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Internist 2014 · 55:93–102 DOI 10.1007/s00108-013-3409-2 Online publiziert: 9. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 H.K. Berthold Klinik für Innere Medizin und Geriatrie, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld Neue orale  Antikoagulanzien Wer braucht sie wirklich? Ein Mann sucht unter einer Straßenlaterne seinen Schlüssel. Ein Polizist hilft ihm bei der Suche. Als der Polizist nach langem Su- chen wissen will, ob der Mann sicher sei, den Schlüssel hier verloren zu haben, ant- wortet jener: „Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.“ Paul Watzlawick demonstriert mit dieser Geschichte, wie man sein Unglück stei- gern kann, indem man sein untaugliches Bemühen verdoppelt. An diese Geschich- te bin ich erinnert, wenn die Befürworter der neuen oralen Antikoagulanzien (NO- AC) es als Vorteil herausstellen, dass bei diesen Wirkstoffen keine Gerinnungs- kontrollen benötigt werden. An der fal- schen Stelle zu suchen und damit nicht wirklich zu suchen, wie der Mann unter der Laterne, heißt Tatsachen zu ignorie- ren. Das ist in der Medizin selten ein gu- ter Rat. Wer die Gerinnung unter oraler Antikoagulation nicht kontrolliert (und auch gar nicht kontrollieren kann!), soll sich vermeintlich über das Ausmaß der Gerinnungshemmung auch keine Ge- danken machen müssen. Die NOAC sol- len eine größere therapeutische Breite als die klassischen Vitamin-K-Antagonisten (VKA) haben, es bleibt aber unklar, an welchen Parametern diese Aussage fest- gemacht wird. Dass aber NOAC, eben- so wie VKA, über- oder unterdosiert sein können, wird niemand bestreiten. Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Frage, welches die belegten Vor- teile der NOAC bei der Schlaganfallprä- vention und welches irreführende Inter- pretationen von Daten sind. Zudem ver- sucht er zu definieren, welche Patienten die neuen Wirkstoffe wirklich brauchen. Besondere Berücksichtigung finden da- bei Aspekte der Therapietreue, grundle- gende klinisch-pharmakologische Über- legungen zur Wirkkinetik der Substanz- gruppen sowie die wechselseitige Beein- flussung dieser beiden Parameter. Vorhofflimmern und orale Antikoagulation Das Vorhofflimmern ist eine typische Er- krankung des höheren Lebensalters. Bei unter 60-Jährigen beträgt die Prävalenz etwa 1%, im Alter >80 Jahre dagegen >9%. Die altersadjustierte 2-Jahres-Inzidenz für einen Schlaganfall ist bei diesen Patienten etwa 3- bis 5-mal höher als bei Menschen im Sinusrhythmus. Leitlinien empfehlen beim nichtvalvulären Vorhofflimmern die Prävention von kardioembolischen Kom- plikationen mit oralen Antikoagulanzien [1]. Seit einigen Jahrzehnten ist die orale Antikoagulation mit VKA aus der Grup- pe der Kumarine (Phenprocoumon, War- farin) in Gebrauch. Durch ihren Einsatz kann das Schlaganfallrisiko etwa halbiert werden [2, 3, 4]. Unstrittig besteht generell eine Untertherapie mit oralen Antikoagu- lanzien, auch wenn neuerlich aus der An- wendung des CHA 2 DS 2 -VASc-Scores im Vergleich zum alten CHADS 2 -Score eine Indikationsausweitung resultiert. D Die Handhabung der  Vitamin-K-Antagonisten ist  bekanntermaßen nicht einfach. Die Untertherapie kann auch durch die Sorge um ihre Nebenwirkungen und durch den aufwendigen und schwierigen Umgang mit ihnen erklärt werden. Wel- chen Anteil an einer unzureichenden Ein- stellung der Faktor „Benutzer“ (Arzt, Pa- tient) und welchen der Faktor „Wirkstoff “ (pharmakodynamische und pharmakoki- netische Eigenschaften) hat, ist im Einzel- fall schwer zu messen. Die Güte der Ein- stellung mit oralen Antikoagulanzien wird meist mit dem prozentualen Anteil der Zeit beschrieben, in dem die Inter- national Normalized Ratio (INR) inner- halb des gewünschten Zielbereichs liegt [“time in therapeutic range“ (TTR)]. Die- ser Parameter ist die Resultante von Do- sis, Dosierungsschema, Arzneimittel- und Nahrungsmittelinteraktionen, gene- tischen und anderen individuellen Fakto- ren sowie Therapietreue. Welcher der ge- nannten Faktoren auf die Güte der Ein- stellung im Einzelfall den größten Einfluss hat, kann selten genau bestimmt werden. Es gibt jedoch Gründe, anzunehmen, dass der Nonadhärenz die größte Bedeu- tung zukommt. Deshalb wird zu diskutie- ren sein, wie sich eine gegebene Nonadhä- renz bei VKA bzw. NOAC auswirkt. Neue orale Antikoagulanzien Mit den NOAC stehen erstmals Alterna- tiven für die Schlaganfallprävention zur Verfügung. Sie unterscheiden sich phar- makologisch wesentlich von den VKA und stellen eine bedeutende Weiterent- wicklung der Möglichkeiten zur oralen Antikoagulation dar. In den neuen Leit- linien der European Society of Cardiolo- gy (ESC) wird bereits jetzt eine Bevorzu- gung der NOAC gegenüber VKA empfoh- Redaktion M. Wehling, Mannheim 93 Der Internist 1 · 2014| Arzneimitteltherapie

Neue orale Antikoagulanzien; New oral anticoagulants;

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Internist 2014 · 55:93–102DOI 10.1007/s00108-013-3409-2Online publiziert: 9. Januar 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

H.K. BertholdKlinik für Innere Medizin und Geriatrie, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld

Neue orale AntikoagulanzienWer braucht sie wirklich?

Ein Mann sucht unter einer Straßenlaterne seinen Schlüssel. Ein Polizist hilft ihm bei der Suche. Als der Polizist nach langem Su-chen wissen will, ob der Mann sicher sei, den Schlüssel hier verloren zu haben, ant-wortet jener: „Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.“

Paul Watzlawick demonstriert mit dieser Geschichte, wie man sein Unglück stei-gern kann, indem man sein untaugliches Bemühen verdoppelt. An diese Geschich-te bin ich erinnert, wenn die Befürworter der neuen oralen Antikoagulanzien (NO-AC) es als Vorteil herausstellen, dass bei diesen Wirkstoffen keine Gerinnungs-kontrollen benötigt werden. An der fal-schen Stelle zu suchen und damit nicht wirklich zu suchen, wie der Mann unter der Laterne, heißt Tatsachen zu ignorie-ren. Das ist in der Medizin selten ein gu-ter Rat. Wer die Gerinnung unter oraler Antikoagulation nicht kontrolliert (und auch gar nicht kontrollieren kann!), soll sich vermeintlich über das Ausmaß der Gerinnungshemmung auch keine Ge-danken machen müssen. Die NOAC sol-len eine größere therapeutische Breite als die klassischen Vitamin-K-Antagonisten (VKA) haben, es bleibt aber unklar, an welchen Parametern diese Aussage fest-gemacht wird. Dass aber NOAC, eben-so wie VKA, über- oder unterdosiert sein können, wird niemand bestreiten.

Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Frage, welches die belegten Vor-teile der NOAC bei der Schlaganfallprä-vention und welches irreführende Inter-pretationen von Daten sind. Zudem ver-sucht er zu definieren, welche Patienten

die neuen Wirkstoffe wirklich brauchen. Besondere Berücksichtigung finden da-bei Aspekte der Therapietreue, grundle-gende klinisch-pharmakologische Über-legungen zur Wirkkinetik der Substanz-gruppen sowie die wechselseitige Beein-flussung dieser beiden Parameter.

