. 820.155 Der dahingehenden (berechtigten) Sorge von Walther, GA 2003, 204, 225, kann im

Wege einer eindeutigen normativen Vorgabe vorgebeugt werden; wie hier auch Beulke,Festschrift für Rieß, 2002, S. 1, 21 f., der aber zutreffend Mißbrauchsfälle ausnimmt, fürdie es einer gesonderten Regelung bedarf.

156 Vgl. Eckpunkte (Anm. 15), Ziff. 9.157 Salditt, StV 2001, 311, 312; siehe auch von Galen/Wattenberg, ZRP 2001, 445, 446;

Ignor/Matt, StV 2002, 102, 108.158 Was den Regierungsentwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes (Anm. 104) zu einer

erneuten Verlängerung der Unterbrechungsfristen nach § 229 StPO veranlaßt hat; vgl.insbes. S. 13 (neue Gesetzesfassung), S. 28 und 58ff. (Begründung); siehe bereits Rieß,NStZ 1994, 409, 412: Unmittelbarkeit und Konzentration als „Farce“.

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wirkung“, aber auch mit Blick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz jedenfallsfür die komplexeren Fälle festgehalten werden, wenngleich sich ihre Funk-tion natürlich von einem Ort der originären Beweisaufnahme in einen sol-chen vorwiegend der Zusammenführung und abschließenden Bewertungwandeln wird, sofern nicht – angelehnt an den neuen § 255a Abs. 2 Satz 2StPO – aufgrund konkreter Anhaltspunkte Anlaß für ergänzende Ermitt-lungen besteht, die natürlich wegen der sonst verletzten Aufklärungspflichtkeinesfalls „eingespart“ werden dürfen159. Das Zwischenverfahren könntedagegen wegen seiner (schon heute jedenfalls weitgehenden160) Funktions-losigkeit ersatzlos entfallen – und mit ihm die problematische „Vorbefas-sung“ des anschließend auch in der Hauptverhandlung zuständigen Ge-richts, was Schünemann161 schon seit längerem mit Recht beanstandet (sog.„inertia- oder Persevanzeffekt“).

Ein in dieser Weise neu strukturierter Verfahrensgang setzt natürlich er-hebliche Veränderungen im Recht der Verteidigung voraus, verlangt insbe-sondere ein Nachdenken, ob die Interessenwahrnehmung in einer Strafsache– nicht zuletzt bei der inzwischen selbst lebenserfahrene Laien überfordern-den Komplexität des (materiellen und formellen) Strafrechts162 – nicht vonähnlich großer Bedeutung sein könnte wie eine Zivilsache, die vor den Land-gerichten verhandelt wird (vgl. § 78 ZPO)163. Des weiteren erfordert eineeffektive und professionelle Verteidigung unzweifelhaft auch ein entspre-chendes Akteneinsichtsrecht bereits vor Inanspruchnahme der erweitertenAnwesenheits- und Mitwirkungsrechte im Ermittlungsverfahren, was sichaber wiederum nur mit einem ohnehin schon bestehenden Reformbedarf im

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159 Die dahingehenden Bedenken eines Arbeitskreises von Strafrechtslehrern gegen das„Eckpunktepapier“ (bei Freund, GA 2002, 82, 90 ff.) greifen deshalb gegen die hiervorgestellte Konzeption nicht durch.

160 Nicht ohne Grund suchen ihm die „Eckpunkte“ (Anm. 15, Ziff. 5) mit dem Vorschlageines „Anhörungstermins“ wieder eine Bedeutung zuzuweisen. Zur geringen „Filter-funktion“ vgl. Dölling/Feltes u. a. (Hrsg.), Die Dauer von Strafverfahren vor den Land-gerichten, 2000, S. 103 ff.; siehe auch Rieß, Jura 2002, 735, 736 Fn. 7: nur etwa 0,6 % (!)Ablehnungen der Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Amtsgericht. Gleichwohlfür eine Beibehaltung aber Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345, 347; weitere Nachweise beiRieß, a. a. O., S. 743.

161 Schünemann, StV 2000, 159; bestätigend Gössel, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001,S. 187, 188 ff.; Krekeler, StraFo 2001, 329.

162 Rieß, in: L/R, Einl. Abschn. I Rdn. 103, spricht treffend von einem „strukturellenAutonomiedefizit“.

163 Deutlich Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1, 9 Fn. 36: geltendes Recht verzichtet ausfiskalischen Gründen auf die unverzichtbare Garantie einer ausnahmslos rechtskundi-gen Interessenwahrnehmung des Beschuldigten.

