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NATSUO KIRINO Teufelskind

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NATSUO KIRINO

Teufelskind

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Buch

Aiko Matsushima ist mit den Abgründen des Lebens von Kindes-beinen an vertraut. Sie wächst in einem heruntergekommenen Bor-dell in Tokio heran, von ihrer Mutter fehlt jede Spur. Außer einem Paar weißer Schuhe ist dem ungeliebten Kind nichts von ihr geblie-ben, und so muss Aiko früh lernen, sich in einer Welt voller Kälte und Rücksichtslosigkeit zu behaupten. Auch als sie älter wird, hat sie es nicht leicht. Sie schlägt sich als Prostituierte, Zimmermäd-chen oder Kellnerin so eben durch, stets umgeben von Schmutz, Armut und Elend – von Menschen, die Gescheiterte sind wie sie selbst. Und unmerklich wächst etwas in ihr heran, das eines Ta-ges mit Macht an die Oberfl äche drängt: Sie, die mit dem Rücken zur Wand steht, ist nun bereit, alle Tabus zu brechen. Getrieben von mörderischem Hass, bricht sie auf zu einem gigantischen Ra-

chefeldzug – und dabei kennt ihr Killerinstinkt keine Gnade …

Autorin

Natsuo Kirino wurde 1951 in Kanazawa geboren und lebt seit ihrer Jugend in Tokio. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Seikei University, bevor sie sich zu einer Karriere als Schriftstelle-rin entschloss. Mit ihrem Roman »Die Umarmung des Todes« ge-lang ihr der große internationale Durchbruch. Ihre Bücher werden in neunzehn Sprachen übersetzt und mit renommierten Literatur-

preisen ausgezeichnet.Mehr Informationen zur Autorin unter www.natsuo-kirino.com

Von Natsuo Kirino außerdem bei Goldmann lieferbar:

Umarmung des Todes (45852)Grotesk (gebundene Ausgabe, 30130)

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Natsuo Kirino

Teufelskind

Roman

Aus dem Japanischen von Frank Rövekamp

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Die japanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »I’m sorry, mama.« bei Shueisha, Tokio.

Für Informationen zur Autorin dankt der Verlag Lisette Gebhardt, Universität Frankfurt am Main.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das FSC-zertifi zierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

1. Aufl ageTaschenbuchausgabe November 2011

Copyright der Originalausgabe (I’m sorry, mama.)

© Natsuo Kirino 2004 (for I’m sorry, mama.)Copyright © der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2008

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Frau: Scott Stulberg/Corbis;

Schriftzeichen: FinePic®, Münchenwi · Herstellung: Str.

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-47391-5

www.goldmann-verlag.de

Zert.-Nr. SGS-COC-001940

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1. Ka pi tel

Die Kin der, die das Boot der Lie be be stie gen

An ei nem Früh lings abend schick te sich das Ehe paar Ka dota an,

sei nen zwan zigs ten Hoch zeits tag aus wärts zu fei ern. Ei gent lich

hat te sich Misaë ge freut, nach so lan ger Zeit wie der ein mal es-

sen zu ge hen, Mi noru be stand je doch auf dem Res tau rant Kin-

ka-En in Hi ga shi-Nak ano, was ihre Freu de et was trüb te. Der

Ge ruch von ge bra te nem Fleisch wür de sich in ih rer Klei dung

fest set zen. Misaë trug das Imi tat ei nes Mis soni-Strick an zugs,

den sie beim Räu mungs ver kauf ei ner Bou tique in –Okubo er gat-

tert hat te. Auf grund ih rer Lei bes fül le zo gen sich die Ma schen

un vor teil haft in die Brei te. Der dau er wel len ge lock te In ha ber

der Bou tique hat te ihr je doch mit den Wor ten ge schmei chelt,

die se rot-blau-gelb-grü ne Farb kom bi na ti on lie ße ih ren Teint

strah len der er schei nen, und so war sie ganz stolz auf ih ren An-

zug. Misaë wäre lie ber in ein Res tau rant am Hako date-Markt

ge gan gen, um Su shi zu es sen. Wenn sie da ran dach te, wie die

noch schön ge kühl ten Thun fi sch stück chen auf dem Fließ band

her an roll ten, lief ihr das Was ser im Mun de zu sam men.

»Du hät test mir gleich sa gen kön nen, dass du dich schon für

ko re a ni schen Bra ten ent schie den hast.«

Mi noru über hör te den lei sen Vor wurf sei ner Frau und be-

gann vol ler Be geis te rung, ko re a ni sche Ge rich te auf zu zäh len:

»Rip pen fl eisch, ge bra te ne In ne rei en, ge sal ze ne Zun ge mit

Lauch, Kim chi, Glas nu deln mit Fleisch und Ge mü se. Wenn

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noch Platz ist, es sen wir ko re a ni schen Pfann ku chen und zum

Ab schluss Reis aufl auf oder Reis sup pe. Oder viel leicht auch

Sup pe mit Kim chi, Tofu und Fleisch. Oder aber wir be stel len

nur das Rip pen fl eisch in bes ter Qua li tät und ver zich ten da für

auf den Rest.«

»Be stell aber bit te auch Roast beef«, setz te Misaë da ge gen.

Mi noru, der vor ihr mit fe dern dem Schritt durch die Gas sen von

Nak ano ging, schien es nicht zu hö ren. Er trug eine ver wa sche-

ne, et was zu gro ße Jeans und ei nen Par ka. Sei ne braun ge färb-

ten Haa re wa ren mit Gel nach hin ten ge kämmt. Wie ein Künst-

ler ließ er sich ei nen leich ten Kinn bart ste hen. Ob wohl schon in

fort ge schrit te nem Al ter, wirk te der klei ne und schmäch ti ge Mi-

noru noch wie An fang drei ßig. Misaë be ob ach te te ih ren Mann,

der sich so of fen kun dig auf das Brat fl eisch freu te. Ein ewi ges

Kind. Ihr fünf und zwan zig Jah re jün ge rer Mann.