Vorhofflimmern und orale Antikoagulation

Das Vorhofflimmern ist eine typische Er-krankung des höheren Lebensalters. Bei unter 60-Jährigen beträgt die Prävalenz etwa 1%, im Alter >80 Jahre dagegen >9%. Die altersadjustierte 2-Jahres-Inzidenz für einen Schlaganfall ist bei diesen Patienten etwa 3- bis 5-mal höher als bei Menschen im Sinusrhythmus. Leitlinien empfehlen beim nichtvalvulären Vorhofflimmern die Prävention von kardioembolischen Kom-plikationen mit oralen Antikoagulanzien [1]. Seit einigen Jahrzehnten ist die orale Antikoagulation mit VKA aus der Grup-pe der Kumarine (Phenprocoumon, War-farin) in Gebrauch. Durch ihren Einsatz kann das Schlaganfallrisiko etwa halbiert werden [2, 3, 4]. Unstrittig besteht generell eine Untertherapie mit oralen Antikoagu-lanzien, auch wenn neuerlich aus der An-wendung des CHA2DS2-VASc-Scores im Vergleich zum alten CHADS2-Score eine Indikationsausweitung resultiert.

D Die Handhabung der Vitamin-K-Antagonisten ist bekanntermaßen nicht einfach.

Die Untertherapie kann auch durch die Sorge um ihre Nebenwirkungen und

durch den aufwendigen und schwierigen Umgang mit ihnen erklärt werden. Wel-chen Anteil an einer unzureichenden Ein-stellung der Faktor „Benutzer“ (Arzt, Pa-tient) und welchen der Faktor „Wirkstoff “ (pharmakodynamische und pharmakoki-netische Eigenschaften) hat, ist im Einzel-fall schwer zu messen. Die Güte der Ein-stellung mit oralen Antikoagulanzien wird meist mit dem prozentualen Anteil der Zeit beschrieben, in dem die Inter-national Normalized Ratio (INR) inner-halb des gewünschten Zielbereichs liegt [“time in therapeutic range“ (TTR)]. Die-ser Parameter ist die Resultante von Do-sis, Dosierungsschema, Arzneimittel- und Nahrungsmittelinteraktionen, gene-tischen und anderen individuellen Fakto-ren sowie Therapietreue. Welcher der ge-nannten Faktoren auf die Güte der Ein-stellung im Einzelfall den größten Einfluss hat, kann selten genau bestimmt werden. Es gibt jedoch Gründe, anzunehmen, dass der Nonadhärenz die größte Bedeu-tung zukommt. Deshalb wird zu diskutie-ren sein, wie sich eine gegebene Nonadhä-renz bei VKA bzw. NOAC auswirkt.

Neue orale Antikoagulanzien

Mit den NOAC stehen erstmals Alterna-tiven für die Schlaganfallprävention zur Verfügung. Sie unterscheiden sich phar-makologisch wesentlich von den VKA und stellen eine bedeutende Weiterent-wicklung der Möglichkeiten zur oralen Antikoagulation dar. In den neuen Leit-linien der European Society of Cardiolo-gy (ESC) wird bereits jetzt eine Bevorzu-gung der NOAC gegenüber VKA empfoh-

RedaktionM. Wehling, Mannheim

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Arzneimitteltherapie

len, während andere Leitlinien zurückhal-tender sind.

Die verfügbaren NOAC wirken über eine direkte Thrombinhemmung (Dabi-gatran) bzw. eine reversible Hemmung des Faktors Xa (Rivaroxaban, Apixaban). Für diese Wirkstoffe wurde in großen ran-domisierten klinischen Studien die Nicht-unterlegenheit gegenüber Warfarin be-wiesen [5, 6, 7, 8]. Dabei wurde für Da-bigatran in der höheren Dosierung so-wie für Apixaban eine Verminderung von Insulten oder Embolien gezeigt, wäh-rend Dabigatran in der niedrigeren Do-sierung sowie Rivaroxaban in Bezug auf diesen Endpunkt neutral waren. Die Häu-figkeit schwerer Blutungen wurde durch Dabigatran in niedrigerer Dosierung so-wie durch Apixaban vermindert, während Dabigatran in der höheren Dosierung so-wie Rivaroxaban neutral waren. Die Ver-besserung hinsichtlich der Endpunkte war in allen Studien zwar signifikant, aber in den Effektgrößen marginal. Aus Post-hoc-Analysen wurden in verschiedener Hin-sicht auch statistisch signifikante Überle-genheiten abgeleitet, obgleich alle Studien als Nichtunterlegenheitsstudien angelegt waren. In allen Zulassungsstudien waren alte und sehr alte sowie geriatrische Pa-

tienten unterrepräsentiert. Folglich ist die Erfahrung in diesen wichtigen Patienten-gruppen bisher gering [9].

»  In allen Zulassungsstudien waren alte und sehr alte Patienten unterrepräsentiert

Die neuen Wirkstoffe verteuern die Tages-therapiekosten beträchtlich. Eine „num-ber needed to treat“ (NNT) von 167 bei Dabigatran beispielsweise bewirkt Mehr-kosten in Höhe von >200.000 € zur Ver-hinderung eines Ereignisses [9]. Kos-ten-Nutzen-Analysen aus anderen Ge-sundheitssystemen geben Hinweise, dass die Gesamttherapie günstiger wird, die-se Daten liegen jedoch für Deutschland nicht vor.

Die Verordnungszahlen der NOAC steigen stark an, was auch auf eine einfa-chere Handhabung, eine größere Sicher-heit und geringere Wechselwirkungen zu-rückgeführt wird. Ein aggressives Marke-ting wie auch die frühe Aufnahme in die Empfehlungen der ESC haben ebenfalls zu einer rasch ansteigenden Verbreitung geführt. Ärzte wie auch Patienten könn-ten verleitet sein, allein aufgrund der nicht

notwendigen Laborkontrollen eine Ent-scheidung zugunsten der NOAC zu tref-fen.

Die pharmakokinetischen Kenndaten der NOAC Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban finden sich in . Tab. 1. Al-le drei Substanzen erreichen nach 2–4 h ihre maximalen Plasmakonzentrationen und haben Plasmahalbwertszeiten (Plas-ma-HWZ) von etwa 10–15 h. In den üb-rigen pharmakokinetischen Daten unter-scheiden sie sich jedoch teilweise deut-lich voneinander. Die Therapie erfolgt, im Gegensatz zu den VKA, mit fixen Do-sierungsschemata. Besonderes Augen-merk in der Therapie gilt einer vermin-derten Nierenfunktion, insbesondere bei Dabigatran. Die Ausscheidung der Wirk-stoffe erfolgt bei Dabigatran zu 80% renal, bei Rivaroxaban zu 65% und bei Apixa-ban zu 25–40%. Es ist richtig, dass NOAC im Vergleich zu VKA weniger Arzneimit-telinteraktionen unterliegen, weil sie in geringerem Maße über das Cytochrom-P450(CYP)-System metabolisiert werden. Dennoch zeigen alle drei Wirkstoffe wich-tige und klinisch relevante Arzneimittel-interaktionen, die zwingend beachtet wer-den müssen, neben CYP teilweise auch über das P-Glykoprotein. Nahrungsmit-telinteraktionen gibt es bei den NOAC im Vergleich zu VKA dagegen deutlich we-niger.

