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Musagetae Heliconiadumque choro Giebelfeld Musagetae Heliconiadumque choro Eine rätselhafte Inschrift am Aachener Stadttheater Hermann Krüssel Musagetae ‘Nen auen Öcher, dee a sing Kazau Zeer langer Zitt nüs mieh ze dun en hau. Gong, moht et schön nu sein, of moht et reene, Der hielen Dag de Peul dörch Oche treene. Su koom all treenens hee der Bega‘degraf 1 Auch ens bes an et Komiedenhus eraf; Do blef he stohn än daht: „Ä schön Gebäu, Mär wat die gölde Schreft heescht ben ich neu!“ Nun gof he gliech sich dran ze bochstabire, Än wau das MUSAGETAE explicire, Lang hau he sich der Kopp att dra zerbrauche, Datt et Huchdütsch wor, hau gliech he wahl gerauche, Auch geloht hee, datt ganz ongemeng En jedder Letter för e Wo‘t do stöng. Hee äuget noch, du könnt sie Nobber Flaach: „Met Verläuf, wat kickst du hei der hauven Dag,“ Saht dee, „än stehst hei metzen en de Hetz? Gefalle dich die nackse Engele vlets?“ Musagetae Heliconiadumque choro - rätselhafte Inschrift am Aachener Stadttheater. Foto: Krüssel (2005 waren zeitweise Bäume vor dem Theater aufgepflanzt). CXXX

Musagetae Heliconiadumque choro - Pro Lingua Latina Aachen · Musagetae Heliconiadumque choro Giebelfeld Musagetae Heliconiadumque choro Eine rätselhafte Inschrift am Aachener Stadttheater

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Musagetae Heliconiadumque choro

Giebelfeld

Musagetae Heliconiadumque choroEine rätselhafte Inschrift am Aachener Stadttheater

Hermann Krüssel

Musagetae

‘Nen auen Öcher, dee a sing Kazau Zeer langer Zitt nüs mieh ze dun en hau. Gong, moht et schön nu sein, of moht et reene, Der hielen Dag de Peul dörch Oche treene. Su koom all treenens hee der Bega‘degraf 1

Auch ens bes an et Komiedenhus eraf; Do blef he stohn än daht: „Ä schön Gebäu, Mär wat die gölde Schreft heescht ben ich neu!“ Nun gof he gliech sich dran ze bochstabire, Än wau das MUSAGETAE explicire, Lang hau he sich der Kopp att dra zerbrauche, Datt et Huchdütsch wor, hau gliech he wahl gerauche, Auch geloht hee, datt ganz ongemeng En jedder Letter för e Wo‘t do stöng. Hee äuget noch, du könnt sie Nobber Flaach: „Met Verläuf, wat kickst du hei der hauven Dag,“ Saht dee, „än stehst hei metzen en de Hetz? Gefalle dich die nackse Engele vlets?“

Musagetae Heliconiadumque choro - rätselhafte Inschrift am Aachener Stadttheater. Foto: Krüssel (2005 waren zeitweise Bäume vor dem Theater aufgepflanzt).

CXXX���

„Du best de Dör dernevve, gaue Flaach, Ich han märr an die Enschreft mi Vermaach, Dee die geschreeven, hat et got gesaht, Dat han ich wal at nun eruusgebraht; Krig us et Ganzen ich auch genge Veesch, Dat M, U, S, A, G, minge Leiven, heescht: M i t U n s e r n S t ü b e r n A l l e s g e b a u t! - doch saag, Wat wal dat E, T, A bedüe mag?“ „Nüs mieh äls dat,“ sätt Flaach, „dat E, T, A, Dat heescht ganz ohne Feehl: etcetera.“

Ein alter Öcher, der zu Hause sehr lange Zeit nichts mehr zu tun hatte, ging, mochte es nun schön sein oder mochte es regnen, den ganzen Tag zu Fuß durch Aachen spazieren. So kam er beim Spaziergang an den Begarden1 vorbei bis an das Komödienhaus herab. Dort blieb er stehen und dachte: „Ein schönes Gebäude, aber was die goldene Schrift heißt, darauf bin ich neugierig!“ Nun begab er sich gleich dran zu buchstabieren, dass es Hochdeutsch war, hat er gleich wohl gerochen, auch glaubte er, dass ganz ungemein ein jeder Buchstabe für ein Wort stünde. Er beäugte sie noch, da kam sein Nachbar Flaach: „Mit Verlaub, was guckst du hier den halben Tag?“, sagte er, „und stehst hier mitten in der Hektik? Gefallen dir die nackten Engelchen vielleicht?“ „Du bist sowas von daneben, guter Flaach, ich habe aber an der Inschrift mein Vergnügen. Der die geschrieben hat, hat es gut gesagt, das habe ich wohl nun herausgebracht. Bekomme ich aus dem Ganzen auch keinen Sinn, das M, U, S, A, G, mein Lieber, heißt: „Mit Unseren Steuern Alles Gebaut! – Doch sag, was wohl das E, T, A bedeuten mag?“ „Nichts mehr als das,“ sagte Flaach, „das E, T, A, das heißt ganz ohne Fehler: etcetera.“