Als die beiden zu sam men ge zo gen wa ren, hat te Misaë ge-

meint: »Du kannst mich Mama nen nen.« Zu erst hat te Mi-

noru die se An re de nur im Flüs ter ton ge braucht und sie nie-

mals in Ge gen wart an de rer Leu te be nutzt. Jetzt schmet ter te er

sein »Mama« laut und un ge niert he raus. Die kin der lo se Misaë

schätz te es im Grun de nicht, in der Öf fent lich keit von ih rem

Mann »Mama« ge ru fen zu wer den. Ihr kam es dann so vor, als

wol le Mi noru da mit sei ner Um welt den fal schen Ein druck ver-

mit teln, bei ih nen han de le es sich nicht um ein Ehe paar, son-

dern um eine lang sam in die Jah re kom men de Mut ter mit ih-

rem Sohn im bes ten Al ter. Wenn sie un ter sich wa ren, fand sie

Mi noru rei zend. Nur sei ne Art, sich vor an de ren Leu ten un nö-

ti ger wei se auf zu spie len, war ihr zu wi der. Viel leicht nahm sie je-

doch eher an dem Um stand An stoß, dass ihr Äu ße res sie mehr

und mehr da ran hin der te, als sei ne Ehe frau zu gel ten? Letz te-

res war wahr schein li cher. Misaë fass te den Ent schluss, sich ver-

stärkt um mehr Ju gend lich keit zu be mü hen.

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»Oh, das Ehe paar geht aus, wie schön!« Ein äl te rer Mann,

der auf dem Park platz vor der Pac hinko-Hal le ge ra de sein Fahr-

rad ab schlie ßen woll te, hob den Kopf und grins te. Der Mann

war Chef der Bau fi r ma, in der Mi noru bis Jah res en de an ge stellt

ge we sen war. Mi noru rich te te den Blick zu Bo den und gab kei-

ne Ant wort. Misaë setz te da ge gen ein Lä cheln auf. So bald der

Chef in der Pac hinko-Hal le ver schwun den war, mach te Mi noru

ihr hef ti ge Vor wür fe:

»Mama, da gibt es wirk lich nichts zu la chen. Der Kerl hat

im mer mir die Schuld ge ge ben, so gar für ei nen schie fen Fuß -

boden. Da bei war schon die Grund kons t ruk ti on miss ra ten. Für

die kann ich nichts. Ich bin Zim mer mann. Der woll te nur die

Ver ant wor tung auf mich ab wäl zen. Das hat mich wü tend ge-

macht.«

Mi noru war ein schlam pi ger Zim mer mann, und es gab oft

Be an stan dun gen: Bo den knar zen, Ris se in den Wän den, ein drin-

gender Re gen, schie fe Bö den. Ein Be schwer de an ruf er reich te

ihn so gar ein mal zu Hau se: Die Golf bäl le sei en mit gro ßem

Ge tö se da von ge rollt. Der pac hinko ver rück te Chef der Fir ma

hat te ihm be reits vor drei Mo na ten ge kün digt. Mi noru hat-

te sei ne Stel le mitt ler wei le viermal ge wech selt. Er war wohl

doch ein schlech ter Hand wer ker. Trotz dem be müh te er sich

nicht ernst haft um ei nen neu en Ar beits platz. Wenn Misaë an

die Zu kunft dach te, wur de ihr angst und ban ge. Im Al ter von

weit über sech zig be kä me sie wohl kaum eine an de re Stel le

als die ei ner Putz frau. Das hät te sich aber mit ih rem Stolz als

ehe ma li ge Kar ri e re frau nicht ver ein ba ren las sen, und so kam

es dazu, dass bei de sich mit Mis aës Ren te be schei den muss-

ten. Da konn te man sich ei nen Lu xus wie Brat fl eisch ei gent-

lich nicht leis ten.

»Spricht man so über sei nen gu ten al ten Chef? Wer weiß,

viel leicht kann er dir hel fen, eine an de re Stel le zu fi n den.«

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Mis aës Ge sichts aus druck ver här te te sich, ihr Ton blieb dabei

aber freund lich. Eine Be ga bung aus ih rer Zeit als Er zie he rin

im Kin der heim.

»Mama!« Mi noru zog ei nen Schmoll mund. »Die ser Kerl hat

sich frü her über uns bei de lus tig ge macht. Ist ja schon pein lich,

dass dei ne Frau äl ter ist als ich, hat er ge sagt.«

Vor Är ger schoss Misaë das Blut in den Kopf. Aber ihr Wil-

le, Mi noru ei nen Ar beits platz zu be sor gen, war stärker. »Könn-

test du nicht ein fach da rü ber hin wegse hen und ihn um Hil fe

bit ten?«

»So den ken nur alte Leu te. Die Ju gend blickt nach vor ne.«

»Was soll das hei ßen? Du bist auch nicht mehr jung – mit

zwei und vier zig.«

Auf die se At ta cke von Misaë mach te Mi noru ein ver blüff-

tes Ge sicht. Wie eine über rasch te Zie ge. Misaë fand es plötz-

lich amü sant. Frü her hat ten sie in dem Kin der heim, in dem sie

be schäf tigt war, eine Zie ge ge hal ten. Wie hieß die noch gleich?

»Mi noru, im Ster nenkin der haus gab es doch eine Zie ge. Die

hat te ei nen Kinn bart ge nau wie du. Wie nann ten wir die? Wir

hat ten ihr zu sam men hin ter dem Haus eine Hüt te ge baut, aus

den Ka nin chen stäl len.«

»Ach, weiß ich nicht mehr.«

Das The ma Ster nen kin der haus be wirk te bei Mi noru stets

schlech te Lau ne. Das Kin der haus in der Alt stadt war vor sie-

ben Jah ren mit ei nem gro ßen Be zirks kin der heim zu sam men -

gelegt wor den, und da mit war auch sein Name ver schwun den.

Wäh rend Misaë die se Nach richt damals trau rig stimm te, hat te

Mi noru Er leich te rung ver spürt.

