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Eva Möhler KJPP, Universität Heidelberg Multimodale Therapie  einer Essstörung Identität als mögliches Therapieziel Ess- und Zwangsstörungen im kin- der- und jugendpsychiatrischen Set- ting zeigen sehr variante Verläufe. Sie sind in diesem Rahmen zum einen als Vorläufer von Psychosen hinsichtlich ihrer Abwehr- und Strukturfunktion interpretiert worden, andererseits – und dies zum größeren Teil – als In- dikator und Symptom einer gestör- ten psychosexuellen Entwicklung mit Hemmung und Überkontrolle kapta- tiver, aggressiver oder auch nur affir- mativer Impulse. Psychoanalytische Interpretationen diskutieren für die anankastisch geprägten Essstörun- gen eine Fixierung in der analen Pha- se mit dem Hintergrund der man- gelnden Bewältigung der oralen De- pendenzthematik. Dieses pathogenetische Modell nach Tho- mä u. Kächele (2006) erklärt auch die Ko- morbidität der Zwangsstörung mit ano- rektischen Symptomen, wie im vorge- stellten Fall einer zunächst 11-jährigen Pa- tientin, die in ihrer Adoleszenz verschie- dene Krankheitsstadien durchlief und mit einem multimodalen Therapieprogramm sowie Bausteinen der dialektisch-behavi- oralen Therapie (DBT) behandelt wur- de. Durch diese erfuhr sie eine Stabilisie- rung und gab im Sinne eines Symptom- wandels die Ess- und Zwangsstörung auf. Stattdessen entwickelte sie aber ein chro- nisch suizidales Verhalten, das letztend- lich erst durch eine lang dauernde fami- lienorientierte Therapie mit psychodyna- mischen und verhaltenstherapeutischen Elementen aufgelöst werden konnte. Der Verlauf entspricht den in Reich u. Cierpka (2010) dargelegten Phasen der Psychotherapie der Essstörung. Deren konflikthafte Beziehungsmuster im Sin- ne eines massiven Autonomie-Abhängig- keit-Konflikts konnten nach den eher sta- bilisierungsorientierten Therapieformen wie DBT und kognitive Verhaltensthera- pie („cognitive behavioral therapy“, CBT) letztendlich nur durch eine psycho- und familiendynamische Therapie aufgelöst werden. Vorstellungsanlass Als 11-Jährige kommt die Patientin das erste Mal mit starken Zwangsgedanken und Symptomen einer restriktiven Anore- xie [Body-Mass-Index (BMI) 14,2 kg/m 2 ] zur stationären Behandlung in die Kin- der- und Jugendpsychiatrie. Die 2. Auf- nahme 2 Jahre später erfolgt erneut we- gen Körpergewichtsverlusts und starker Zwangssymptomatik. Bei der 3. und 4. Aufnahme kommt die mittlerweile 15- bzw. 16-jährige Patientin zur Aufnahme nach jeweils schweren Su- izidversuchen mit Spülmitteln und an- deren toxischen Substanzen. Zu diesem Zeitpunkt zeigt sie weder zwanghafte noch anorektische oder bulimische Ten- denzen und ist anamnestisch diesbezüg- lich im Jahr vor der Aufnahme auch wei- testgehend symptomfrei gewesen. Eine ambulante Psychotherapie hatte sie aller- dings jeweils verweigert. Erstmanifestation Bei der 1. Aufnahme will Katharina (Na- me geändert) auf keinen Fall stationär aufgenommen werden und erklärt sich nur unter Androhung eines Gerichtsbe- schlusses wegen somatischer Gefährdung dazu bereit. Die wöchentliche Körperge- wichtszunahme von einem Pfund bis zur Erreichung eines BMI von 17 kg/m 2 und die damit verbundene gewünschte Ent- lassung des Mädchens werden vereinbart. Unter diesen schriftlich fixierten Konditi- onen stimmt sie zu, bis genau zu diesem Zeitpunkt freiwillig in der Klinik zu blei- ben. In der Klinik zeigt sie beim Wasch- und Zählzwänge, ansonsten extrem an- gepasstes, freundliches Verhalten und ein unauffälliges Essverhalten mit der erwar- teten vertraglich vereinbarten Körperge- wichtszunahme. In der Therapie benimmt sie sich höf- lich, aber maximal passiv ohne eigene Bei- träge und Therapieziele, außer dem Ziel, nach Hause zu kommen. Dort erschien alles wunderbar, idealisiert und harmo- nisch mit einem berufstätigen Vater, einer nichtarbeitenden Mutter und zwei größe- ren Brüdern. Finanziell ist die Familie gut gestellt. Schulisch weist Katharina als Gymna- siastin in der 6. Klasse gute Noten auf und zeigt ein sehr fleißiges Verhalten. Zweiter klinischer Aufenthalt Zwei Jahre später bringen die Eltern Ka- tharina erneut mit Körpergewichtsverlust ebenso wie massiver Zwangssymptomatik Psychotherapeut 2014 DOI 10.1007/s00278-014-1039-3 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 1 Psychotherapeut 2014| Behandlungsprobleme