Diese Anekdote schrieb Wilhelm Weitz (1806-1890). Sein Öcher Platt ist nicht die Schreibweise, die man heute in Aachen kennt,2 aber nichts desto weniger herzlich und ehrlich. Wilhelm Weitz war 19 Jahre alt, als das Aachener Stadttheater eingeweiht wurde. Auf dem Giebelfeld steht ein lateinischer Spruch, der sich bis heute erhalten hat:

Musagetae Heliconiadumque choro

Was bedeutet dieser Spruch? Wer hat sich diesen Spruch ausgedacht? Das Gespräch des alten Aacheners mit seinem Nachbarn Flaach dürfte auch heute in der Regel nicht zu einem besseren Ergebnis führen.

Musagetae Heliconiadumque choro

Aachener StadttheaterCXXXIV

giebelfeld

Aachens Verhältnis zu Friedrich Wilhelm III.Schauen wir uns zunächst die Anfangszeit des Aachener Stadttheaters an. Sein erstes öffentliches Theater erhielt Aachen im Jahre 1751. Baumeister dieses Komödienhauses am Katschhof war der Aachener Stadtarchitekt Johann Joseph Couven. Hier fanden unter unter anderem Faschingsbälle statt. Doch das Komödienhaus erwies sich bald als zu klein. Als Aachen nach dem Ende der französischen Zeit preußisch geworden war, rückte König Fried-rich Wilhelm III. in den Blickpunkt öffentlicher Feiern. Schon am 3. August 1814 hatte man ihm zu Ehren eine öffentliche Geburtstagsfeier in Aachen veranstaltet, am 11. Oktober 1815 hatte Friedrich Wilhelm III. erstmals Aachen besucht, am 27. September 1818 war er zum Monarchenkongress nach Aachen gekommen. Einen weiteren Besuch hatte er Aachen mit seinen drei Söhnen, darunter auch der spätere Kaiser Wilhelm I. und der spätere Zar Nikolaus I., 1821 abgestattet. Es war noch die Zeit, in der die Stadt auch öffentlich mit lateinischen Sprüchen zeigte, zu welchen geistigen Leistungen man hier fähig war. Am 4. Juli 1821 empfing Aachen die Königsfamilie mit folgendem Chronogramm am Rathaus:

MAgnos sALVto reges qVos Ceres FLAVA reDVCItGroße Könige begrüße ich, welche die blonde Ceres zurückbringt.3

Sehr bald folgte die nächste Gelegenheit, Friedrich Wilhelm zu ehren. Am 16. November 1822 stand die Feier des 25-jährigen Thronjubiläums des preußischen Königs an, ein Nationalfest, das in Aachen mit Glanz und Gloria gefeiert wurde. Nach der Hauptfeier, die u.a. aus einem Dankgottesdienst im Dom, einem Gastmahl für die Invaliden in der Marienthaler Kaserne und die Armen in den Hospizen bestand, folgte die Grundsteinlegung für den Elisenbrunnen am Friedrich-Wilhelm-Platz und nur wenige Meter entfernt für ein neues Schauspielhaus. Allein für die Anlage des Brunnens hatte die preußische Regierung einen Zuschuss von 10.000 Talern bewilligt.4 Am Abend wurde ein Benefizkonzert gegeben, gefolgt von einem Feuerwerk und einer Illumi-nation des Rathauses und anderer öffentlicher Gebäude. Dabei konnte der König weitere Inschriften bewundern, z. B. vor dem damaligen Burtscheider Casino:

regI HAeC In reCorDAtIoneM VIgIntI qVInqVe per Annos CoronAtoDem König dies in Erinnerung, der 25 Jahre lang gekrönt ist.

Nicht bekannt ist, ob auch weitere Vorschläge öffentlich gezeigt wurden. Sie wurden von Johann Gerhard Joseph von Asten verfasst, in den letzten beiden Inschriften mit einem Distichon kombiniert:

FrIDerICo WILHeLMo BorVssIAe regI AnnIs regnI sVIVIgIntI qVInqVe FInItIs VotA persoLVIt VrBs AqVensIs

Friedrich Wilhelm, dem König von Preußen, erfülltnach Vollendung seiner 25 Regierungsjahre die Stadt Aachen ihre Gelübde.