Laborparameter zur Bestimmung der Antikoagulation und Antidote

Bislang fehlen sensitive und spezifische Schnelltests für den Nachweis einer wirk-samen Antikoagulation unter NOAC. Die Wirkung bzw. der Zusammenhang zwischen Plasmakonzentrationen und Wirkung sind schwierig zu bestimmen. Die INR ist dazu nicht geeignet. Mit dem neuen Anti-Faktor-Xa-Test lassen sich sowohl Spitzenspiegel als auch geringe antikoagulatorisch wirksame Rivaroxa-ban- oder Apixaban-Spiegel nachweisen. Normalwerte bei diesem Test schließen blutungserhöhende Plasmaspiegel mit großer Wahrscheinlichkeit aus. Bei Da-bigatran lassen sich mithilfe der Ecarin-zeit, der Thrombinzeit und dem Hemoc-lot®-Test auch geringe antikoagulatori-sche Effekte nachweisen. Normalwerte

Tab. 1  Pharmakokinetische Eigenschaften der neuen oralen Antikoagulanzien (NOAC)

  Dabigatran (Pradaxa®)

Rivaroxaban (Xarelto®)

Apixaban (Eliquis®)

Dosierung im Rahmen der Schlaganfallpräven-tion bei Vorhofflimmern (mg)

2-mal 150 (110)a

1-mal 20 2-mal 5 (2,5)a

Dosierung im Rahmen der Thromboembolie-prävention bei Knie- und Hüftgelenksersatzb (mg)

1-mal 220 1-mal 10–30 2-mal 2,5

Bioverfügbarkeit (%) 6,5 >80 >50

Zeit der maximalen Plasmakonzentration (h) 2 2–4 1–3

Halbwertszeit (h) 14–17 5–13 9–14

Proteinbindung (%) 35 92–95 87

Anteil der renalen Elimination (%) >85 65 (je zur Hälfte unverändert und als Metabolit)

27

Interaktion mit P-Glykoprotein-Transporterc ++ + +

Interaktion mit CYP3A4d − + +a Dosisreduktion u. a. bei Alter >80 Jahre, eingeschränkter Nierenfunktion, niedrigem Körpergewicht, verschie-denen Komedikationen.b Rivaroxaban ist auch für die Behandlung tiefer Beinvenenthrombosen und Lungenembolien sowie für die Prä-vention von Rezidiven dieser Erkrankungen zugelassen.c P-Glykoprotein-Inhibitoren (z. B. Amiodaron, Diltiazem, Nifedipin, Verapamil, Azolantimykotika, Clarithromycin, Erythromycin) erhöhen die Plasmakonzentration und damit die Blutungsneigung. P-Glykoprotein-Induktoren (z. B. Johanniskraut, Phenytoin, Rifampicin) führen zur Wirkabschwächung.d CYP3A4-Inhibitoren (z. B. Amiodaron, Cimetidin, Clarithromycin, Erythromycin, Diltiazem, Azolantimykotika, Grapefruitsaft, HIV-Protease-Inhibitoren, Valproat, Verapamil) erhöhen die Plasmakonzentra-tion und damit die Blutungsneigung. CYP3A4-Induktoren (z. B. Carbamazepin, Johanniskraut, Phenytoin, Rifam-picin) führen zur Wirkabschwächung.

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Arzneimitteltherapie

schließen ebenfalls blutungserhöhende Wirkungen aus.

Die Frage nach der Indikation einer Thrombolyse bei einem Patienten, der mit NOAC behandelt wird, stellt eine neue Herausforderung in der Rettungsstelle oder Stroke Unit dar. Unter Zuhilfenah-me der genannten Parameter kann über eine Thrombolyse entschieden werden. Die Erfahrung mit Patienten, die unter NOAC ein zerebrovaskuläres Ereignis er-leiden, ist aber noch gering. Die wichtigs-ten Informationen bei der Interpretation der Messwerte, nämlich Zeitpunkt und Dosis der letzten Einnahme, fehlen häu-fig und spielen, im Gegensatz zur Inter-pretation der Gerinnungswerte bei VKA, eine wesentliche Rolle.

D Praxistaugliche Antidote gegen die Wirkung neuer oraler Antikoagulanzien fehlen.

Die Suche nach Agenzien, welche die Wir-kung der NOAC aufheben, ist im Gange. Kleine Studien an Probanden haben ge-zeigt, dass Prothrombinkomplexkonzen-trate bei Faktor-Xa-Inhibitoren wirksam sind. Sie fördern die Bildung von Throm-bin und setzen damit an der naheliegends-ten Endstrecke an. Es ist unwahrschein-lich, dass man rigoros designte, placebo-kontrollierte Studien zu Antidoten, ins-besondere an Patienten mit Blutungen, durchführen wird.

Steuerbarkeit der Therapie

Das Marketing stellt heraus, dass mit den NOAC nach Therapiebeginn sehr schnell eine therapeutische Wirkung erreicht wird, die nach dem Absetzen auch schnell verschwindet. Eine „gute Steuerbarkeit“ wird häufig als Vorteil einer Antikoagu-lation dargestellt. Die beste Steuerbarkeit gewährleisten Heparine, die aber für eine Langzeittherapie nicht infrage kommen. Eine gute Steuerbarkeit, d. h. eine kur-ze Wirk-HWZ einer Einzeldosis im Stea-dy State, ist jedoch aufwendig und umge-kehrt proportional zu einer gleichmäßigen Wirkung, die in der oralen Langzeitthe-rapie aber erwünscht ist. Gut „steuerba-re“ Arzneimittel haben in der Regel eine höhere Empfindlichkeit gegenüber Unre-gelmäßigkeiten in der Einnahme. In den

meisten klinischen Situationen ist eine gu-te Steuerbarkeit gar nicht vonnöten – was nicht bedeutet, dass im Bedarfsfall richtig gesteuert werden muss, z. B. durch Anti-dote oder Bridging.

»  Gut „steuerbare“ Arzneimittel reagieren meist empfindlicher auf eine unregelmäßige Einnahme

Die weltweit gebräuchlichsten Kumarin-derivate sind Warfarin, v. a. in den USA und Japan, sowie Phenprocoumon, v. a. in Europa. Sie ähneln sich in ihrer che-mischen Struktur, weisen aber bedeu-tende pharmakokinetische Unterschiede auf. Die Eliminations-HWZ von Warfa-rin liegt bei 36–42 h, die von Phenprocou-mon dagegen wegen dessen ausgeprägter

Lipidlöslichkeit bei etwa 150 h (mit einer interindividuellen Streuung von 80–270 h im Steady State). Die Wirk-HWZ der Ku-marinderivate wird durch die HWZ der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungspro-teine (Faktoren II, VII, IX, X) und durch die Kinetik der Substanzen selbst be-stimmt. Die Faktoren II, IX und X haben eine HWZ von 3–4 Tagen, während die HWZ des Faktors VII nur wenige Stun-den beträgt. Die Latenzzeit bis zum Wir-keintritt ist insbesondere von der HWZ der Gerinnungsfaktoren abhängig; in-sofern unterscheiden sich Warfarin und Phenprocoumon kaum bei der „Aufdosie-rung“. Die Zeit bis zur Normalisierung der Gerinnung bei Absetzen der Behandlung ist jedoch eher von den pharmakokineti-schen Eigenschaften abhängig. Bei Warfa-

Zusammenfassung · Abstract

Internist 2014 · 55:93–102   DOI 10.1007/s00108-013-3409-2© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

H.K. BertholdNeue orale Antikoagulanzien. Wer braucht sie wirklich?

ZusammenfassungMit den neuen oralen Antikoagulanzien (NO-AC) steht eine Alternative zu klassischen Vit-amin-K-Antagonisten (VKA) zur Schlaganfall-prävention bei nichtvalvulärem Vorhofflim-mern zur Verfügung. In randomisierten Stu-dien wurden im Vergleich zu Warfarin signi-fikante Verbesserungen bei klinischen End-punkten dokumentiert, die allerdings ins-gesamt geringe Effektgrößen hatten. In Stu-dienzentren mit ohnehin gutem Antikoagu-lationsmanagement war die Überlegenheit kaum nachweisbar. Die Effektivität einer The-rapie mit oralen Antikoagulanzien hängt we-sentlich von der individuellen Adhärenz ab. NOAC bringen zahlreiche Eigenschaften mit 

sich, die eine schlechtere Adhärenz bewir-ken könnten. Dazu zählen u. a. die mehr als 1-mal pro Tag erforderliche Einnahme einiger der verwendeten Substanzen sowie der Weg-fall der Gerinnungsmessungen, die als eher adhärenzfördernd anzusehen wären. VKA sind aufgrund ihrer langen Wirkhalbwerts-zeiten möglicherweise besser geeignet, eine schlechte Adhärenz auszugleichen.

SchlüsselwörterVitamin-K-Antagonisten · Antikoagulation · Vorhofflimmern · Schlaganfallprophylaxe · Adhärenz

New oral anticoagulants. Who really needs them?