Multimodale Therapie einer Essstörung; Multimodal therapy of an eating disorder;

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Page 1: Multimodale Therapie einer Essstörung; Multimodal therapy of an eating disorder;

Eva MöhlerKJPP, Universität Heidelberg

Multimodale Therapie einer EssstörungIdentität als mögliches Therapieziel

Ess- und Zwangsstörungen im kin-der- und jugendpsychiatrischen Set-ting zeigen sehr variante Verläufe. Sie sind in diesem Rahmen zum einen als Vorläufer von Psychosen hinsichtlich ihrer Abwehr- und Strukturfunktion interpretiert worden, andererseits – und dies zum größeren Teil – als In-dikator und Symptom einer gestör-ten psychosexuellen Entwicklung mit Hemmung und Überkontrolle kapta-tiver, aggressiver oder auch nur affir-mativer Impulse. Psychoanalytische Interpretationen diskutieren für die anankastisch geprägten Essstörun-gen eine Fixierung in der analen Pha-se mit dem Hintergrund der man-gelnden Bewältigung der oralen De-pendenzthematik.

Dieses pathogenetische Modell nach Tho-mä u. Kächele (2006) erklärt auch die Ko-morbidität der Zwangsstörung mit ano-rektischen Symptomen, wie im vorge-stellten Fall einer zunächst 11-jährigen Pa-tientin, die in ihrer Adoleszenz verschie-dene Krankheitsstadien durchlief und mit einem multimodalen Therapieprogramm sowie Bausteinen der dialektisch-behavi-oralen Therapie (DBT) behandelt wur-de. Durch diese erfuhr sie eine Stabilisie-rung und gab im Sinne eines Symptom-wandels die Ess- und Zwangsstörung auf. Stattdessen entwickelte sie aber ein chro-nisch suizidales Verhalten, das letztend-lich erst durch eine lang dauernde fami-lienorientierte Therapie mit psychodyna-mischen und verhaltenstherapeutischen Elementen aufgelöst werden konnte.

Der Verlauf entspricht den in Reich u. Cierpka (2010) dargelegten Phasen der Psychotherapie der Essstörung. Deren konflikthafte Beziehungsmuster im Sin-ne eines massiven Autonomie-Abhängig-keit-Konflikts konnten nach den eher sta-bilisierungsorientierten Therapieformen wie DBT und kognitive Verhaltensthera-pie („cognitive behavioral therapy“, CBT) letztendlich nur durch eine psycho- und familiendynamische Therapie aufgelöst werden.

Vorstellungsanlass

Als 11-Jährige kommt die Patientin das erste Mal mit starken Zwangsgedanken und Symptomen einer restriktiven Anore-xie [Body-Mass-Index (BMI) 14,2 kg/m2] zur stationären Behandlung in die Kin-der- und Jugendpsychiatrie. Die 2. Auf-nahme 2 Jahre später erfolgt erneut we-gen Körpergewichtsverlusts und starker Zwangssymptomatik.

Bei der 3. und 4. Aufnahme kommt die mittlerweile 15- bzw. 16-jährige Patientin zur Aufnahme nach jeweils schweren Su-izidversuchen mit Spülmitteln und an-deren toxischen Substanzen. Zu diesem Zeitpunkt zeigt sie weder zwanghafte noch anorektische oder bulimische Ten-denzen und ist anamnestisch diesbezüg-lich im Jahr vor der Aufnahme auch wei-testgehend symptomfrei gewesen. Eine ambulante Psychotherapie hatte sie aller-dings jeweils verweigert.