Die in Plas tik ein ge schweiß ten Spei se kar ten des Res tau rants

Kin ka-En wa ren von ei nem kleb ri gen Fett fi lm über zo gen. Un-

ge dul dig sah sich Misaë nach der Be die nung um. Es war eine

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klei ne Knei pe mit fünf Ti schen, die ins ge samt nur etwa zwan-

zig Gäs te fass te. Alle Plät ze wa ren be setzt. Durch das gan ze Lo-

kal zog wei ßer Qualm. Hin ter den Schwa den konn te man ei-

nen Mann mitt le ren Al ters aus ma chen, der sich auf die The ke

lüm mel te und ge bannt auf den Fern seh schirm oben im Hän ge-

re gal starr te. Sei ne Ge sichts zü ge wie sen ihn als Ko re a ner aus.

Auch die weib li che Be die nung lehn te an der The ke und ver folg-

te trä ge die Sen dung. Sie muss te fast ei nen Me ter sieb zig sein,

war also sehr groß für eine Frau. Die bei den sa hen sich of fen-

bar die Sie ben-Uhr-Nach rich ten im Sen der NHK an. An statt

fern zu se hen, könn tet ihr die Spei se kar ten ab wi schen und zü-

gig die Be stel lun gen auf neh men, dach te sich Misaë und woll te

ihre Be schwer de schon vor brin gen, als das Pro fi l der Frau mit

der auf fäl lig plat ten Nase eine Er in ne rung in ihr wach rief. Sie

be gann an ge strengt nach zu den ken. In letz ter Zeit wur de ihre

Ver gess lich keit im mer schlim mer. Ver such te sie, sich ei ner Sa-

che zu ent sin nen, pas sier te es im mer öf ter, dass sie ver gaß, wo-

ran sie sich er in nern woll te. Darüber war sie verärgert und be-

unruhigt zugleich. Mi noru, der die Spei se kar te stu dier te, frag te

bei läu fi g:

»Mama, du willst be stimmt Soda mit ei nem Schuss

Schnaps?«

»Zu erst ein Bier. Igitt, der Ge stank zieht in mei ne schö nen

Klei der. Wi der lich.«

Misaë deu te te auf ihre Strick ja cke und brach te da mit ih ren

Un mut ge gen ü ber Mi noru zum Aus druck, weil er ih rem neu en

Outfi t so gar kei ne Auf merk sam keit schen ken woll te. Mi noru,

der sich schon kurz nach dem er in die Knei pe ge kom men war,

sei ner Ja cke ent le digt hat te und nun im kurz är me li gen T-Shirt

da saß, ant wor te te kühl:

»Zieh sie doch aus. Ehr lich ge sagt, ge fällst du mir in die sen

af fek tier ten Kla mot ten nicht be son ders gut.«

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»Was? Wie so? Die wa ren ziem lich teu er! Selbst zum hal ben

Preis noch 18 000 Yen.«

Ver ständ nis los be tas te te Misaë das Eti kett ih res Strick-

an zugs.

»Das ist kei ne Fra ge des Prei ses, Mama. Du wirkst da rin wie

die Di rek to rin vom Kin der heim, die auf dem Ster nen kin der fest

die Leu te be grüßt. Die Er zie he rin nen möch ten da im mer be son-

ders chic sein. So soll test du nicht aus se hen.«

Ei gent lich hat te sie Di rek to rin wer den wol len, die ses Ziel

aber nicht er reicht. Und das, weil sie, be vor die Sa che mit Mi-

noru he raus kam, ihre Stel le auf gab und ins So zi al bü ro wech-

sel te. Misaë mus ter te Mi noru spöt tisch. Egal, ihre Ja cke konn te

sie kei nes falls aus zie hen, weil sie da run ter Wär me un ter wä sche

trug. Är ger lich häng te sie sich den Par ka um, den Mi noru bei-

sei te ge legt hat te. Sie hoff te da mit, ihre Klei dung we nigs tens ein

biss chen vor Qualm und Es sens ge rü chen zu schüt zen. Mi noru

war mit der Spei se kar te be schäf tigt und fuhr, ohne ihr wei ter

Be ach tung zu schen ken, fort:

»Ir gend wie ge fällt mir manch mal nicht, was du trägst. Al les

so ent setz lich spie ßig. Wei ße Blu se mit grau em Rock und so.

Scheuß lich. Das schreit ja förm lich nach Er zie he rin.«

Misaë lä chel te ge quält. Was heißt denn, schreit? Sie war eine

Er zie he rin, wie sie im Bu che stand. Mi noru hat te sie als ei nes

der Kin der im Ster nenkin der haus ken nen ge lernt. Er war eine

jäm mer li che klei ne Heul su se ge we sen, die stets ihre Nähe such-

te. »Mis aëëë«, rief er dau ernd und rann te hin ter ihr her. Das

schwäch li che Kind wäre von den an de ren ge hän selt wor den,

wenn Misaë es nicht in Schutz ge nom men hät te. Wann es so

ge kom men war, konn te sie nicht sa gen, aber ir gend wann hat te

sie Mi noru tief in ihr Herz ge schlos sen. Um die se Be vor zugung

zu ver ber gen, wur de er zu ih rem heim li chen Kind. Gleich sam

eine ver bor ge ne Mut ter-Sohn-Be zie hung. Ein zig und al lein er

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war ihr sü ßer Junge, dem sie in ei ner Ecke der Kü che oder im

Schat ten des Gar ten di ckichts Sü ßig kei ten gab, den sie fest um-

arm te, dem sie über den Kopf strei chel te und ge dul dig zu hör te.

Alle Er zie he rin nen hat ten Kin der, die sie be vor zug ten. Aber im

Fal le von Misaë ging es über den üb li chen Rah men hi naus, was

da ran lag, dass Mi noru über alle Ma ßen an ihr hing. Er hat te als

Klein kind sei ne Mut ter ver lo ren, und sein Va ter brach den Kon-

takt zu ihm ab, nach dem er Mi noru ins Kin der heim ge geben

hat te. Mino rus Le ben war ganz vom Man gel an el ter li cher Zu-

wen dung ge prägt. Sei ne Art, sich an an de re zu klam mern, war

nicht nor mal. Misaë war schließ lich so gar zur Über zeu gung

ge langt, dass Mi noru ohne sie kein voll wer ti ger Mensch wer-

den könn te.