AbstractThe new oral anticoagulants (NOAC) are al-ternative drugs to classical vitamin K antag-onists (VKA) for stroke prevention in patients with nonvalvular atrial fibrillation. They have been shown in randomized trials to be supe-rior to warfarin in reducing clinical endpoints, although at rather small effect sizes. Howev-er, in study centers with good anticoagula-tion management their superiority was bare-ly significant. The effectiveness of anticoag-ulation therapy is crucially dependent on in-dividual drug adherence. NOAC potentially decrease adherence due to several reasons, 

among them the twice-daily dosing require-ment in some of them and the nonnecessi-ty for anticoagulation monitoring. Anticoag-ulation monitoring is assumed to increase adherence per se. VKA are potentially bet-ter suitable to compensate for low adherence due to their long half-lives.

KeywordsVitamin K antagonists · Anticoagulation · Atrial fibrillation · Prevention, stroke · Patient adherence

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rin sind es meist 4–6 Tage, bei Phenpro-coumon jedoch 7–14 Tage.

Diese Eigenschaften könnten bei Vor-liegen einer akuten Blutung unter War-farin von Vorteil sein, die Wirkung von Phenprocoumon ist jedoch im Normalfall stabiler und resistenter gegen Einnahme-fehler. Zu einer Zeit, als Prothrombinkon-zentrate noch nicht allgemein verfügbar waren, könnte die Behandlung mit kür-zer wirksamen VKA im Notfall von Vor-teil gewesen sein. Studien, die Phenpro-coumon mit dem ebenfalls kürzer wirk-samen Acenocoumarol verglichen, zeig-ten aber, dass Patienten unter Phenpro-coumon in der stabilen Situation häufi-ger im therapeutischen Bereich waren, weniger Gerinnungskontrollen benötig-ten und insgesamt besser eingestellt wa-ren [10, 11]. Aufgrund der üblichen län-derspezifischen Verwendung von War-farin und Phenprocoumon und der ent-sprechenden Bedeutung der Absatzmärk-te wurde in den zulassungsrelevanten Stu-dien der NOAC gegen Warfarin getestet. Es ist nicht zu erwarten, dass größere Stu-dien gegen Phenprocoumon durchge-führt werden. Aus den o. g. Gründen gibt es aber Argumente, anzunehmen, dass die positiven Wirkungen der NOAC in Ver-gleichsstudien mit Warfarin überschätzt werden. Phenprocoumon ist wahrschein-lich in der stabilen Situation im Vergleich zu Warfarin der bessere VKA, auch be-dingt durch dessen Problematik bei be-stimmten genetischen Dispositionen im Arzneimittelmetabolismus.

Hinsichtlich der Wirkkinetik ist wich-tig, zu betonen, dass bei allen NOAC die antikoagulatorische Wirkung bereits nach einer ausgelassenen Dosis deutlich schwä-cher und bei 2–3 oder mehr ausgelassenen Dosen vollständig aufgehoben ist.

Therapietreue (Adhärenz, Compliance)

Die Adhärenz ist aufgrund der beschrie-benen Zusammenhänge der Wirkkine-tik von zentraler Bedeutung für die Wirk-samkeit oraler Antikoagulanzien und da-mit auch für deren Einfluss auf patien-tenrelevante Endpunkte. Wer würde die Wirksamkeit von Schmerzmitteln bezwei-feln, wenn sie nicht nachweislich in der richtigen Dosierung und mit dem richti-

gen Dosierintervall angewendet werden? Bei chronischen Erkrankungen und ihren Dauermedikationen liegt die Adhärenz üblicherweise bei 50–60% der einzuneh-menden Dosen. Die Wahrscheinlichkeit des Auslassens einer Dosis steigt mit der Anzahl verordneter Wirkstoffe und der Zahl der täglichen Einnahmezeitpunkte. Dabei spielt auch eine wichtige Rolle, ob das Arzneimittel eine unmittelbar oder kurzfristig für den Patienten wahrnehm-bare Wirkung hat bzw. das Weglassen der Medikation eine Rückkehr der Sympto-me zur Folge hätte, wie z. B. bei Antian-ginosa, Herzinsuffizienzmitteln, Anal-getika und Laxanzien, oder ob es in die Gruppe der prognoseverbessernden Arz-neimittel einzuordnen ist, wie etwa Lipid-senker, Bisphosphonate und Thrombozy-tenaggregationshemmer. Selbstverständ-lich gibt es zwischen den symptomatisch wirksamen und den prognoseverbes-sernden Arzneimitteln Überschneidun-gen. So zählen Angiotensin-converting-enzyme(ACE)-Hemmer zu den progno-severbessernden Arzneimitteln, können aber auch direkt wahrnehmbare Effekte auf eine Herzinsuffizienz oder den Blut-druck haben.

»  Die Wahrscheinlichkeit des Auslassens einer Dosis steigt mit der Zahl täglicher Einnahmezeitpunkte

Bei zahlreichen Arzneimitteln ist die pro-gnoseverbessernde Wirkung durch Surro-gatparameter bestimmbar, so z. B. durch Lipide, HbA1c, Blutdruck und INR. Wenn der Patient oder Arzt die entsprechenden Surrogatparameter misst, kann dies einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Therapietreue haben. (Es ist auch durch-aus statthaft, im Rahmen der Arzt-Pa-tienten-Beziehung von einer „Kontrolle“ zu sprechen.) Als Beispiel für die Wichtig-keit gemessener Surrogatparameter sei die Diskussion um die hausärztliche Strategie bei Lipidsenkern genannt („fire and for-get“); die Kenntnis darüber, ob ein Lipid-senker tatsächlich genommen wird, kann für Arzt und Patient eine wesentliche Grö-ße in der langfristigen Therapieplanung sein und die Adhärenz und damit die Prognose verbessern. Herttua et al. [12]

haben kürzlich eindrucksvoll belegt, dass Patienten mit Hypertonie bei verminder-ter Adhärenz im Vergleich zu adhärenten Patienten nach 2 Jahren ein 4-fach und nach 10 Jahren ein 3-fach erhöhtes Risiko haben, einen tödlichen Schlaganfall zu er-leiden. Die finnischen Forscher konnten sogar eine „Dosisabhängigkeit“ zwischen Nonadhärenz und Schlaganfallrisiko do-kumentieren.

Arzneimittel, deren Wirkung der Pa-tient nicht direkt spürt, haben nach einer Therapiedauer von einem Jahr eine Ad-härenz von etwa 50%; ein Beispiel hier-für sind Antihypertensiva. Falls die Arz-neimittel schlecht verträglich oder mit Nebenwirkungen behaftet sind, wie bei-spielsweise Diuretika, kann sie noch deut-lich darunter liegen (bis 20%). Ähnliches kann auf orale Antikoagulanzien allge-mein (Phenprocoumon) und speziell auf subjektiv schlecht verträgliche Wirkstoffe wie Dabigatran, das häufig gastrointesti-nale unerwünschte Arzneimittelwirkun-gen verursacht, zutreffen. Im letzteren Fall werden die Beschwerden wahrscheinlich durch die galenische Zubereitung verur-sacht, die zur besseren Resorption eine azidische Mikroumgebung bewirkt. Da-rüber hinaus werden zur Behandlung dieser Beschwerden Protonenpumpen-hemmer eingesetzt (vermutlich auch im Off-and-on-Modus oder in Selbstmedi-kation), die ihrerseits zu relevanten Arz-neimittelinteraktionen und damit Wirk-schwankungen führen. Alle Umstände, die zu einer Störung von Steady-State-Be-dingungen einer Antikoagulation führen, sind ungünstig.

D Vitamin-K-Antagonisten werden 1-mal täglich eingenommen.