Erstmanifestation

Bei der 1. Aufnahme will Katharina (Na-me geändert) auf keinen Fall stationär aufgenommen werden und erklärt sich nur unter Androhung eines Gerichtsbe-schlusses wegen somatischer Gefährdung dazu bereit. Die wöchentliche Körperge-wichtszunahme von einem Pfund bis zur Erreichung eines BMI von 17 kg/m2 und die damit verbundene gewünschte Ent-lassung des Mädchens werden vereinbart. Unter diesen schriftlich fixierten Konditi-onen stimmt sie zu, bis genau zu diesem Zeitpunkt freiwillig in der Klinik zu blei-ben. In der Klinik zeigt sie beim Wasch- und Zählzwänge, ansonsten extrem an-gepasstes, freundliches Verhalten und ein unauffälliges Essverhalten mit der erwar-teten vertraglich vereinbarten Körperge-wichtszunahme.

In der Therapie benimmt sie sich höf-lich, aber maximal passiv ohne eigene Bei-träge und Therapieziele, außer dem Ziel, nach Hause zu kommen. Dort erschien alles wunderbar, idealisiert und harmo-nisch mit einem berufstätigen Vater, einer nichtarbeitenden Mutter und zwei größe-ren Brüdern. Finanziell ist die Familie gut gestellt.

Schulisch weist Katharina als Gymna-siastin in der 6. Klasse gute Noten auf und zeigt ein sehr fleißiges Verhalten.

Zweiter klinischer Aufenthalt

Zwei Jahre später bringen die Eltern Ka-tharina erneut mit Körpergewichtsverlust ebenso wie massiver Zwangssymptomatik

Psychotherapeut 2014 DOI 10.1007/s00278-014-1039-3© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Behandlungsprobleme

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im häuslichen Rahmen. Katharina erklärt sich dieses Mal freiwillig bereit, an einem 3-monatigen DBT-Programm teilzuneh-men. Dieses Therapieprogramm richtet sich eigentlich vorwiegend an Jugendli-che mit Impulskontrollstörungen und emotionaler Instabilität. Von Anfang an wird betont, dass Katharina diese Symp-tomatik eigentlich nicht hat und, im Ge-genteil, die übertrieben starke Kontrolle und Hemmung von Gefühlen ihr eigent-liches Problem ist.

Dennoch wünscht Katharina, an die-sem Programm teilzunehmen, was von den Eltern zunächst eher skeptisch be-trachtet wird. Dem Wunsch wird zur Un-terstützung der Selbstwirksamkeitserfah-rung hinsichtlich der dringend ausbaube-dürftigen Selbstwirksamkeits- und Selbs-tlenkungskapazität des Mädchens stattge-geben. Nach Leung et al. (1999) sind man-gelnde Selbstwirksamkeitserfahrungen und mangelnde Selbstlenkung durch die Erfahrung intrusiver Fürsorge und Kon-trolle das pathogene Kernelement der Ess-störung. Im Fall Katharinas erscheint di-es klinisch evident, und die Behandler in-terpretieren und begrüßen Katharinas Wunsch nach Integration in das DBT-Pro-gramm – der erste von ihr selbstständig ar-tikulierte Wunsch – als den Beginn einer überfälligen Autonomieentwicklung. Au-ßerdem soll in dem Rahmen auch die für Katharina dringend gewünschte Hinwen-dung zur bisher von ihr komplett vermie-denen, eher „triebgesteuerten“ Jugendkul-tur unterstützt werden, um ansatzweise ei-ne Ablösung aus dem sehr eng gestrickten familiären Ambiente zu ermöglichen. Ka-tharina zeigt hier auch durchaus Interes-se und versucht sich in die Gleichaltrigen-gruppe zu integrieren. Allerdings wird di-es im gesamten Verlauf von ihr immer wieder schuldhaft und somit auch auto-aggresssiv im Sinne von restriktivem Ess-verhalten und autoaggressiven Zwangsge-danken verarbeitet.

Im Rahmen dieses Programms ist sie sehr bemüht, den anderen – eher opposi-tionellen – Jugendlichen zu gefallen, zeigt dadurch erstmalig auch oppositionelle Verhaltensweisen und beginnt, sich „go-thic“ zu kleiden. Dies ist ein Umschwung, der von den Eltern durchgehend bis zum Ende der Behandlung als sehr belastend erlebt wird. Einerseits erscheint dieses

Verhalten im Sinne einer altersgemäßen Entwicklung therapeutisch erwünscht, andererseits resultiert es weniger aus ei-gener Selbstlenkung, sondern stärker als Epiphänomen von Katharinas starker Anpassungsbereitschaft, die sich in die-sem Fall darin ausdrückt, sich pointiert jugendlich zu kleiden. Es entspringt aber nicht wirklich aus ihren eigenen Entwick-lungsimpulsen, sondern dient eher der Vermeidung einer sozialen Ausgrenzung, die ihr ansonsten in der „peer group“ des DBT-Programms unweigerlich drohen würde.