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Bereich des § 141 Abs. 3164 wie insbesondere auch des § 147 Abs. 2 StPO(infolge seiner allem Anschein nach alltäglichen Mißachtung durch dieStaatsanwaltschaften)165 trifft. Das legitime Interesse der Strafverfolgungs-behörden an einer effektiven Klärung des Tatverdachts darf dabei allerdingsnicht vereitelt werden, so daß an jener schon dem geltenden Recht – aller-dings in unnötiger Breite – zugrunde liegenden temporalen Priorität straf-verfolgender Aufklärungsbemühungen jedenfalls insoweit festgehaltenwerden muß, wie dies insbesondere zur Vollziehung dringlicher Zwangs-maßnahmen erforderlich ist166. Das läßt somit am Horizont eine „Zweitei-lung des Ermittlungsverfahrens“ zum Vorschein kommen, wobei im einzel-nen freilich noch zu diskutieren wäre, welche Ermittlungstätigkeiten dabeiin die erste und welche in die zweite Phase fallen sollen, auch, unter welchenVoraussetzungen (etwa bei einem neuartigen Verdachtsgrad unterhalb dervon § 170 Abs. 1 StPO geforderten „Verurteilungswahrscheinlichkeit“) undmit welchem förmlichen Verfahrensschritt (etwa einem „Zwischenbe-scheid“) der Eintritt in die zweite Phase zu manifestieren wäre. Auch stündedamit natürlich erneut (jetzt nur unter veränderten Vorzeichen) das ohnehinschon seit langem hochproblematische Innenverhältnis der Strafverfol-gungsbehörden zueinander – konkret: die faktische Herrschaft der Poli-zei167 – auf dem Prüfstand, was die Verfasser des „Alternativentwurfs Er-mittlungsverfahren“ zu Recht veranlaßt hat, die „Gesamtverantwortung derStaatsanwaltschaft“ hervorzuheben168. Dies alles bedarf gewiß noch einerweit tieferschürfenden Analyse und einer eingehenderen Diskussion, als siehier geleistet werden kann; doch läßt schon diese grobe Skizze deutlich er-kennen, daß der bisherigen Struktur unseres Normalverfahrens ein erhebli-ches Beschleunigungspotential immanent ist, das erst einmal (und sei es

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164 Vgl. BGHSt. 46, 93 m. Bspr. Neuhaus, JuS 2002, 18; ferner Walther, GA 2003, 204,214 ff.

165 Wie der Verfasser aus eigener beruflicher Erfahrung weiß. Zu Recht kritisch etwaSchlothauer, StV 2001, 192; auch der AE-EV (Anm. 136), S. 55, warnt vor einer (freilichoffenbar schon vorherrschenden) „Praxis allzu pauschaler Verweise auf die verwa-schene Formel der Gefährdung des Untersuchungszwecks“; siehe auch die berechtigteForderung eines Arbeitskreises von Strafrechtslehrern (bei Freund, GA 2002, 82, 87 f.)nach einer „angemessenen Rechtsschutzmöglichkeit“ bei Verletzung des Aktenein-sichtsrechts; Ignor/Matt, StV 2002, 102, 105.

166 Ähnlich Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 1, 38 f.: Verteidigung dürfe nicht „in einePosition gebracht werden …, von der aus sie die Aufklärung der Tat überhaupt ver-eiteln kann“.

167 Grundlegend Schlüchter (Anm. 153), Rdn. 71; zuletzt etwa Morré/Bruns, Festschrift 50Jahre BGH, 2000, S. 581, 608 ff.; Schaefer, Festschrift für Hanack, 1999, S. 191.

168 Vgl. § 163 AE-Ermittlungsverfahren (Anm. 136), dazu die Begründung S. 118 ff.

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gleichsam „experimentierhalber“169 im Wege der auch in anderen Bereichenerprobten „Modellversuche“) ausgeschöpft werden sollte, ehe auf „Sonder-verfahren“ ausgewichen wird, mit denen unsere grundlegendsten Prinzipienschlichtweg über Bord geworfen würden.

III. Ausblick

Wer dies – also das Beharren auf eine möglichst „wahrheitsgemäße“ und „er-gebnisrichtige“ Beurteilung des Tatverdachts – als bloße „Prinzipienreite-rei“170 ansehen wollte, der möge sagen, was denn eigentlich ein „prinzipien-loses Recht“ noch wert ist: Es ist der Verzicht auf jedwede dem Strafprozeßimmanente Sinngebung und die Ersetzung des regelgeleiteten, die verschie-denen Belange ausbalancierenden Prozederes durch ein hemmungs- undregelloses, geradezu darwinistisch geprägtes „Aushandeln“; es ist mit sol-cher Ersetzung des „Hard Law“ durch ein situativ-flexibles „Soft Law“171

der Verlust jeglicher Gesetzlichkeit172, mehr noch: überhaupt jeglicher Nor-mativität, wie sie der „konstruktivistischen“ Weltsicht ohnehin eigen ist173;und es ist die Preisgabe jedweder wissenschaftlichen Begleitung der Rechts-findung, weil die Wissenschaftlichkeit des Rechts – wie jede Wissenschaft –doch ein systematisches, d. h. eben auf Prinzipien hin ausgerichtetes174 Stre-ben nach Erkenntnis voraussetzt. Ein derart „korrumpiertes Strafrechtssy-stem“175 unterschiede sich daher in nichts von jenen berühmt-berüchtigten„Regeln“ einer „Räuberbande“176 – so weit wollen wir es mit unserem Straf-verfahren doch wohl nicht kommen lassen!

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169 Zur „experimentierenden Methode im Recht“ siehe die gleichnamige Schrift von Zip-pelius (1991).

170 Volk, Festschrift für Salger, 1995, S. 411.171 Schlüchter, Festschrift für Krause, 1990, S. 485 f.; dies., in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie

und Systematik des Strafprozeßrechts (Rudolphi-Symposium), 1995, S. 205.172 Zu Recht hervorgehoben mit Blick auf das italienische Strafrecht bei Moccia, Fest-

schrift für Roxin, 2001, S. 1487, 1496.173 Lehrreich und weiterführend Ott, in: Rusch/Schmidt (Hrsg.), Konstruktivismus und

Ethik, 1995, S. 280 ff., insbes. S. 305: „Negation des Ethischen“, Begründung einer„egoistischen Ethik“; S. 318: Gegensatz zu allen „Ethikkonzeptionen, die die Begrün-dung von Prinzipien und Normen in den Mittelpunkt stellen“.

174 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Vorrede.175 Moccia (Anm. 172).176 Bekannte Referenz: Augustinus, De civitate Dei (übersetzt von W. Thimme), 4. Aufl.

1997, IV, 4.

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