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Monika Rößiger Forscherfragen

Monika Rößiger Forscherfragen - Körber Stiftung · Gerade für Menschen, die ihr Weltverständnis entwickeln, ... bers, geschätzte eine Million Menschen sterben jedes Jahr in

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Monika Rößiger

Forscherfragen

Monika Rößiger

ForscherfragenBerichte aus der Wissenschaft von morgen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© edition Körber-Stiftung, Hamburg 2013

Umschlag: Groothuis. www.groothuis.deCoverfoto: Eva-Maria Pasieka / CorbisHerstellung: Das Herstellungsbüro, Hamburg | buch-herstellungsbuero.deDruck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in Germany

ISBN 978-3-89684-099-8

Alle Rechte vorbehalten

www.edition-koerber-stiftung.de

www.fsc.org

MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

FSC® C083411

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Inhalt

Zurück zu den Fragen

Ein Vorwort von Martin Meister 7

Der ganz große Knall

Rolf Landua produziert am Europäischen Kernforschungs­zentrum CERN Antimaterie 18

Botschaften aus der Tiefe des Meeres

Juliane Müller erforscht anhand fossiler Sedimente, wie die Zukunft des »ewigen Eises« aussehen könnte 34

Vom Mauerblümchen zum Malariamedikament

Peter Seeberger revolutioniert die Artemisinin­Synthese aus Beifuß 59

Strom aus der Wüste

Gerhard Knies kämpft mit dem Projekt Desertec für eine weltweite Energiewende 77

Gesünder altern

Die Molekularbiologin María Blasco erforscht die zellulären Grundlagen von altersbedingten Krankheiten und Krebs 96

Stroh zu Gold spinnen

Ferdi Schüth verwandelt Holzreste in Biokraftstoff 112

Von Potsdam bis zum Mittelpunkt der Erde

Hauke Marquardt forscht über die Entstehung von Erdbeben 126

Atomare Alchemie

Joachim Knebel arbeitet an der Umwandlung von hochradioaktivem Abfall 142

Sind wir allein im Universum?

Markus Kissler-Patig leitet die Planung für den Bau des Riesenteleskops E­ELT 163

Bildnachweis 181

Zurück zu den Fragen 7

Zurück zu den FragenEin Vorwort von Martin Meister

Es steckt ein Hauch von Ungewissheit in dem Titel dieses

Buches. »Forscherfragen« – das ist doppeldeutig: Sind dies

die Fragen der Forscher? Oder sind es jene Fragen, die wir an

die Forscher richten. Wer fragt hier wen? So drängt sich an

den Anfang dieses Fragen-Buches schon gleich eine Frage.

Doch ist es gar nicht nötig, sie zu entscheiden. Denn tat-

sächlich soll es um beides gehen, so wie es auch in der Ver-

anstaltungsreihe der Fall ist, die dem Buch zugrunde liegt

und die – noch ein wenig irritierender – »Forscher fragen«

heißt.

Angesehene Naturwissenschaftler verschiedenster Dis-

ziplinen erzählen im KörberForum – Kehrwieder 12, vom

Moderator ermuntert, von den aktuellen Fachfragen, die

sie sich selber vorlegen. Es sind Fragen nach Details, die

man als Laie fürchtet, weil sie oft in sehr technischer Spra-

che formuliert sind. Darum wird im Bühnengespräch nach-

geholfen und möglichst vieles übersetzt.

8 Forscherfragen

Und es hilft die Frageform selbst, denn die lenkt aufs

Grundsätzliche. Indem die Experten über offene Punkte re-

den statt über fertiges Wissen; indem sie berichten von den

Problemen, die sich ihnen in den Weg stellen und zu denen

sie nun nach Lösungen suchen; indem sie die Einwürfe der

Saalgäste beantworten, von denen viele Oberstufenschüler

sind, geschieht immer wieder das Erstaunliche: Sie verlie-

ren den Jargon, sie werden verständlich.

Gerade für Menschen, die ihr Weltverständnis entwickeln,

ist dieser von der Frage herkommende Weg der bessere.

Denn er motiviert zum Mitdenken. Zum Mitfiebern sogar.

Der Forscher, die Forscherin erscheinen wie der Held in

der TV-Serie, der in eine aussichtslose Lage geraten ist und

nach einem Kniff sucht, sich daraus zu befreien. Wie be-

kommt man das Experiment zum Laufen? Wie wird man

bloß die unerwünschten Nebeneffekte los? Wo ist der He-

bel, mit dem man so viel Energie sparen kann, dass sich das

neue Verfahren auch außerhalb der Labors anwenden lässt?

Ist der Dreh gefunden, das Problem gelöst, tauchen sofort

neue Hürden auf. Doch natürlich wird, wie im Actionfilm,

weitergekämpft. Von Frage zu Frage. Und manchmal hilft

bei der Antwort auch Kommissar Zufall.

Der Weg, der beim Fragen einsetzt, ist spannend – und er

ist der eigentlich erkenntnisleitende, zumal beim Lernen.

