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Musik und Klangkultur 10 Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse - Perspektiven - Stile Bearbeitet von Daniel Siebert 1. Auflage 2014. Taschenbuch. XII, 228 S. Paperback ISBN 978 3 8376 2905 7 Format (B x L): 14,8 x 22,5 cm Gewicht: 368 g Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikwissenschaft Allgemein > Musikpsychologie, Musiksoziologie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

Musik im Zeitalter der Globalisierung - ReadingSample · 2018. 3. 22. · Musik und Klangkultur 10 Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse - Perspektiven - Stile Bearbeitet

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  • Musik und Klangkultur 10

    Musik im Zeitalter der Globalisierung

    Prozesse - Perspektiven - Stile

    Bearbeitet vonDaniel Siebert

    1. Auflage 2014. Taschenbuch. XII, 228 S. PaperbackISBN 978 3 8376 2905 7

    Format (B x L): 14,8 x 22,5 cmGewicht: 368 g

    Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > MusikwissenschaftAllgemein > Musikpsychologie, Musiksoziologie

    schnell und portofrei erhältlich bei

    Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

    als 8 Millionen Produkte.

    http://www.beck-shop.de/Siebert-Musik-Zeitalter-Globalisierung/productview.aspx?product=14407983&utm_source=pdf&utm_medium=clickthru_lp&utm_campaign=pdf_14407983&campaign=pdf/14407983http://www.beck-shop.de/trefferliste.aspx?toc=8459http://www.beck-shop.de/trefferliste.aspx?toc=8459

  • Aus:

    Daniel Siebert

    Musik im Zeitalter der GlobalisierungProzesse – Perspektiven – Stile

    Dezember 2014, 228 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2905-7

    Der Begriff Globalisierung ist sowohl populär als auch wissenschaftlich interdiszipli-när anwendbar und gewissermaßen ein »Zauberwort« für alle gesellschaftlichen Ver-änderungen der letzten 50 Jahre.Doch wie wird Globalisierung musikalisch erfahrbar und was ist im gegenwärtigen»Zeitalter der Globalisierung« das signifikant »Neue« bezogen auf die Entstehung kul-tureller Hybridformen? Anhand dreier musikalischer Beispiele unterschiedlicher Kon-texte, Szenen und Stilhöhen geht Daniel Siebert einerseits den Differenzen nach, diesich in den Auswirkungen der Globalisierung abzeichnen, und arbeitet andererseitsszene- und subkulturübergreifende Mechanismen der Globalisierung heraus.

    Daniel Siebert, Musikwissenschaftler und Soziologe, hat an der Universität zu Köln imFach Musikwissenschaft promoviert.

    Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2905-7

    © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

  • Inhalt

    Vorwort | I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“ | 1 Definitionen der Globalisierung | 12 2 Historische Verortung der Globalisierung | 14 3 Das „Zeitalter der Globalisierung“ | 16 4 Musik im Zeitalter der Globalisierung | 18 5 Gesellschaftliche Verortung der Globalisierung | 22 6 Modelle der kulturellen Globalisierung | 23 7 Forschungsstand: Musik und Globalisierung | 25 8 Gliederung, Relevanzen und Fragestellung | 28

    8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 31 8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 32 8.3 Informell-kulturelle Reflexivität | 35 8.4 Prozesse der Globalisierung | 37 8.5 Musikalische Fallbeispiele | 37

    II Stockhausens Weltmusik | 1 Stockhausens Texte zur Weltmusik | 45 2 TELEMUSIK und HYMNEN | 56 3 Musikalische Analyse: HYMNEN | 65

    3.1 Anfang und „Internationale“ | 66 3.2 „Deutsches Zentrum“ | 69

  • 3.3 UdSSR und USA | 72 3.4 „Hymunion“ und Schluss | 77

    4 Der transnationale Gedanke in HYMNEN | 79 5 Global village und Stockhausens Weltmusikkonzept

    in HYMNEN | 85 III Jamaikanischer Ska im globalen Kontext | 1 Jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik | 97

    1.1 Die afrikanische Traditionslinie | 97 1.2 Mento, R ’n’ B und Soundsystems | 99 1.3 Jamaikanischer Ska | 104 1.4 Rocksteady und Reggae | 113

    2 Adaptionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der Skinheads in Großbritannien | 126 2.1 Two-tone | 135

    3 Die Entbettung des Ska in Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und transnationaler Identität | 138

    IV Traditionen der world music | 1 World music: konstruierte Traditionen einer globalen Welt? | 146

    1.1 Paul Simon | 149 2 Afrikanische Populärmusik als hybride world music | 161

    2.1 S. E. Rogie | 162 2.2 Orchestra Baobab | 167 2.3 Baaba Maal | 169

    3 World music im Spannungsfeld der Globalisierungsdebatte: Heterogenisierung versus Homogenisierung der Musikkultur | 171

    4 Die globale Netzwerkgesellschaft: Neue Möglichkeiten für die world music im Zeitalter der Globalisierung? | 176 4.1 Vampire Weekend | 179

    V Gemeinsamkeiten und Differenzen

    der drei Fallbeispiele | 1 Modelle der kulturellen Globalisierung | 194 2 Perspektiven und Prozesse im Zeitalter der Globalisierung | 197

    2.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 197

  • 2.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 199 2.3 Informell-kulturelle Reflexivität | 199 2.4 Prozesse der Globalisierung | 200

    3 Fazit | 202

    Bibliographische Angaben | Abkürzungsverzeichnis | 207 Diskographie | 207 Filmographie | 208 Internet-Seiten | 208 Musikalien | 208 Verwendete Literatur | 209

  • Vorwort

    Als im Jahr 2007 die Idee dieser Arbeit entstand, war der Ansatz, Globali-sierungstheorien mit musikalischen Fallbeispielen zu verknüpfen, ein ver-gleichsweise neuer Gegenstand der musikwissenschaftlichen Forschung. In den folgenden Jahren nahmen die Publikationen zu diesem Thema jedoch stetig zu, so dass man mittlerweile von einer recht guten Literaturlage spre-chen kann, obwohl nicht alle Thematiken in diesem Zusammenhang er-schlossen wurden. Bildeten 2007 Werke von Max Peter Baumann, Philip Bohlman oder Veit Erlmann die musikethnologische Ausnahme, so ent-standen angefangen mit dem Band Musik und Globalisierung, herausgege-ben von Christian Utz, weitere Publikationen – zum Beispiel von Susanne Binas-Preisendörfer oder Bob White –, welche versuchen, Musik und Glo-balisierung analytisch zu verbinden. In diesen Tagen erscheint auch das neue Buch von Christian Utz, Komponieren im Kontext der Globalisierung, in dem Utz Konsequenzen und Schwierigkeiten der Reflexivität kultureller Globalisierung für die Kunstmusik im 20. und 21. Jahrhundert diskutiert und zudem systematische Perspektiven für eine globale Musikhistoriogra-phie und kompositorische Praxis konzipiert. Die stetig anwachsende Litera-tur zum Thema Musik und Globalisierung bestärkte mich darin, auf dem richtigen Weg zu sein: Anscheinend hatte ich hier einen wissenschaftlichen Gegenstand aufgegriffen, der viele Kollegen1 beschäftigt und offenbar den Nerv der Zeit trifft; zahlreiche Gespräche und Diskussionen auf Symposien und Kongressen bestätigten diese Annahme.

    1 In dieser Arbeit sind bei männlichen Funktionsbezeichnungen in der Regel im-

    mer auch die weiblichen Formen mitgemeint.

  • 10 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    Gegen Ende meines Studiums beschäftigte ich mich intensiv mit Ulrich Becks populärem und gesellschaftstheoretischem Ansatz einer „Zweiten Moderne“. Es drängte sich die Frage auf, ob es denn hierzu musikalische Beispiele gäbe, die diese „Zweite Moderne“ repräsentieren. Schnell wurde allerdings klar, dass Becks theoretischer Ansatz – trotz sporadischer Versu-che von Heinrich Klotz2 Mitte der 90er Jahre – sich nicht dazu eignete, ei-nen klaren Kriterienkatalog zu erarbeiten, an denen sich musikalische Bei-spiele analysieren ließen. Ein Baustein in Becks Theorie ist die Globalisie-rung. Diese nun einzeln zu betrachten, erschien mir – da als Begriff um-fangreich und ambivalent genug – die logische Konsequenz aus meinen Studien zur „Zweiten Moderne“. Meine anfängliche Idee war es, detailliert die Frage zu untersuchen, ob und wie sich das von den Globalisierungsthe-oretikern definierte „Zeitalter der Globalisierung“ in der Musik darstellen lässt. Dafür erstellte ich zunächst einen Überblick über die hierzu relevan-ten Theorien und reduzierte diese dann auf wesentliche Kriterien. Die nächste Aufgabe bestand darin, musikalische Beispiele zu generieren, die eine Übersicht über verschiedene musikalische Perspektiven und auch Gen-res geben können. Dass dieses aus der Gegebenheit der allumfassenden musikalischen Praxis und Geschichte natürlich nicht möglich ist, war mir bewusst; die vorliegende Arbeit möchte nicht den Anspruch erheben, die herausgestellten Globalisierungstheorien tatsächlich zu beweisen. Der Er-kenntnisgewinn liegt vielmehr im Detail: Der Versuch, eine Verbindung zwischen Musik und Globalisierung an Fallbeispielen analytisch zu über-prüfen und sich hierbei nicht von bereits vorhandenen Grenzen innerhalb der jeweiligen Disziplinen einschränken zu lassen, trägt innovativ dazu bei, die wachsende Nachfrage nach dem Themenkomplex zu befriedigen und zu ergänzen.

    Für das Gelingen der vorliegenden Arbeit gilt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Frank Hentschel, der sie betreut und gefördert hat, und den Zweit- beziehungsweise Drittgutachtern Prof. Dr. Christoph von Blumröder und Prof. Dr. Michael Custodis. Zu guter Letzt möchte ich ganz besonders mei-ner Familie danken, die mich in all der Zeit unterstützt und ertragen hat. Meinen beiden Kindern Lionel und Marie, die während des Verfassens der Dissertation zur Welt kamen, ist dieses Buch gewidmet.

    2 Heinrich Klotz (Hrsg.), Die zweite Moderne: eine Diagnose der Kunst der Ge-

    genwart, München 1996.