Musagetae Heliconiadumque choro

Das von Johann Joseph Couven erbaute Komödienhaus

Friedrich Wilhelm III. auf einem Taler von 1819

Quelle: Wikipedia

CXXXV

pAter pAtrIAe et CIVItAtIs nostrAe FrIDerICe WILHeLMe,Io, MAgnIFICA HAC DIe LAetAntes grAtVLAntVr tIBI AqVIsgrAnenses

Vater des Vaterlandes und unserer Stadt, Friedrich Wilhelm,Juchhe! An diesem prächtigen Tag gratulieren dir fröhlich die Aachener.

potentI AtqVe Bono pAtrI pAtrIAe CoronAto regI FrIDerICo WILHeLMoQuinque coronatus lustris in secula felix

Rex Borussorum vivat! ad astra sonet.Dem mächtigen und guten Vater des Vaterlandes, dem gekrönten König Friedrich Wilhelm,

fünfundzwanzig Jahr‘ seit der Krönung, in Ewigkeit glücklich. „Preußens König leb‘ lang!“, kling’s zu den Sternen hinauf!

pAVperes pVerI AtqVe orpHAnI IVBILAnt BorVssorVMqVe regI

CoronAto qVInqVe LVstrA regnAntI oVAntes ApplAVDVnt.reX BorVssorVM; FeLIX In seCVLA VIVAt!

In terrIs FeLIX VIVAt! AD AstrA sonet. Die Armen, Kinder und Waisen jubilieren, dem gekrönten König der Preußen,

der 25 Jahre regiert, applaudieren sie jubelnd. „Glücklich soll in Ewigkeit leben der König der Preußen!“ „Er leb‘ auf Erden im Glück! – bis zu den Sternen erkling’s!“

Vorgeschlagene Inschriften zum Aachener StadttheaterSoweit Huldigungen auf den König von Preußen. Am selben Tag aber wurde auch der Grundstein zum neuen Aachener Stadttheater gelegt. Zu diesem Anlass waren später Inschriften zu lesen, „die auf beson-dere Einladung seitens des Oberbürgermeisters von Litteraturfreunden“5 verfasst worden waren.

MVsIs HAeC CIVes grAnI pHoeBoqVe DICArVntGranus’ Bürger widmeten dies den Musen und Phoebus

pHoeBo MVsIs pVBLICAe reCreAtIonI LVDIs AqVensesDie Aachener für Phoebus, die Musen, für öffentliche Erholung und für Spiele

optIMA tHespIADes prAeBent oBLIVIA CVrAe Theaspiaden lassen die Sorgen bestens vergessen

MVsIs grAnenses pHoeBoqVe sVB AegIDe regIs Aachener für Musen und Phoebus unter dem Schirme des Königs

HoC stVDIIs FAVeAnt MVsAe LVDIsqVe tHeAtroHuld mögen Musen dem Tun und dem Spiel im Theater erweisen

MvsAgetAe HeliConiAdvMqve CHoro

Die überlieferten Inschriften sind aufschlussreich. Sie belegen eine humanistische Bildung von „Litte-raturfreunden“ im Umfeld Aachens auf gutem Niveau. Abgesehen von der zweiten Inschrift sind die ersten fünf Inschriften sogar Hexameter. Die erste Inschrift ergibt als Chronogramm das Jahr 1824, ein