»Niemand wird bestreiten«, schrieb der Kulturanalytiker

Zurück zu den Fragen 9

Neil Postman, »dass alle Antworten, die einem Schüler ge-

geben werden, Endprodukte von Fragen sind. Alles was wir

wissen, hat seinen Ursprung in Fragen. Man könnte sagen,

dass Fragen die eigentlichen intellektuellen Werkzeuge des

Menschen sind.«

Zu erleben, wie Forscher diese Werkzeuge gebrauchen, mal

mit dem großen Maulschlüssel an Grundsatzfragen heran-

gehen, mal mit der Pinzette an ein Spezialproblem, ist ein

Vergnügen, bei dem sich tatsächlich gut lernen lässt. Ein

derartiges Erlebnis bereiten auch Monika Rößigers kunst-

volle Texte in diesem Buch. Und das, obwohl es um schwe-

re Wissenskaliber geht: um Ungelöstes aus Astronomie,

Atomphysik, Biochemie, Energietechnik, Genetik, Geolo-

gie oder Pharmazie … In diesen Gebieten wenden sich Wis-

senschaftler oftmals Fragen zu, die dringlich sind, weil sie

große Menschheitsprobleme betreffen. Deswegen staunt

man nicht nur über die Raffinesse der Grundlagenforscher,

man achtet die Professionalität der Problemlöser, verfolgt

die spannenden Aktionen der Agenten mit der Lizenz zum

Forschen.

»Wie lässt sich günstig ein Medikament für Malariakranke

gewinnen?«, fragt Peter Seeberger, einer der Protagonisten

dieses Buches. Seeberger arbeitet als Chemieprofessor an

der Freien Universität Berlin und als Direktor an einem

Max-Planck-Institut in Potsdam, und seine Frage ist wahr-

10 Forscherfragen

haftig ernst: Noch immer infizieren sich mehr als 200 Mil-

lionen Menschen jährlich mit dem Erreger des Wechselfie-

bers, geschätzte eine Million Menschen sterben jedes Jahr

in den tropischen Ländern der Erde, vor allem in Afrika

und Asien, die meisten davon sind Kinder. Dass es keine

Rettung für sie gibt, hat zwei wesentliche Gründe: Ehe-

mals häufig eingesetzte, in westlichen Pharmalabors ent-

wickelte Medikamente sind durch Resistenzen der Erreger

unwirksam geworden. Vor allem aber: Die wenigen, noch

wirksamen Pharmazeutika sind ausgesprochen teuer und

in Armutsländern unbezahlbar.

Das zurzeit am besten wirksame Kombinationspräparat

enthält den Wirkstoff Artemisinin aus der Pflanze Artemi-

sia annua. In Deutschland ist diese Spezies aus der Gattung

der Beifußkräuter selten. In China dagegen gedeiht sie auf

großen Feldern für die Gewinnung des pharmazeutischen

Wirkstoffs. Dazu werden allein die winzigen Blüten geern-

tet und der Stoff extrahiert – er macht ein Prozent der Blü-

tenmasse aus.

Seeberger ist nicht der einzige Forscher, der nach einem

günstigen Syntheseverfahren für ein Malariamedikament

sucht – und nach einem Unternehmen oder einer Stiftung,

die bereit wären, diese Suche zu finanzieren. Was seine

Arbeit und die seines jungen Kollegen Lévesque so bemer-

kenswert macht: Sie setzt bei einem Abfallprodukt der

Extraktion an – der Artemisininsäure. Diese besitzt einen

zehnfach höheren Anteil an der Pflanze als das pure Arte-

Zurück zu den Fragen 11

misinin. Wie lässt sich die Säure in den Wirkstoff umwan-

deln und die Ausbeute an Artemisinin so verbessern? Das

ist, genauer betrachtet, Seebergers Forscherfrage.

Artemisinin ist ein reaktionsfreudiges Molekül, eben dar-

auf beruht seine heilsame Wirkung. In größeren Mengen

umgesetzt, ist der Stoff explosionsgefährlich. Wie kann

man also dafür sorgen, dass immer nur kleine Mengen Ar-

temisinin synthetisiert werden, dafür aber in einem konti-

nuierlichen und beliebig verlängerbaren Prozess? So lautet

die nächste Verfeinerung der Forscherfrage. Die Antwort

Seebergers und seines Kollegen fällt bereits sehr technisch

aus: in einem Durchflussreaktor mit Hilfe von ultraviolet-

tem Licht.

Das lässt sich noch leicht übersetzten: Der »Reaktor« ist

ein fingerdicker, transparenter Kunststoffschlauch, der

von dem Reaktionsgemisch durchflossen und von UV-Licht

durchstrahlt wird. So kommt, photochemisch angestoßen,

die erwünschte Umwandlungsreaktion in Gang – freilich

nur in Gegenwart einer Chemikalie, die den Ausgangs-

stoff empfänglich für Lichtenergie, die ihn »photosensitiv«

macht. Welche Chemikalie eignet sich am besten? Und mit

welchem Druck soll der molekulare Sauerstoff zugesteu-

ert werden, der sich in das Ringmolekül der gewandelten

Säure integriert und sie reaktionsfreudig macht? Wie groß

sollte die Durchflussgeschwindigkeit im Reaktor sein?

Auch wird ein Lösungsmittel benötigt, das wegen des zu-

gesetzten Sauerstoffs nicht leicht entflammbar sein darf.

12 Forscherfragen

Welches eignet sich? So löst sich die Forscherfrage in viele

Einzelfragen nach Material und Methoden auf.