Dennoch beobachteten die Thera-peuten, dass Katharina an den anderen, eher externalisierenden Jugendlichen in ihrer Therapiegruppe „am Modell“ lernt. Im häuslichen Rahmen anlässlich der Be-lastungserprobungen fällt sie immer wie-der zurück in alte Muster und ihre Rolle als sehr angepasstes, sehr liebes, freund-liches und rücksichtsvolles Mädchen, das die Bedürfnisse aller Familienangehöri-gen eng im Blick hat und sich sehr genau an die familiären Regeln hält. Dabei ist sie aber so weit an den Vorgaben und dem Wohl der anderen orientiert, dass sie eige-ne Bedürfnisse oder Interessen weder ar-tikuliert noch verspürt.

Da sie an den Wochenenden immer wieder auch Körpergewicht abnimmt und Essprobleme zeigt, empfehlen die Thera-peuten nach Abschluss des 3-monatigen DBT-Programms die Eingliederung in ei-ne therapeutische Wohngruppe; dies wird jedoch von Katharina und auch den El-tern abgelehnt.

Nach überaus zuverlässiger und ge-wissenhafter Absolvierung des DBT-Pro-gramms wird sie mit stabilisiertem Kör-pergewicht entlassen. Die Therapeuten empfehlen eine ambulante Anschlussthe-rapie, die sie laut Aussage der Therapeutin 3-mal aufsucht und dann abbricht.

Dritter und vierter Aufenthalt

Die darauffolgenden Notaufnahmen in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychi-atrie erfolgen nach 2 jeweils sehr heftigen und ernst zu nehmenden Suizidversuchen der zu diesem Zeitpunkt – hinsichtlich der Ess- und Zwangsstörung – ansonsten weitestgehend symptomfreien Patientin. Beide Suizidversuche erfolgten laut An-

gabe der Familie „aus heiterem Himmel“ – es habe keinerlei Vorwarnzeichen gege-ben. Dies und die jeweils erhebliche Men-ge eingenommener toxischer Substanzen geben den Ausschlag für einen Gerichts-beschluss, der erwirkt werden muss, weil Katharina zu dem Zeitpunkt nicht zu wei-terer stationärer Behandlung bereit ist, aber als hochgradig selbstgefährdet ein-geschätzt wird.

Da sich in den diese Entscheidungen flankierenden Familiengesprächen er-hebliche Verstrickungen im Sinne gegen-seitiger Schuldzuweisungen äußern, be-schließen die Therapeuten, eine 3-mo-natige Beschlussunterbringung zu erwir-ken und in diesem Rahmen vorwiegend auf die Arbeit mit der Familie zu fokus-sieren. Hierzu ist die Familie grundsätz-lich bereit.

Diese Arbeit nimmt einen sehr leben-digen Verlauf. Im Folgenden wird der Therapieverlauf eingehender geschildert, da er einige zentrale Kernkonfliktthemen berührt.

Entwicklungsanamnese

Die Eltern berichten, dass Katharina als 3. Kind mit 3480 g zum errechneten Ter-min spontan entbunden wurde. Alle Mei-lensteine der frühkindlichen Entwicklung wurden zeitgemäß erreicht. Im Kinder-garten sei sie ein eher schüchternes Kind gewesen. Manchmal habe sie auch nicht hingehen wollen, und die – durchgängig nichtberufstätige – Mutter habe sie dann zu Hause behalten.

In der Grundschule habe sie gute Leis-tungen gezeigt. Jedoch sei es zwischen-durch auch mal zu sozialer Ausgrenzung gekommen. Katharina habe runde Backen gehabt und sei als dickes „Mamakind“ ge-ärgert worden. Sie habe aber auch Freun-dinnen gehabt.

Mit dem Übergang aufs Gymnasium sei Katharina nicht mehr geärgert worden. Jedoch habe bald danach die Zwangsstö-rung angefangen und ein halbes Jahr da-nach dann die Essstörung, die zu dem oben beschriebenen klinischen Verlauf geführt haben.

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Behandlungsprobleme

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Familienanamnese

Katharina war das 3. Wunschkind eines selbstständigen Unternehmers und einer Hausfrau. Die beiden Brüder sind 6 bzw. 8 Jahre älter als Katharina, zum Zeitpunkt des Behandlungsendes also 22 und 24 Jah-re alt.