  • I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“

    Seit ungefähr 50 Jahren ist der Begriff Globalisierung in der Gesellschaft verankert. Die ständige Konfrontation in nahezu allen öffentlichen und pri-vaten Lebensbereichen vom Arbeitsplatz über das Freizeitvergnügen bis hin in die Haushalte hat ein Bewusstsein für globale Zusammenhänge geschaf-fen. Die Auswirkungen der Globalisierung sind im Alltagsleben mittlerwei-le so präsent, dass sich die Frage, wie sich diese analog in der Musik nie-derschlagen, geradezu aufdrängt. Denn Globalisierung hat definitiv zu einer Veränderung der kulturellen Landschaften geführt, von denen die Musik di-rekt oder indirekt betroffen ist.

    „If all historical cultures have always been hybrid – well, what’s new?“1, fragt John Tomlinson gegen Ende seines Buches Globalization and Culture. Diese Frage stellt sich durchaus als berechtigt dar. Selbstverständ-lich bewegten sich alle Kulturen und kulturellen Erzeugnisse nie in herme-tischen Räumen und waren zu allen Zeiten gesellschaftlichen Strömungen und Moden ausgesetzt, die sich aus verschiedenen ethnischen, politischen, regionalen und nationalen, ja selbst klimatischen Überlagerungen zusam-mensetzten. Um der Frage Tomlinsons nachzugehen, bietet das wissen-schaftliche Gebiet der Kulturtransferforschung einen guten Überblick. Für Hans-Jürgen Lüsenbrink geht die Formulierung kultureller Hybridität auf den Begriff „métissage“ aus dem 16. Jahrhundert zurück.2 Die gegenwärti-ge Zeitepoche stellt für ihn eine besondere Form des Kulturtransfers dar: 1 John Tomlinson, Globalization and Culture, Cambridge 1999, S. 144.

    2 Hans-Jürgen Lüsenbrink, „Kulturtransfer – neuere Forschungsansätze zu einem

    interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften“, in: Helga Mittelbauer

  • 12 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    „Kulturtransferprozesse im definierten Sinn sind genuine Bestandteile von Kultur-

    kontakten, die von ganz unterschiedlichen politischen Kontexten und sehr verschie-

    denen sozio-kulturellen Konstellationen gekennzeichnet sein können. Kulturkontak-

    te entstehen in der Tat in so unterschiedlichen Prozessen wie der kolonialen Erobe-

    rung, der Immigration und dem Tourismus. Sie bilden gleichfalls die kulturelle Di-

    mension wirtschaftlicher und politischer Austauschbeziehungen, die durch die der-

    zeitige neue Phase der Globalisierung eine – im Verhältnis zu den früheren Expansi-

    onsphasen der Globalisierung im 16.-18. und an der Wende vom 19. zum 20. Jahr-

    hundert – völlig neue Intensität erfahren haben.“3

    Beide Zitate, Tomlinsons ebenso wie Lüsenbrinks, beschreiben gewisser-maßen die Eckpfeiler der vorliegenden Arbeit: Globalisierung ist (1.) die Voraussetzung für die Entstehung kultureller Hybridformen und hat (2.) in ihrer gegenwärtigen Phase eine neue Dimension an Intensität erreicht.

    1 DEFINITIONEN DER GLOBALISIERUNG Der Begriff Globalisierung ist sowohl populär als auch wissenschaftlich in-terdisziplinär anwendbar und somit ein „Zauberwort“ für alle sich abbil-denden globalen (und auch lokalen) Veränderungen. Eine einheitliche De-finition des Terminus Globalisierung erscheint zunächst problematisch, da jede Disziplin der Gesellschaftswissenschaften offenbar einen eigenen Glo-balisierungsbegriff verwendet.4 Selbst innerhalb der Soziologie gibt es an-dauernde Debatten über Art und Verwendung des Begriffes und unzählige Literatur und Systematiken über dessen Geschichte.5 Ulrich Beck unterteilt das Begriffsfeld sogar noch in Unterkategorien wie Globalismus, Globalität und Globalisierung, um die verschiedenen Schwerpunkte und Ebenen einer

    und Katharina Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um

    1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne 22), Wien 2005, S. 23-41.

    3 Ebd., S. 29.

    4 Vgl. Jan Nederveen-Pieterse, „Der Melange-Effekt“, in: Ulrich Beck (Hrsg.),

    Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87-124, hier S. 87.

    5 Einen guten Überblick hierfür findet man zum Beispiel in Jörg Dürrschmidt,

    Globalisierung, Bielefeld 2002, S. 7.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 13

    sich global verändernden Gesellschaft besser zu beschreiben.6 David Held hingegen versucht die Fülle an wissenschaftlicher Literatur über Globalisie-rung in verschiedene Geisteshaltungen zu differenzieren. Der Autor unter-scheidet hierbei zwischen „hyperglobalists“, „sceptics“ und „transfor-mationalists“7, welchen er jeweils verschiedene Attribute und Einstellungen zu globalen Fragen zuordnet. Zusammengefasst definiert er Globalisierung als „process (or set of processes) which embodies a transformation in the spatial organi-

    zation of social relations and transactions – assessed in terms of their extensity, in-

    tensity, velocity and impact – generating transcontinental or interregional flows and

    networks of activity, interaction, and the exercise of power “8

    .

    Entscheidend für das Aufkommen des Begriffes Globalisierung ist wohl das in den letzten Jahrzehnten immer mehr entstandene Bewusstsein einer begrenzten Welt, in der „keine Externalisierung von Handlungsfolgen“9 mehr möglich scheint. Malcolm Waters fasst dies in seiner Definition von Globalisierung zusammen, indem er diese beschreibt als „a social process in which the constraints of geography on economic, political, so-

    cial and cultural arrangements recede, in which people become increasingly aware

    that they are receding and in which people act accordingly“10

    .

    Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson formulieren im Buch Ge-schichte der Globalisierung weitere Gemeinplätze im Globalisierungs-diskurs; die Veränderungen der Gesellschaft werden hier in drei globale Merkmale unterteilt: (1.) Die Globalisierung stellt durch die Verschiebung der politisch-ökonomischen Machtverhältnisse zwischen Staaten und Märk-ten die Bedeutung des Nationalstaats in Frage. (2.) Die Globalisierung führt

    6 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt a. M. 1997, S. 26-28.

    7 David Held, Anthony McGrew, David Goldblatt und Jonathan Perraton, Global

    Transformations, Cambridge 1999, S. 10.

    8 Ebd., S. 16.

    9 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, S. 87.

    10 Malcolm Waters, Globalization (zuerst: Oxon 1995), 2. Auflage, Oxon 2001,

    S. 5.

  • 14 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    durch technische Innovationen zu Veränderungen der Kategorien von Raum und Zeit und zu einer neuen Ordnung sozialer Beziehungen durch technische Netzwerke. Und (3.): Die Globalisierung hat durch die Errun-genschaften der Kommunikationstechnologie und deren globaler Reichwei-te und Informationsaustausch massiven Einfluss auf den kulturellen Wan-del.11 Wichtig sind hierbei vor allem das gleichzeitige Auftreten und die Verflechtungen dieser drei Aspekte der Globalisierung, da jeder einzelne noch keine Konturen einer neuen Zeitepoche darstellt.

    2 HISTORISCHE VERORTUNG DER GLOBALISIERUNG Generell wird der historischen Verortung der Globalisierung in der Litera-tur viel Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl der Begriff selbst in der zwei-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmals in der Form gebraucht und seine Popularität in die 1990er Jahre datiert wird,12 versuchen einige Autoren Kriterien der Globalisierung in einer „global history“ oder „world history“ darzustellen. Anthony G. Hopkins zum Beispiel unterscheidet vier histori-sche Phasen der Globalisierung: archaic-globalization, proto-globalization, modern-globalization und post-colonial-globalization.13 „Archaic“ meint die historische Periode der Völkerwanderungen und den Bedeutungswachs-tum der Städte, „proto“ die Umgestaltung der Staatssysteme und den ex-pandierenden Finanzfluss zwischen 1600 und 1800, „modern“ bezeichnet die Zeit des Aufstieges des Nationalstaats und die Ausweitung der Industri-alisierung nach 1800 und mit „post-colonial“ ist die gegenwärtige Zeitepo-che ab 1950 gemeint.14 Ein zeitliches Einsetzen von Globalisierungsvor-

    11 Vgl. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisie-

    rung, München 2003, S. 11-13.

    12 Vgl. Anthony G. Hopkins, „The History of Globalization“, in: ders. (Hrsg.),

    Globalization in World History, London 2002, S. 11-46, hier S. 37; Osterham-

    mel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 18.

    13 Anthony G. Hopkins, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Globalization in World

    History, S. 1-10, hier S. 3-7.

    14 Bei David Held heißen diese vier Kategorien „premodern“-, „early modern“-,

    „modern“- und „contemporary“-period of globalization, Held et al., Global

    Transformations, S. 26. Ein ähnliches Stufenmodell entwickelte auch Roland

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 15

    gängen ist demnach nicht genau bestimmbar beziehungsweise kann man hier nicht von einem genauen „Einsetzen“ sprechen. Es lassen sich mögli-cherweise aber einige historische „Eckpunkte“ der Globalisierung ausma-chen: Ein entscheidender Globalisierungsanlauf wird um 1500 datiert; mit dem Aufbau der portugiesischen und spanischen Kolonialreiche entstanden hier irreversible globale Vernetzungen.15 Im 19. Jahrhundert führte dann vor allem die politische und infrastrukturelle globale Reichweite des auf-blühenden British Empire zu einer Verstärkung des Welthandels und zu ei-ner größeren multikulturellen Vielfalt.16 Es wird zudem von verschiedenen Autoren versucht, die Globalisierungsgeschichte durch globale Ereignisse wie die erste Weltumsegelung, die Einführung der Weltzeit, die bemannte Raumfahrt oder die globale nukleare Bedrohung nach dem Zweiten Welt-krieg historisch zu verankern.17

    Robertson, vgl. Roland Robertson, Globalization: Social theory and global Cul-

    ture, London 1992, S. 57 ff.

    15 Vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 25. Hieraus

    leitet sich auch der oben genannte Begriff „Métissage“ ab.

    16 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 31; Martin Albrow, Abschied

    vom Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1998, S. 231; Roland Robertson, „Glokali-

    sierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“, in: Beck (Hrsg.),

    Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-220, hier S. 210.

    17 Bruce Mazlish, „An Introduction to Global History“, in: ders. und Ralph

    Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, Boulder 1993, S. 1-24, hier S.

    1 f. Ralf Dahrendorf zum Beispiel bezeichnet die Mondlandung am 20. Juli

    1969 als Beginn der Globalisierung, vgl. Ralf Dahrendorf, „Anmerkungen zur

    Globalisierung“, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 41-54,

    hier S. 41. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sehen in der Einführung

    des „Earth-Day“ im Jahre 1970 den Beginn eines globalen Bewusstseins, vgl.

    Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 105.

  • 16 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    3 DAS „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ Viele wissenschaftliche Autoren sehen den Ursprung eines „Zeitalters der Globalisierung“ ab Anfang des 20. Jahrhunderts.18 Dieser Terminus leitet sich aus Martin Albrows Begriff „Global Age“19 ab und dient im Folgenden zur Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen ab 1950. Die zwei-te Hälfte des 20. Jahrhunderts ist besonders bedeutsam, weil hier erstmals ein gesellschaftliches globales Bewusstsein entstand: Die Anzahl der nach 1950 veröffentlichten Publikationen über globale Komplexität und deren Wechselwirkungen erhöhte sich signifikant, und die Versuche, eine „global history“ zu formulieren, nahmen massiv zu;20 auch wurden die in den 1960er Jahren aufkommenden Debatten über Entwicklungspolitik, Kon-sumgesellschaft und Risikogesellschaft alle in einem globalen Kontext ge-führt.21 Hieraus entwickelten sich die theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Es gibt demzufolge eine globale, institutionelle und kultu-relle Ordnung, welche das System der Nationalstaaten und die Identität je-des Einzelnen prägt und beeinflusst. Gemeint sind hiermit vor allem gleiche

    18 Vgl. Robertson, Globalization, S. 179; Osterhammel und Petersson, Geschichte

    der Globalisierung, S. 63 ff.; Klaus Müller, Globalisierung, Bonn 2002, S. 8;

    Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 84.

    19 Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Der Titel der englischen Originalausgabe

    lautet The Global Age. State and Society Beyond Modernity.

    20 Vgl. Robertson, Globalization, S. 9 f. Der Ursprung einer „Weltgeschichte“ lässt

    sich allerdings in das Zeitfenster zwischen 1890 und 1914 datieren. Vor allem

    Hans Ferdinand Helmots Weltgeschichte von 1899 legte hier die Grundvoraus-

    setzungen einer neuen theoretischen Perspektive der Weltgeschichtsschreibung,

    vgl. Matthias Middell, „Kulturtransfer und Weltgeschichte“, in: Mittelbauer,

    Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume, S. 43-73.

    21 Die Einführung der Begriffe „Erste“, „Zweite“ und „Dritte Welt“ führte zum

    Beispiel zu der gängigen Aufteilung des Globusses in politische Blöcke, vgl.

    Stuart Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“ [1992], in: ders., Rassismus

    und kulturelle Identität (= Ausgewählte Schriften 2), hrsg. und übers. von Ulrich

    Mehlem, Dorothee Bohle, Joachim Gutsche, Matthias Oberg und Dominik

    Schrage, Hamburg 1994, S. 180-222, hier S. 198 f.; Robertson, Globalization, S.

    59; Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 131; Osterhammel und Petersson,

    Geschichte der Globalisierung, S. 86-87.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 17

    globale Bildungs- und Wissenschaftsideale sowie der globale Anspruch auf medizinische Grundversorgung, Infrastruktur, Hochkultur etc.22

    Diese „Tendenz einer kulturellen Unipolarität“23 wurde erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Einfluss der europäischen Kolonial-mächte – und hier im Besonderen des Vereinigten Königreiches als erster moderner Großmacht – sichtbar. Jürgen Osterhammel und Niels P. Pe-tersson beschreiben, dass viele Nationen dem Vereinigten Königreich kul-turell wie ökonomisch nacheiferten. Die Anpassung war wohl grundsätzlich nicht erzwungen, sondern der Attraktivität des westlichen, in diesem Falle britischen, Wohlstandes geschuldet.24 Wie Malcolm Waters damit zusam-menhängend analysiert, entstand hier eine homogenisierte, globale, größ-tenteils westlich geprägte Hochkultur. Die globale Verbreitung von stan-dardisierten Opernrepertoires, Literatur- und Wissenschaftsapparaten war nach Waters insbesondere eine Folge der schnelleren Transportmöglichkei-ten und des raschen Ausbaus der Infrastruktur in jener Zeit.25

    Eine globale Weltgesellschaft, wie sie seit ungefähr 1950 auszumachen ist, besitzt nun keinen zentralen Akteur mehr; einzelne Akteure stehen hier in unmittelbarer Konkurrenz und sorgen somit für eine kulturelle Vielfalt.26 Ulrich Beck sieht hieran ein neues Globalisierungsmerkmal: „Globalisierung meint also auch: Nicht-Weltstaat. Genauer: Weltgesellschaft ohne

    Weltstaat und ohne Weltregierung. Es breitet sich ein global desorganisierter Kapita-

    lismus aus. Denn es gibt keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime

    – weder ökonomisch noch politisch.“27

    Die Weltgesellschaft beschreibt ein politisch-ökonomisch transnationales Netzwerk, welches die globalen, kulturellen Veränderungen bestimmt. Der

    22 Vgl. John W. Meyer, John Boli, George M. Thomas und Francisco O. Ramirez,

    „Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, in: John W. Meyer, Weltkultur.

    Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von Georg Krücken,

    Frankfurt a. M. 2005, S. 85-132, hier S. 91-94.

    23 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 59.

    24 Vgl. ebd., S. 58 ff.

    25 Vgl. Waters, Globalization, S. 172.

    26 Vgl. ebd., S. 143.

    27 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 32, Hervorhebungen im Original.

  • 18 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    kulturelle Relevanzverlust der Nationalstaaten, ihre politische Neuformie-rung in transnationalen Bündnissen, der gleichzeitige Bedeutungsgewinn der transnational corporations sowie der wachsende kulturelle Einfluss durch Migration entstandener globalurbaner Ballungsräume stützen die theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Globale Prozesse ent-wickelten sich ab dem Zweiten Weltkrieg so rasant, dass sich deren Ein-fluss in einer kulturellen weltgesellschaftlichen Ordnung auf einer globalen institutionellen Ebene manifestierte. Aspekte der Globalisierung lassen aber nicht nur eine Weltgesellschaft entstehen, sondern fördern gleichzeitig auch den politischen Fundamentalismus. Christiane Harzig und Dirk Hoerder lie-fern hierfür ein Beispiel aus der gegenwärtigen Migrationsgeschichte: „Migrants live, mentally, simultaneously in home and host societies, live transcul-

    tural lives. Their networks extend over continents. While the concept of bourgeois

    cosmopolitanism and working-class internationalism may overemphasize class cul-

    tures, the concept of ,culture shock‘ overemphasizes disruption, and that of a ,global

    village‘ neglects cultural specifics. Problems emerge from racism and exclusion ra-

    ther than migrants’ inability to cope. A 1990s Bangladeshi migrant in a racialized

    neighbourhood of London noted: ,I can surf around the world on the Internet, I have

    family who phone me from America and Australia, but I am afraid to go outside my

    own front door.‘“28

    Hieran wird die „Dialektik der Globalisierung“ deutlich, die bei einigen Autoren eine zentrale Stellung für die Beschreibung des Zeitalters der Glo-balisierung einnimmt.29

    4 MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG Das Zeitalter der Globalisierung wird auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutsam. So fällt zum Beispiel der Diskurs über die

    28 Christiane Harzig und Dirk Hoerder, What is Migration history?, Cambridge

    2009, S. 143.

    29 Vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 85; Giddens, Konsequenzen der Moder-

    ne, S. 96.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 19

    „Postmoderne“ in diesen Zeitraum. In seinem Aufsatz Zen und der Westen beschreibt Umberto Eco die gesellschaftliche Lage wie folgt: „Die Diskontinuität ist, in den Wissenschaften wie in den Alltagsbeziehungen, die

    Kategorie unserer Zeit: die moderne westliche Kultur hat die klassischen Begriffe

    von Kontinuität, universellen Gesetzen, Kausalbeziehung, Vorhersehbarkeit der

    Phänomene endgültig aufgelöst: sie hat, so kann man zusammenfassend sagen, da-

    rauf verzichtet, allgemeine Formeln auszuarbeiten, die den Anspruch erheben, die

    Gesamtheit der Welt in einfachen und endgültigen Termini zu bestimmen. Neue Ka-

    tegorien haben in die modernen Sprachen Eingang gefunden: Ambiguität, Ungewiß-

    heit, Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit. [D]as einstige Bewußtsein von einem geord-

    neten und unwandelbaren Universum kann in der heutigen Welt bestenfalls ein Ge-

    genstand rückwärtsgewandter Sehnsucht sein: es ist nicht mehr das unsere.“30

    Hier nun eröffnet sich das Feld der Zusammenhänge von Kultur und Globa-lisierung. Für Ulrich Beck ist die Herstellung der kulturell-symbolischen Reflexivität der Globalisierung eine Schlüsselfrage der Kultursoziologie geworden: Globalisierung „zielt daher nicht nur auf die ‚Objektivität zunehmender Interdependenzen‘. Gefragt

    und untersucht werden muß vielmehr, wie sich der Welthorizont in der transkulturel-

    len Produktion von Sinnwelten und kulturellen Symbolen öffnet und herstellt.“31

    Es soll im Folgenden nicht danach gefragt werden, wie der Begriff der „Postmoderne“ Einfluss auf die Musikkultur ausübte,32 sondern wie sich die aktuelle Periode der Globalisierung ab 1950 – die als Zeitalter der Glo-balisierung bezeichnet wird – auf die Musikkultur auswirkt.

    30 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973, S. 214 f. Auch die

    Avantgardebewegungen jener Zeit und der damit einhergehende Traditionsbruch

    werden mit den globalgesellschaftlichen Veränderungen um 1950 in Verbin-

    dung gebracht, siehe hierzu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.

    M. 1974, S. 82-86.

    31 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 88.

    32 Andreas Domann geht in seiner Diskursanalyse diesem Thema umfassend nach,

    Andreas Domann, Postmoderne und Musik, Freiburg i. Br. 2012.