Zu erleben, wie Experimentatoren virtuos mit ihren Mög-

lichkeiten spielen, kann faszinierend sein. Für jedes Pro-

blem, jede Frage gibt es einen Ansatz, einen Lösungsver-

such – und man kann, bei einiger Konzentration, sogar

verstehen, wie der funktioniert. Unbegreiflich erscheinen

Forscher dagegen, wenn beim Erklären alles ganz schnell

gehen muss, wenn etwa Peter Seeberger in der »Großen

Show der Naturwunder« im ARD-Fernsehen gedrängt wird,

in Sekundenschnelle sein Syntheseverfahren am aufge-

bauten Experiment zu erläutern. In solchen Situationen

erscheinen Forscher wie Zauberkünstler, die mal dieses

Wundermittel zücken, mal jenes und allen Problemen mit

Methoden entkommen, von denen nur eines klar zu sein

scheint: dass man sie niemals durchschauen wird.

Es macht nun einmal das Wesen der Naturwissenschaft

aus, dass viele ihrer Durchbrüche auf Verfahrenstechni-

ken und Ingenieurleistungen beruhen. Wer das außer Acht

lässt, trägt eher zu Mystifizierung und Zerstreuung bei als

zu Aufklärung – zu einer Show eben. Der Gedanke, Artemi-

sininsäure in Artemisinin auf photochemischem Wege um-

zuwandeln, ist schnell gefasst, Seeberger kam er bei zwei

Wissenschaftlertreffen in den Sinn. Doch wie genau muss-

ten die Parameter eingestellt werden? Das war die Wissen-

schaftlerfrage für die nächsten Monate.

Zurück zu den Fragen 13

Zu zeigen wie die Fragen der Wissenschaftler sich ausdif-

ferenzieren, ist das Anliegen dieses Buches. Es erschließt

die Arbeitsgebiete von neun führenden oder preisgekrön-

ten Forscherinnen und Forschern unserer Zeit und setzt

jeweils mit ihrer spannenden Ausgangsfrage ein:

Wie lässt sich Antimaterie herstellen – und wie gefährlich ist

sie? Dieser Frage ist Rolf Landua nachgegangen. Landua ist

Physiker am Europäischen Kernforschungszentrum CERN

im Kanton Genf und war dort Mitinitiator der »Antimaterie-

Fabrik« sowie Leiter des bekannten Athena-Experiments,

bei dem erstmals Millionen von Antimaterie-Atomen er-

zeugt wurden.

Wie kann man Stroh und Holzschnitzel in Treibstoff umwan-

deln? Es klingt ein bisschen wie Alchemie: Der Chemiker

Ferdi Schüth hat tatsächlich eine Methode gefunden, um

aus solchen Abfällen gasförmiges Dimethylether zu ge-

winnen, das auch in den Treibstoff Ethanol umgewandelt

werden kann. Und dies ist nur eines von mehreren Verfah-

ren einer »grünen Chemie«, die Schüth und sein Team am

Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim ent-

wickeln.

Wie gelingt es, Atommüll zu entschärfen? Dazu koordiniert

Joachim Knebel, Leitender Wissenschaftler am Karlsruher

Institut für Technologie, ein internationales Projekt, das

auf Partitioning und Transmutation setzt: Hochradioaktive

Bestandteile der Brennelemente aus Atomkraftwerken sol-

len abgetrennt und dann in viel kürzer strahlende Stoffe

14 Forscherfragen

umgewandelt werden. Nach erfolgreichen Tests scheint die

Zeit reif für einen Großversuch.

Wie lässt sich das Altern hinauszögern? Welche Rolle die

Telomere dabei spielen, bestimmte Strukturen an den

Chromosomen aller Lebewesen mit Zellkern, hat die Mo-

lekularbiologin María Blasco gezeigt. Ihre Erkenntnisse ver-

sprechen neuartige Krebstherapien und könnten helfen,

das Lebensalter von Zellen – und damit womöglich auch

das des Menschen – zu verlängern. Blasco ist Direktorin am

Nationalen Krebsforschungszentrum in Madrid.

Wie ist es möglich, den ungeheuren Druck in den Tiefen des

Erd mantels zu simulieren? Das fragte sich der Geowissen-

schaftler Hauke Marquardt vom Deutschen Geoforschungs-

zentrum in Potsdam und optimierte eine Methode, bei der

zwei winzige Diamanten aufeinandergepresst werden. Der

Druck, den er erzeugte, war Weltrekord – und erlaubt neue

Berechnungen über die Fortsetzung von Erdbebenwellen.

Wie kann man einen Teil des europäischen Strombedarfs aus

Sonnenwärme gewinnen? Mit Solarthermie-Anlagen in der

Wüste! Dass dies nicht nur eine schöne Idee, sondern funk-

tionierende Technik ist, zeigt der Physiker Gerhard Knies,

Ideengeber und Mitgründer der Desertec Foundation, die

den Bau von Kraftwerken unterstützt, in denen Sonnen-

strahlung durch Spiegel fokussiert und letztlich in Dampf-

turbinen zur Elektrizitätserzeugung genutzt wird.

Wie können fossile Moleküle helfen, Klimamodelle zu verbes-

sern? Die Geowissenschaftlerin Juliane Müller kann mittels

Zurück zu den Fragen 15

einer Analyse spezifischer Biomoleküle in Bohrkernen aus

dem Meeresboden sehr präzise Rückschlüsse darauf zie-

hen, ob und wie lange die entsprechende Stelle von ark-

tischem Meereis bedeckt war. Das stellt wichtige Daten

bereit, um Klimamodelle im Hinblick auf den Einfluss des

Meereises neu zu eichen und in ihrer Zuverlässigkeit deut-

lich zu verbessern.