Zwei der drei verwendeten NOAC müs-sen 2-mal täglich genommen werden; ob auch bei dem dritten eine 2-mal tägliche Gabe sinnvoll wäre, sei dahingestellt. Bei Herz-Kreislauf-Medikationen ist jedes Therapieschema, das von der täglichen Einmalgabe abweicht, als ungünstig im Sinne der Adhärenz zu bezeichnen. Dies ist durch die Entwicklung der zahlreichen entsprechenden Wirkstoffe für die Indi-kationen koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinsuffizienz, Thrombozytenaggre-gationshemmung und teilweise auch im

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Arzneimitteltherapie

Diabetesbereich überzeugend belegt wor-den. Bereits Eisen et al. [13] haben in einer kleinen Studie gefolgert, dass die wichtigs-te Einzelmaßnahme zur Adhärenzförde-rung die Reduktion der Anzahl täglicher Arzneimittelgaben ist. In einem systema-tischen Review von Arbeiten, welche die Adhärenz mit elektronischen Mitteln er-fasst hatten, wurde eine inverse Beziehung zwischen der Anzahl täglicher Einnahme-zeitpunkte und der Adhärenz festgestellt [14]. Bei 1-mal täglicher Gabe betrug die Adhärenz 79%, bei 2-, 3- bzw. 4-mal tägli-cher Gabe 69%, 65% bzw. 51%.

Osterberg et al. [15] haben allgemein-gültige Prädiktoren für eine schlech-te Adhärenz erarbeitet. Diese sind in . Infobox 1 zusammengestellt. Es zeigt sich, dass von den genannten Prädiktoren viele gerade auf die Therapie mit oralen Antikoagulanzien zutreffen, da insbeson-dere die große Gruppe der Patienten nach Schlaganfall zahlreiche dieser Eigenschaf-ten aufweist. Einige der Parameter treten zudem bei den NOAC eher in Erschei-nung als bei den VKA.

D Die Nonadhärenz kann man in intentionale und nichtintentionale Formen unterteilen.

Von den beschriebenen und mit elek-tronischen Mitteln gemessenen Nonadä-

renztypen ist das vollständige Auslassen einzelner Dosen der häufigste Typus [16, 17]. Die nichtintentionale Variante die-ser Nonadhärenz ist ein passiver Prozess, bei dem der Patient sorglos bzw. vergess-lich von dem vorgegebenen Einnahme-schema abweicht und damit das Dosier-intervall verdoppelt oder vervielfacht. Der Prozess kommt auch bei den gewissenhaf-testen Patienten vor und ist quasi unver-meidbar. Die intentionale Variante dieser Nonadhärenz hat pharmakologisch die-selben Auswirkungen.

Entscheidend dafür, ob das Auslassen einer Dosis eine nachteilige Auswirkung hat, sind die pharmakokinetisch-phar-makodynamischen Zusammenhänge der Eigenschaften des Arzneimittels und sei-ner Wirkungen. Nachteilige Auswirkun-gen werden in vielen Fällen durch sog. „forgiving drugs“ abgefedert. Der Begriff „forgiving drug“ wurde von Urquhart ein-geführt [18]; der Franzose Jean-Pierre Bo-issel, ein klinischer Pharmakologe, hat das Konzept mit mathematisch-formalen Be-schreibungen dieser pharmakokinetisch-pharmakodynamischen Zusammenhänge weiter verfeinert [19]. Der Grundgedanke ist die Überlegung, die (unausweichliche) Nonadhärenz durch Auswahl von Arznei-mitteln günstig zu beeinflussen, bei denen das Weglassen einzelner Dosen möglichst geringe Auswirkungen auf eine gleichmä-ßige Wirkung hat. Intuitiv kommen dafür Arzneimittel infrage, die aufgrund ihrer langen Eliminations-HWZ lange wir-ken, z. B. Chlortalidon im Vergleich zu Hydrochlorothiazid, oder die aufgrund einer langsamen Freisetzung lange wir-ken, z. B. bei retardierten Formulierun-gen. Die Steady-State-Konzentrationen werden dann weniger stark beeinflusst. Auch kommen dafür Arzneimittel infra-ge, die ein indirektes Wirkmodell aufwei-sen, deren Wirkkinetik also nicht mit der Kinetik der Substanz selbst einhergeht. Ein Beispiel hierfür sind Protonenpum-penhemmer, die entsprechend der HWZ ihres Zielenzyms und nicht entsprechend ihrer eigenen HWZ wirken. Zuletzt sind auch Therapeutika geeignet, die auf dem Plateau ihrer Dosis-Wirkungs-Kurve wir-ken, d. h. in einem Dosis-Wirkungs-Be-reich, in dem der Dosis-Wirkungs-Zu-sammenhang flach ist. VKA zählen zu-gleich zur ersten und zur dritten Gruppe,

da ihre Wirkkinetik durch die HWZ der Gerinnungsfaktoren und ihren Metabo-lismus bestimmt wird.

NOAC haben sowohl eine schnelle Eli-minations- als auch eine kurze Wirkkine-tik. Sie haben mit ihren kürzeren HWZ bei schlechter Adhärenz niedrigere Tal-spiegel, wenn das Dosierintervall ver-längert wird, und höhere Spitzenspiegel, wenn das Dosierintervall verkürzt wird. Bei einem relativ direkten Zusammen-hang mit der direkten Thrombinhem-mung bzw. der Anti-Faktor-Xa-Wirkung bewirkt dies gleichsinnige pharmakody-namische Effekte. Ob diese Schwankun-gen durch die behauptete größere the-rapeutische Breite ausgeglichen werden, darf bezweifelt werden, insbesondere, da in der Praxis häufig nicht nur Einzeldo-sen weggelassen werden, sondern Serien von Einzeldosen, was zu Therapiepausen von mehreren Tagen führt. Es ist davon auszugehen, dass nach Auslassung von 2–3 Dosen der NOAC die gewünschte gerinnungshemmende Wirkung vollstän-dig verschwunden ist. Im stationären Be-reich etwa würde das Pflegepersonal kri-tisiert werden, wenn die Heparinspritzen zur Thromboseprophylaxe nicht wie an-geordnet regelmäßig verabreicht werden.

Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Pharmakotherapie, bei denen Probleme mit der Adhärenz – aber auch mit dem Aufwand durch die häufige Handhabung – durch verlängerte Dosierintervalle, teil-weise wöchentlich oder länger, verbessert werden können. Dazu gehören niedermo-lekulare Heparine im Vergleich zu unfrak-tionierten Heparinen, aber auch Bisphos-phonate, Antipsychotika, Mittel gegen multiple Sklerose u. v. m. Auf dem Gebiet der Antikoagulation war Idraparinux mit 1-mal wöchentlicher Gabe ein Beispiel, das jedoch wegen erhöhter Blutungsraten nicht erfolgreich war.

D Eine gute Adhärenz in der Frühphase einer Therapie hat auch Einfluss auf die langfristige Therapietreue.

Vrijens et al. [17] zeigten in einer longitu-dinalen Datenbankstudie zu Antihyper-tensiva mit 1-mal täglicher Gabe, dass etwa die Hälfte der Patienten ihre ver-schriebene Medikation innerhalb des ers-ten Jahres abgesetzt hatte. Bei denen, die

Infobox 1  Wesentliche allgemei-ne Prädiktoren einer schlechten Arzneimitteladhärenz. (Nach [15])

F  Psychische Probleme (insbesondere Depression)

F  Kognitive BeeinträchtigungF  Behandlung einer asymptomatischen 

ErkrankungF  Inadäquates Follow-up oder unzureichen-

de EntlassungsplanungF  Unerwünschte ArzneimittelwirkungenF  Fehlendes Vertrauen des Patienten in die 

Vorteile der BehandlungF  Fehlendes Verständnis des Patienten für 

die Art der ErkrankungF  Fehlender Zugang zu Versorgungsstruk-

turen und/oder MedikamentenF  Nicht wahrgenommene Arzt-Patienten-

KontakteF  Komplexitätsgrad der BehandlungF  Kosten der Medikation, Zuzahlungen 

oder beides

97Der Internist 1 · 2014  | 

ihre Medikation noch einnahmen, wur-den zu jedem gegebenen Zeitpunkt etwa 10% der Dosen weggelassen; 42% dieser Auslassepisoden betrafen Einzeldosen, 15% dauerten 2 Tage, 43% waren Auslas-

sungen der aufeinanderfolgenden Dosen von ≥3 Tagen. Etwa die Hälfte der Patien-ten hatte mindestens eine solche länge-re Episode pro Jahr. . Abb. 1 beschreibt den Zusammenhang zwischen episodi-

scher Nonadhärenz (Umsetzung/“execu-tion“) und langfristiger Adhärenz (Persis-tenz; . Infobox 2).