Beide Brüder hatten nie psychiatrische Symptome gezeigt. Laut Aussagen des Va-ters blieben sie jedoch sowohl hinsichtlich ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen als auch ihrer beruflichen Entwicklung „weit unter ihren Möglichkeiten“. So ha-be der Älteste jetzt die Möglichkeit geha-bt zu studieren, habe sich aber stattdessen entschlossen, in einer dem Elternhaus na-he gelegenen Kleinstadt als Lagerarbeiter zu arbeiten.

Die Großeltern väterlicherseits lebten ebenfalls nahe gelegen. Der Großvater mütterlicherseits war bereits verstorben; die Großmutter sollte im Haushalt des Bruders der Mutter leben, der das Eltern-haus übernommen und die Mutter aus-bezahlt hatte. Im Verlauf der Behandlung wird von Katharinas Mutter thematisiert, dass sie ihren Bruder hasse, weil dieser ein neues Haus gebaut und das Elternhaus verkauft habe und die Mutter nun ganz al-lein leben müsse. Dies habe sie dem Bru-der aber bisher nie mitgeteilt.

Partnerschaftskonflikte werden keine verbalisiert oder jemals thematisiert. Je-doch bestehen wenige verbindende Ele-mente zwischen den Eltern. So fährt der Vater gern Motorrad; die Mutter arbei-tet ehrenamtlich in der Gemeinde. Nach-dem Katharina sich entsprechend ihrer im 2. Aufenthalt begonnenen jugendge-mäßen Entwicklung auch tätowiert, fährt die ganze Familie gemeinsam regelmäßig zu einem Tätowierer nach Mannheim.

Therapieverlauf

Da Katharina bei der 1. Aufnahme ver-haltenstherapeutisch behandelt wird und beim 2. Aufenthalt an einem strukturier-ten DBT-Programm teilgenommen hat, fokussiert sich die Therapieplanung im 3. Aufenthalt auf die bisher weniger be-achteten familientherapeutischen und tie-fenpsychologischen Elemente. Zugrunde liegt dieser Therapieplanung die Hypo-these, dass Katharina nun über die not-

wendigen Fähigkeiten der Gefühlsverbali-sierung und -regulierung verfügt, um mit den entstehenden Scham- und Schuld-gefühlen oder autoaggressiven Impulsen umgehen zu können. Ebenso verfügt sie nun über die kognitiv-behavioralen Stra-tegien zur Überwindung von Symptomen der Ess- und Zwangsstörung. Jedoch hat sich innerfamiliär und an den zentralen Beziehungsmustern wenig verändert. Die Familie zeigt einen extrem engen Zusam-menhalt. (Auf einer im DBT gebräuch-lichen Einstellungsskala schätzen sich alle auf demselben Fleck stehend mit gleichen Werten und Einstellungen ein.)

Dies erklärt nach Auffassung der Be-handler auch die niedrigen Werte Katha-rinas auf der Skala Assessment of Identi-ty Development in Adolescence (AIDA). Hinsichtlich eigener Wünsche, Gedanken, Ziele und Perspektiven und sowohl hin-sichtlich ihres Kernselbsts als auch ihrer Selbstlenkungsfähigkeit schneidet sie weit unterdurchschnittlich ab.

Da es Katharina in der Therapie sehr schwer fällt, aktiv zu sprechen, und sie so-fort in passive Erwartungshaltung ver-fällt, das zu sagen, was von ihr erwartet wird, wird ihr nahegelegt, zwischen den Therapiestunden ein Gedankentagebuch zu schreiben, in das sie ungefiltert hinein-schreiben kann, was in ihr vorgeht. The-matisch steht hier anfänglich ein überdau-erndes Schulderleben im Vordergrund, die Anorexie „verraten“ zu haben. Im Ge-spräch kann sie es als gefühlten Verrat an der Mama oder auch der ganzen Fami-lie verstehen, dass sie nämlich aus der fa-miliären Idylle und der von der ansons-ten wenig beschäftigten Mutter immer wieder eingeforderten Nähe mit der hef-tigen Gewalt eines Suizidversuchs ausge-brochen ist.

Es kann ihr deutlich gemacht wer-den, dass es für sie ja gar keinen anderen Weg gegeben habe, da sie in all ihren Ab-lösungsversuchen immer wieder von der Familie eingeholt wurde. Die Eltern ver-boten ihr zwar nicht das Tätowieren, gin-gen aber dann selbst mit und verfolgten sie in diesen ersten Übungsfreiraum. Ka-tharina beschreibt auch, dass sie zu einem Rockkonzert habe gehen wollen, die Mut-ter dann wie selbstverständlich für sich auch eine Karte gekauft habe, was darauf hindeutet, dass diese immer wieder in den

Raum der Tochter eindrang. Diese intrusi-ve emotionale Überinvolvierung wird von Duclos et al. (2013) als pathognomisch für Essstörungen angesehen.