Musagetae Heliconiadumque choro

Aachener StadttheaterCXXXVI

giebelfeld

perfektes Chronogramm, jedes Wort enthält einen Zahlbuchstaben, es zeigt an, worum es im Theater geht: Hilfreich zur Seite, so die antike Vorstellung, standen den Verfassern von Komödien und Tragödien die Musen sowie ihr Anführer Apollo bzw. Phoebus. Im Aachener Giebelfeld sind die Musen Melpomene als Symbol der Tragödie und Thalia als Symbol für die Komödie dargestellt. Beide Musen erhalten einen Lorbeerkranz überreicht. Ihnen und Apollo weihten die Aachener, metonymisch unschrieben durch die Bürger des Grannus (cives Grani), den schönen Theaterbau. Einen kleinen Schönheitsfehler hat das Chronogramm: Es ergibt 1824, tatsächlich wurde das Stadttheater 1825 eingeweiht. Kann man diesem Chronogramm entnehmen, dass schon vor 1825 Sprüche eingereicht worden sind? Immerhin war am 24. Dezember 1824 das Kunstwerk des Giebelfeldes fertiggestellt. Auf das Jahr 1825 kommt das zweite Chronogramm, das wieder die Musen und Phoebus in den Blick nimmt sowie die Aachener (Aquenses) und mit der Erholung (recreationi) den Zweck eines Theaterbesuches anzeigt – ein schönes Beispiel für einen finalen bzw. doppelten Dativ. Die dritte Inschrift greift auf Ovids Metamorphosen (5,309f. nobiscum, si qua fiducia vobis / Thespiadae, certate, deae) zurück. Thespiae war eine Stadt in Böotien am Fuße des Helikon, wo man sich den Sitz der Musen vorstellte. Diese werden als Bewohnerinnen (-ades) von Thespiae vorge-stellt, ein Beispiel für eine Metonymie. Wie die zweite Inschrift stellt auch diese Inschrift den Zweck eines Theaterbesuches heraus. Die vierte Inschrift richtet den Blick auf den preußischen König, ‘unter dessen Ägide‘ das Stadttheater erbaut worden war. Dem Mythos nach hat Hephaistos die Aigis, einen Schild aus Ziegenfell, gefertigt, den Zeus als erster Besitzer an Athene weitergab. Dieser Schild war ein unüberwind-barer Schutz, den auch Zeus‘ Blitze nicht zerstören konnten. Die fünfte Inschrift ist ein Beispiel für eine sehr gelungene abbildende Wortstellung: Inmitten des Theaters (hoc theatro umfasst den Vers) wirken bzw. sollen in der Mitte die Musen wirken.

Die Inschrift des Aachener StadttheatersNach dem zuvor Gesagten ergibt sich leicht die Bedeutung der sechsten Inschrift. Der Verfasser arbeitet mit einer großen Ellipse und konzentriert sich nur auf das Wesentliche: Es fehlen Subjekt und Prädikat, zu ergänzen ist: ‘Dieses Stadttheater wurde errichtet‘ oder ‘Die Aachener errichteten/weihten dieses Stadttheater‘. So bleiben als Dativobjekt Musagetae und choro. Musagetae ist ein griechischer Dativ und steht für den Musenanführer, also eine Umschreibung für Apollo. Damit sind die Musen schon indirekt genannt, direkt erwähnt werden sie auch in choro, einem weiteren Dativ, der für einen Reigen steht, ein Wort auf der Liste der aussterbenden Wörter. Dieser Reigen besteht nun aus den Bewohnerinnen (-adum als Genitiv Plural-Endung) des Helikon. Damit sind Apollo und die Musen metonymisch auf eine höchst humanistisch gebildete Weise umschrieben: Musagetae Heliconiadumque choro.

Diese Inschrift wurde für das Giebelfeld des Stadttheaters gewählt. Stadtarchivar Krämer erwähnt, man habe das schon „vorhandene Musagetae pieridumque choro nur in Musagetae Heliconiadumque choro verwandelt und gewählt hat“.6 Der Verfasser des Spruches ist nie überliefert worden und bis heute unbekannt geblieben.

Auf der Suche nach dem VerfasserFerdinand Franz Wallraf7 war der letzte Rektor der über vierhundert Jahre alten Kölner Universität gewesen, als die Franzosen am 28. April 1798 die Universität und drei Kölner Gymnasien schlossen. 1799 wurde er Professor für Geschichte und belles lettres an der ein Jahr zuvor am 21. November 1798 eingerichte-ten Centralschule in Köln. Der Unterricht in diesen Schönen Künsten fand in griechischer, lateinischer, deutscher und französischer Sprache statt.8 Gerade für seine Latein- und Geschichtskenntnisse wurde Wallraf gerühmt: „Durch seine bewundernswerte Belesenheit in den römischen Classikern, seine genaue Kenntnis der alten Steinschriften und die tiefe Auffassung des Geistes der Römersprache hatte er sich im Entziffern wie Anfertigen von Inschriften eine allgemein anerkannte Autorität verschafft.“9 So wurde Wallraf, der mit Anfragen nach Inschriften aus England, Frankreich und Italien überhäuft wurde10, nun auch von seiner Heimatstadt beauftragt, Napoleons und Josephines Besuch in Köln am 14. September

Musagetae Heliconiadumque choro

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Musagetae Heliconiadumque choro