  • 20 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    Wie bereits erwähnt, wurde von verschiedener Seite versucht, gesell-schaftliche Strömungen und Veränderungen ab 1950 in der Musik und Mu-sikkultur darzustellen. Neben dem Diskurs über Postmoderne und Musik gab es auch Bestrebungen, die gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit, die unter den Begriffen „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ ge-führt werden, mit musikalischen Entwicklungen und Ereignissen in Ver-bindung zu bringen.33 Grundannahmen all dieser gesellschaftlichen Ver-knüpfungen mit der Musikkultur lassen sich durch die Theorien und Er-kenntnisse der Musiksoziologie beschreiben und lauten zusammengefasst: (1.) Das Kunstwerk spiegelt immer die gesellschaftliche Realität wider, (2.) der Künstler muss immer in seinem sozialen Milieu betrachtet werden und (3.) ein musikalischer Stil bringt immer die gegenwärtige Zeitepoche zum Ausdruck.34

    Auch diese Arbeit geht von der Prämisse aus, dass sich die gesellschaft-lichen Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, in der Musik widerspiegeln. Globalisierung hebt sich von den oben genannten Begriffen Postmoderne, „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ ab, da es sich hierbei um konkret beschreibbare Veränderungen handelt, die sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen darstellen lassen und zu allen Zeiten relevant waren. Freilich kam der Globalisierungsdiskurs erst in der Zeit ab 1950 auf – unter anderem ist daher auch dieser Zeitrahmen für diese Arbeit gesteckt –, dennoch lassen sich kulturelle Sachverhalte seit der

    33 Der Band von Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus

    der Gegenwartsmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und

    Musikerziehung Darmstadt 47), Mainz 2007, bietet hierfür einen guten Über-

    blick. Siehe auch Christian Utz, „Kunstmusik und reflexive Globalisierung – Al-

    terität und Narrativität in chinesischer Musik des 20. und 21. Jahrhunderts“, in:

    Alenka Barber-Kersovan, Alfred Smudits und Harald Huber (Hrsg.), West

    Meets East (= Musik und Gesellschaft 29), Frankfurt a. M. 2011, S. 147-180.

    34 Annahmen dieser Art werden besonders von der klassischen Musiksoziologie

    vertreten, vgl. Alphons Silbermann, Empirische Kunstsoziologie, Stuttgart 1973,

    S. 75. Die Grundthese einer Verknüpfung zwischen Musik und Gesellschaft ist

    im Wesentlichen auf die soziologische marxistische Theorie zurückzuführen, in

    der alle kulturellen Güter Abbild der Gesellschaft sind und sich aus dieser evo-

    zieren.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 21

    Antike durch interkulturelle (globale) Verknüpfungen erklären.35 Musik ist in gewisser Weise schon immer global gewesen und transkultureller musi-kalischer Austausch keineswegs ein Merkmal einer neuen historischen Epoche.36 Das Zeitalter der Globalisierung erhält nun durch die verschiede-nen Ebenen und Komplexitäten globaler Zusammenhänge, deren theoreti-sche Prämissen erst ab 1950 erforscht wurden, eine exklusive historische Bedeutung; sowohl der Künstler als auch das Kunstwerk wurden hierdurch geprägt, verändert, anders interpretiert und unterschiedlich definiert.

    In der Musikwissenschaft haben sich in den letzten Jahren einige Ge-meinplätze herausgebildet, wie sich gesellschaftliche Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, auf die Musikkultur auswirken kön-nen.37 Zum einen ist es durch mediale Entwicklungen möglich geworden, dass nahezu alle Musiken aus Geschichte und Gegenwart aller Völker und gesellschaftlichen Gruppen für fast jedermann zur Verfügung stehen. Hier-bei entstehen globale Zusammenhänge und Überschneidungen nicht nur in der Musik selbst, sondern vor allem auch in den ökonomischen Arbeitswei-sen und Aufführungsformen.38 Zum anderen haben sich im Laufe des 20.

    35 Für musikalische Beispiele hierfür siehe Helmut Rösing, „Populäre Musik und

    kulturelle Identität. Acht Thesen“, in: Thomas Phleps (Hrsg.), Heimatlose Klän-

    ge?: Regionale Musiklandschaften heute (= Beiträge zur Popularmusik-

    forschung 29/30), Karben 2002, S. 11-34, hier S. 23 f.

    36 Eine durch Migrationsströme transformierte kulturelle Landschaft hatte in allen

    historischen Phasen Einfluss auf die Musik. Ein Beispiel aus dem 18. Jahrhun-

    dert ist das spanische Idiom in einigen Werken Domenico Scarlattis, vgl. Barba-

    ra Zuber, „Wilde Blumen am Zaun der Klassik“, in: Heinz-Klaus Metzger und

    Rainer Riehn (Hrsg.), Domenico Scarlatti (= Musik-Konzepte 47), München

    1986, S. 3-39. Für weitere aktuelle Studien zum Thema Musik und Migrations-

    forschung siehe auch Silke Leopold und Sabine Ehrmann-Herfort (Hrsg.), Mig-

    ration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der Musikge-

    schichte (= Analecta musicologica 49), Kassel 2013.

    37 Eine gute Übersicht hierfür bietet Bob W. White, „Introduction: Rethinking

    Globalization through Music“, in: ders. (Hrsg.), Music and Globalization: Criti-

    cal Encounters, Bloomington 2012, S. 1-14, hier S. 2-5.

    38 Weitere Gedanken hierzu finden sich bei Gertrud Meyer-Denkmann, Grenz-

    übergänge zwischen Musik, Kunst und den Medien heute, Oldenburg 2005, S.

    49 ff.

  • 22 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    Jahrhunderts fast alle Musikformen losgelöst von nationalen Konzepten und ethnischen Zuweisungen entwickelt.39 Diese beiden Annahmen gilt es zu hinterfragen und werden unter anderem im Folgenden schwerpunktartig beleuchtet.

    5 GESELLSCHAFTLICHE VERORTUNG DER GLOBALISIERUNG Um den Forschungsrahmen weiter einzugrenzen, soll zunächst jedoch die Frage der gesellschaftlichen Verortung der Globalisierung geklärt werden. Abgesehen von der Debatte über die verschiedenen historischen Perioden der Globalisierung und deren zeitliches Einsetzen wird hierüber eine weite-re Kontroverse geführt. Die soziologischen Diskurse gehen der Frage nach, aus welcher Gesellschaftsordnung heraus der Begriff Globalisierung herzu-leiten ist. So sieht Immanuel Wallerstein diese als kapitalistische und öko-nomische Weltordnung europäischen Ursprungs.40 Bezogen auf die westli-che Hemisphäre ist Globalisierung ein Begriff, welcher seinen Ursprung in der Aufklärung hat, da hier erstmalig der Gedanke einer Universalgeschich-te formuliert und verbreitet wurde.41 Globalisierung steht demnach in direk-tem Zusammenhang mit der Ausdehnung der europäischen Kultur; die kul-turelle Gestaltungskraft der europäischen Moderne macht Globalisierung erst möglich, daher wird diese entsprechend auch als „Aufstieg des Wes-tens“42 bezeichnet.

    39 Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, „Ethnische Repräsentationen als Herausfor-

    derung für Musikwissenschaft und Musikpolitik“, in: Barber-Kersovan,

    Smudits, Huber (Hrsg.), West Meets East, S. 21-34, hier S. 29.

    40 Immanuel Wallerstein, „Culture as the Ideological Battleground of the Modern

    World-System“, in: Mike Featherstone (Hrsg.), Global Culture. Nationalism,

    globalization and modernity, London 1990, S. 31-35, hier S. 35.

    41 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 12; Mike Featherstone, „Glob-

    al Culture: An Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Global Culture, S. 1-14, hier S. 3.

    42 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 111. Dieser Be-

    griff wurde ursprünglich von William MacNeill eingeführt, vgl. William

    MacNeill, The rise of the West, Chicago 1963.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 23

    Der westliche Einfluss wird in der Debatte über eine kulturelle Globali-sierung unterschiedlich bewertet. Für Mike Featherstone bedeutet kulturelle Globalisierung ein Expandieren der gegenseitigen kulturellen Wechselbe-ziehungen und eine dauerhafte kulturelle Interaktion.43 Hier wird kulturelle Globalisierung nicht als „Verwestlichung“, sondern mehr als ein Phänomen der kreativen Aneignung gesehen.44 Anthony Giddens sieht durch die glo-bale Verbreitung der westlichen Institutionen diese im Kontext einer kultu-rellen Globalisierung gar als geschwächt: „Dass der Einfluss des Abendlands auf die übrige Welt schwächer wird, ist keine

    Folge der nachlassenden Wirkung der zunächst im Abendland entstandenen Institu-

    tionen, sondern – ganz im Gegenteil – ein Ergebnis ihrer globalen Verbreitung. Die

    ökonomische, politische und militärische Macht, die dem Abendland zur Vorherr-

    schaft verhalf […], reicht nicht mehr aus, um die westlichen Länder deutlich von

    anderen Ländern in anderen Gegenden abzuheben.“45

    Westlicher Einfluss, wie auch immer dieser bewertet wird, spielt für die Theorien einer kulturellen Globalisierung und speziell für die Musik im Zeitalter der Globalisierung also eine übergeordnete Rolle.

    6 MODELLE DER KULTURELLEN GLOBALISIERUNG David Held formuliert angelehnt an die vorgestellten vier Zeitperioden der Globalisierung fünf Ebenen der kulturellen Globalisierung: Zunächst be-merkt er einen transkontinentalen kulturellen Austausch im Zeitalter der Völkerwanderung und sieht hierin eine globale historische Grundlage. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde diese Grundlage durch einen kulturellen Austausch sowohl der verschiedenen Nationalstaaten und sogenannten Na-tionalkulturen als auch der verschiedenen politischen Gesellschaftsordnun-gen ergänzt. Im späten 19. Jahrhundert beschleunigte sich dann dieser Aus-tausch durch neue Formen der technischen Übermittelung. Die vierte Ebene

    43 Vgl. Featherstone, „Global Culture“.

    44 Vgl. ebd.; Waters, Globalization, S. 6; Osterhammel und Petersson, Geschichte

    der Globalisierung, S. 111.

    45 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 70 f.

