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Magazin Freitag 24. April 2015 FOLK Melodien am Abgrund Neue Alben Sufjan Stevens. Carrie & Lowell. Zunächst ist da diese Erhaben- heit der Melodien, das filigrane Gitarrenspiel, die einschmei- chelnde Stimme. Nach Abste- chern zu orchestralen Klängen und zum Elektropop ist Sufjan Stevens zu seinen Folkwurzeln zurückgekehrt. Doch unter der einlullenden Oberfläche öffnen sich tiefe Abgründe. Auslöser für Stevens’ neues, formal ent- schlacktes Werk war der Tod sei- ner Mutter Carrie, die mit Schi- zophrenie und Drogenabhängig- keit gekämpft hatte. Hier dreht sich alles um Tod, Verlust und die unendlichen Facetten der Liebe. Ein trauriges, manchmal verzweifeltes Album, das seine Kraft aus der Songwriterkunst und den schlichten Melodien ei- nes Manns schöpft, den die «Sun- day Times» als gegenwärtig in- teressantesten Musiker Ameri- kas einschätzte. (Irascible.) ROCK Musik als Medizin Rocky Votolato. Hospital Hand- shakes. Der in Seattle domizi- lierte Songwriter Rocky Votolato ist keiner, der das Leben auf die leichte Schulter nimmt. Dabei tritt er bei seinen Konzerten, die er oft solo bestreitet, als souve- räner und humorvoller Enter- tainer auf. Seine Alben aber tra- gen Titel wie «Suicide Medicine», und seinem neuen Werk ging eine tiefe Depression voraus. Davon hört man auf «Hospital Hand- shakes» wenig. Dafür gibt es hier melodieseligen Powerpop, kan- tige Punkriffs und eine Stimme voller Leidenschaft, die Potenzial zu einer grossen Karriere böte. Doch die Leichtigkeit des Show- biz ist nicht Votolatos Ding. «Ich schreibe über das Trauma», sagt er. «Musik hat eine heilende Wir- kung – und ich denke, das hört man.» (Irascible) AMERICANA Zurück an den Start Elliott Murphy. Aquashow De- constructed. Der US-Songwriter Elliott Murphy pflegte schon im- mer eine leidenschaftliche Affäre mit Europa. Hier verdiente er sein erstes Geld als Strassenmu- siker, hier gelang ihm später der Durchbruch als rock ’n’rollender Troubadour. Und hier liess er sich für sein Debütalbum «Aqua- show» inspirieren, das 1973 er- schienen ist. «He’s gonna be a monster», glaubte die Platten- firma damals, doch Murphy blieb stets ein Insidertipp, trotz Kol- laborationen mit Bruce Spring- steen und Co. Nun hat Murphy sein Debüt wieder besichtigt und neu eingespielt. Zusammen mit europäischen Musikern und mit der Weisheit eines weit gereisten Geschichtenerzählers. Grosses Songwriting zwischen Bob Dy- lan und Lou Reed und eine al- terslose Stimme, die immer noch unter die Haut fährt. (Blue Rose) Samuel Mumenthaler LITERATUR Schummrige Sa- loons, die Weite der Prärie und Büffelherden: John Williams wiederentdeckter Roman «Butcher’s Crossing» ist Lite- ratur im Breitbandformat. Ein Western, der kein Western ist – und ein Buch von existen- zieller Wucht und Schönheit. Er ist gerade einmal dreiund- zwanzig Jahre jung, stammt aus bestem Haus, hat in Harvard stu- diert, sein Vater ist Laienpredi- ger. «Jetzt bist du noch weich», sagt Francine, die hübsche Hure in Butcher’s Crossing, die gerade nicht arbeitet und sich ihm annä- hert. «Wenn du zurückkommst, wirst du hart und rau sein, wie die anderen Männer.» Es sind die Siebzigerjahre des 19. Jahrhun- derts. Will Andrews ist von Bos- ton nach Kansas in die Stadt der Büffeljäger gekommen. Auf der Suche nach seinem wahren Selbst, das er unter den Schich- ten der Zivilisation in der Wildnis zu finden hofft, schliesst er sich einem Jagdtrupp an. Die grosse Zeit der Büffelfelle ist eigentlich schon vorbei, die Herden sind weitgehend ausgerottet. Doch Miller, der Mann, dem Andrews folgt, hat in einem