Misaë war te te, bis Mi noru mit acht zehn Jah ren für die

Schrei ner leh re das Heim ver las sen und auf ei ge nen Fü ßen ste-

hen soll te. Dann mach te sie ihr An ge bot. Da mals war sie vier-

und vier zig. Als er fah re ne Er zie he rin war sie in der Po si ti on, die

jün ge ren Kol le gen an zu lei ten, aber ohne Mi noru ver spür te sie

für sich kei ner lei Sinn mehr in der Ar beit im Kin der heim.

»Mi noru, lass uns doch zu sam men zie hen. Du bist jetzt kein

Heim kind mehr, und so wird es kei ner er fah ren. Selbst wenn

man nach dei nem Ver bleib fragt, bin ich es ja, die den Be richt

schreibt. Also kein Prob lem. Ich wer de dich im mer be schüt zen

und für dich sor gen. Du hast ein so star kes Ver lan gen nach ei-

ner Mut ter, dass du ohne mich auf die schie fe Bahn ge ra ten

könn test.«

Un ge ach tet des sen, dass in Mis aës Wor ten eine Dro hung mit-

schwang, brach Mi noru in Trä nen aus und ant wor te te un ter

Schluch zen:

»Da mit machst du mich so glück lich! In der Bau fi r ma sind

alle so ge mein zu mir. Die äl te ren An ge stell ten zie hen mich auf

mit Fra gen wie ›Kann denn je mand, der kei ne Fa mi lie kennt,

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ein Haus bau en?‹. Da für kann ich doch nichts«, rief Mi noru

un ter Trä nen aus, als sie zum ers ten Mal im Fu ton schlie fen.

Wäh rend Misaë ihn fest um arm te und trös te te, krümm te Mi-

noru sei nen Kör per, schmieg te sich fest an sie und be rühr te ihre

Brüs te. Dann seufz te er zu frie den.

Misaë und Mi noru leb ten nicht wie Mann und Frau zu sam-

men, son dern viel mehr wie Mut ter und Kind. Die ser Mut ter

und die sem Kind, die frü her in al ler Öf fent lich keit vor ge ben

muss ten, Er zie he rin und Heim kind zu sein, war es end lich ge-

lun gen, ihr Le ben frei und ohne Rück sicht auf an de re füh ren

zu kön nen. Drei Jah re nach Be ginn ih res heim li chen Zu sam-

men le bens schien Mis aës Be för de rung zur Di rek to rin un mit-

tel bar be vor zu ste hen. Als Mi noru das hör te, fi ng er an zu

to ben:

»Die Di rek to rin ist Mut ter für alle, dann wirst du nicht mehr

mei ne Mama sein.«

»Ich blei be dei ne Mama, das Heim hat doch mit dir nichts

mehr zu tun.«

»Das hat es wohl. Es ist mein Boot. Das Boot, das ich und du

zu sam men be stie gen ha ben. Das Boot, das uns von je nem Ufer

zu die sem ge bracht hat.«

»Ja, und was ist mit die ser Woh nung?«

»Die ist mein und dein Zu hau se. Erst als ich das Boot ver las-

sen hat te, lern te ich ein rich ti ges Zu hau se ken nen.«

Misaë war wie be nom men von Mino rus wun der li cher Theo -

rie. Das Heim, das für die Kin der eine fried li che Fa mi lie sein

soll te, war also nicht ein Zu hau se für Mi noru ge we sen. Wäre

die ses Kind nicht auf sie ge trof fen, dann wäre es wohl auf ewig

hei mat los und ver lo ren ge we sen.

»Du wirst doch be stimmt bald eine jun ge Frau hei ra ten. Dann

will ich als Di rek to rin ar bei ten. Denn wenn ich mich nicht in

die Ar beit stür ze, wer de ich ein sam sein.«

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»Ich wer de nie mals hei ra ten. Du wür dest es auch un er träg-

lich fi n den. Wenn ich mit ei ner an de ren Frau schla fen wür de.«

Ja, un er träg lich. Ab so lut. An je nem Abend ge schah es. Dass

sie ihn wie ein Klein kind ba de te, ihn wusch, ihn ins Fu ton steck-

te und sich von der Nah rungs auf nah me bis zur Ab füh rung um

al les küm mer te. Misaë und Mi noru hei ra te ten stan des amt lich,

und sie ent schied sich für eine Ver set zung. So be kam sie gleich-

zei tig ihr Kind und ih ren Mann.

Der Mi noru von heu te barst gleich sam vor Selbst be wusst-

sein, ver gli chen mit frü her. Aber nur ich, Misaë, weiß, wie dünn

das Eis ist. Ohne mich wäre aus die sem Kind nichts ge wor den.

Ohne mich wäre die ses Kind vom rech ten Wege ab ge kom men.

Mit die ser Ein sicht, die sem Ge fühl und die sem Be wusst sein

konn te sie Mi noru – moch te er auch ein schlech ter Schrei ner

sein, und moch te er auch ein Mann sein, der kei nen ver nünf ti-

gen Ge schlechts akt zu stan de brach te – un ein ge schränkt lie ben.

Sie wür de ihn für im mer an Stel le der Mut ter glück lich ma chen.

War nicht auch das die Lie be ei ner Frau?

»Wir möch ten be stel len!«

Mino rus lau te Stim me hol te Misaë in die Wirk lich keit zu-

rück. Die Frau, die den Fern se her an ge starrt hat te, be quem-

te sich end lich an ih ren Tisch. Sie muss te et was über vier zig

sein und war von mas si ger Ge stalt, fast wie eine Rin ge rin. Ihr

schul ter lan ges Haar zeig te vom An satz her sei ne dunk le Na tur-

far be, wäh rend sich der un te re Teil in blond ab hob. Die Blon-

die rung schien je doch be reits ei ni ge Zeit zu rück zu lie gen, da

der schwar ze Teil ih rer Haa re er heb lich län ger war. Über dem

oran ge far be nen T-Shirt trug sie eine schmud de li ge Schür ze aus

schwar zem Se gel tuch. Im Ge sicht hat te sie eine dich te Schicht

wei ßer Schmin ke ver teilt, der knall ro te Lip pen stift, der sich mit

der Far be des T-Shirts biss, war ver schmiert. Ob wohl ihre un-

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gepfl eg te Er schei nung we nig an zie hend war, moch te sie mit ih-

rem paus bä cki gen Mond ge sicht, den bu schi gen Brau en und den

ab fal len den Au gen win keln auf man chen Be trach ter gar nicht so

un sym pa thisch wir ken.