Ein Ergebnis der Studie von Vrijens et al. [17] ist für die Therapie mit oralen Anti-koagulanzien von besonders hoher Be-deutung: Die Wahrscheinlichkeit für einen frühzeitigen kompletten Abbruch der Therapie, d. h. eine kurze Persistenz, korrelierte invers mit der Güte der tägli-chen Arzneimitteleinnahme (Umsetzung; . Abb. 2). Für NOAC bedeutet dies, dass keine Überwachung der Einnahme (we-gen Nichtnotwendigkeit der Gerinnungs-messungen) mit einer kurzen Persis-tenz assoziiert sein könnte, während eine Kontrolle der Adhärenz (im Rahmen der notwendigen „Einstellung“ bei VAK) da-gegen zu einer besseren Langzeitadhärenz führen könnte. Dem Patienten wird sozu-sagen seine Nonadhärenz durch die Ge-rinnungsmessungen „vor Augen geführt“.

Einfluss der Therapietreue auf die Qualität und Sicherheit der Einstellung mit NOAC

In der RE-LY-Studie reduzierte Dabiga-tran in der höheren Dosierung Schlag-anfälle, während es in der niedrigen Do-sierung zu weniger schweren Blutungen führte. Dieses Ergebnis wird relativiert, wenn man die Qualität der erzielten Anti-koagulation berücksichtigt. Bei hoher Ad-härenz – v. a. in europäischen Studienzen-tren – war die Überlegenheit gegenüber Warfarin nicht mehr nachweisbar. Für je-des Studienzentrum wurde die mittlere TTR im Warfarin-Arm für eine INR von 2–3 bestimmt [20]. Die Ergebnisse für al-le drei Studienarme, also für Warfarin so-wie Dabigatran in hoher bzw. niedriger Dosis, wurden dann auf die Quartile der TTR bezogen. Im Durchschnitt wurde in der Gesamtstudie eine TTR von 64% er-reicht, die vergleichbar mit den Ergebnis-sen anderer Langzeitstudien mit Warfa-rin ist. Je nach klinischem Setting und der Erfahrung der versorgenden Ärzte wer-den aber allgemein in Beobachtungsstu-dien Ergebnisse von 50–70% beschrieben, teilweise auch deutlich bessere Werte. Bei den Endpunkten „gesamte vaskuläre Er-eignisse“, „nichthämorrhagische Ereignis-se“ und „Mortalität“ in der RE-LY-Studie

80

40

60

20Anteil der Tage mit korrekter Dosierung

0-60% (n=210) 61-80% (n=440) 81-100% (n=4043)

100

50 100 150 200 250 300 3500

0

Zeit (Tage)

Ant

eil d

er P

atie

nten

(%)

A t il d T it k kt D i

Abb. 2 8 Kaplan-Meier-Kurven der Persistenz stratifiziert nach dem Anteil der eingenommenen ver-schriebenen Dosen (Umsetzung). Die Daten belegen, dass eine bessere Umsetzung zu einer länge-ren Persistenz führt. Die Ordinate zeigt den Anteil der Patienten, die ihre Medikation zu den entspre-chenden Zeitpunkten (Abszisse) grundsätzlich noch eingenommen haben (Persistenz). (Adaptiert nach [17])

Persistenz Adhärenz/Compliance Perfekte Adhärenz

Rückgang derAdhärenz wegenBehandlungsabbruch

Rückgang derAdhärenz wegen

schlechter Umsetzungder Dosierungsvorgaben

100

90

80

70

60

50

50 100 150 200 250 300 3500

0

Zeit (Tage)

Zahl der inder Studieverbliebenen Patienten

3108 980 828 618 474 400 331

Ant

eil d

er P

atie

nten

(%)

Abb. 1 8 Zeitlicher Verlauf der Adhärenz- bzw. Compliance-Parameter (Umsetzung, Persistenz; die Be-griffe werden in Infobox 2 definiert). Die Abbildung erklärt zum einen den Abfall der Persistenz über die Zeit (Anteil der Patienten, die grundsätzlich noch anwenden) und zum anderen den durch eine schlechte Ausführung bedingten Unterschied. Nach einem Jahr hat nur noch etwa die Hälfte der Pati-enten grundsätzlich das Arzneimittel eingenommen. Der initiale leichte Abfall in der Persistenzkurve beschreibt den Anteil der Patienten, die ihre Medikation nie begonnen haben (2%). Die Persistenzkur-ve fällt graduell ab. Am 200. Tag beispielsweise haben 35% der Patienten ihre Medikation gestoppt, 65% haben sie noch genommen. Unter den Patienten, die sie noch genommen haben, haben am 200. Tag 10% ihre Medikation nicht eingenommen („non-execution“). Die kombinierte Adhärenz beträgt an diesem Tag deshalb 58% (0,9×65%). (Adaptiert nach [17])

98 |  Der Internist 1 · 2014

Arzneimitteltherapie

war die Überlegenheit von Dabigatran nur in Zentren mit einer relativ schlech-ten TTR dokumentierbar. Dies bedeutet, dass in Zentren, in denen eine gute INR-Einstellung mit Warfarin erreicht werden kann, Dabigatran nicht von Vorteil ist. Dies gilt bei Werten im oberen Quartil (TTR >72,6%). Ähnliche Ergebnisse lie-gen für Apixaban vor [21], während es zu Rivaroxaban keine solchen Untersuchun-gen gibt.

»  Bei einem guten Anti-koagulationsmanagement sind Vitamin-K-Antagonisten mindestens gleichwertig

Pointiert formuliert bedeutet dies im Er-gebnis, dass man NOAC nur benötigt, wenn das Antikoagulationsmanagement schlecht ist, denn bei einem guten Ma-nagement sind VKA mindestens gleich-wertig. Es ist bekannt, dass das Antiko-agulationsmanagement in verschiede-nen Gesundheitssystemen heterogen ist. Schwedische Registerdaten zeigen, dass mit einem national gut organisierten Pro-gramm bei der oralen Antikoagulation bezüglich der TTR ein gutes Ergebnis er-reicht werden kann (76%) und dass die TTR invers mit Blutungskomplikationen korreliert [22]. Die TTR steigt mit dem Alter sogar an. Es gibt zwar eine Assozia-tion zwischen dem Alter und schweren Blutungen, jedoch nicht zwischen dem

Alter und thromboembolischen Kompli-kationen. Diese Daten legen nahe, dass die Überlegenheit der NOAC gegenüber VKA möglicherweise aufgrund der hete-rogenen Qualität des Patientenmanage-ments zwischen einzelnen Ländern über-schätzt wird und die Studienergebnis-se nicht auf alle Länder übertragbar sind. Die Schlussfolgerung muss sein, priori-tär die Programme des Antikoagulations-managements zu verbessern, wie dies bei-spielsweise in den Niederlanden oder in Schweden umgesetzt wurde. Dafür kom-men auch strukturierte Selbstmanage-mentprogramme infrage, die nicht nur die Qualität der Antikoagulation selbst ver-bessern, sondern auch die Lebensqualität und die Kosteneffektivität [23]. Da Ärz-te ihren Patienten Empfehlungen für den Einzelfall geben müssen, darf nach jetz-iger Datenlage auch abgeleitet werden, dass eine Überlegenheit der NOAC für den Fall, dass der individuelle Patient mit VKA gut eingestellt ist, noch nicht zwei-felsfrei bewiesen wurde. Darüber sollte ein Patient aufgeklärt werden, nicht nur weil neuere Leitlinien die Patientenpräfe-renzen bei der Antikoagulation hervorhe-ben [24, 25].