  • 24 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    beschreibt die gegenwärtige Situation des immer schneller werdenden tech-nischen Wandels und Informationsaustausches und die dadurch bedingten politischen und institutionellen Transformationen. Das hier angedeutete Zeitalter der Globalisierung führt demnach zu neuen kulturellen globalen Strömungen, welche die alten nationalen Kulturen, Ideologien und politi-schen Institutionen verändern. Die fünfte Ebene einer kulturellen Globali-sierung liegt laut Held in den Produkten und Deutungen der Konsumgesell-schaft. Deren Ambiguität stellt für ihn eine neue komplexe Form der kultu-rellen Globalisierung dar, deren Einfluss auf die bestehenden Gesellschaf-ten und Kulturen noch nicht absehbar sei.46

    Die von Held angesprochenen Veränderungen der nationalen Kulturen und Ideologien beschreibt Arjun Appadurai in einem Modell, welches die globalen kulturellen Strömungen auf fünf verschiedenen Landschaften (scapes) darstellt. Diese scapes bieten die Möglichkeit, Veränderungen na-tionaler Ideologien und Kulturen unter verschiedenen Blickwinkeln zu be-trachten. Appadurai unterscheidet zwischen ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes und ideoscapes.47 Ethnoscapes beschreiben die ethnische Herkunft oder den nationalen Bezugsrahmen eines Individuums unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit oder seines Aufenthaltsortes (unterschieden wird zwischen Gastarbeiter, Flüchtling, Migrant, Tourist etc.), technoscapes beschreiben die kulturellen Verbindungen auf einer technisch-innovativen Ebene. Als Beispiel dient hier der Austausch von technischen Dienstleistungen und Gütern, welcher einzig durch Angebot und Nachfrage global reguliert wird. Hieran angelehnt formuliert Appa-durai die financescapes: Der entgrenzte globale Kapitalfluss erschafft dabei durch seine Vielzahl an verschiedenen Varianten eine eigene globale kultu-relle Landschaft. Die nun verbleibenden mediascapes und ideoscapes hän-gen eng miteinander zusammen. Mediascapes beschreiben sowohl die un-terschiedlichen technischen Ebenen der Medienlandschaft (Zeitung, Jour-nal, Fernsehen, Radio etc.) als auch deren inhaltliche Ausrichtung. Gemeint ist hier, wer welche Medien zu welchem Zwecke der lokalen oder globalen Informationsstreuung nutzt und wie diese Informationen später von ver-schiedenen globalen Rezipienten wahrgenommen und interpretiert werden.

    46 Held et al., Global Transformations, S. 328.

    47 Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization,

    Minneapolis 1996, S. 33.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 25

    Der Rezipient wird durch die Ebene der ideoscapes unterschieden. Gemeint sind hier die jeweiligen ideologischen Einstellungen eines Staates, einer Bewegung oder einer Einzelperson wie zum Beispiel Freiheitlichkeit, Wohlstand, Menschenrechte, Souveränität, Darstellungsweise oder Demo-kratieempfinden.48 Diese fünf scapes dienen der Beschreibung des kulturel-len Wandels im Zeitalter der Globalisierung: Die Aufteilung der Gesell-schaft in kulturelle Landschaften eröffnet die Möglichkeit, Globalisierungs-zusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen getrennt voneinander zu analysieren.49 Die Interessen einer Weltgesellschaft, einzelner Staaten, außerstaatlicher Gruppierungen oder Einzelpersonen stimmen in einigen scapes überein, in anderen wiederum können sie weit auseinander liegen. So wird von Appadurai eine dezentrale globale Welt konstruiert.

    7 FORSCHUNGSSTAND: MUSIK UND GLOBALISIERUNG

    Auch wenn die Untersuchung des Zusammenhangs von Musik und Globa-lisierung nach wie vor als musikhistorisch nicht sehr stark beleuchtet zu be-trachten ist, liegen inzwischen einige Arbeiten vor, die den ersten Einstieg in die Thematik erleichtern. Vor allem in der Musikethnologie wurden in den letzten Jahrzehnten musikalische Wandlungen im Kontext globaler Veränderungen erforscht,50 obwohl es sich gleichermaßen um ein histori-sches wie soziologisches Phänomen handelt. Allerdings wurden in den

    48 Ebd., S. 33-37.

    49 Der Musikethnologie Max Peter Baumann bezeichnete auf dem Symposium

    „Entgrenzte Welt? Musik und Kulturtransfers in der Gegenwart“ vom 20. bis 22.

    Juli 2012 in der Humboldt-Universität zu Berlin Appadurais Landschaften auch

    als „die fünf Dimensionen der globalen kulturellen Dynamik“.

    50 Besonders sind hier folgende Arbeiten von Max Peter Baumann und Bruno

    Nettl zu nennen: Max Peter Baumann (Hrsg.), World Music, Music of the

    World (= Intercultural Music Studies 3), Wilhemshaven 1992; ders., „The Local

    and the Global: Traditional Musical Instruments and Modernization“, in: The

    world of music 42/3 (2000), S. 121-144; ders., Musik im interkulturellen

    Kontext, Nordhausen 2006; Bruno Nettl, The Study of Ethnomusicology, Urba-

    na 1983; ders., The Western Impact on World Music, New York 1985.

  • 26 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    weitaus meisten Studien Veränderungen der Musikkultur innerhalb einge-grenzter Kulturkreise in den Fokus genommen.51 Die bis dato wenigen all-gemeinen Publikationen über das Thema Musik und Globalisierung bilden hier die Ausnahme.52 Ferner sind auch die „Cultural Studies“ zu nennen, die sich seit den 1980er Jahren mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Kultur auseinandergesetzt haben.53 Beispiele aus der Identitätsfor-schung und den „Cultural Studies“ belegen, wie selbstgewählte globale Identitäten in verschiedenen Kontexten und Lebenssituationen nach Belie-ben wechseln und jeweils in den Vorder- oder Hintergrund rücken.54 Bezo-gen auf die Musik konstatiert Simon Frith:

    51 Zum Beispiel Kevin Dawe, „Roots Music in the Global Village: Cretan ways of

    dealing with the world of large“, in: The world of music 43/3 (2001), S. 47-66;

    Michael Bodden, „Rap in Indonesian youth music of the 1990s: Globalization,

    outlaw genres, and social protest“, in: Asian music Journal of the Society for

    Asian Music 36/2 (2005), S. 1-26; Iain Chambers, „Travelling Sounds. Whose

    Centre, whose Periphery?“, in: Popular Music Perspectives 3 (1992), dt. in:

    PopScriptum – World-Music 3, S. 45-51. Die Auflistung von musikalischen

    Einzelstudien zum Thema Musik und Globalisierung ließe sich noch um ein

    Vielfaches erweitern.

    52 Zum Beispiel Christian Utz (Hrsg.) Musik und Globalisierung. Zwischen kultu-

    reller Homogenisierung und kultureller Differenz, Saarbrücken 2007; Susanne

    Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, Biele-

    feld 2010; Alexandros G. Baltzis, „Globalization and Musical Culture“, in: Acta

    musicologica 77/1 (2005), S. 137-150; Veit Erlmann, „The politics and

    Aesthetics of Transnational Musics“, in: The world of music 35/2 (1993), S. 3-

    15; White (Hrsg.), Music and Globalization.

    53 Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Band von Marianne I. Franklin (Hrsg.),

    Resounding international relations: on music, culture, and politics, New York

    2005.

    54 Vgl. Harris M. Berger und Giovanna Del Negro, Identity and everyday life: in

    the study of folklore, music, and popular culture, Middletown 2004, S. 151 f.

    Ein Beispiel, das die Autoren anführen, ist eine typische Situation im Leben ita-

    lienischer Migranten in den USA: Der in Amerika geborene Sohn lädt seine Ar-

    beitskollegen in sein Elternhaus ein, um ihnen die Vorzüge der „originalen“ ita-

    lienischen Kochkünste seiner Mutter zu präsentieren. Diese wiederum fühlt sich

    einerseits durch die Wertschätzung geschmeichelt, möchte aber nicht auf die

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 27

    „Es geht nicht um die Frage, auf welche Weise ein Musikstück […] die Menschen

    widerspiegelt, sondern wie es diese Menschen produziert; in welcher Weise es eine

    musikalische Erfahrung, eine ästhetische Erfahrung herstellt und konstruiert. Die wir

    nur verstehen können, indem wir sowohl eine subjektive als auch kollektive Identität

    annehmen.“55

    Friths These stützt sich auf zwei Prämissen: „[E]rstens, dass Identität be-weglich ist [und] zweitens, dass unsere Erfahrung von Musik […] sich am besten als Erfahrung eines Selbst in einem Prozess verstehen lässt.“56

    Die Komplexität des kulturellen Wandels im Zeitalter der Globalisie-rung wird vor allem durch die Kontroverse der kulturellen Homogenisie-rung oder Heterogenisierung veranschaulicht. In einem Zeitungsartikel von Wolf Lepenies Mitte der 1990er Jahre heißt es hierzu: „Das Stichwort ‚Globalisierung‘ zeichnet das Bild einer sich vereinheitlichenden

    Welt. Aber während die Oberfläche der einen Welt immer einförmiger wirkt, stoßen

    darunter heftiger denn je zuvor die unterschiedlichen Lebenswelten der einzelnen

    aneinander. Diese Lebenswelten sind keineswegs einheitlich geprägt, sondern bilden

    stets Mischformen: es gibt nur noch hybride Kulturen.“57

    Eine Darstellung des sozialwissenschaftlichen Diskurses der kulturellen Homogenisierung versus Heterogenisierung bietet Jörg Dürrschmidt, wel-cher die hierzu wichtigsten Autoren mit ihren verschiedenen Thesen und verschiedenen Unterkategorien der jeweiligen Prozesse vorstellt.58 Bezogen auf die Debatte innerhalb der Disziplin der Musikwissenschaft bietet der

    Rolle der kochenden Hausfrau reduziert werden, da sie aus gutem sizilianischen

    Hause kommt und diese Rolle in ihrer „Heimat“ nie ausfüllte.

    55 Simon Frith, „Musik und Identität“, in: Jan Engelmann (Hrsg.), Die kleinen Un-

    terschiede, Frankfurt a. M. 1999, S. 149-169, hier S. 151.

    56 Ebd, Hervorhebungen im Original.

    57 Wolf Lepenies, „Nur noch Mischformen. Wandel des Wertesystems in Europa“,

    in: Der Tagesspiegel vom 27.04.1996, S. 23.