versteckten Hochtal in den Bergen von Colo- rado vor Jahren eine riesige Her- de gesehen. Mit Planwagen, Och- sengeschirr und Pferden, einem mürrischen Häuter und dem ein- armigen Alkoholiker Charley als Wagenlenker und Koch brechen sie aus der Büffeljägerstadt auf. Es ist der Mythos der Erobe- rung des Wilden Westens, den der US-amerikanische Autor John Williams (1922–1994) in «Butcher’s Crossing» verhandelt. Dabei versetzt er seinen 1960 er- schienenen Roman mit allen In- gredienzen eines klassischen Western. Doch er nimmt das Genre der Trivialliteratur als Fo- lie. Dass es kein gutes Ende neh- men wird, weiss, wer die beiden Zitate liest, die Williams seinem Roman voranstellt: eine Passage aus R.W. Emersons Essay «Na- ture», wo der Philosoph die Na- tur als wahre Quelle der gött- lichen Offenbarung feiert. Und das vernichtende Gegenargu- ment seines Zeitgenossen Her- man Melville, Verfasser von «Mo- by Dick», über die zerstörerische Gewalt der Natur. Vor dieser Fall- höhe findet der Roman statt. Zeitlich verortet verhandelt er zeitlose, existenzielle Fragen. Und die Jagd nach den Büffeln wird zur Parabel, die bis in unsere heutige Zeit weist. Gemalte Landschaften Zunächst ist die Natur schön. Und schön ist auch Williams Pro- sa. Geschmeidig perlen die Sätze. Der Autor, der neben Romanen Gedichte geschrieben hat, malt die Landschaften des mittleren Westens im Breitbandformat. Man fühlt den Staub in den Au- gen brennen, sieht das Präriegras in wechselndem Licht, riecht das verwesende Büffelfleisch. Detail- genau beschreibt Williams, wie Bleikugeln gegossen werden oder wie man erlegten Büffeln die Haut abzieht, und steht damit einem Hemingway in nichts nach. «Etwas Schwarzes bewegte sich unter den dunklen Kiefern, die am gegenüberliegenden Berghang des Tals wuchsen. Am Rand dieses Fleckens verlief eine leichte Wellenbewegung, dann erbebte der Fleck selbst wie eine grosse Wasserfläche, die von ver- borgenen Strömungen bewegt wird»: Als die Truppe die Herde findet, beginnt das grosse Ab- schlachten. Systematisch er- schiesst Miller nach und nach na- hezu alle fünftausend Büffel, die Felle werden mitgenommen, die nackten Kadaver bleiben zurück und verrotten. Es ist nicht Blut- rausch, nicht Gier. Andrews er- kennt es als «kalte, hirnlose Re- aktion auf das Leben, auf das Miller sich eingelassen hatte». Doch die Natur schlägt zurück: Der Wintereinfall kommt, später schwellen die Flüsse an, auch die Nachfrage nach Fellen unterliegt ihren eigenen Gesetzen. Die grosse Leere im Westen Dort, wo «so etwas Schönes wie die eigene, unentdeckte Natur» auftauchen sollte, bleibt Leere zurück, wie sie Williams, der zweieinhalb Jahre bei den Army Air Forces in Indien und Burma stationiert war, wohl nur zu gut kannte. Eine Leere der Seele, die sich im Buch in dem verkom- menen Städtchen nach dem En- de des Büffelrausches spiegelt. «Butcher’s Crossing» ist ein Ent- wicklungsroman mit umgekehr- ten Vorzeichen, der nicht die Natur verherrlicht, sondern von Verrohung erzählt. Er tut es mit grosser Poesie und zeitloser Schönheit. Anne-Sophie Scholl Der Tanz um den Büffel Natur als göttliche Offenbarung oder zerstörerische Gewalt: John Williams verhandelt in seinem Roman den Mythos der Eroberung des Wilden Westens. Nick Hall «Butcher’s Crossing»: John Williams, dtv, 368 S. JOHN WILLIAMS UND SEIN ROMAN «STONER» Zu Lebzeiten wurde John Wil- liams (1922–1994) gelesen, der ganz grosse Erfolg jedoch blieb aus. Dieser setzte erst ein, nach- dem sein dritter Roman «Stoner» 2003 in der Reihe New York Re- view Classics neu aufgelegt wor- den war. Seither gilt der Autor in den USA als Ikone der klassi- schen Moderne. Auf Deutsch ist John Williams erst seit wenigen Jahren zu lesen. 