Wie lassen sich Planeten jenseits unseres Sonnensystems aufspü-

ren? Diesem spannenden Thema geht Markus Kissler-Patig

nach, der wissenschaftliche Leiter des European Extremely

Large Telescope E-ELT. Bis zum Jahr 2021 soll es in der Ata-

camawüste im Norden Chiles fertiggestellt sein – und wird

dann 20-mal weiter in das Weltall blicken können, als es

heute möglich ist.

Wie lässt sich günstig ein Medikament für Malariakranke ge-

winnen? Dies ist die bereits angeführte Ausgangsfrage von

Peter Seeberger.

So wie Seeberger waren die meisten genannten Wissen-

schaftler Gäste der Gesprächsreihe »Forscher fragen«, die

auf der Website der Körber-Stiftung in Wort, Ton und Bild

dokumentiert ist. María Blasco wurde als Trägerin des Kör-

ber-Preises für die Europäische Wissenschaft 2008 mit in

dieses Buch aufgenommen; Hauke Marquardt wurde 2010,

Juliane Müller 2012 mit einem Deutschen Studienpreis aus-

gezeichnet. Es sind die großen Fragen, die motivieren und

die allgemein zeigen, wie wichtig weitere Forschung ist.

16 Forscherfragen

Vielleicht sind sie es auch, mit denen Forscher Preise ge-

winnen. In der täglichen Erkenntnisarbeit kommt es eher

darauf an, die Fragen möglichst klein und präzise einzu-

stellen.

Und das hat schon gar nichts mit dem Fragen-Durch-

einander des Alltagslebens zu tun, wo wir uns mal nach

sozialen, mal nach sachlichen Zusammenhängen erkun-

digen und manchmal auch nach Werten. So schreibt der

Theologe und Philosoph Emerich Coreth: »Während sich

im alltäglichen Leben verschiedene Frage-Intentionen …

verbinden und überschneiden, ist es die Eigenart der Wis-

senschaft, bestimmt begrenzte Frage-Intentionen auszu-

sondern und mit entsprechenden Methoden zu verfolgen.

Jede Einzelwissenschaft ist insofern ›abstrakt‹, als sie von

anderen Frage-Bezügen und -Zusammenhängen absieht. …

Die Aussagen einer Einzelwissenschaft kann man daher

in ihrem Sinn, ihrer Tragweite, ihren Grenzen nur richtig

verstehen, wenn man sie als Antwort auf eine bestimmt

begrenzte Frage-Intention versteht, ohne ihre Bedeutung

darüber hinaus zu verallgemeinern.«

Im Grunde wissen wir um diese Diszipliniertheit der Wis-

senschaft. Doch die Allgemeinheit interessiert das Allge-

meine nun einmal viel brennender. Auch Journalisten er-

kundigen sich am liebsten nach den praktischen Folgen

der Anwendung, nach der gesellschaftlichen Wirkung und

dem politischen Rahmen. Das ist nicht nur berechtigt, son-

Zurück zu den Fragen 17

dern stets aufs Neue nötig. Naturwissenschaft darf nicht

steuerungslos und werteblind sein. Doch es hilft nichts: In

ihrem Zentrum steht das schlichte Wissenwollen im Detail:

Wie geht das? Wie kommt es, dass …?

Wissenschaft verstehen heißt, die Fragen der Wissen-

schaftler zu verstehen. Wie auch die Voraussetzungen zu

jenen Fragen. Dieser hermeneutische Ansatz von Hans-

Georg Gadamer kann allen als Orientierung dienen, die

sich um Wissenschaftsvermittlung bemühen. Denn schwer

bestreitbar ist, was Gadamer in seinem Hauptwerk Wahr-

heit und Methode als Prämisse herausgestellt hat: Eine Aussa-

ge kann nur richtig verstanden werden von der Frage her,

auf die sie eine Antwort geben will.

Aufmerksamkeit für die zugrunde gelegte Frage ist schon

deswegen so wichtig, weil der fragende Forscher selbst so

gründlich daran (an dem Experiment, an der zu überprü-

fenden These) gearbeitet hat. Es jedenfalls getan haben

sollte. Schließlich ist eine saubere Frage der beste Weg zur

Lösung. Oder, wie Nietzsche es ausdrückte: »Dem guten

Frager ist schon halb geantwortet.«

Gilt das aber nur, wenn Forscher fragen? Gewiss nicht.

Hier verbinden sich Alltag und Wissenschaft. Es gilt eben-

so, wenn Forscher gefragt werden. Erkundigen wir uns also

ruhig noch ein bisschen genauer, zu welcher Frage ihre

Antwort gehört. Es kann sehr lohnend sein.

18 Rolf Landua

Der ganz große KnallRolf Landua produziert am Europäischen Kern­forschungszentrum CERN Antimaterie

Hollywoodfilme und Teilchenbeschleuniger haben norma-

lerweise nicht viel miteinander zu tun. Und normalerwei-

se arbeitet ein deutscher Physiker auch nicht an der Pro-

duktion eines US-Thrillers mit. Aber es gibt Ausnahmen.

Etwa, wenn es sich um einen Antimaterie-Spezialisten wie

Rolf Landua handelt – und um einen Kinofilm nach dem

Roman des amerikanischen Bestsellerautors Dan Brown.