1804 mit lateinischen Inschriften zu feiern. Zum Lobpreis gehörte das Gedicht Herculi Musagetae11 in sapphischen Strophen, das Wallraf mit 19 horazischen Similien (carm. 1,12,1-3; 4,5,34)12 für Napoleons Empfang in der Centralschule in den ehemals jesuitischen Gebäuden des Gymnasium Tricoronatum in der Marzellenstraße (in unmittelbarer Nähe zum Dom) verfasst hatte.13 Schon der Titel Herculi Musagetae zeigt, dass Napoleon die Apollo bestimmte Rolle übernahm, da er durch seinen Einsatz für Schule und Wissenschaft in Köln die Voraussetzungen für den Einzug der Musen geschaffen hatte.Dem Nachlass14 ist Wallrafs Vorstellung vom Empfang in der Centralschule zu entnehmen: Bei Napoleons Erscheinen sollten Glocken läuten, Trompeten erschallen und in einem Schild über dem ersten Eingangstor die Inschrift angebracht sein: Musis et publicae spei P.S. [pro salute] und Pater Patriae. Alternativ schlug Wallraf vor: Musis et vitae nutricibus (alternativ altricibus) und Musis salutis custodibus. Am Tor sollte Napoleon mit seinem Gefolge von Professoren empfangen werden, Lorbeerbäume sollten aufgestellt und die Pforte mit Efeu, Myrthen und Blumen geschmückt sein. Im mittleren Schild einer Pforte sollte in goldenen Buchsta-ben zu lesen sein: Have Hercules Musarum oder Have Musagetes. Auf einem Medaillon sollte das vierzeilige horazische Epigramm Quis Martem tunica tectum adamantina15 zu lesen sein. Auf dem zweiten Hof sollte auf einem Tisch ein als Apollo verkleideter Eleve stehen, der bei Annäherung des Konsuls herabsteigen und Napoleon Lorbeeren mit dem Gedicht Herculi Musagetae überreichen sollte. Chor, Orchester und So-listen an einer Kirchenseite durften nicht fehlen.16 Die Wahl dürfte auf Herkules gefallen sein, weil er in seiner Jugend im Gebrauch verschiedener Waffen, im Leierspiel und in den Wissenschaften von Cheiron und Amphitryon unterwiesen wurde. So erinnerte die in Köln schon 1798 heraufbeschworene Stärke des Herkules an Napoleon als Retter aus Not und Gefahr. Herkules’ umfassende Bildung ließ an Napoleon als Patron der Musen und als Stifter von Zivilisation und Kultur denken. In Rom war schon im 2. Jhd. v. Chr. eine aedes Herculis Musarum errichtet worden, 1801 erschien ein Gedicht Friedrich Schlegels mit dem Titel Hercules Musagetes, das mit dem Wunsch „und zum Garten der Musen / Wandelt herkulische Kraft noch die germanische Flur“ endete. Auch spielte wohl die Tugendhaftigkeit des am Scheideweg stehenden Herkules eine Rolle für die ersehnte moralische Qualität eines Herrschers. Die Wahl der sapphischen Strophe erinnert an Hor. carm. 1,12,25 (Dicam et Alciden), wo die Erwähnung des Herkules und das Gedicht überhaupt auf Augustus’ Ruhm hinausläuft. Sämtliche Strophen sind von Horaz inspiriert, speziell carm. 1,12; vor allem 4,2 und das carmen saeculare sowie 1,6 für das Medaillon.

Herculi Musagetae Ferdinand Franz Wallraf

Quem Virum aut Heroa lyra vel acri Tibia sumes celebrare Clio? Quem Deum, cujus movet omne Pindi Limen imago?

5 Herculis ritu sociale musis Numen accedit Bonapars et artes Evocat priscas Laribusque miscet Phoebus amicum,

Quo nihil maius meliusque terris 10 Fata donavere bonique divi, Nec dabunt, quamvis redeant in aurum Tempora priscum.

Arbiter pugnae cui Rhenus oras

aachener stadttheaterCXXXVIII

giebelfeld

Obtulit, per quem cecidere iusta 15 Morte centauri, cecidit tremendae Flamma chymerae. Laeta stet pubes edera virenti, Concinens festosque dies et urbis Publicum ludum - super impetrato 20 Caesare felix.

Iamque dum procedit, ‘io Triumphe’ Non semel dicemus, ‘io Triumphe’ Civitas omnis, dabimusque divis Thura benignis. 25 Sin Agrippinam videt aequus urbem, Caesarum felix opus ad paternum Flumen in longum meliusve semper Proroget aevum.

Ut Fides et Pax et Honor Pudorque 30 Priscus et neglecta redire Virtus Audeat, rerumque beata pleno Copia cornu.

Heic amet diu pater, heic vocanti Laetus intersit populo et relictum 35 Filiae nomen levet in prioris Omina lucis!

Für den Musenführer Hercules

Welchen Mann und Halbgott wählst, Clio, du zu preisen ihn auf Lyra, auf greller Flöte, welchen Gott, dass rührt dessen Bildnis jede Schwelle zum Pindus?

5 So wie Herkules naht vereint mit Musen unsre Majestät Bonaparte, weckt alte Künste, und Apoll gesellt ihn als Freund dann unter die Laren,

ihn, so groß und gut, wie ihn keinen gab der 10 Welt das Schicksal noch auch die Gunst der Götter, nie wird geben, kehrten zurück auch alte goldene Zeiten.