2013 erschien «Stoner» in deutscher Überset- zung, 2015 legte der Verlag sei- nen zweiten Roman «Butcher’s Crossing» nach. Williams hat vier Romane und zwei Gedichtbände geschrieben, ein fünfter Roman blieb unvollendet. Während John Williams in «Butcher’s Crossing» von der Sehnsucht nach unverfälschter Natur schreibt, führt «Stoner» von der Natur zur Kultur. Der Ro- man spielt im 20. Jahrhundert und erzählt von einem armen Farmerssohn, der seine Leiden- schaft für Literatur entdeckt und Professor an einer Universität wird. Es ist ein vordergründig un- spektakulärer Roman, darüber, was es heisst, ein Mensch zu sein – in der Liebe, der Freundschaft, der Ehe, der Familie, der Arbeit und im Krieg. ass «Stoner»: John Williams, dtv, 352 S., 2013 erschienen. «Der schwarze Fleck erbebte wie eine Wasserfläche, die von verborge- nen Strömungen bewegt wird.» aus «Butcher’s Crossing» BERNER KRIMI Ein neuer Berner Kommissar taucht auf der literarischen Landkarte auf: Mit liebevollem Humor nimmt Godi Huber in dreizehn unblutigen Kürzestkrimis das Genre aufs Korn. Was für ein Auftakt: «Bruno Pe- retti, ein altgedienter Tschugger der Berner Kantonspolizei, ge- hörte nicht zu denen, die Tage zählen. Deshalb war die Pensio- nierung plötzlich da. Noch eine Woche Akten ausmisten, dann würde er sich von den Kollegen und Büropflanzen verabschie- den. Da trat der Chef ins Büro, ein Dossier in der Hand. ‹Bruno, du bist der einzige, der Zeit hat. Ein Taxi mit Fahrer ist spurlos ver- schwunden. Kümmere dich dar- um.›» Brunos letzter Fall bei der Kantonspolizei ist zugleich sein erster Fall im Land der Literatur. Blut fliesst nicht in den Kür- zestkrimis von Godi Huber, dem Kommunikationsleiter der Ge- meinde Köniz und früheren Mit- arbeiter dieser Zeitung. Dafür durchzieht feiner Humor die Ge- schichten. Seine Hauptfigur hat der 1958 geborene Autor beste- henden Kommissaren nachemp- funden – Donna Leons unermüd- licher Brunetti klingt in dessen Namen an oder auch Bruno, der Chef de Police der Périgord-Kri- mis von Martin Walker. Ausge- stattet ist Peretti aber mit bäri- gen – pardon bernischen Attribu- ten: Er ist gutmütig, menschlich und ein notorischer Beizengän- ger. In seiner Stammbeiz bestellt er jeweils ein Bier und einen Sta- pel Bierdeckel: «Indem er die De- ckel auslegte, einsammelte, aus- legte und wieder einsammelte, ordnete er seine Gedanken, bis sich Beobachtungen und Ahnun- gen zu einer Spur verdichteten.» Peretti beschattet einen Rosen- kavalier, lauert einer Diebin von Glückskarten auf oder spürt ei- nem gelben Taxi nach, das sich bis San Remo verfahren hat. Und über die dreizehn Kurzkrimis, die je für sich selbst stehen, bahnt sich eine Liebesgeschichte an mit Frau Huber, Perettis Lieblings- nachbarin. Erschienen sind die Krimis im Berner Verlag Sage und Schreibe, Rosenkavaliere und Glückskartendiebe der mit dem Büchlein seinen Ein- stand gibt. Gegründet wurde er unter anderem von Tina Uhl- mann, einer langjährigen Mitar- beiterin dieser Zeitung. Weil die Krimis aus dem Bernbiet so kurz, so dialogisch und dialektal ge- färbt sind, vertonte sie der Radio- mann Pierre Kocher gelesen von Schauspieler Dieter Stoll und mit Akkordeonklängen unter- malt. Anne-Sophie Scholl Godi Huber: Bärige Menschlichkeit durchzieht seine Kürzestkrimis. zvg «Bruno Peretti – Bärenstark»: Godi Huber, Sage und Schrei- be, 72 Seiten. Vernissage: 6. Mai, Thalia Thun; Radio: Radio Berner Oberland, ab 26. April, 20 Uhr; Radio Rabe, ab 28. April, 18.30 Uhr. Info und weitere Termine: www.sageundschreibe-verlag.ch 28 28