Für Brown, Sohn eines Mathematikprofessors und einer

Kirchenmusikerin, sind Wissenschaft und Religion keine

Gegensätze, sondern die Grundlage für packende Geschich-

ten. Zum Beispiel Illuminati: Der Vatikan soll durch eine gi-

gantische Explosion ausgelöscht werden – nicht durch eine

Atombombe, sondern eine »Antimaterie-Bombe«. Das Mate-

rial dafür stammt aus einem Experiment am Europäischen

Kernforschungszentrum CERN, bei dem der Urknall simu-

liert wurde. Das macht Rolf Landua auch.

Der ganz große Knall 19

Der Physiker ist einer der weltweit führenden Experten

auf dem Gebiet der Antimaterie. Seit 1987 arbeitet er am

CERN, in der Nähe von Genf, wo er heute die Abteilung für

öffentliche Fortbildung leitet. Zuvor hat er die sogenann-

te »Antimaterie-Fabrik« mit initiiert und war Leiter des

ATHENA-Experiments, das im Jahr 2002 erstmals Millio-

nen von Antimaterie-Atomen produzierte. Das Europäische

Kernforschungsinstitut, in den 1950er Jahren als Symbol ei-

ner neuen Zusammenarbeit in Europa gegründet, befindet

sich im schweizerisch-französischen Grenzgebiet. Dort ent-

stand die erste Internetadresse der Welt: www.info.ch. Heu-

te wird sie allerdings von einer Weiterbildungsplattform

20 Rolf Landua

genutzt. Pionierleistungen und Superlative kann das CERN

auch sonst für sich beanspruchen: Es ist z. B. das weltweit

größte Forschungsinstitut für Teilchenphysik; hier arbei-

ten mehr als 11 000 Wissenschaftler aus 98 Ländern. Und

es birgt mit dem Large Hadron Collider (LHC) den größten

Teilchenbeschleuniger der Welt.

Der hat einen Umfang von 27 Kilometern und verläuft

100 Meter unter der Erde. Er erstreckt sich an der Gren-

ze zu Frankreich auf einer Fläche, die 600 Fußballfeldern

entspricht. Mit Hilfe dieses Ringbeschleunigers versuchen

Wissenschaftler nichts weniger, als die Bedingungen un-

mittelbar nach dem Urknall nachzustellen. Sie simulieren

einen Moment kurz nach der Entstehung des Universums –

das war vor 13,8 Milliarden Jahren. Davon erhoffen sie sich

grundlegende Erkenntnisse, etwa in der Frage, warum es

keine Antimaterie im Kosmos gibt. Und viel mehr noch:

Wie kam es zu jener winzigen Verschiebung im Verhältnis

von Antimaterie und Materie kurz nach dem Urknall, der

wir überhaupt erst unsere Existenz verdanken?

Natürlich lebt ein Film wie Illuminati von den Special Ef-

fects, doch nicht alles, was man auf der Leinwand sieht,

stammt aus der FX-Trickkiste: Die leuchtend blauen Röh-

ren etwa, die man in einer der ersten Einstellungen sieht,

gehören wirklich zum LHC. Der Regisseur und sein Team

haben das CERN besucht und sich von Rolf Landua über

den wissenschaftlichen Hintergrund der Romanvorlage be-

Der ganz große Knall 21

raten lassen. Im Inneren dieser blauen Röhren liegen die

Vakuumstrahlröhren, mit einem Durchmesser von etwa

drei Zentimetern. Durch die sausen sogenannte Hadronen,

Teilchen wie Protonen oder Blei-Ionen, in unvorstellbarer

Menge. Sie werden durch viele extrem starke Magnete in

ihrer Bahn gehalten und fast auf Lichtgeschwindigkeit be-

schleunigt. »Sogenannte supraleitende Magnete erzeugen

bei einer Betriebstemperatur von minus 271 Grad Magnet-

felder, die 150 000-mal so stark sind wie das Magnetfeld

der Erde. Dadurch halten sie die beschleunigten Teilchen

in ihrer Bahn. Mehr als 9000 Magnete bilden zusammen

mit dem Beschleunigungs-, Vakuum- und Kühlsystem das

Transport von LHC­Magneten im Ringbeschleuniger

22 Rolf Landua

größte und komplexeste Forschungsgerät, das Menschen je

erbaut haben«, erklärt Landua nicht ohne Stolz.

Die Beschleunigung findet in zwei gegenläufigen Strah-

len statt, die dort kollidieren, wo die sogenannten Detek-

toren stehen, im Prinzip riesige Kameras. Die Protonen

kollidieren unvorstellbare 600 Millionen Mal pro Sekunde,

dabei setzen sie jedes Mal eine Energiemenge frei, die dem

15 000-Fachen der Protonenmasse entspricht. Und es ent-

stehen Hunderte von neuen Teilchen. »Mit diesen Kollisio-

nen versuchen wir«, so Landua, »einen kleinen Ausschnitt

kurz nach der Entstehung des Universums zu simulie-

ren – das, was eine billionstel Sekunde nach dem Urknall

passiert ist.« Von diesen Riesenkameras gibt es vier, zum

Beispiel den ATLAS-Detektor, der ebenfalls in Illuminati zu

sehen war (noch bevor er offiziell in Betrieb genommen

wurde). Er nimmt Bilder auf, von denen jedes einzelne eine

Auflösung von 100 Millionen Pixel hat. Und er ist unfassbar

schnell – registriert er doch eine Milliarde Kollisionen pro

Sekunde. Um diese ungeheure Menge an Bildern überhaupt

verarbeiten zu können, ein »Daten-Tsunami«, wie Landua

das nennt, brauche man hunderttausend modernste Com-

puter sowie Hunderte von Doktoranden, die sich mit Akri-

bie und detektivischem Spürsinn auf die Suche nach neuen

Phänomenen, Teilchen und Anti-Teilchen begeben.