Die Frau, ein Tab lett un ter den Arm ge klemmt, no tier te Mino-

rus Be stel lung um ständ lich mit der lin ken Hand. Als sie spür te,

dass Misaë sie an sah, warf sie ihr ei nen Blick un ter ge senk ten

Li dern zu. In der Tie fe ih rer Au gen fl a cker te für ei nen Mo ment

ein kal tes Licht auf, wie bei ei nem Raub tier. Er schro cken fi xier-

te Misaë den Rü cken der Frau, die sich vom Tisch ent fernt hat-

te. Ir gend wo war sie der schon ein mal be geg net.

Als Mi noru we nig spä ter ganz da rin ver sun ken war, das

Fleisch auf dem klei nen Brat rost vor sich zu ver tei len, frag te

sie ihn mit ge dämpf ter Stim me: »Mi noru, kommt die dir nicht

ir gend wie be kannt vor?«

Mi noru zog die Au gen brau en zu sam men und fo kus sier te sei-

nen Blick. Ob wohl er kurz sich tig war, weigerte er sich, eine

Bril le zu tra gen.

»Noch nie ge se hen. Be stimmt ir gend ei ne alte Tan te aus der

Nach bar schaft.«

»Alte Tan te ist gut, die hat un ge fähr dein Al ter. Kannst du dir

vor stel len, wie die Frau frü her aus ge se hen hat? Du, ich glau be,

die war da mals auch im Kin der haus. Ir gend wie hat te ich plötz-

lich das Ge fühl, sie als Kind vor mir zu se hen.«

»Meinst du, sie war ein Ster nen kind? Aber wer wohl? Mo-

ment. Ich den ke, ich ken ne sie.«

Mi noru ver stumm te. Die Frau brach te das Ma gen fl eisch und

knall te da bei den Tel ler lieb los auf den Tisch. Mi noru warf ei-

nen kur zen Blick auf die Plat te mit den In ne rei en und fl üs ter-

te has tig:

»Mama, ist das viel leicht Aiko? Aiko Mat sush ima, die in mei-

nem zwei ten Grund schul jahr neu in die Klas se kam.«

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Aus den Tie fen von Mis aës Be wusst sein trat die Ge stalt ei nes

dün nen Mäd chens mit aus drucks lo sem Ge sicht und he run ter-

hän gen den Au gen her vor. Es war selt sam, wie es sich bei sei nem

Ein tritt ins Kin der haus ver hielt. Ob wohl Aiko ganz al lei ne an

ei nen ihr un be kann ten Ort ge bracht wor den war, zeig te sie we-

der Angst noch Trau er. Sie er in ner te viel mehr an ein Kind, das

mit gro ßen Au gen im Zoo ein ihm un be kann tes Tier be trach tet.

Die meis ten Kin der bra chen in Pa nik aus, wenn sie von El tern

und Ge schwis tern ge trennt wur den und mit den vie len an de-

ren Kin dern konfrontiert wurden. Aiko war da ganz an ders. Sie

häng te sich an die Er zie her und woll te nach dem Abend es sen

mit ins Dienst zim mer. Wenn man sie dann in das Kin der zim-

mer ver frach te te, sah sie ver wun dert drein, als wol le sie sa gen:

»Was habe ich denn hier ver lo ren?« Eine Zeit hielt sich Aiko

selbst nicht für ein Kind.

Spä ter hör te man vom Wohl fahrts aus schuss, dass Aiko ver-

mut lich zum ers ten Mal an de ren Kin dern be geg ne t war. Sie war

in ei nem Bor dell im Tai to-Be zirk auf ge wach sen. Der Va ter war

un be kannt, die Mut ter gleich nach der Ge burt des Ba bys ver-

schwun den. Für Aiko gab es nir gends ei nen rich ti gen Platz. Un-

be ach tet wuchs sie in ei nem ab ge le ge nen Win kel des Bor dells

he ran. Es wur de wei ter be rich tet, dass ein be sorg ter So zial ar bei-

ter nach ih rer Mut ter such te, als man auf dem Amt die feh len de

Schul an mel dung fest stell te. Die Mut ter war je doch nicht auf zu-

fi n den. In zwi schen war die Be treib erin des Etab lis se ments von

ei nem Auto über fah ren wor den, der Bor dell be trieb fand da mit

sein Ende. Aiko, die nun ohne Blei be war, hat te sich dann of-

fen bar von sich aus an eine Po li zei dienst stel le ge wandt. Wohl-

fahrts aus schuss und Er zie her be rie ten ein ge hend, wie man an-

ge sichts die ser er schüt tern den Lage mit Aiko um ge hen soll te.

Sie ver füg te je doch wi der Er war ten über eine er staun li che An-

pas sungs fä hig keit. Bald verhielt sie sich im Heim wie ein ganz

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ge wöhn li ches acht jäh ri ges Kind. Ab ge se hen von ih ren man gel-

haf ten Leis tun gen auf grund der ver spä te ten Ein schu lung gab es

kei ne be son de ren Prob le me. Die acht Jah re bis zum Ab schluss

der Mit tel schu le blieb sie in der Ein rich tung. Zwi schen durch

hat te sie auch ein Jahr lang bei ei ner Pfl e ge fa mi lie ge lebt. Ob-

wohl sie klein und dünn ge we sen war, als sie ins Heim ein trat,

ent wi ckel te sie sich in der Mit tel schu le sehr schnell. Im Dienst-

zim mer war da mals viel da von die Rede, dass Aiko frü her ziem-

lich un ter er nährt ge we sen sein muss te.

»Jetzt fällt’s mir wie der ein«, mein te Misaë, wäh rend sie Zun-

gen fl eisch in die Zit ro nen so ße tunk te. »Die ses Kind war voll-

kom men nor mal, ob wohl es un ter so schlim men Um stän den

auf ge wach sen war. Im mer lä chelnd und freund lich. Sie war ein

I mi ta ti ons ta lent. Kam es nicht pri ma an, wenn sie je den von

uns so perfekt nach mach te?«

Mi noru ver zog sein Ge sicht.