Neue Alben Der Tanz um den Büffel€¦ · Sufjan Stevens. Carrie & Lowell. Zunächst ist da diese Erhaben-heit der Melodien, das filigrane Gitarrenspiel, die einschmei-chelnde Stimme

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Page 1: Neue Alben Der Tanz um den Büffel€¦ · Sufjan Stevens. Carrie & Lowell. Zunächst ist da diese Erhaben-heit der Melodien, das filigrane Gitarrenspiel, die einschmei-chelnde Stimme

Magazin Freitag24. April 2015

FOLKMelodienam Abgrund

NeueAlben

Sufjan Stevens. Carrie & Lowell.Zunächst ist da diese Erhaben-heit der Melodien, das filigraneGitarrenspiel, die einschmei-chelnde Stimme. Nach Abste-chern zu orchestralen Klängenund zum Elektropop ist SufjanStevens zu seinen Folkwurzelnzurückgekehrt. Doch unter dereinlullenden Oberfläche öffnensich tiefe Abgründe. Auslöser fürStevens’ neues, formal ent-schlacktes Werk war der Tod sei-ner Mutter Carrie, die mit Schi-zophrenie und Drogenabhängig-keit gekämpft hatte. Hier drehtsich alles um Tod, Verlust unddie unendlichen Facetten derLiebe. Ein trauriges, manchmalverzweifeltes Album, das seineKraft aus der Songwriterkunstund den schlichten Melodien ei-nes Manns schöpft, den die «Sun-day Times» als gegenwärtig in-teressantesten Musiker Ameri-kas einschätzte. (Irascible.)

ROCKMusikals Medizin

Rocky Votolato. Hospital Hand-shakes. Der in Seattle domizi-lierte Songwriter Rocky Votolatoist keiner, der das Leben auf dieleichte Schulter nimmt. Dabeitritt er bei seinen Konzerten, dieer oft solo bestreitet, als souve-räner und humorvoller Enter-tainer auf. Seine Alben aber tra-gen Titel wie «Suicide Medicine»,und seinem neuen Werk ging einetiefe Depression voraus. Davonhört man auf «Hospital Hand-shakes» wenig. Dafür gibt es hiermelodieseligen Powerpop, kan-tige Punkriffs und eine Stimmevoller Leidenschaft, die Potenzialzu einer grossen Karriere böte.Doch die Leichtigkeit des Show-biz ist nicht Votolatos Ding. «Ichschreibe über das Trauma», sagter. «Musik hat eine heilende Wir-kung – und ich denke, das hörtman.» (Irascible)