Als des Kampfes Richter bot ihm der Rhein sein Ufer, wegen ihm sind zurecht gefallen 15 die Kentauren und ist erstickt Chimäras sprühende Flamme.

Musagetae Heliconiadumque choro

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In dem Efeugrün steh die Jugend fröhlich, sie besing den Jubel der Tage und das frohe Tun der Stadt – der ersehnte Kaiser 20 macht sie ja glücklich.

Tritt er dann hervor, werden “Heil, Triumph, dir!” wir, das ganze Volk, mehrfach “Heil, Triumph, dir!” rufen und den gütigen Göttern duftend Weihrauch dann opfern.

25 Doch wenn gnädig er Agrippinas Stadt sieht, mag der Kaiser Werk er am Fluss der Väter glücklich weiterführen für lange, immer bessere Zeiten.

Glauben, Friede, Ehr, einst’ges Schamgefühl und 30 Tugend, lang verschmäht, mögen eine Rückkehr wagen wie der Reichtum, der mit dem Füllhorn Segen verbreitet.

Lange lieb’ als Vater er hier, er lebe froh in seinem rufenden Volk und geb dem 35 Namen, welcher blieb seiner Tochter, seine alte Bedeutung!

Über der Hauptpforte der Centralschule sollte eine Inschrift Napoleon Bonaparte und Josephine als Herkules und Minerva empfangen.17 Die Inschrift gibt einen Hinweis auf Wallrafs Motivation, einen so großen Aufwand für die Erstellung von Inschriften für Napoleon und Josephine zu betreiben.

Praesentibus Augustisquibus velut Herculi et Minervaeomnes Musae sororiaeque gratiae

novae lucis reversi decoris aevum debentlaetitiam, fidem, vota publ. suprema

D.D. schola centraliscaesaris indulgentia in academiam urbanam renascens.

Dem anwesenden Kaiserpaar,denen wie Herkules und Minerva

alle Musen und die schwesterlichen Graziendas Zeitalter eines neuen Lichtes zurückgekehrten Schmuckes verdanken,

widmet und weihtFreude, Treue und die höchsten Wünsche des Volkes die Centralschule,

die dank der Güte des Kaisers zu einer Akademie der Stadt wiederersteht.

Die Stadt Köln mag sich von dieser aufwändigen Inszenierung versprochen haben, dass Napoleon Bonaparte der Stadt, die eine Universität und drei Gymnasien verloren hatte und im Gegenzug nur die Centralschule erhalten hatte, die Errichtung eines Lyzeums gestatten würde, das zum Studium der Rechte oder der Medizin berechtigte. Trotz des enormen und durchdachten philologischen Engagement Wallrafs

Musagetae Heliconiadumque choro

aachener stadttheaterCXL

giebelfeld

erhielt Köln für die noch 1804 aufgelöste Centralschule das Lyzeum nicht, allerdings eine Sekundärschule zweiten Grades, an der neben Wallraf 1806 auch Friedrich Schlegel als zweiter Professor der Schönen Künste wirken sollte. Doch der Wunsch, dass Köln die ehemalige Universität zurückgegeben würde (in academiam urbanam renascens), erfüllte sich weder für Wallraf noch für die nächsten Generationen. Die neue Universität in Köln wurde erst 1919 gegründet. Napoleon erreichte Köln am 13. September um 20.00 Uhr, besichtigte die Centralschule, die Verteidigungs-anlagen und den Kölner Hafen am 14. September und verließ am 17. September die Stadt in Richtung Bonn und Koblenz.

Ferdinand Franz Wallraf als Verfasser der Inschrift am Aachener Stadttheater?Zurück nach Aachen: Könnte Wallraf der Verfasser des Giebelfeld-spruches sein? Ferdinand Franz Wallraf hatte gute Kontakte nach Aachen. Marc Antoine Berdolet, Aachens erster Bischof, hatte am 3. Februar 1804 erreicht, dass Wallraf die Propstei in Köln als Wohnung überlassen wurde. Für eine Grabplatte für das Grab Karls des Großen hatte Wallraf bereits eine Inschrift erstellt.18 Präfekt Ladoucette hatte 1809 von Wallraf eine Inschrift für das Grab des verstorbenen Bischofs Berdolet erbeten und erhalten. Für den 15. Mai 1815 hatte Wallraf, inzwischen in einem vorgerückten Alter, eine Einladung zur Aachener Huldigungsfeier für Preußens Krone erhalten, der er gerne nachgekommen war. Friedrich Wilhelm III., der preußische König, zeichnete Wallraf am 11. November 1818 mit dem Rote-Adler-Orden dritter Klasse aus. Dass Wallraf auch im hohen Alter noch Inschriften verfasste, zeigt schon ein Chronogramm, das Wallraf im Frühjahr 1822 für den Kölner Domkapitular Brouhung für dessen Jubelfeier auf sein Goldenes Priesterjubiläum erstellte. Im selben Jahr erfolgte am 16. November die Grundsteinlegung des Aachener Stadttheaters. Kurz bevor Wallraf im folgenden Jahr am 30. November einen Schlaganfall erlitt, hatte er noch Inschriften für die Vermählungsfeier des Kronprinzen von Preußen für den 29. November 1823 verfasst. Am 18. März 1824 starb der große Sohn Kölns.