Wer braucht die NOAC wirklich?

Grundsätzlich sollten alle Patienten, die mit VKA behandelt werden und damit gut behandelbar sind, aus den vorgetragenen Gründen bei dieser Medikation bleiben. Dies entspricht auch der Empfehlung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft [26].

In einigen Leitlinien werden NOAC bei Patienten empfohlen, die sich mit VKA nicht auf eine stabile INR einstel-len lassen. Die Ursache für eine schlech-te Einstellung wird in den Leitlinien aber selten hinterfragt. Aus den Ausführungen zur Adhärenz geht hervor, dass die Grün-de für eine schlechte Einstellung überwie-gend im Bereich der Therapietreue zu su-chen sind. Daher sollte bei allen Patien-ten überprüft werden, ob die schwanken-de Gerinnungseinstellung nicht aufgrund von Adhärenzproblemen besteht. Adhä-renzprobleme werden durch einen Wech-sel der Wirkstoffklasse von VKA auf NO-AC nicht behoben. Im Gegenteil könn-te sich, wie im Zusammenhang mit den

Wirkkinetiken dargestellt, die Einstel-lungsqualität bei Verwendung der Subs-tanzen mit kurzer HWZ sogar noch ver-schlechtern. (Es gilt die Botschaft von Watzlawick: fehlende Gerinnungsmes-sungen sind nicht gleichbedeutend mit einer korrekten Gerinnungseinstellung.) Ist jedoch für einen Patienten eine gute Einstellung mit einem VKA dokumen-tiert (TTR >72%), besteht zumindest nach Datenlage kein Grund für die Verordnung von Dabigatran, da dieses dem VKA nicht überlegen ist und die Therapiekosten er-höht. Bei Neuverordnungen erfolgt die Entscheidung zwischen NOAC und VKA häufig in der Klinik, z. B. nach Aufent-halt wegen eines Schlaganfalls. Eine enge vorherige Abstimmung mit den Hausärz-ten wäre wünschenswert, da dort die bes-ten Kenntnisse über die praktische Um-setzung einer Antikoagulation vorliegen.

Welcher NOAC ist der Wirkstoff der Wahl?

Es ist völlig ungeklärt, ob die verfügba-ren Wirkstoffe aus der Gruppe der NO-AC in Bezug auf Endpunkte untereinan-der gleichwertig sind, da sie bedeutende pharmakologische Unterschiede aufwei-sen und keine direkten Vergleichsstudien vorliegen. Indirekte Vergleiche sind, ob-gleich geeignete netzwerkanalytische Me-thoden vorliegen, nur sehr eingeschränkt möglich [27]. Deshalb müssen einzelne Aspekte und Eigenschaften bei der Wirk-stoffauswahl herangezogen werden.

Dabigatran

Bei Dabigatran sind Vorteile bei der Re-duktion von Schlaganfällen nur für die hohe Dosierung belegt. Diese ist aber bei älteren Patienten oder höhergradi-ger Nierenfunktionseinschränkung nicht möglich. Die niedrige Dosierung kommt eher für Patienten infrage, die ein hohes Blutungsrisiko haben (bestimmt z. B. mit dem HAS-BLED-Score). Der Patient soll-te aber darüber informiert werden, dass für diese Dosierung keine Reduktion der Endpunkthäufigkeit belegt ist.

D Unter direkten Thrombin-hemmern ist das Risiko für Myokardinfarkte erhöht.

Infobox 2  Definitionen von Ad-härenz, Persistenz und Umsetzung

5 Adhärenz (bzw. Compliance) ist ein dimen-sionsloser Parameter, der beschreibt, inwie-weit die Einnahme durch den Patienten mit dem verschriebenen Schema übereinstimmt. Adhärenz (bzw. Compliance) kann auf zwei Komponenten heruntergebrochen werden:

5 Die Persistenz ist die zeitliche Dauer, wäh-rend der ein Arzneimittel angewendet wird (Zeit zwischen der ersten und der letzten Dosis).

5 Die Umsetzung („execution“) ist ein multi-dimensionaler Parameter, der durch den Ver-gleich zweier Zeitserien bestimmt wird, des verschriebenen Dosierungsregimes und der individuellen Ausführung durch den Patien-ten (während der Zeit, in der das Arzneimittel grundsätzlich noch eingenommen wird).

99Der Internist 1 · 2014  | 

Dies scheint ein Klasseneffekt zu sein, der bei den Faktor-Xa-Hemmern nicht nachweisbar ist. Bei einem Patienten mit schwerer KHK sollte Dabigatran als direk-ter Thrombinhemmer daher eher nicht gegeben werden. Bei höhergradiger Nie-reninsuffizienz oder dem Risiko der Ver-schlechterung einer Niereninsuffizienz sollte Dabigatran ebenfalls nicht einge-setzt werden.

Eine galenische Besonderheit von Da-bigatran wirkt sich noch zusätzlich adhä-renzmindernd aus: Die Tabletten dürfen erst unmittelbar vor Einnahme aus den Blistern genommen werden, da sie feuch-tigkeitsempfindlich sind. Auch dürfen sie nicht durchgedrückt werden, sondern müssen nach Abziehen der Folie entnom-men werden. Die erfahrenen Praktiker werden wissen, dass dies viele Patienten bereits überfordert. Viele Patienten ha-ben ihre Medikation in Wochendispen-sern vorbereitet, was bei Dabigatran nicht möglich ist. Dies könnte zu einer vermin-derten Einnahmetreue führen.

Rivaroxaban

Die Datenlage zu Rivaroxaban zeigt aus verschiedenen Gründen, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen diskutiert wer-den können, keine zweifelsfreie Überle-genheit gegenüber Warfarin an. Beispiels-weise war in einer zulassungsrelevanten Studie die INR-Einstellung im Warfarin-Arm deutlich schlechter als in den Zulas-sungsstudien zu Dabigatran und Apixa-ban. Die Überlegenheit bei Endpunkten war nur für die Behandlungsdauer, nicht jedoch für die Nachverfolgungszeit sta-tistisch signifikant. Die Ereignisse in der frühen Nachbeobachtungsphase wur-den deshalb in der primären Auswertung nicht berücksichtigt, obgleich möglicher-weise ein prothrombotischer Rebound-Effekt zu beobachten war. Diese Zusam-menhänge bedürfen einer weiteren Klä-rung.

Auch ist nicht völlig überzeugend ge-klärt, warum bei mit Dabigatran ver-gleichbarer Pharmakokinetik die Gabe von Rivaroxaban 1-mal täglich erfolgt. Die Einmalgabe ist zwar unter Gesichtspunk-ten der Adhärenz günstiger als die 2-ma-lige Gabe, ob sie in diesem Fall pharma-kologisch richtig ist, sei aber dahingestellt.

Apixaban

Apixaban schließlich erscheint in sei-ner Gesamtbewertung am günstigsten, führt es doch zu einer Verminderung von Schlaganfallereignissen und Blutungen und erreicht sogar eine statistisch signi-fikante Reduktion der Gesamtmortalität. Aber auch hier ist der Gesamteffekt von der Güte der INR-Einstellung abhängig, d. h., bei guter Einstellung werden die Ef-fekte umso kleiner.