AMERICANAZurückan den Start

Elliott Murphy. Aquashow De-constructed. Der US-SongwriterElliott Murphy pflegte schon im-mer eine leidenschaftliche Affäremit Europa. Hier verdiente ersein erstes Geld als Strassenmu-siker, hier gelang ihm später derDurchbruch als rock ’n’rollenderTroubadour. Und hier liess ersich für sein Debütalbum «Aqua-show» inspirieren, das 1973 er-schienen ist. «He’s gonna be amonster», glaubte die Platten-firma damals, doch Murphy bliebstets ein Insidertipp, trotz Kol-laborationen mit Bruce Spring-steen und Co. Nun hat Murphysein Debüt wieder besichtigt undneu eingespielt. Zusammen miteuropäischen Musikern und mitder Weisheit eines weit gereistenGeschichtenerzählers. GrossesSongwriting zwischen Bob Dy-lan und Lou Reed und eine al-terslose Stimme, die immernoch unter die Haut fährt. (BlueRose) Samuel Mumenthaler

LITERATUR Schummrige Sa-loons, die Weite der Prärie undBüffelherden: John Williamswiederentdeckter Roman«Butcher’s Crossing» ist Lite-ratur im Breitbandformat. EinWestern, der kein Western ist– und ein Buch von existen-zieller Wucht und Schönheit.

Er ist gerade einmal dreiund-zwanzig Jahre jung, stammt ausbestem Haus, hat in Harvard stu-diert, sein Vater ist Laienpredi-ger. «Jetzt bist du noch weich»,sagt Francine, die hübsche Hurein Butcher’s Crossing, die geradenicht arbeitet und sich ihm annä-hert. «Wenn du zurückkommst,wirst du hart und rau sein, wie dieanderen Männer.» Es sind dieSiebzigerjahre des 19. Jahrhun-derts. Will Andrews ist von Bos-ton nach Kansas in die Stadt derBüffeljäger gekommen. Auf derSuche nach seinem wahrenSelbst, das er unter den Schich-ten der Zivilisation in der Wildniszu finden hofft, schliesst er sicheinem Jagdtrupp an. Die grosseZeit der Büffelfelle ist eigentlichschon vorbei, die Herden sindweitgehend ausgerottet. DochMiller, der Mann, dem Andrewsfolgt, hat in einem verstecktenHochtal in den Bergen von Colo-rado vor Jahren eine riesige Her-de gesehen. Mit Planwagen, Och-sengeschirr und Pferden, einemmürrischen Häuter und dem ein-armigen Alkoholiker Charley als

Wagenlenker und Koch brechensie aus der Büffeljägerstadt auf.

Es ist der Mythos der Erobe-rung des Wilden Westens, dender US-amerikanische AutorJohn Williams (1922–1994) in«Butcher’s Crossing» verhandelt.Dabei versetzt er seinen 1960 er-schienenen Roman mit allen In-gredienzen eines klassischenWestern. Doch er nimmt dasGenre der Trivialliteratur als Fo-lie. Dass es kein gutes Ende neh-men wird, weiss, wer die beidenZitate liest, die Williams seinemRoman voranstellt: eine Passageaus R.W. Emersons Essay «Na-ture», wo der Philosoph die Na-tur als wahre Quelle der gött-lichen Offenbarung feiert. Unddas vernichtende Gegenargu-ment seines Zeitgenossen Her-man Melville, Verfasser von «Mo-by Dick», über die zerstörerischeGewalt der Natur. Vor dieser Fall-höhe findet der Roman statt.Zeitlich verortet verhandelt erzeitlose, existenzielle Fragen.Und die Jagd nach den Büffelnwird zur Parabel, die bis in unsereheutige Zeit weist.