So weit, so beeindruckend. Und einleuchtend. Aber zu-

gleich fast schwindelerregend, wenn man sich zu fragen

Der ganz große Knall 23

beginnt, was Materie eigentlich ist – und was dann Antima-

terie sein muss.

Alles um uns herum besteht aus Materie: unsere Umwelt,

das Weltall und wir selbst. Materie lässt sich in immer klei-

nere Einheiten zerlegen, von den Molekülen bis zu den Ato-

men, die lange als kleinste Einheit galten. »Atom« stammt

aus dem Griechischen und bedeutet »unteilbar«. Dass sich

das scheinbar Unteilbare doch in noch kleinere Bestand-

teile zerlegen lässt, wissen Physiker etwa seit Beginn des

20. Jahrhunderts. Die Atommodelle des Neuseeländers Er-

nest Rutherford und des Dänen Niels Bohr postulierten,

Nur in Shut­down­Phasen möglich: Wartungsarbeiten am ATLAS­Detektor

Der ganz große Knall 25

dass ein Atom aus einem Kern und einer Hülle besteht. Für

ihre bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der Atom-

struktur bzw. zur Chemie der radioaktiven Strahlung er-

hielten Bohr und Rutherford später Nobelpreise.

Ein Atomkern ist erheblich kleiner als die ihn umgeben-

de Hülle; er macht aber fast die gesamte Masse aus. Der

Kern enthält Protonen (positiv geladene Teilchen) und Neu-

tronen (ohne elektrische Ladung). Die Atomhülle besteht

aus Elektronen (negativ geladenen Teilchen). Da ein Atom

im Grundzustand die gleiche Menge von Protonen und

Elektronen hat, ist es elektrisch neutral. Bei chemischen

Reaktionen ändert sich das, Atome können Elektronen auf-

nehmen oder abspalten und werden entsprechend negativ

oder positiv geladen – dann spricht man von Ionen. Seit

den 1960er Jahren weiß man, dass sich die Bestandteile des

Atomkerns – Protonen und Neutronen – weiter unterglie-

dern lassen: in sogenannte Quarks. Das sind Elementarteil-

chen, die sich ebenfalls in ihrer Ladung unterscheiden. Die

sogenannten Up-Quarks sind positiv geladen, die Down-

Quarks negativ.

»Alles, was wir sehen und fühlen«, resümiert Landua,

»besteht aus drei Bausteinen: Elektronen, Up-Quarks und

Down-Quarks. Das sind die fundamentalen Bausteine der

Natur und des Universums.«

Der Physiker Rolf Landua leitet u. a. die Abteilung für öffentliche Fortbildung des CERN.

26 Rolf Landua

Und nun gibt es zu all diesen Teilchen der Materie noch

jeweils ein Anti-Teilchen. »Nehmen wir beispielsweise ein

Elektron, das wir nach seiner elektrischen Ladung per De-

finition ›negativ‹ genannt haben«, sagt Landua. »Zu diesem

Elektron gibt es ein Anti-Teilchen, das sich zunächst mal

nur durch die Ladung unterscheidet. Dieses Anti-Elektron

wird auch Positron genannt. Entsprechendes gilt für die

anderen Teilchen: Also zum Up-Quark gibt es ein Anti-Up-

Quark, zum Down-Quark ein Anti-Down-Quark und so wei-

ter. Der wesentliche Unterschied zwischen einem Teilchen

und seinem Anti ist einfach nur die umgekehrte Ladung.

Deshalb würden wir auch keinen Unterschied merken,

wenn es möglich wäre, die gesamte Materie in Antimaterie

zu verwandeln: Alles sähe genauso aus wie vorher. Es wäre

genau die gleiche Welt, mit den gleichen Naturgesetzen, so

wie wir sie kennen. Wir haben Experimente mit Antima-

terie gemacht, und deshalb wissen wir: Alle Eigenschaften

von Materie und Antimaterie sind gleich – zum Beispiel die

Masse, die Ladung –, und das mit einer Genauigkeit von

mindestens zehn Stellen hinter dem Komma. Nur das Vor-

zeichen der Ladung ist andersherum.«

Was für Physiker sonnenklar ist, bringt Laien kurzfristig

aus dem gedanklichen Konzept – man beschäftigt sich ja

eher selten mit der subatomaren Ebene. Selbst in Schulen

spielen diese Erkenntnisse kaum eine Rolle. Daher setzt

sich Landua besonders für die Vermittlung der modernen

Physik an Schulen ein. Im Jahr 2003 wurde er mit dem

Der ganz große Knall 27

Kommunikationspreis der Europäischen Physikalischen

Gesellschaft ausgezeichnet.

Wie hat man so kleine Teilchen und Antimaterie überhaupt

entdecken können?

»Das ist eine ganz interessante Geschichte«, sagt Landua.