    58 Dürrschmidt, Globalisierung, S. 104-111.

  • 28 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    Aufsatz „Cultural Grey-out“ oder „Many Diverse Musics“? von Gerd Grupe einen Überblick.59

    8 GLIEDERUNG, RELEVANZEN UND FRAGESTELLUNG Wie haben sich also die globalen Veränderungen ab 1950 auf die Musik-kultur ausgewirkt? Das Zeitalter der Globalisierung und ihr Einfluss auf die Musikkultur sollen im Folgenden durch verschiedene Begriffe und „Schlagwörter“ dargestellt werden. Als Fundament dient hierbei, wie der Begriff Globalisierung ab 1950 definiert und historisch verortet wird, und ferner, welche Darstellungen für den kulturellen Einfluss der Globalisie-rung insbesondere auf die Musikkultur herangezogen werden. Das Zeitalter der Globalisierung erklärt sich aus der Perspektive des Nationalstaats und seiner internationalen Einbindungen und Überlagerungen, des technischen Fortschritts der Kommunikationsmedien und einer grenzüberschreitenden Kulturindustrie. In diesem Kontext sind folgende Thematiken relevant: Migration, Urbanisierung, transnational corporations, Weltgesellschaft, Be-schleunigung, Verdichtung von Raum und Zeit, Internet, globale Netz-werkgesellschaft, „Gegenkultur“, globale Identität, Kulturindustrie, „Ame-rikanisierung“, „Globale Kulturindustrie“ und der Begriff des „global village“. Zu diesem Begriffspool gesellen sich nun drei Prozesse der Globa-lisierung: „Glokalisierung“, „Enttraditionalisierung“ und „Entbettung“. Diese Begriffe und ihre dazugehörigen theoretischen Befunde sollen exemplarisch an drei musikalischen Fallbeispielen näher untersucht wer-den: an „Stockhausens Weltmusik“, „Jamaikanischer Ska im globalen Kon-text“ und die „Traditionen der world music“. Dabei gehört es zum Konzept der Arbeit, Beispiele unterschiedlicher Kontexte, Szenen und Stilhöhen herauszugreifen, um einerseits Differenzen aufzuzeigen, die sich in den Auswirkungen der Globalisierung abzeichnen, andererseits aber auch sze-ne- und subkulturübergreifende Mechanismen der Globalisierung herauszu-arbeiten. Die Fallbeispiele stammen alle aus dem zeitlichen Rahmen des Zeitalters der Globalisierung, also ab 1950. Sie stehen zudem alle in einem

    59 Gerd Grupe, „,Cultural Grey-out‘ oder ,Many Diverse Musics‘? Musikkulturen

    der Welt in Zeiten der Globalisierung“, in: Utz (Hrsg.), Musik und Globalisie-

    rung, S. 11-26.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 29

    westlichen Zusammenhang. Wie schon erwähnt, entspringen Globalisie-rungszusammenhänge immer einem westlichen Kontext. Dieser drückt sich bei Karlheinz Stockhausen durch die Herkunft des Künstlers, im jamaikani-schen Ska durch postkoloniale und bei der world music durch ökonomische Zusammenhänge aus.

    Die drei Fallbeispiele wurden also so gewählt, dass sich hieran die ver-schiedenen globalgesellschaftliche Einflüsse beschreiben lassen. Wenn die-se einen gemeinsamen gesellschaftlichen Ursprung haben, sollten – so die Kernthese dieser Arbeit – auch die drei musikalischen Fallbeispiele ge-meinsame Merkmale aufweisen, die die globalisierte Musikkultur beschrei-ben. Das Zeitalter der Globalisierung hat möglicherweise die Grenzen ver-schiedener Musiktraditionen, Stilistiken und Genres aufgehoben und sozia-le, politische und kulturelle Veränderungen bewirkt. Die Relevanz des The-mas ergibt sich daraus folgend aus mindestens drei Gründen:

    1. Globalisierung ist als musikhistorische Tatsache anzusehen. Eine aktuelle Musikgeschichtsschreibung kann nicht auskommen, ohne diesen zentralen Faktor einzubeziehen und seine Auswirkungen auf die Musik zu untersuchen.

    2. Vorgänge der Globalisierung sind überaus komplex, und es kann daher zum Verständnis dieser Vorgänge insgesamt beitragen, sie aus der Perspektive einer einzelnen Wissenschaft heraus konkret zu beleuchten; in diesem Falle aus der Perspektive musikalischer Entwicklungen.

    3. Die Fragestellung ist in besonderem Maße dazu geeignet, konkrete musikhistorische Prozesse, kompositorische Stilistiken und musi-kalische Praktiken im Kontext der sozialgeschichtlichen Verände-rungen zu erklären. Dies trägt überdies zur interdisziplinären Ein-bindung der musikwissenschaftlichen Forschung bei.

    Das bereits vorgestellte Modell der verschiedenen globalen scapes von Ar-jun Appadurai, die verschiedenen Formen der kulturellen Heterogenisie-rung von Bruno Nettl60 und die vier Stufen der kulturellen Interaktion von

    60 Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 350 ff.

  • 30 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    Krister Malm und Roger Wallis 61, welche im Verlauf der Arbeit noch vor-gestellt werden, sollen dabei helfen, die Dimensionen der kulturellen Glo-balisierung besser zu verstehen. Diese drei Modelle dienen den musikali-schen Fallbeispielen als übergeordnete theoretische Erklärungsmodelle und fungieren gewissermaßen als Leitfaden. Bemerkenswert an den Modellen ist, dass sie trotz unterschiedlicher wissenschaftlicher Ebenen die kulturelle Globalisierung auf ähnliche Weise beschreiben und historisch verorten. So steht in allen Modellen die Globalisierungsperiode ab 1950 im Fokus des globalen kulturellen Austausches und in allen spielen die technischen Inno-vationen, neue Formen einer transnationalen Gemeinschaft sowie die Reichweiten einer Globalen Kulturindustrie eine wichtige Rolle im kultu-rellen Globalisierungsprozess.

    Die Sichtung der Globalisierungsliteratur – mit Schwerpunkt auf sozio-logischen Texten – lässt sich nun in drei Perspektiven einteilen, welche als Gerüst für die Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen im Zeit-alter der Globalisierung fungieren und innerhalb deren sich die oben ge-nannten „Schlagwörter“ formieren: (1.) politisch-ökonomische Transnatio-nalität, (2.) technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit und (3.) informell-kulturelle Reflexivität. Auf dieser Basis lassen sich dann wiede-rum drei Prozesse der Globalisierung ableiten, die konkrete Auswirkungen auf die kulturelle Sphäre und somit auch auf die Musikkultur haben. Die bearbeiteten Globalisierungstheorien weisen diese Unterteilung nicht direkt auf. Sie ist demnach mehr als Schema zu verstehen, da sich die einzelnen Themenkomplexe im inhaltlichen Diskurs fortwährend überschneiden. Im Zusammenspiel der Prozesse Glokalisierung, Enttraditionalisierung und Entbettung, in deren Komplexität und Dialektik, zeichnet sich das neue Zeitalter der Globalisierung ab. In diesem Zeitraum ab 1950 – so die zu-grunde gelegte Kernthese – wurde die Musikkultur signifikant verändert. Es soll hierbei aber klar festgehalten werden, dass das Zeitalter der Globalisie-rung lediglich eine, nämlich die jüngste Periode der Globalisierung ist.

    61 Beschrieben in Roger Wallis und Krister Malm, Big Sounds from Small Peo-

    ples. The Music Industry in Small Countries, New York 1984; siehe auch

    Krister Malm, „Local, National and International Musics. A Changing Scene of

    Interaction“, in: Baumann (Hrsg.), World Music, S. 211-227.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 31

    8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität Der Terminus Transnationalität ist im Zeitalter der Globalisierung zu einer Standardkategorie für die Beurteilung der Weltpolitik geworden. Vorläufi-ge Tendenzen lassen sich allerdings schon in früheren Globalisierungsperi-oden finden. So beschreiben zum Beispiel Osterhammel, Petersson und David Held die modern period of globalization zwischen 1880 und 1945 als transnational, da hier weltpolitisch erstmals zwischen Demokraten, Faschis-ten und Kommunisten unterschieden wurde.62 Der Ursprung des Begriffs liegt in der Literatur der 1960er Jahre von Robert O. Keohane und Joseph S. Nye63, Raymond Aron64 sowie James N. Rosenau65, welche die transna-tionalen Interaktionen von Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen, multinationalen Konzernen und dem internationalen Finanzwesen analy-sierten.66 Vor allem Rosenau konstruierte ein Netzwerkmodell „unrevidier-barer polyzentrischer Weltpolitik“67, welches sich zusammensetzt aus trans-nationalen Organisationen (zum Beispiel der Weltbank, der katholischen Kirche, der italienischen Mafia oder McDonalds), transnationalen Proble-men (zum Beispiel Klimaveränderungen, Aids oder einer atomaren Ge-fahr), transnationalen Ereignissen (zum Beispiel einer Fußballweltmeister-schaft oder den beiden Golfkriegen), transnationalen Gemeinschaften (zum Beispiel Religionen, Wissen, Lebensstilen oder politischen Orientierungen) und transnationalen Strukturen (zum Beispiel Arbeitsformen oder Finanz-strömen).68 Weitere theoretische Modelle eines globalen transnationalen

    62 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 79; Held et al.,

    Global Transformations, S. 362.

    63 Robert O. Keohane und Joseph S. Nye (Hrsg.), Transnational Relations and

    World Politics, Cambridge 1971.

    64 Raymond Aron, Peace and War: a Theory of International Relations, New York

    1967.

    65 James N. Rosenau (Hrsg.), Linkage Politics: Essays on the Convergence of Na-

    tional and International Systems, New York 1969.

    66 Vgl. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 190 f.

    67 James N. Rosenau, Turbulence in World Politics, Brighton 1990, S. 17, zit. n.

    Beck, Was ist Globalisierung?, S. 70.

    68 Ebd., S. 70 f.

  • 32 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    Systems finden sich außerdem bei Leslie Sklair69 oder Ulf Hannerz.70 Sklair beschreibt in einem hegelianischen Theoriemodell das Zusammenspiel zwi-schen „transnational corporations“ (TNCs), einer „transnational capitalist class“ und einer übergeordneten „transnational cultural practice“.71 Hannerz greift dieses Modell auf und spricht darüber hinaus von einer „global ecumene“, in der direkt oder indirekt alle globalen Akteure und Ereignisse in einem Sinnzusammenhang stehen.72

    8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit Die technisch-innovative Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung stellt möglicherweise die eindrucksvollste und „greifbarste“ Veränderung einer globalen Welt dar. David Held behauptet sogar, dass die Frage „What is globalization?“ am konkretesten mit den beschreibbaren Phänomenen der technisch-innovativen Verdichtung der Welt beantwortet werden kann.73 Entscheidendes Kriterium ist hierbei die Beschleunigung des Transports, der Kommunikation und der Produktion, welche die Art und Weise, wie Kulturen in Zeit und Raum zueinander gestellt sind, fundamental verändert hat. Bei allen technischen Neuerungen spielt im Globalisierungskontext die veränderte Wahrnehmung der Zeit oder des Zeitverhältnisses eine überge-ordnete Rolle: Zeitverhältnisse sind durch die technischen Innovationen der letzten 200 Jahre nicht mehr als starr zu begreifen.74 Die Einführung der

    69 Leslie Sklair, Sociology of the Global System, London 1991.

    70 Ulf Hannerz, Transnational Connections, London 1998.

    71 Sklair, Sociology of the Global System, S. 81 f.; vgl. auch Dürrschmidt, Globa-

    lisierung, S. 68 f.