Gemalte LandschaftenZunächst ist die Natur schön.Und schön ist auch Williams Pro-sa. Geschmeidig perlen die Sätze.Der Autor, der neben RomanenGedichte geschrieben hat, maltdie Landschaften des mittlerenWestens im Breitbandformat.Man fühlt den Staub in den Au-

gen brennen, sieht das Präriegrasin wechselndem Licht, riecht dasverwesende Büffelfleisch. Detail-genau beschreibt Williams, wieBleikugeln gegossen werden oderwie man erlegten Büffeln dieHaut abzieht, und steht damiteinem Hemingway in nichtsnach.

«Etwas Schwarzes bewegtesich unter den dunklen Kiefern,die am gegenüberliegendenBerghang des Tals wuchsen. AmRand dieses Fleckens verlief eineleichte Wellenbewegung, dannerbebte der Fleck selbst wie einegrosse Wasserfläche, die von ver-borgenen Strömungen bewegt

wird»: Als die Truppe die Herdefindet, beginnt das grosse Ab-schlachten. Systematisch er-schiesst Miller nach und nach na-hezu alle fünftausend Büffel, dieFelle werden mitgenommen, dienackten Kadaver bleiben zurückund verrotten. Es ist nicht Blut-rausch, nicht Gier. Andrews er-kennt es als «kalte, hirnlose Re-aktion auf das Leben, auf dasMiller sich eingelassen hatte».Doch die Natur schlägt zurück:Der Wintereinfall kommt, späterschwellen die Flüsse an, auch dieNachfrage nach Fellen unterliegtihren eigenen Gesetzen.

Die grosse Leere im WestenDort, wo «so etwas Schönes wiedie eigene, unentdeckte Natur»auftauchen sollte, bleibt Leerezurück, wie sie Williams, derzweieinhalb Jahre bei den ArmyAir Forces in Indien und Burmastationiert war, wohl nur zu gutkannte. Eine Leere der Seele, diesich im Buch in dem verkom-menen Städtchen nach dem En-de des Büffelrausches spiegelt.«Butcher’s Crossing» ist ein Ent-wicklungsroman mit umgekehr-ten Vorzeichen, der nicht dieNatur verherrlicht, sondern vonVerrohung erzählt. Er tut es mitgrosser Poesie und zeitloserSchönheit.

Anne-Sophie Scholl

Der Tanz um den Büffel

Natur als göttliche Offenbarung oder zerstörerische Gewalt: John Williams verhandelt in seinem Roman den Mythos der Eroberung des Wilden Westens. Nick Hall

«Butcher’s Crossing»:John Williams, dtv, 368 S.

JOHN WILLIAMS UND SEIN ROMAN «STONER»

Zu Lebzeiten wurde John Wil-liams (1922–1994) gelesen, derganz grosse Erfolg jedoch bliebaus. Dieser setzte erst ein, nach-dem sein dritter Roman «Stoner»2003 in der Reihe New York Re-view Classics neu aufgelegt wor-den war. Seither gilt der Autor inden USA als Ikone der klassi-schen Moderne. Auf Deutsch istJohn Williams erst seit wenigenJahren zu lesen. 2013 erschien«Stoner» in deutscher Überset-zung, 2015 legte der Verlag sei-nen zweiten Roman «Butcher’sCrossing» nach. Williams hat vierRomane und zwei Gedichtbändegeschrieben, ein fünfter Romanblieb unvollendet.