Katharina äußert dazu: „Das stört mich gar nicht, dass die Mama mitkommt, der macht das halt auch Spaß, und was soll sie denn sonst machen?

Hier zeigt sich, dass Katharina durch-aus die Fähigkeit zu und das Interesse an einem eigenen Leben hat, sie aber von der Mutter in diesem Autonomiestreben nicht unterstützt wird. In der Einzelthe-rapie äußert sie, keinesfalls so werden zu wollen, wie die Mutter, aber eine Riesen-angst zu haben, trotzdem so zu werden. Auf die Frage, wieso, meint sie, sie sei ge-nauso sozial isoliert wie die Mutter, und fürchtet, dass sie eines Tages auch nur zu Hause versacken werde. Deshalb wolle sie dann lieber tot sein.

Die wenig positiv besetzte Mutterre-präsentanz wird als eine weitere Ursache für die defiziente Identitätsentwicklung des Mädchens angesehen. Katharina sagt im Rahmen eines für sie untypischen Af-fektausbruchs in der Einzeltherapie gegen Ende des Aufenthalts, außer nerven kön-ne die Mutter gar nichts. Gleich darauf zeigt sie erhebliche vegetative Parameter von Schuld und Scham, und sie gibt auf Nachfrage an, sich jetzt total als Verräte-rin zu fühlen. Eigentlich sei es zu Hause so schön, und sie sei böse und schlecht und zerstöre das Zuhause mit solchen Aussa-gen. Sie habe es nicht besser verdient, als für immer allein zu sein, aber das wieder-um könne sie nicht, weil sie zu krank sei.

Vor dem Hintergrund der eingangs formulierten Therapiehypothese, dass Ka-tharinas Krankheit dazu dienen soll, den Eltern ein verbindendes Element zu schaf-fen, können auch ihre Ängste verstanden werden, mit ihren Autonomiebestrebun-gen und ganz normalen pubertätstypi-schen Äußerungen das familiäre Gefüge zu zerstören.

Da im Lichte dieser Tatsachen der Ver-bleib Katharinas in der Familie als krank-heitsfestigend angesehen wird, wird in der Elternarbeit zunächst von therapeutischer Seite auf eine Wohngruppenunterbrin-gung des Mädchens gedrungen. Kathari-na protestiert erwartungsgemäß stark, die Eltern sind – wie bereits in den Malen da-vor – widerstrebend, können sich jedoch

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aus Angst, ihre Tochter eines Morgens nach einem erfolgreichen Suizidversuch tot im Bett zu finden, dazu entschließen. Katharina hat nämlich in ihr Gedanken-heft den Satz geschrieben: „Die einzige Möglichkeit eines Abschieds ist der Tod“. Dies verleitet die Therapeuten zu der An-nahme, dass Katharina dringend die Ab-lösung sucht und braucht, aber anderer-seits diese aufgrund der familiären Mus-ter so angst- und schuldbesetzt ist, dass sie glaubt, diesen Gefühlen nur im Tod ent-kommen zu können. Dazu schreibt sie: „Selbst der Tod ist besser als dieses Le-ben, das keines ist“.

Befragt nach dem Leben, das keines ist, bezeichnet sie ein dumpfes Gefühl des „Gar-nicht-da-Seins“, das sie habe, wenn sie lieb sei. Wenn sie nicht lieb sei, dann habe sie zwar Gefühle, aber vorwiegend dann Angst, ganz allein da zu stehen, für immer, weil sie dann egoistisch und bö-se sei.

Dies kann sie in einer Familiensitzung den Eltern sagen, wobei die – ansonsten Katharina gegenüber stets sehr sanfte und einfühlsame – Mutter überraschenderwei-se in einem für sie eher scharfen Ton mit den Worten reagiert: „Du hast doch auch keine Angst, uns zu verlieren oder Dich zu blamieren, wenn Du in dem Outfit da rumrennst mit diesen Klotzschuhen“.

Auf die Bemerkung der Therapeutin, dass sie Katharinas Mutter noch nie zu-vor in einem solchen Ton habe sprechen hören, antwortet diese nicht, sondern der Vater mit: „Ja, ja, Frauen sind normaler-weise ja nicht so“.