»Im Jahr 1928 stellte der britische Physiker und ebenfalls

spätere Nobelpreisträger Paul Dirac eine Gleichung auf,

in der er zum ersten Mal die Spezielle Relativitätstheorie

von Einstein mit der Quantenphysik vereinigte. Er fragte

sich, was passiert, wenn man in die Berechnungen hohe

Geschwindigkeiten, nahe der Lichtgeschwindigkeit, mit

einbezieht. Da kommt die Relativitätstheorie ins Spiel, und

die Konsequenz war, dass das negativ geladene Elektron

ein positiv geladenes Anti-Teilchen haben müsste.« Damit

war die Idee des Positrons in der Welt, obwohl der junge

Theoretiker das anfangs noch nicht so nannte. 1932 wur-

de dieses Teilchen dann in der kosmischen Strahlung tat-

sächlich nachgewiesen, vom amerikanischen Physiker Carl

David Anderson, der, man ist wohl nicht überrascht, für

seine Entdeckung später ebenfalls mit dem Nobelpreis ge-

ehrt wurde. Damit war also nur vier Jahre später bewiesen:

Diracs Theorie stimmte.

Dirac hat die Quantenphysik mit begründet, zu deren

wichtigsten Prinzipien der Welle-Teilchen-Dualismus ge-

hört. Das bedeutet, dass sogenannten Quantenobjekten wie

28 Rolf Landua

Elektronen und Photonen – Lichtquanten – sowohl die Ei-

genschaften einer Welle zugeschrieben werden können als

auch die eines Teilchens. Das zeigt schon, wie kompliziert

und schwer fassbar die Quantenphysik im Vergleich zur

klassischen Physik ist, die sich etwa bis Ende des 19. Jahr-

hunderts entwickelt hat. Die Gesetze der Mechanik, der

Optik oder der Elektrodynamik lassen sich im Alltag noch

einigermaßen nachvollziehen, bei der Quantenphysik

ist das schon schwieriger. Salopp gesagt könnte man den

Welle-Teilchen-Dualismus auch als so etwas wie das »Yin

und Yang« in der Physik bezeichnen: Das eine trägt immer

das andere in sich, und beide Eigenschaften durchdringen

sich.

Und getreu dem Postulat von Dirac, dass jedes Teilchen

ein Anti-Teilchen hat, gelang 1955 erstmals der Nachweis

eines Anti-Protons – in einem Teilchenbeschleuniger. Da

Anti-Protonen nicht von Natur aus auf der Erde vorkom-

men, müssen sie künstlich erzeugt werden. Dabei macht

man sich folgenden Effekt zunutze: Wenn in einem Be-

schleuniger Elementarteilchen mit anderen Teilchen kolli-

dieren, heizt sich die Materie auf extrem hohe Temperatu-

ren auf, ungefähr auf 1015 Grad. Ab einer gewissen Grenze

wandelt sich die Energie, die in dieser Bewegung steckt,

in Materie um – und es entstehen neue Teilchen. Einsteins

weltberühmte Formel E = mc2 wird hier also Wirklichkeit.

»Masse ist im Prinzip so etwas wie kondensierte Energie«,

erklärt Landua. »Will man aber Energie in Masse kondensie-

Der ganz große Knall 29

ren, funktioniert das nur, wenn man genauso viel Materie

wie Antimaterie erzeugt. Das geht immer zusammen. Das

heißt, wenn man ein Positron herstellen will, muss man

auch ein Elektron erzeugen.« Bei den Anti-Protonen ist es

genauso; allerdings braucht man dafür viel mehr Energie,

weil Protonen und Anti-Protonen erheblich schwerer als

Elektronen sind. Deswegen hat es, historisch betrachtet,

auch so viel länger gedauert, bis man Anti-Protonen pro-

duzieren konnte. Zusammengefasst lässt sich sagen: Bis auf

Anti-Teilchen, die in der kosmischen Strahlung vorkom-

men, ist Antimaterie aus dem Universum weitestgehend

verschwunden. Anti-Teilchen haben in unserer Materie-

welt keine Überlebenschance – sie können nur kurzzeitig

existieren, bis sie sich mit dem nächsten Materieteilchen

unter Energiefreisetzung vernichten. Auf der Erde können

Anti-Teilchen – und sogar Anti-Atome – mit Hilfe von Teil-

chenbeschleunigern produziert und im Hochvakuum ge-

speichert werden.

Was der Regisseur Ron Howard dann in Illuminati mit Ma-

terie und Antimaterie so eindrucksvoll in Szene setzte, ist

die »Annihilation« – die große Vernichtung oder Auslö-

schung, die stattfindet, wenn man viele Teilchen mit ihren

Anti-Teilchen vereinigt. Dabei wird eine riesige Menge an

Energie frei. Diesen physikalischen Prozess gibt es tatsäch-

lich, erläutert Landua. »Stellen Sie sich vor, Sie haben ein

Glas Wasser und vereinigen es mit einem Glas Anti-Wasser.

30 Rolf Landua

Das wäre ziemlich gefährlich: Beide würden sich in einer

gewaltigen Reaktion vernichten, und dann wäre nichts

›Handfestes‹ mehr übrig, nichts, was man anfassen könnte,

weil alles in Energie übergegangen ist.« »Zunichtewerden«,

nichts anderes bedeutet »annihilieren« wörtlich.