»Es ist dir nicht auf ge fal len, aber ich hat te wirk lich Angst vor

der. Weißt du, dass sie eine dre cki ge Schach tel bei sich hat te? Mit

ein paar Schu hen. Ab ge lau fe nen al ten Schu hen. So wei ße Din ger,

wie sie Kran ken schwes tern tra gen. Sie sag te, die sei en ein An den-

ken an ihre Mut ter. So weit ja in Ord nung, aber sie hat mit die-

sen Schu hen ge spro chen! Im mer und im mer wie der. Dazu noch

in ver teil ten Rol len. Da wur de ei nem rich tig übel.«

Mi noru äffte es nach: »Mami, dei ne klei ne Aiko ist heu te

ganz hoch über den Kas ten ge sprun gen. Nein, wirk lich? Mei-

ne klei ne Aiko scheint ihre sport li che Ader wohl von der Mami

ge erbt zu ha ben. Ich war ein Ass am Reck. Ich konn te nicht nur

Felg auf schwung, son dern so gar das gro ße Rad. Toll, Mami! Ich

bin so wie du, Mami. Und so re de te und re de te die. Da rü ber

wuss ten alle Be scheid. Ge lo gen war das Gan ze noch dazu. Kann

man denn im vier ten Schul jahr so hoch über den Kas ten sprin-

gen? Wuss test du da von wirk lich nichts, Mama?«

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Misaë, die in der Über zeu gung leb te, eine be son ders gute Er-

zie he rin ge we sen zu sein, war scho ckiert, da von erst jetzt aus

dem Mun de von Mi noru zu er fah ren.

»Nein! Das wuss te ich nicht.«

»Sie hat es ga ran tiert nie vor den Er zie hern ge macht. Sie re-

de te nur, wenn kei ner im Zim mer war, oder sie hat sich in ei-

nem der gro ßen Wand schrän ke ver steckt. Ein mal hat es aber

Sak ura Inoue mit be kom men und sie völ lig lä cher lich ge macht:

›Aiko, du bist ja so was von ab ar tig.‹ Wuss test du das al les

wirk lich nicht?«

Mi noru, der ihr zum zwei ten Mal ihre Un kennt nis un ter die

Nase rieb, war heu te un aus steh lich.

Misaë schlug zu rück: »Ja ja, Sak ura war wirk lich ein klu ges

Kind, fast wie eine Er wach se ne. Die Be mer kung wür de zu ihr

pas sen. Sie fi el von An fang an durch ihr Ta lent auf. Spä ter be-

kam sie so gar ein Sti pen di um für eine staat li che Uni ver si tät.

Scha de, dass sie so früh ge stor ben ist.«

Mi noru ver zog auf der Stel le das Ge sicht. »Hat test du mir

nicht ver spro chen, nie an de re vor mir zu lo ben? Nur ich bin

doch dein lie bes Kind.«

»Tut mir leid.«

»Schon gut. Ist ja Schnee von ges tern. Also, Mama, du er -

innerst dich wirk lich nicht an die Sa che mit der Schuh schach tel?«

Misaë neig te nach denk lich den Kopf. Ver sun ken in Er in-

ne run gen, hat ten die bei den das Es sen ganz ver ges sen. Das

Rippen fl eisch war be reits ein we nig an ge brannt. Mi noru lös te

das Fleisch vom Rost und tat es Misaë auf den Tel ler.

»Dan ke, das ist nett.«

Mis aës Lob ließ Mi noru er rö ten, und er gab ein paar Grum-

mel lau te von sich. Mi noru war schwach, aber nett. Nett, aber

schwach. Ihr Le ben hat te durch die Be geg nung mit die sem Kind

eine dra ma ti sche Wen de ge nom men. Wie wäre es wohl ver lau-

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fen, wenn sie wei ter ih rer Ar beit nach ge gan gen und Di rek to rin

vom Ster nenkin der haus ge wor den wäre? Als Er zie he rin hät te

sie damit Karriere gemacht, aber als Frau wäre sie un voll stän-

dig ge blie ben. Noch in ten si ver als ge wöhn lich kreis ten Mis aës

Ge dan ken um Mi noru. Sie hat te vor, noch min des tens wei te re

zwan zig Jah re zu le ben, um Mi noru ein an ge neh mes Äl ter wer-

den zu er mög li chen.

»Könn ten Sie mal bit te?«

Mit ih rem Blick for der te die Bedienung dazu auf, Platz auf

dem Tisch zu schaf fen. Wäh rend Misaë has tig Tel ler und Stäb-

chen an die Sei te räum te, setz te die Kell ne rin mit un be weg-

ter Mie ne die schwe re Stein schüs sel voll Reis aufl auf ab. Misaë

sprach sie mit un ver hoh le ner Neu gier an:

»Ver zei hung, ich kann mich täu schen, aber sind Sie nicht

Aiko Mat sush ima? Ich bin Misaë Ka dota und habe im Sternen -

kin der haus als Er zie he rin ge ar bei tet.«

Die Frau er starr te für ei nen Mo ment, dann senk te sie den

Blick und lach te.

»Dann stimmt es also. Ich habe mir auch schon ge dacht, ist

das nicht un se re Er zie he rin Misaë? Ganz si cher war ich mir

nicht, weil Sie so dick ge wor den sind. Aber an die Ge sich ter

von Men schen kann ich mich recht gut er in nern.«

Misaë fühl te sich durch die Takt lo sig keit der Frau et was ver-

letzt, freu te sich je doch trotz dem und wies auf Mi noru:

»Und weißt du, wer das ist?«

Mi noru starr te Aiko mit ver schränk ten Ar men an. Misaë

wuss te, dass Mi noru Prob le me mit gleich alt ri gen oder jün ge-

ren Frau en hat te, und ob wohl sie sich si cher war, dass er ihr

Ver hal ten miss bil lig te, konn te sie ihre Freu de da rü ber, ein Kind

aus dem Heim wie der zu se hen, nicht un ter drü cken.

»Das ist Pro fes sor Mäh Mäh«, ant wor te te Aiko wie aus der

Pis to le ge schos sen.

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Misaë brach in schal len des Ge läch ter aus, Mi noru war wie

vom Don ner ge rührt.