In der Nachbearbeitung des Gesprächs mit Katharina meint diese, dass sie sich gewünscht habe, die Therapeutin hät-te an dieser Stelle dem Vater klares Kon-tra gegeben und das nicht einfach so ste-hen lassen. Auf die Frage, ob sie sich ein solches Verhalten vielleicht auch von je-mand anderem gewünscht habe, antwor-tet sie, es sei ja niemand anders da gewe-sen. Zu der Bemerkung, dass Mutter auch noch da war, meint Katharina: „Das ist ja nicht wirklich eine Person, also, die ir-gendwas tut“.

Dies zeigt, dass Katharina die Mutter – trotz nahezu ständiger Anwesenheit in Katharinas Leben – als präsente Repräsen-tanz verleugnen muss und in Form nega-tiver – defensiver unterwürfiger – Selbst-

anteile internalisiert. Diese führt gleich-zeitig zu dem vorherrschenden Affekt der Scham, den sie in einer Sitzung als in ih-rem Erleben allgegenwärtig bezeichnet.

Um die Ausbildung positiver Selbst-anteile zu fördern, fragt die Therapeutin nach „wirklichen Personen“ in ihrer Fami-lie. Katharina meint, der Vater sei da, und er sei selbstständig und selbstbewusst. Auf Nachfrage meint sie, dass es sinnvoll sein könnte, den Vater in der nächsten Famili-ensitzung zu fragen, wie er das eigentlich anstelle, so selbstsicher sein zu können, wie sie, Katharina, ja auch gern wäre.

Im Sinne der Förderung und Unter-stützung der Identitätsentwicklung durch Akzentuierung positiver Selbstanteile wird Katharinas Ansinnen unterstützt und zum Thema einer Familiensitzung gemacht. In dieser Sitzung berichtet der Vater, er sei als Kind auch gehänselt und gemobbt worden, und irgendwann ha-be er sich im Fitnessstudio stark gemacht und „beschlossen“, es sei scheißegal, was die andern sagen. Ab diesem Tag habe er auch Freunde gehabt.

Relativ unvermittelt meint Kathari-na dann, sie wolle eigentlich schon in ei-ne WG, aber nicht in eine therapeutische WG in der Nähe der Klinik, sondern in eine WG in H. Die Therapeutin versucht das danach entstehende allgemeine fami-liäre Entsetzen abzumildern und Katha-rina in diesem von ihr selbst geäußerten Wunsch bezüglich ihrer eigenen Perspek-tive zumindest nicht sofort zu ersticken. Sie räumt ein, dass eine absolute Nähe zur Klinik und eine therapeutische WG ja gar nicht unbedingt sein müssen, und man sich vielleicht wirklich auch in größeren Städten umschauen kann.

Daraufhin haken die Eltern sofort ein. Wenn ein therapeutisches Setting lang-fristig nicht mehr nötig sei, dann könne Katharina doch sofort nach Hause kom-men? Die Therapeutin äußert dazu, dass sie die Distanz von der Familie an sich für therapeutisch halte, wogegen Katharina selbst ebenso wie die Eltern heftigst wi-dersprechen.

Katharina selbst findet dann einen As-pekt, unter dem alle ihr Gesicht wahren können, und meint: „In der alten Umge-bung fällt man halt immer wieder in die alte Rolle“, und sie wolle nicht mehr in der Krankenrolle sein. De facto hat sich

zu diesem Zeitpunkt die Krankenrol-le auch bereits verschoben und die Mut-ter sich aufgrund von schweren Depressi-onen in einer psychosomatischen Klinik angemeldet. Katharina reagiert dabei ei-nerseits mit Betroffenheit auf die Situation ihrer Mutter, andererseits mit folgendem verächtlichen Satz: „Eigentlich interessiert es mich nicht mehr besonders“. Ein Satz, der ihr dann heftige Schuldgefühle macht, die sie aber – dank erlernter „DBT skills“ aushält.

Bemerkenswert ist, dass am Ende des Elterngesprächs die Mutter dann äußert: „Ja, wenn Du unbedingt nach H. willst, dann such ich uns dort eine Wohnung, da habe ich eigentlich gar nichts dagegen“. Dazu nickt Katharina brav.