    72 Hannerz, Transnational Connections, S. 6 f; vgl. auch Dürrschmidt, Globalisie-

    rung, S. 70 f.

    73 Held et al., Global Transformations, S. 14 f.

    74 Gemeinhin wird die Einführung des Telegraphen um 1839 als Beginn eines sich

    verändernden globalen Zeitverständnisses betrachtet, vgl. Osterhammel und

    Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 54 f.; Anthony Giddens, Entfessel-

    te Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt a. M. 2001, S.

    22. Bemerkenswerte Studien über die Geschichte und die Veränderung der Ar-

    beits- und Freizeitentwicklung im 20. Jahrhundert liefert der Band von Eckart

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 33

    Weltzeit und die damit einhergehende globale Vereinheitlichung der Zeit zwischen 1880 und 1920 war zwar ein gesellschaftlicher transnationaler Beschluss, stellte aber auch eine Reaktion der Weltgemeinschaft auf die durch technische Innovationen herbeigeführte Verdichtung dar.75 Entfer-nungen wurden durch Ausbau der Infrastruktur in immer kürzerer Zeit zu-rückgelegt, so dass sich die Zeit- und Raumverhältnisse entsprechend ver-änderten. Jürgen Habermas bemerkt hierzu: „Schon die Reisenden, die um 1830 die ersten Eisenbahnen benutzen, hatten über

    neue Raum- und Zeitwahrnehmungen berichtet. Im 20. Jahrhundert haben Autover-

    kehr und zivile Luftfahrt den Personen- und Gütertransport weiter beschleunigt und

    die Entfernungen auch subjektiv immer weiter schrumpfen lassen.“76

    In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Zeit- und Raumver-ständnis durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie Einsteins Relativi-tätstheorie, aber auch durch die Beschäftigung mit außereuropäischen Zeit-modellen erweitert.77

    Die neuen Errungenschaften der Technik erzielten auch andere Effekte auf die Gesellschaft. So beschreibt beispielsweise Marshall McLuhan, dass technische Innovationen wie der Telegraph und das Radio nationale Macht-verhältnisse neutralisierten, da ihre Reichweiten nicht mehr von physischen nationalen Grenzen beschränkt wurden. Die technischen Innovationen lie-ßen laut McLuhan eine neue Art des Machtkampfes entstehen, bei dem es um eine ideologische und politische Mitbestimmung sowie Kontrolle der übertragenen Informationen ging.78 Theodor W. Adorno sah ferner durch den stetig voranschreitenden technischen Apparat eine Auflösung der Klas-

    Hildebrandt und Gudrun Linne (Hrsg.), Reflexive Lebensführung: zu den sozi-

    alökologischen Folgen flexibler Arbeit, Berlin 2000.

    75 Vgl. Robertson, Glokalisierung, S. 210. Die weltweite Übernahme des gregoria-

    nischen Kalenders in früheren Globalisierungsperioden muss wiederum als Vor-

    läufer dieser Ereignisse betrachtet werden.

    76 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 70.

    77 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der

    Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 64 ff.

    78 Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media: the extensions of man [1964],

    Corte Madeira 2003, S. 404.

  • 34 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    sen.79 In den 1960er Jahren entwickelte sich in der westlichen Hemisphäre eine alternative und gesellschaftskritische Bewegung, die sich um eine Li-beralisierung und Dezentralisierung der technischen Innovationen und der dadurch transportierten Informationen bemühte. Die Konstituierung der globalen Netzwerkgesellschaft, welche liberal, dezentral und frei fungiert, nahm mit den technischen Innovationen der Gegenkultur der 1960er Jahre ihren Anfang.80 Die Entstehung der Gegenkultur ist zudem als Reaktion auf eine immer weiter voranschreitende Industriegesellschaft zu interpretieren und jenes den Gegenkulturen immanente Suchen nach Auswegen aus dieser in einen globalgesellschaftlichen Kontext eingebettet.

    Was die Musikkultur angeht, so stellen technologische Entwicklungen einen Hauptfaktor der Globalisierung von Musik dar. Beschleunigung und die Verdichtung von Raum und Zeit haben historisch schon immer Einfluss auf die Musikkultur gehabt. So konnte beispielsweise das javanesische Gamelan-Ensemble auf der Pariser Weltausstellung 1889, welches Einfluss auf Musiker wie Claude Debussy hatte, nur durch den neu eröffneten Suez-kanal nach Europa gelangen. Ohne die Verkürzung des Weges wäre diese Reise für die Instrumente wohl nicht schadlos zu bewältigen gewesen.81 Als weitere Verbindung von Musikkultur und Technik haben aber vor allem die industriellen aufnahmetechnischen Neuerungen der letzten 100 Jahre die Musik wesentlich geprägt und verändert. Das Kunstwerk, welches immer reproduzierbar gewesen ist, konnte nun durch eine neue Art der technischen Reproduktion erweitert werden.82 Durch die industriellen aufnahmetechni-schen Innovationen wie Radio, Telekommunikation und Phonograph ver-

    79 Theodor W. Adorno (Hrsg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?,

    Frankfurt a. M. 1969, S. 25 ff.

    80 Beispielsweise wurde das Modem 1978 von einigen Hackern entwickelt, vgl.

    Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie Das

    Informationszeitalter [1996], Opladen 2001, S. 53.

    81 Vgl. John Joyce, „The Globalization of Music: Expanding Spheres of Influ-

    ence“, in: Mazlish, Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, S. 205-

    224, hier S. 209-211.

    82 Walter Benjamin datiert um 1900 den Beginn der technischen Reproduzierbar-

    keit als anerkanntes künstlerisches Verfahren und als eigene Kunstform, vgl.

    Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-

    barkeit [1936], Frankfurt a. M. 2006, S. 9-11.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 35

    breiteten sich auch die Produkte der Musikindustrie über den ganzen Glo-bus. Diese operierte von vornherein global und nutzte die neuen Reichwei-ten des technischen Apparates. Um 1900 entstand eine transnationale Mu-sikindustrie, die bereits alle Kennzeichen einer global operierenden Organi-sation trug.83 Am Ende des 20. Jahrhunderts teilten sich fünf transnationale Musikfirmen 80 Prozent des weltweiten Tonträgergeschäfts.84 Die Musik-industrie als TNC verbreitet hier also weltweit kulturelle Erzeugnisse, dient dabei aber weder ökonomisch noch kulturell den Interessen eines Staates. Sie ist lediglich profitorientiert und abhängig von ökonomischen Marktme-chanismen.

    8.3 Informell-kulturelle Reflexivität Im Vergleich zu den bereits beschriebenen Perspektiven der Globalisierung ist die informell-kulturelle Reflexivität relativ schwer zu greifen. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass von den Sozialwissenschaften hier-für noch keine konkrete Definition oder Theorie ausgearbeitet wurde. Um die kulturellen Wechselwirkungen (oder Rückkoppelungen) im Zeitalter der Globalisierung zu erläutern, werden in erster Linie Beispiele herange-zogen: So wurde der Wahlsieg der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011 von allen Partei- und Wahlforschern gleichermaßen mit der Reaktorkatastrophe im japani-schen Fukushima am 11. März 2011 in Verbindung gebracht. Die täglich übermittelten Bilder und Schreckensmeldungen aus dem havarierten Kern-kraftwerk lösten eine starke Ablehnung gegenüber der Atomenergie aus, welche sich in der unmittelbar danach anstehenden Wahl und dem Sieg der grünen „Anti-Atom-Partei“ widerspiegelte. Ein globales Ereignis wirkte

    83 Zur Geschichte und Entwicklung der globalen Musikindustrie siehe Andreas

    Gebesmair, Musik und Globalisierung: zur Repertoireentwicklung der transna-

    tionalen Phonoindustrie unter besonderer Berücksichtigung des österreichischen

    Musikmarktes, Wien 2000, sowie Andreas Gebesmair und Alfred Smudits

    (Hrsg.), Global Repertoires: Popular music within and beyond the transnational

    music industry, Aldershot 2001.

    84 Andreas Gebesmair, „Introduction“, in: ders., Smudits (Hrsg.), Global Reper-

    toires: Popular music within and beyond the transnational music industry, S. 1-

    6, hier S. 2.

  • 36 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    sich direkt auf ein lokales aus, wobei diese in einem nicht unmittelbaren Sinnzusammenhang stehen.

    Die Perspektive der informell-kulturellen Reflexivität wird am deut-lichsten durch die Entstehung der Kulturindustrie und den Ausbau der Mas-sen- und Kommunikationsmedien dargestellt, welche im Zeitalter der Glo-balisierung zu neuen Formen einer Globalen Kulturindustrie führten. Ge-prägt wurde der Begriff der Kulturindustrie zunächst von den Ausführun-gen Theodor W. Adornos und Max Horkheimers.85 Die Kulturindustrie und die produzierten Waren wurden hier noch stark technisch konstruiert, kapi-talistisch, eindimensional und homogen gedeutet. Reflexivität bedeutet nun, dass globale Ereignisse (siehe obiges Beispiel), Konsumgüter oder kulturel-le Erzeugnisse von der Weltgesellschaft aktiv bewertet und gesteuert wer-den. Dieses wird besonders anhand der unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen der jeweiligen Akteure sichtbar, denn die Globale Kulturin-dustrie definiert sich immer über die variablen Interpretationen produzierter Waren. Eine globale Einheit besteht hier in der kapitalistischen Grundidee und in der gewonnenen Eigendynamik der Produkte. Das medial verbreitete „Image“ eines Produktes wird nun teilweise mehr beworben als das eigent-liche Produkt. Die Vermarktung von Swatch-Uhren oder Nike-Sport-anzügen zielt auf eine Ideologie der Produkte ab und nicht mehr auf den profanen Besitz einer Uhr oder eines Sportanzuges.86

    Eine veränderte Kontextualisierung im Nexus einer Globalen Kulturin-dustrie stellen auch die Photographien von Oliviero Toscani dar, welche Anfang der 1990er Jahre für Werbekampagnen der Modefirma United Co-lors of Benetton benutzt wurden. Toscanis politisch und gesellschaftlich brisanten Photographien eines sterbenden Aidskranken oder einer blutver-schmierten Uniform eines Soldaten und das den Photographien immanente politische Statement werden hier für das Werben für Bekleidungsartikel eingesetzt und somit aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen. Reflexi-vität bedeutet also die Auflösung einer eindimensionalen Perspektive kultu-reller Produkte.