Welche Dimension so eine Vernichtung hat, wird einem

klar, wenn man sich vor Augen führt, dass die Vereinigung

von nur einem halben Gramm Materie mit einem halben

Gramm Antimaterie eine Energiemenge freisetzen wür-

de, die etwa der Sprengkraft von 20 Kilotonnen TNT ent-

spricht. Das ist wiederum ungefähr die Sprengkraft der

Atombombe, die das US-Militär 1945 über der japanischen

Stadt Nagasaki abwarf und die auf Anhieb Zehntausende

von Menschen das Leben kostete.

Vor der Produktion einer vergleichbaren Antimaterie-

Bombe braucht sich allerdings niemand zu fürchten: Sie

ist reine Fiktion. Schon das eine Gramm Antimaterie, das

Dan Brown für seinen Plot benutzt, ist unmöglich herzu-

stellen – dank der Ineffizienz des Prozesses, wie Landua er-

klärt. Nach heutigem Stand der Technik könnte das CERN

10 Nanogramm (milliardstel Gramm) Antimaterie pro Jahr

erzeugen. Abgesehen von dem Problem, wie man diese

Anti-Teilchen speichern sollte, bräuchte man 100 Millionen

Jahre, um 1 Gramm Antimaterie herzustellen – was zudem

Tausende von Milliarden Euro verschlingen würde, für die

Energiekosten. Warum also, fragt Landua, sollte jemand

diesen Aufwand für eine Bombe mit einer Sprengkraft von

Der ganz große Knall 31

20 Kilotonnen TNT betreiben wollen, wenn in den Atom-

arsenalen der Welt schon heute tausend Mal stärkere Was-

serstoffbomben lagern?

Die Ineffizienz des Prozesses ist auch der Grund dafür,

warum Antimaterie nie die Energiequelle (oder auch nur

ein Energiespeicher) der Zukunft werden kann, anders als

im Roman behauptet. »Auch wenn ich ein Science-Fiction-

Fan bin«, sagt Landua, »aber hier liegt Dan Brown falsch.«

Allerdings gibt es seit Längerem eine Anwendung von An-

timaterie, um die gar kein Aufhebens gemacht wird: in

der medizinischen Diagnostik. Die sogenannte Positronen-

Emissions-Tomographie (PET) ist ein bildgebendes Verfah-

ren, das vor allem der Diagnose von Krebserkrankungen

dient. Mit Hilfe von PET-Scannern – großen grauen Appara-

ten mit einer Röhre, in der der Patient liegt – kann die Lage

eines Tumors lokalisiert werden. Der Patient hat zuvor eine

schwach radioaktiv markierte Substanz verabreicht be-

kommen. Die Positionsbestimmung erfolgt aufgrund einer

Annihilationsreaktion im Körper, wenn ein Positron und

ein Elektron sich gegenseitig auslöschen. Dabei werden

hochenergetische Lichtquanten (Photonen) frei, die von

ring förmig um den Patienten liegenden Detektoren aufge-

zeichnet werden. In der Medizin bzw. in der Krebsbehand-

lung liegt möglicherweise auch ein zukünftiger Nutzen der

Antimaterie-Forschung. Die große Frage ist, ob Anti-Proto-

nen in der Lage sind, Tumorzellen gezielt und effektiv zu

zerstören. Am Europäischen Kernforschungszentrum läuft

32 Rolf Landua

dazu ein Experiment über die biologischen Folgen der An-

nihilation.

Therapeutisch mag dies richtungsweisend sein, und die

praktische Anwendbarkeit der Erkenntnisse ist nicht zu-

letzt im Hinblick auf die Kommunikation der Arbeit an

einer Forschungseinrichtung immer erfreulich. Für die

Grundlagenforschung selbst sind das aber eher Nebenef-

fekte. Denn um die Grundlagen unserer gesamten Existenz

geht es am CERN. Die Arbeit dort soll den Wissenschaftlern

vor allem Zugang zu neuen Phänomenen ermöglichen,

Am CERN wird ebenfalls zum medizinischen Einsatz von Antimaterie geforscht. Hier ein Gerätetest zur Positronen­Emissions­Tomographie.

Der ganz große Knall 33

denkbarerweise sogar zu zusätzlichen Raumdimensionen.

»Vielleicht ergeben sich neue Erkenntnisse über den Zu-

sammenhang von Raum, Zeit und Materie«, erklärt Landua.

»Das neu gefundene Higgs-Boson wird es uns erlauben, das

Higgs-Feld und damit eine Eigenschaft des leeren Raums

besser zu verstehen. Das Higgs-Feld gibt allen elementaren

Bausteinen der Materie ihre Masse. Vielleicht finden wir

auch einen Beweis für die Existenz supersymmetrischer

Teilchen. Durch sie könnten wir die dunkle Materie erklä-

ren, die immerhin den Hauptbestandteil des Universums

ausmacht. Dunkle Materie gilt als eines der größten Rätsel

der modernen Physik; seit mehr als 80 Jahren zerbrechen

sich Wissenschaftler darüber den Kopf. Vielleicht finden

wir sogar winzige Schwarze Löcher – damit könnten wir

belegen, dass der Raum mehr als drei Dimensionen hat.

Wie auch immer, der LHC wird entscheidend dazu beitra-

gen, ein neues Fundament für die Physik zu errichten. Es

könnte unser Weltbild revolutionieren.«