Diskussion

Die Behandlung orientierte sich an den klassischen Elementen, die von Herzog (2010) zusammengefasst und beschrieben wurden. Dabei zeigte sich, dass die größte Schwierigkeit des Mädchens die enge Ver-mischung mit und die starke Loyalität zu ihrer Herkunftsfamilie war, die es ihr we-der gestattete, kritische Aspekte wahrzu-nehmen noch sich überhaupt inhaltlich zu öffnen. Dies gelang letztendlich erst im geschlossenen psychiatrischen Setting mit Gerichtsbeschluss aufgrund von hef-tiger schwerer Suizidalität. Die Patienten gab rückblickend selbst an, von dem Be-schluss entlastet worden zu sein, in ihrem Loyalitätskonflikt, eigentlich nach Hause zu müssen und dort zu bleiben, da sie den Lebensinhalt der Mutter darstellte. Dies zeigt sich an der schweren psychischen Erkrankung der Mutter, die erstmals auf-tritt, nachdem Katharina sich von ihr löste.

Die Ausgangshypothese des Fami-lienansatzes war, dass mithilfe projek-tiver Mechanismen in der Familie Ka-tharina die Rolle der hilflosen, abhängi-gen und lebensunfähigen Tochter zuge-schrieben wurde, die sie durch projekti-ve Identifizierung auch übernommen hat-te. Diese Projektion und projektive Iden-tifikation hatten im familiären Gefüge die Funktion, dass sie die Eltern, die an-sonsten wenig gemeinsam hatten, anei-nander band und ihnen ein gemeinsa-mes Objekt sowie Thema bot, um das sie sich kümmern konnten, sodass der Draht

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Behandlungsprobleme

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zwischen den Eheleuten nicht abriss. Eine Loslösung durfte deshalb nicht passieren, weil das transgenerationale Gefüge durch-gängig von Trennungsängsten dominiert und eingeschränkt war, die eine suffizien-te Autonomieentwicklung über Genera-tionen nicht zugelassen hatte. Dies bestä-tigt auch die aktuelle Lebensentwicklung des Bruders.

Fazit für die Praxis

An dem beschriebenen Verlauf wird deutlich, dass symptomatisch zwar mit den primär verhaltenstherapeutischen Methoden sehr viel erreicht und sowohl die Zwangs- als auch die Essstörung auf-gegeben werden konnten. Die Lebens-qualität der Patientin und ihre Beziehun-gen änderten sich dadurch aber nicht, solange sie in der Familie blieb. Erst der familienorientierte tiefenpsychologi-sche Ansatz konnte hier pathogene iden-titätshemmende Mechanismen aufde-cken. Dies machte es Katharina möglich, sich allmählich aus dem familiären Ge-füge zu lösen und Ansätze eigener posi-tiver Selbstanteile, Pläne und Perspek-tiven auszubilden – die unumgängliche Voraussetzung für einen „lebbaren“ Le-bensentwurf.Beide Verfahren, sukzessive eingesetzt, konnten zunächst die Zwangs- und Ess-störung, danach aber auch die zugrun-de liegende schwere Identitätsstörung der Patientin behandeln. Dies zeigt, dass ein Ineinandergreifen verschiedener Ver-fahren sinnvoll sein kann, um stufenwei-se Fortschritte zu erzielen. In diesem Fall bot es sich an, zunächst mit verhaltens-stabilisierenden Methoden zu arbeiten und in einer späteren Therapiephase die tiefergehenden interpersonellen Muster zu bearbeiten.

Korrespondenzadresse

Prof. Eva MöhlerKJPP, Universität HeidelbergBlumenstr.8, 69115 [email protected]

Einhaltung der ethischen Richtlinien

Interessenkonflikt. Keine Angaben. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur

Duclos J, Dorard G, Berthoz S et al (2013) Expres-sed emotion in anorexia nervosa: what is inside the „black box“? Compr Psychiatry 55:71–79. DOI 10.1016/j.comppsych.2013.10.002

Herzog T (2010) Stationäre und teilstationäre psycho-dynamisch orientierte Therapie bei Anorexie und Bulimie. In: Reich G, Cierpka M (Hrsg) Psychothera-pie der Essstörungen: Krankheitsmodelle und The-rapiepraxis – störungsspezifisch und schulenüber-greifend. Thieme, Stuttgart, S 142–154

Leung N, Waller G, Thomas G (1999) Group cognitive-behavioural therapy for anorexia nervosa: a case for treatment? Eur Eat Disord Rev 7:351–361

Reich G, Cierpka M (2010) Familien- und paarthera-peutische Behandlung der Anorexie und Bulimie. In: Reich G, Cierpka M (Hrsg) Psychotherapie der Essstörungen: Krankheitsmodelle und Therapie-praxis – störungsspezifisch und schulenübergrei-fend. Thieme, Stuttgart, S 164–182

Thomä H, Kächele H (2006) Psychoanalytische Thera-pie, Bd 1: Grundlagen. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio

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