»Jetzt mach mal halb lang. Hieß so nicht die Zie ge im Kin der-

heim? Ja ge nau, Pro fes sor Mäh Mäh hieß die, Mama.«

Misaë glaub te zu er ken nen, dass Aiko ihre bu schi gen Brau-

en über rascht hob, als Mi noru sie Mama nann te. So er klär te

sie un um wun den:

»Also, wir sind ver hei ra tet. Wir woh nen in der Nähe. Be such

uns doch ein mal bei Ge le gen heit. Ich möch te wis sen, wie es dir

geht. Wenn es nö tig ist, hel fe ich dir auch ger ne. Tut mir leid,

wenn ich zu viel rede, aber ich will eben im mer noch die Mama

von euch al len sein.«

Der kal te Aus druck in Ai kos Au gen ver än der te sich nicht,

wäh rend sie ver such te, be geis tert zu klin gen: »Na tür lich, ger ne,

sehr ger ne. Ganz be stimmt. Ich kom me Sie auf je den Fall be -

suchen. Wie fi n de ich Sie denn? Ge ben Sie mir doch mal Ad res se

und Te le fon num mer.«

Aiko riss ein Blatt von dem schä bi gen Be stell block ab und

drück te Misaë ih ren Blei stift in die Hand, be vor sie zu ei nem

an de ren Tisch ging, um ab zu räu men. Es war te ten be reits wei-

te re Gäs te.

Mi noru fl üs ter te: »Wie blöd, Mama. Wirk lich blöd. Die an-

zu spre chen. Hat te ich nicht ge ra de ge sagt, wie ver rückt die ist?

Küm mer dich doch nicht um die.«

»Wie so denn? Mir lie gen die Kin der aus dem Heim am Her-

zen. Ob sie wohl glück lich sind? Tau send Din ge kom men mir

da plötz lich in den Sinn. Viel leicht soll te ich mei ne Me moi ren

schrei ben.«

Misaës Be sorg nis galt stets der Fra ge, ob die ihr einst an ver-

trau ten Kin der jetzt so glück lich wa ren wie Mi noru und sie.

Von Jahr zu Jahr wünsch te sie es sich stär ker, dass die vom

Glück so we nig be güns tig ten Kin der nun ein schö nes Le ben

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füh ren wür den. Viel leicht wur de man so mit sie ben und sech zig.

Dank ih rer Ar beit als Er zie he rin und dank der Hei rat mit Mi-

noru hat te sie an mensch li cher Rei fe ge won nen. Wie stand es

wohl um die be mit lei dens wer te Aiko? Misaë wand te sich um

und be trach te te sie.

Aiko be ar bei te te, den fl ei schi gen Rü cken über das Ge rät ge-

beugt, ziem lich un be hol fen den Ta schen rech ner an der Kas-

se. Das mas ken haf te Make-up ließ ih ren Ge sichts aus druck

un ergründ lich wir ken. Aber Aiko muss te sich, so wie sie war,

eben falls durchs Le ben kämp fen. Hef ti ge Wech sel fäl le wa ren si-

cher auch die sem Kind nicht er spart ge blie ben. Misaë schnür te

es die Keh le zu sam men.

»Hör mal, Mi noru, wie wäre das: ›Die Kin der, die das Boot

der Lie be be stie gen‹? Als Ti tel für mei ne Me moi ren.«

Kaum hat te sie es aus ge spro chen, da war es ihr selbst pein-

lich, und sie wur de rot.

»Mama, du hast ja ei nen ganz ro ten Kopf. Was ist los?«, frag-

te Mi noru ver wun dert. Er schien sich nicht im Ge rings ten für

ihre Über le gun gen zu in te res sie ren.

»Das Kim chi ist zu scharf.«

»Wa rum isst du denn so schar fe Sa chen, wenn du sie nicht

ver trägst. So, und jetzt lass uns noch bei Yama-chan vor bei-

schau en, ich will noch Kara oke sin gen. Dann ge hen wir nach

Hau se.«

Misaë war froh, dass Mi noru an dem Satz »Ich will die

Mama von al len sein«, der ihr bei Aiko her aus ge rutscht war,

nicht wei ter An stoß ge nom men hat te. Sie aß zum Schluss ein

Stück von dem an ge brann ten und erkalteten Fleisch. Da es je-

doch hart und kaum mehr zu kau en war, nahm sie es aus dem

Mund und ließ es auf die Erde fal len. Macht nichts in die sem

dre cki gen La den, dach te sie.

Als sie an der Kas se die Rech nung be glich, reich te sie Aiko

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ver stoh len den Zet tel mit ih rer An schrift. Aiko ließ das Pa pier

in ih rer Schür zen ta sche ver schwin den und nick te. Mi noru war

auf der Toi let te.

»Mi noru und ich schau en jetzt noch in der klei nen Kara oke-

Bar vor bei. Willst du nicht spä ter da zu kom men?«

»Ist es denn recht, wenn ich da ein fach auf kreu ze?«

Aiko zähl te mit ge senk tem Kopf das Wech sel geld ab.

»Aber si cher. Wir sind ja alle aus der Fa mi lie der Ster nen kin-

der. Sag mal, bist du ver hei ra tet?«

»Nein.«

Heiß wall te Mit leid in Mis aës Brust auf. Aiko ging also im-

mer noch ganz al lein durchs Le ben.

»Komm nach her ein fach dazu. Wir sind bei Yama-chan im

Knei pen vier tel. Du warst doch ein I mi ta ti ons ta lent. Ich wür de

ger ne hö ren, wie du Kara oke singst.«

Auf die ses Komp li ment hin hob Aiko den Kopf und ver dreh-

te kurz die Au gen. Es sah al bern aus. Sie weiß wohl nicht, wie

sie re a gie ren soll, dach te Misaë und klopf te ihr auf die Schul ter.

»Ent schei de dich ganz nach Lust und Lau ne.«

Vie le ehe ma li ge Heim kin der woll ten die Tat sa che ver heim li-

chen, ein mal in ei ner sol chen Ein rich tung ge we sen zu sein. Sie

fürch te ten, von der Ge sell schaft dis kri mi niert zu wer den. Aiko

muss te schon die vier zig über schrit ten ha ben. Soll te sie da nicht

über der lei Be fi nd lich kei ten hin weg sein und den Blick nach

vor ne rich ten? Misaë fühl te sich stark und glück lich, die se über-

le ge ne Ein stel lung ge won nen zu ha ben.