Fassen wir zusammen: Wallraf war die Redeweise eines Musa-geta vertraut, er war der berühmteste Inschriftenschreiber des Rheinlandes, hatte Kontakte nach Aachen und schrieb noch 1823 Inschriften für das preußische Königshaus. Wallraf konnte die Fertigstellung und Eröffnung des Aachener Theaters am 15. Mai 1825 nicht mehr erleben. Vieles spricht dafür, dass Ferdinand Franz Wallraf der Verfasser der Inschrift gewesen ist. Hat man auf seinen Vorschlag Musagetae pieridumque choro zurückgegriffen und verändert zum heute noch zu lesenden Musagetae Heliconiadumque choro?19

Drei Worte, hinter denen sich eine spannende Literatur- und Kulturgeschichte verbirgt. Drei Worte, die zum Nachdenken einladen. Aachen hat mehr als Dom und Rathaus zu bieten und lässt interessante Entdeckungen zu, wenn man die lateinische Sprache als Schlüssel nutzt. Der alte Öcher und sein Nachbar Flaach haben es vielleicht schon geahnt.20

Musagetae Heliconiadumque choro

Ferdinand Franz Wallraf, 1824gemalt von Egidius Mengelberg,

Wallraf-Richartz-Museum

Ars longA vitA brevA - der dArstellenden kunst

Auch die Rückseite des Stadttheaters bot einst ein Programm.