    85 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Phi-

    losophische Fragmente [1944], 14. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, S. 128-176.

    86 Für weitere Erläuterungen am Beispiel der Marken Swatch und Nike siehe Scott

    Lash und Celia Lury, Global Culture Industry: The Mediation of Things, Camb-

    ridge 2007, S. 196 ff.

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 37

    8.4 Prozesse der Globalisierung Die drei Prozesse der Globalisierung stellen nun die signifikanten soziokul-turellen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung dar. Sie sind das Resultat aus dem Zusammenspiel der erörterten politisch-, technisch- und informell-globalen Entwicklungen. Die drei Prozesse hängen eng miteinan-der zusammen, verweben sich und meinen mitunter die gleichen Sachver-halte. Auf den Ebenen der Weltgesellschaft, der globalen Netzwerkgesell-schaft und des global village werden die unterschiedlichen Resultate der Glokalisierung, der Enttraditionalisierung und der Entbettung besonders sichtbar und schaffen neue globale und lokale Identifikationsmuster. Die weiteren Beschreibungen und Definitionen der drei Prozesse der Globali-sierung sollen an den musikalischen Fallbeispielen direkt erläutert und in die jeweiligen Kapitel mit eingeflochten werden.

    8.5 Musikalische Fallbeispiele Die drei musikalischen Fallbeispiele werden nachfolgend gemäß ihrer un-terschiedlichen Konstitutionen schwerpunktartig beleuchtet. Die drei Per-spektiven und Prozesse der Globalisierung fungieren hierbei als gemeinsa-me Merkmale einer sich verändernden Gesellschaft. In allen drei Musikbei-spielen werden diese immer wieder mit unterschiedlicher Intensität zum Vorschein kommen.

    Das Kapitel „Stockhausens Weltmusik“ stellt zunächst die Schriften Karlheinz Stockhausens zum Thema Weltmusik vor. Das Weltmusikkon-zept des Komponisten wird dann in einen soziokulturellen Kontext verortet. Anschließend werden die kompositorischen Mittel Stockhausens vorge-stellt, mit denen er sein Weltmusikkonzept musikalisch ausdrücken möchte. Hierbei fällt der Blick besonders auf seine Werke TELEMUSIK und HYMNEN. Aus den HYMNEN werden sodann vier Ausschnitte näher be-leuchtet. Der übergeordnete globale Kontext wird abschließend schwer-punktartig anhand der Thematiken des transnationalen Gedankens in den HYMNEN und des Einflusses des global village in Stockhausens Weltmu-sikkonzept näher untersucht.

    Das zweite Kapitel mit dem musikalischen Fallbeispiel des jamaikani-schen Ska im globalen Kontext beschreibt zunächst die Genese der jamai-kanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik bis hin zur Musikform Ska als

  • 38 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    erster jamaikanischer „Nationalmusik“ und deren Weiterentwicklung über den Rocksteady zum Reggae. Der globale Einfluss auf die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik steht dabei im Vordergrund. Schwerpunktartig sollen hieran die verschiedenen Positionen der Homoge-nisierung-versus-Heterogenisierungs-Debatte beleuchtet werden. Die Adap-tionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der Skinheads stellt ein weiteres Beispiel für die Relevanz der drei Perspektiven und Prozesse der Globalisierung im musikalischen Kontext dar. Vor allem die Entbettung der Musikform Ska in Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und transnationaler Identität soll vorgestellt werden.

    Das dritte musikalische Fallbeispiel im Kapitel „Traditionen der world music“ stellt die marktstrategisch entwickelte Schirmkategorie „world mu-sic“ in den Mittelpunkt der Untersuchung. Es soll gefragt werden, ob hier möglicherweise eine „neue“ musikalische Traditionslinie einer globalen Welt konstruiert wurde. Anhand musikalischer Beispiele aus dem Œuvre Paul Simons und einiger Musiker westafrikanischen Ursprungs wird dieser Frage nachgegangen. Auch soll world music im Spannungsfeld der Globa-lisierungsdebatte Homogenisierung versus Heterogenisierung der Musik-kulturen verortet werden. Hierbei treten wiederum die verschiedenen Per-spektiven und Prozesse der Globalisierung mit unterschiedlicher Gewich-tung in den Vordergrund. Abschließend sollen die neuen Möglichkeiten der world music im Zeitalter der Globalisierung mit Schwerpunkt auf den Auswirkungen einer aufkommenden globalen Netzwerkgesellschaft anhand der zeitgenössischen Band Vampire Weekend aufgezeigt werden.

    Alle Verweise der drei musikalischen Fallbeispiele auf globale Zusam-menhänge werden in einem abschließenden Fazit noch einmal gegenüber-gestellt. Die Einbettung der Fallbeispiele in die vorgestellten theoretischen Modelle einer kulturellen Globalisierung und in den Diskurs Homogenisie-rung versus Heterogenisierung werden an dieser Stelle ebenfalls vorge-nommen. Die Kernthese der Arbeit, dass alle drei Fallbeispiele durch glo-balgesellschaftliche Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung signifi-kant beeinflusst wurden, soll damit eine Darstellung erhalten. Die Idee, welche hinter der zentralen Fragestellung steht, soll durch die unterschied-lichen Blickwinkel der musikalischen Fallbeispiele und auch durch die dif-ferenzierten wissenschaftlichen Herangehensweisen an diese untermauert werden: Karlheinz Stockhausen verkörpert dabei den Künstler als Einzel-person, der auf die veränderte gesellschaftliche Lage im Werk Bezug

  • I EINLEITUNG: MUSIK IM „ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG“ | 39

    nimmt; Ska repräsentiert eine Musikform, welche durch verschiedene glo-bale Einflüsse verändert wird; und die world music ist ein konstruiertes Genre der Musikindustrie und stellt somit einen intendierten Versuch dar, auf globale Veränderungen Bezug zu nehmen und diesen einen festen Rahmen zu geben. Wie oben erwähnt, ist der gemeinsame Bezugsrahmen der drei Musikbeispiele die zeitliche Eingrenzung ab 1950 und der den Fallbeispielen immanente westliche Einfluss.

    Die drei ausgewählten musikalischen Beispiele ließen sich durchaus auch durch andere ersetzen beziehungsweise ergänzen. So hätte man statt Karlheinz Stockhausen möglicherweise auch Ansichten und Werke von John Cage, Frank Zappa oder Dieter Schnebel als Muster heranziehen kön-nen. Auch die Oper Nixon in China von John Adams gäbe ein gutes Bei-spiel für eine (individuell intendierte) musikalische Reaktion auf globalge-sellschaftliche Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Für den Ska als eine im Zeitalter der Globalisierung entstandene und weiterentwickelte Musikform fänden sich ebenfalls durchaus Äquivalente. Die südafrikanische Musikform Kwela, auf die im dritten Fallbeispiel kurz Bezug genommen wird, würde hier gewiss ein gleichgewichtetes Pendant darstellen. Andere im globalen Zusammenhang interessante postkoloniale Musikformen wären beispielsweise auch Rai, Bhangra, Arabesk oder Qawwali. World music als konstruiertes Genre findet wiederum Ebenbilder in Subgenres wie New Age oder auch in Kategorisierungen wie Jazz oder noch allgemeiner in der Kategorie black music. Weitere Untersuchungen könnten anhand der aufgestellten Kriterien des Zeitalters der Globalisierung also folgen. Ohnehin besitzt gerade die Geschichte populärer Musikformen einen globalen historischen Kern und ihre weltweite Verbreitung und Ver-marktung sind unmittelbar mit den technischen Innovationen verknüpft, welche in den Globalisierungsphasen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen.87 In neuesten Studien wird sogar davon ausgegangen, dass al-

    87 Alexandros G. Baltzis führt die Entstehung populärer Musikformen bis auf den

    Kolonialismus und den Sklavenhandel zurück, vgl. Baltzis, „Globalization and

    musical Culture“, S. 141. In der neueren Geschichte der US-amerikanischen Po-

    pulärmusik wird die Zeit ab 1950 – also der dieser Arbeit zugrunde liegenden

    jüngsten Globalisierungsperiode – als Paradigmenwechsel bezeichnet. Die po-

    puläre Musik erfährt ab diesem Zeitpunkt eine größere Relevanz, vgl. Reebee

    Garofalo, Rockin‘ Out: popular music in the USA, Boston 1997, S. 1 ff.

  • 40 | MUSIK IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

    le populären Musikformen durch Entwicklungsgänge entstanden, die der Globalisierung zuzuschreiben sind; unterschiedliche Formen und musikali-sche Facetten dienen hierbei nur noch als regionale Orientierungen, Identi-fikationsmerkmale oder Verkaufsanreize.88

    Ein weiterer Forschungsansatz, der hier ebenfalls nicht verfolgt wird, könnte ferner darin bestehen, globale Zusammenhänge in Werken zu analy-sieren, die zeitlich vor dem Zeitalter der Globalisierung datiert werden, oder auch zu versuchen, eine Gegendarstellung an Werken im Zeitalter der Globalisierung zu vollziehen, in denen kein oder ein anders gearteter glo-balgesellschaftlicher Zusammenhang auszumachen ist.89 Freilich führten diese Diskurse auch zu Ergebnissen, welche aber die Kernthese dieser Ar-beit nicht infrage stellen würden. Die nun folgenden Beschreibungen der musikalischen Fallbeispiele unternehmen den Versuch, die gesellschaftli-chen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung sichtbar zu machen und somit auch eine Theorie zu liefern, anhand der weitere Untersuchungen entlang der aufgestellten soziologischen Kriterien erfolgen können.

    88 Vgl. Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S.

    163.

    89 Besonders hervorzuheben wären hier musikalische Fallbeispiele aus dem asiati-

    schen Raum. Globalisierungszusammenhänge werden in Indien oder Japan ganz

    anders bewertet, da gerade im kulturellen Bereich der westliche Einfluss durch

    die Wertschätzung und Geschichte der eigenen Hochkultur anders ausgeprägt

    ist. Dennoch könnte man wohl die Transformationen indischer Musikformen der

    letzten fünfzig Jahre durchaus in einem Globalisierungskontext betrachten. Es

    wurde in dieser Arbeit allerdings bewusst auf ein „asiatisches“ Beispiel verzich-

    tet, da hierfür umfangreiche Vorkenntnisse der indischen oder japanischen Mu-

    sik vonnöten wären.