Die klei ne Bar war völ lig leer, sie wa ren die ein zi gen Gäs te. Ir-

gend wie wirk ten die oran ge far be ne Be leuch tung und die an

der Wand zu Schau ge stell ten Künst ler au to gram me an die sem

Abend trist und düs ter.

Misaë, die sich ei nen Grape fruit-Cock tail be stellt hat te, saß

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ne ben Mi noru an der The ke. Sie konn te sich nicht rich tig ent-

span nen. Im mer wie der dreh te sie sich zur Tür um. Sie fühl te

sich in zwi schen schul dig, Aiko, die sie so plötz lich wie der ge-

trof fen hat ten, ohne Mino rus Wis sen ein ge la den zu ha ben. Mi-

noru kam beim Sin gen nur schlecht in Stim mung, wohl weil

kei ne an de ren Gäs te da wa ren. Er sang »Say Yes« und »Du

un mög li ches Biest«. An sons ten hielt er sich an sei nen Cock tail.

»Wie wäre es, wenn die Frau Mut ter auch ein Lied chen

singt?«

Die Che fi n der Bar, die um die Mit te vier zig sein moch te,

hielt ihr das Mik ro fon hin. Misaë war zu vor drei mal mit Mi-

noru in dem Lo kal ge we sen, und man schien sie für sei ne Mut-

ter zu hal ten. Es gab kein Ent rin nen, und so gab sie »Die Win-

ter land schaft an der Meer en ge von Tsu garu« zum Bes ten. Der

fre ne ti sche Bei fall von Mi noru und der Wir tin be rühr te Misaë

pein lich.

»Ge hen wir lang sam, Mama.«

Als Mi noru sich er hob, blick te Misaë un will kür lich auf ihre

Arm band uhr. Es war nach drei und zwan zig Uhr. Das ko re a ni-

sche Res tau rant hat te schon längst ge schlos sen. Aiko war es of-

fensichtlich nicht da nach, sie zu tref fen. Dach te Misaë über ihre

Mo ti ve nach, er kann te sie, dass auch sie nicht wirk lich die Ver-

bin dung mit Aiko such te. Viel mehr ver lang te sie es nur zu er fah-

ren, wie ein Kind wie Aiko, das un ter so un ge wöhn li chen Um-

stän den auf ge wach sen war, mit dem Le ben zu recht kam. Aiko

hat te Mis aës Neu gier even tu ell durch schaut. Es war also nur

gut, dass sie nicht er schie nen war.

Sie ent schie den sich da für, zu Fuß nach Hau se zu ge hen. Ihre

Woh nung lag im Zent rum des Stadt teils Nak ano. Sie wür den

fünf und zwan zig Mi nu ten brau chen. Die Abend luft war er füllt

vom Duft der Kirsch blü ten. Ein fried li cher Abend. Mi noru leg-

te den Arm um Mis aës gut ge pols ter te Schul tern.

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»Tut mir leid, Mama.«

»Was denn?«

»Die Wir tin hat dich doch Mut ter ge nannt. Wirk lich är ger-

lich, aber ich hab lie ber den Mund ge hal ten, weil das Er klä ren

im mer so läs tig ist. Tut mir wirk lich leid.«

»Schon gut. Ich bin es ge wohnt.«

»Nein, es war dumm! Ich woll te ei gent lich sa gen: Was re den

Sie denn da, wir sind seit über zwan zig Jah ren ver hei ra tet. Aber

dann fi n de ich es manch mal sehr anstrengend, es frem den Leu-

ten zu er klä ren.«

Misaë nick te und schwieg. Sie emp fand es ähn lich. Nie mand

konn te ihre Be zie hung ver ste hen. Von der mit blü hen den Kirsch-

bäu men ge säum ten Stra ße, die an den Glei sen ent langführ te,

bo gen sie in eine Gas se, in der sich klei ne Wohn häu ser an ei n-

an der reih ten. Plötz lich wur de der Weg dun kel. Mi noru nahm

Mis aës Hand, und so gin gen sie wei ter.

»Ich war wirk lich über rascht, Aiko zu tref fen. Aber es hat

mich wie der tief be wegt, Mama, was für eine wun der ba re Frau

du bist.«

»Wie so?«

»Hat te ich nicht ge sagt, dass ich die ser Aiko nicht über den

Weg ge traut und sie nie ge mocht habe? Aber du bist groß ar tig.

So gar um sol che Ty pen sorgst du dich. Ich war wohl ein fach

ein biss chen ei fer süch tig.«

Ein war mes Ge fühl spru del te nur so aus ih rem Her zen, und

Misaë ver spür te plötz lich den Drang, Mi noru mit ih rer gan zen

Lie be zu ver wöh nen. »Mi noru, wol len wir heu te Abend Baby

spie len? Sag doch mal ›bab uba bub abu‹.«

»Aber Mami.«

Mino rus Stim me hat te be reits den Ton fall ei nes Klein kin des

an ge nom men. Sie wür de ihn als Baby an ih ren Brüs ten sau-

gen las sen, ihm die Win deln wech seln und ihn pu dern. Und

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Natsuo Kirino

TeufelskindRoman

Taschenbuch, Broschur, 224 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-47391-5

Goldmann

Erscheinungstermin: Oktober 2010

Provokant und schonungslos – das faszinierende Psychogramm einer jungen Frau, die ihreSeele verloren hat und zur Serienmörderin wird Aiko Matsushima kennt die Härten des Lebens von Kindesbeinen an. Sie wächst in einemBordell in Tokio heran, ihr Vater ist unbekannt, von ihrer Mutter fehlt jede Spur. Umgeben vonArmut und Elend muss sie früh lernen, erbittert um ihre Existenz zu kämpfen – und ihre Träumevon einem besseren Leben für immer zu begraben. Doch es kommt der Tag, an dem das Böseerwacht in ihr. Und sie, die nichts zu verlieren hat, lässt ihren Regungen ungezügelt freien Lauf,bereit, alle Tabus zu brechen ...