CXL�

1 Die Begarden waren eine Gemeinschaft gläubiger Laien, die sich seit dem 13. Jahrhundert der Krankenpflege widmeten. Das Aachener Alexianerkloster am Alexianergraben, der älteste Standort der Alexianerbrüder in Deutschland, nahm bis in die 90er Jahre auch langjährig geistig und körperlich behinderte Menschen auf. In der Verlängerung des Alexianergrabens befindet sich am Das Alexianerkloster befindet sich etwa 200 weiter am Theaterplatz das Aachener Stadttheater. 2 Aufzeichnungen von Friedrich Ludwig Krämer (Stadtarchivar in Aachen bis 1862), S.28 (Stadtarchiv Aachen, Hs. 371). 3 Wilhelm Hofmann, Die städtebauliche Entwicklung der Badebezirke in Aachen und Burtscheid 1656-1950, in: Aachener Geschichtsverein (Hg.), Das alte Aachen. Seine Zerstörung und sein Wiederaufbau = Aachener Beiträge für Baugeschichte und Heimatkunst, Bd.3. Aachen 1953, 180-248, hier 200. 4 Aufzeichnungen von Friedrich Ludwig Krämer (Stadtarchivar in Aachen bis 1862), S.10 (Stadtarchiv Aachen, Hs. 371). 5 Der Oberbürgermeister ist nicht genau zu ermitteln. Erster Oberbürgermeister Aachens in der preußischen Zeit war Cornelius de Guaita. Nach seinem Tod 1820 lenkten Matthias Solders und Wilhelm Daniels bis 1826 als beigeordnete Bürgermeister die Geschicke der Stadt. 6 Aufzeichnungen von Friedrich Ludwig Krämer (Stadtarchivar in Aachen bis 1862), S.10 (Stadtarchiv Aachen, Hs. 371).7 Ferdinand Franz Wallraf wurde am 20. Juli 1748 in Köln als Sohn eines Schneiders, der für die Kölner Dom herren schneiderte, und der Anna Elisabeth Nettersheim, einer Verwandten des Heinrich Cornelius Agrippa von Nettershein, eines Mitarbeiters des Kaisers Maximilian I., geboren. Ferdinand Franz Wallraf studierte Phi losophie , römische Sprachkunde und Geschichte, seine Interessen galten besonders der Kunst. Weitere Studien in Theologie und Medizin folgten. Er wurde 1773 Priester und 1788 Doktor der Medizin. Wallraf war seit 1786 Kanoniker an St. Maria im Kapitol und seit 1796 an St. Aposteln. Als die Franzosen 1795 Köln übernahmen, verweigerte er den Eid („Hass dem Königtum“). 8 Franz Joseph Bianco, Versuch einer Geschichte der ehemaligen Universität und der Gymnasien der Stadt Köln, Köln 1833, 104. 9 Leonard Ennen, Zeitbilder aus der neuern Geschichte der Stadt Köln, mit besonderer Beziehung auf Ferdinand Franz Wallraf, Köln 1857, 220 mit Rückgriff auf Wilhelm Smets, Ferdinand Franz Wallraf: ein bio graphisch-panegyrischer Versuch. Köln 1825,12: „seine an das seltene gränzende Belesenheit in den römischen Klassikern … große Fertigkeit im römischen Lapidarstyle“. Wilhelm Smets würdigt Wallraf in seinem Nach- ruf: „Seinen Epigrammen, deren mehrere bekannt sind, fehlt es nicht an Witz und Stachel, und vielleicht mit einiger fleißiger Übung hätte er als deutscher Dichter nicht als der geringeren einer glänzen können; lateinisch schrieb er wahrhaft classisch, und genoß in jeder Hinsicht die Verehrung einheimischer und fremder Gelehrten.“10 Genannt seien Ladoucette als Präfekt des Roer-Départements, Staatskanzler Talleyrand und Fontanes, der Großmeister der Pariser Universität (Smets 1825, 12). 11 Seit der Renaissance haben Künstler durch Allegorien oder Rückgriffe auf den Mythos ihre Ideen verdeutlicht. Stand Minerva für Künste im Frieden, symbolisierten Mars und Herkules Krieg und Stärke. Schon in der Antike wurde neben Apollo auch Herkules als Musenanführer gefeiert. So war der 30. Juni der Tag, an dem Hercules Musarum gefeiert wurde. Weitere Informationen bietet Ovid, fast. 6,797. Tatsächlich boten sich Her- kules’ Taten an: In der Revolutionszeit stellte man auf Säulen, Gemälden oder Münzen die Freiheit (Liberté) im Kampf gegen die Hydra des Despotismus dar, diese Funktion übernahm Herkules als männliche Allegorie. Dass Napoleon mit Herkules identifiziert wurde, verwundert nicht. 12 Das Autograph befand sich im Historischen Archiv der Stadt Köln: Bestand Wallraf 1105, 80, fol. 9. Die Similien stammten aus Horazens vier Odenbüchern und dem carmen saeculare. 13 HAdSK: Bestand 1105 Nr.80, fol. 21 u. 69, in verkürzter Fassung gedruckt: F.F. Wallraf, Description des emblêmes, inscriptions et monumens allégoriques qui decoroient les places et les édifices publics de la ville de Cologne, a l’occasion du séjour de leurs majestés impériales Napoléon et Josephine. Du 24 au 29 Fructidor, an XII., pag. 19f. (USB Köln, RhG3715). 14 Wallrafs Nachlass habe ich über einen Zeitraum von mehreren Jahren im Historischen Archiv der Stadt Köln eingesehen. Die Inventio für eine Bearbeitung der Gedichte Wallrafs bzw. ihre Abschrift, d.h. der von Wallraf mit Tinte beschriebenen autographischen Blätter, war im Oktober 2008 abgeschlossen, im März 2009 stürzte das Archiv zusammen.

Musagetae Heliconiadumque choro

aachener stadttheaterCXL��

giebelfeld

15 Text in: HAdSK 1105, 80, fol. 1.16 HAdSK 1105, 80, fol. 1-3.17 HAdSK, Bestand 1105, Nr. 80, fol.69. 18 Eine Besprechung und eine Abbildung der Inschrift auf dem Wallrafschen Autographen in: Pro Lingua Latina 10 (2009), 158-160. 19 Erinnert sei an die Aufzeichnungen von Friedrich Ludwig Krämer (Stadtarchivar in Aachen bis 1862), S.10 (Stadtarchiv Aachen, Hs. 371).20 Natürlich ist auch die Darstellung des Apollo – oder eines Genius – auf dem Giebelfeld eine Besprechung wert, die sich im Zusammenhang mit einer Vorstellung der entsprechenden Metamorphose Ovids über Apollo und Daphne in einer der nächsten Ausgaben der PLL anbietet. Auch hier fällt eine Vorlage Wallrafs ins Auge, der für Bonapartes Besuch in Köln einen Als Apollo verkleideten Scüler von einem Tisch herabsteigen und Bonaparte einen Lorbeerkranz überreichen ließ.

Das Giebelfeld des Aachener Stadttheaters in vergangenen Zeiten (1900)

Musagetae Heliconiadumque choro

Nationaltheater in Lissaboneingeweiht 1864

Näheres in PLL 15

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