Während John Williams in«Butcher’s Crossing» von derSehnsucht nach unverfälschterNatur schreibt, führt «Stoner»von der Natur zur Kultur. Der Ro-man spielt im 20. Jahrhundertund erzählt von einem armenFarmerssohn, der seine Leiden-schaft für Literatur entdeckt undProfessor an einer Universitätwird. Es ist ein vordergründig un-spektakulärer Roman, darüber,was es heisst, ein Mensch zu sein– in der Liebe, der Freundschaft,der Ehe, der Familie, der Arbeitund im Krieg. ass

«Stoner»: John Williams,dtv, 352 S., 2013 erschienen.

«Der schwarzeFleck erbebte wieeine Wasserfläche,die von verborge-nen Strömungenbewegt wird.»

aus «Butcher’s Crossing»

BERNER KRIMI Ein neuerBerner Kommissar taucht aufder literarischen Landkarteauf: Mit liebevollem Humornimmt Godi Huber in dreizehnunblutigen Kürzestkrimis dasGenre aufs Korn.

Was für ein Auftakt: «Bruno Pe-retti, ein altgedienter Tschuggerder Berner Kantonspolizei, ge-hörte nicht zu denen, die Tagezählen. Deshalb war die Pensio-nierung plötzlich da. Noch eineWoche Akten ausmisten, dannwürde er sich von den Kollegenund Büropflanzen verabschie-den. Da trat der Chef ins Büro, einDossier in der Hand. ‹Bruno, dubist der einzige, der Zeit hat. EinTaxi mit Fahrer ist spurlos ver-

schwunden. Kümmere dich dar-um.›» Brunos letzter Fall bei derKantonspolizei ist zugleich seinerster Fall im Land der Literatur.

Blut fliesst nicht in den Kür-zestkrimis von Godi Huber, demKommunikationsleiter der Ge-meinde Köniz und früheren Mit-arbeiter dieser Zeitung. Dafürdurchzieht feiner Humor die Ge-schichten. Seine Hauptfigur hatder 1958 geborene Autor beste-henden Kommissaren nachemp-funden – Donna Leons unermüd-licher Brunetti klingt in dessenNamen an oder auch Bruno, derChef de Police der Périgord-Kri-mis von Martin Walker. Ausge-stattet ist Peretti aber mit bäri-gen – pardon bernischen Attribu-ten: Er ist gutmütig, menschlich

und ein notorischer Beizengän-ger. In seiner Stammbeiz bestellter jeweils ein Bier und einen Sta-pel Bierdeckel: «Indem er die De-ckel auslegte, einsammelte, aus-legte und wieder einsammelte,ordnete er seine Gedanken, bissich Beobachtungen und Ahnun-gen zu einer Spur verdichteten.»Peretti beschattet einen Rosen-kavalier, lauert einer Diebin vonGlückskarten auf oder spürt ei-nem gelben Taxi nach, das sichbis San Remo verfahren hat. Undüber die dreizehn Kurzkrimis, dieje für sich selbst stehen, bahntsich eine Liebesgeschichte an mitFrau Huber, Perettis Lieblings-nachbarin.

Erschienen sind die Krimis imBerner Verlag Sage und Schreibe,

Rosenkavaliere und Glückskartendiebeder mit dem Büchlein seinen Ein-stand gibt. Gegründet wurde erunter anderem von Tina Uhl-mann, einer langjährigen Mitar-beiterin dieser Zeitung. Weil dieKrimis aus dem Bernbiet so kurz,so dialogisch und dialektal ge-färbt sind, vertonte sie der Radio-mann Pierre Kocher – gelesenvon Schauspieler Dieter Stoll undmit Akkordeonklängen unter-malt. Anne-Sophie Scholl

Godi Huber: Bärige Menschlichkeitdurchzieht seine Kürzestkrimis. zvg

«Bruno Peretti – Bärenstark»:Godi Huber, Sage und Schrei-

be, 72 Seiten. Vernissage: 6. Mai,Thalia Thun; Radio: Radio BernerOberland, ab 26. April, 20 Uhr;Radio Rabe, ab 28. April, 18.30Uhr. Info und weitere Termine:www.sageundschreibe-verlag.ch

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