Apixaban ist der erste Wirkstoff aus der Gruppe der NOAC, für den eine frü-he Nutzenbewertung gemäß dem Arz-neimittelmarktneuordnungsgesetz (AM-NOG) durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vorliegt. Dort wurde festgestellt, dass das Patientenalter als Effektmodifi-kator zu sehen ist: Ein beträchtlicher Zu-satznutzen wurde nur bei über 65-jähri-gen Patienten gesehen; in dieser Grup-pe waren die Schlaganfallhäufigkeit und Gesamtmortalität geringer. Die Patienten mussten grundsätzlich für VKA geeignet sein. In Bezug auf Schlaganfälle stützte sich die Überlegenheit insbesondere auf die Reduktion hämorrhagischer Schlag-anfälle. Auch bei größeren und klinisch relevanten nichtgrößeren Blutungen fand sich eine Überlegenheit. Bei Patienten, die nicht für VKA geeignet waren, wurde ein Vergleich mit Acetylsalicylsäure durch-geführt. Hier wurde ein Zusatznutz en unabhängig vom Alter gesehen. Die ge-wählte „zweckmäßige Vergleichsthera-pie“ entsprach der Therapie der entspre-chenden Zulassungsstudien. Heute ste-hen jedoch mit Dabigatran und Rivaro-xaban zwei weitere mögliche Vergleichs-therapien zur Verfügung. Zu einem Ver-gleich mit diesen Wirkstoffen macht das IQWiG jedoch keine Aussage. Auch wur-de die Aufteilung in Altersgruppen <65 und ≥65 Jahre in den Studien nicht a prio-ri vorgenommen. Ebensowenig entspricht sie einer klinischen Systematik. Das Alter ging über den CHADS2-Score in die Ein-schlusskriterien ein. Es ist nicht auszu-schließen, dass die unter 65-Jährigen über zusätzliche oder höhere (altersunabhän-gige) Risiken verfügten. Auch muss fest-gestellt werden, dass hochaltrige Patien-ten nur sehr eingeschränkt in den Zu-lassungsstudien repräsentiert waren, so-

dass über diese Patientengruppe wieder-um keine Aussage gemacht werden kann. Die Bewertung des IQWiG ist daher mit Vorsicht zu lesen.

Resümee

Die Betreuung antikoagulierter Patien-ten bindet im hausärztlichen Bereich er-hebliche Ressourcen. Schon aus diesem Grund wäre eine „einfachere“ Therapie wünschenswert. Auch für den Patienten kann es bequemer sein, nicht mehr zu re-gelmäßigen Gerinnungskontrollen gehen zu müssen. In diesen Fällen sollte an ein Selbstmanagement der INR-Bestimmung und Dosisanpassung gedacht werden. Die entsprechenden Programme sollten aus-gebaut werden, ehe reflexartig auf NOAC umgestellt wird. Wünschenswert, wenn auch kaum realistisch, wären randomi-sierte Studien zu NOAC in Ländern mit guten Ergebnissen in der INR-Einstel-lung und Studien mit Phenprocoumon als Kontrolle.

»  Wirkstoffe mit neuen Therapieprinzipien können der Beginn von wirklichem Fortschritt sein

Eine nicht zu unterschätzende Größe ist die bisher erlangte Vertrautheit der An-gehörigen der Heilberufe mit den Beson-derheiten der VKA. Tendenziell wird sich die se kollektive Erfahrung mit der Ein-führung der NOAC verringern. Die ora-le Antikoagulationstherapie ist durch die Vielfalt der zu beachtenden Informatio-nen fraglos noch komplizierter geworden und Komplexität einer Behandlung kann kontraproduktiv sein. Gleichwohl können Wirkstoffe mit neuen Therapieprinzipien der Beginn von wirklichem Fortschritt sein. NOAC sind eine Substanzklasse mit dem Potenzial einer wirksamen und prak-tikablen Alternative zu klassischen VKA.

Fazit für die Praxis

F  Neue orale Antikoagulanzien (NOAC) sind geeignet für Patienten mit spe-ziellen Kontraindikationen gegen Vi-tamin-K-Antagonisten (VKA), dar-unter auch nicht beherrschbare Arz-

100 |  Der Internist 1 · 2014

Arzneimitteltherapie

neimittel- oder Nahrungsmittelinter-aktionen.

F  Geeignet sind sie auch, wenn eine Kontrolle der International Normal-ized Ratio (INR) nicht möglich ist.

F  Bei Patienten mit „schwankender“ INR sollten Adhärenzprobleme möglichst ausgeschlossen werden.

F  Über die langfristige Sicherheit der NOAC ist bislang nur wenig bekannt. Schon aus diesem Grund ist eine zu-rückhaltende Verordnung angezeigt.

F  Möglicherweise ist ein Wechsel von VKA auf NOAC angezeigt, wenn unter der Therapie mit VKA vaskuläre Ereig-nisse aufgetreten sind, auch wenn die Datenlage zu dieser Situation einge-schränkt ist.

F  Bei Patienten mit koronarer Herz-krankheit (KHK) ist häufig eine Kome-dikation mit Acetylsalicylsäure (ASS) oder Clopidogrel erforderlich. Bezüg-lich des Blutungsrisikos sind die NOAC in diesen Fällen ohne Vorteile gegen-über VKA. Unter einer Therapie mit Kumarinen ist die zusätzliche Gabe von ASS bei Patienten mit chronischer KHK verzichtbar, bei Therapie mit  NOAC jedoch nicht. Insofern lassen sich diese Patienten mit VKA besser behandeln. Hinsichtlich der gemein-samen Gabe mit neueren Thrombo-zytenaggregationshemmern besteht nur sehr limitierte Erfahrung.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. H.K. BertholdKlinik für Innere Medizin und Geriatrie, Evangelisches Krankenhaus Bielefeld (EvKB)Schildescher Str. 99, 33611 [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.  H.K. Berthold gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.   Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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19.  Boissel JP, Nony P (2002) Using pharmacokinetic-pharmacodynamic relationships to predict the ef-fect of poor compliance. Clin Pharmacokinet 41:1–6

20.  Wallentin L, Yusuf S, Ezekowitz MD et al (2010) Effi-cacy and safety of dabigatran compared with war-farin at different levels of international normalised ratio control for stroke prevention in atrial fibrilla-tion: an analysis of the RE-LY trial. Lancet 376:975–983

21.  Wallentin L, Lopes RD, Hanna M et al (2013) Effica-cy and safety of apixaban compared with warfarin at different levels of predicted international nor-malized ratio control for stroke prevention in atrial fibrillation. Circulation 127:2166–2176

22.  Wieloch M, Sjalander A, Frykman V et al (2011) An-ticoagulation control in Sweden: reports of time in therapeutic range, major bleeding, and thrombo-embolic complications from the national quality registry AuriculA. Eur Heart J 32:2282–2289

23.  Levi M, Peuter OR de, Kamphuisen PW (2009) Ma-nagement strategies for optimal control of anti-coagulation in patients with atrial fibrillation. Se-min Thromb Hemost 35:560–567

24.  MacLean S, Mulla S, Akl EA et al (2012) Patient va-lues and preferences in decision making for an-tithrombotic therapy: a systematic review: anti-thrombotic therapy and prevention of thrombo-sis, 9th ed: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines. Chest 141:e1S–e23S

25.  Camm AJ, Lip GY, De CR et al (2012) 2012 focu-sed update of the ESC Guidelines for the manage-ment of atrial fibrillation: an update of the 2010 ESC Guidelines for the management of atrial fibril-lation – developed with the special contribution of the European Heart Rhythm Association. Europace 14:1385–1413

26.  Arzneimittelkommission der deutschen Ärzte-schaft (2012) Orale Antikoagulation bei nicht val-vulärem Vorhofflimmern – Empfehlungen zum Einsatz der neuen Antikoagulantien Dabigatran (Pradaxa®) und Rivaroxaban (Xarelto®). Version 1

27.  Harenberg J, Weiss C (2013) Clinical trials with new oral anticoagulants. Additive value of indirect comparisons also named network meta-analyses. Hamostaseologie 33:62–70

101Der Internist 1 · 2014  | 

102 |  Der Internist 1 · 2014

Professor Hallek, vom 19. bis 22. Feb-ruar 2014 findet der nächste Deutsche Krebskongress statt. Sie sind der Kon-gresspräsident. Welche Idee steckt hin-ter dem Motto „iKon – intelligente Kon-zepte in der Onkologie“?Wir wollen uns auf drei Herausforderungen in 

der Krebsmedizin konzentrieren: Wie sichern 

wir Interdisziplinarität? Wie integrieren und 

finanzieren wir zügig Innovationen? Und wie 

gehen wir mit der zunehmenden Individua-

lisierung von Therapieentscheidungen nach 

einer molekular-genetischen Diagnostik um? 

All das erfordert intelligente Konzepte in der 

Onkologie – darauf weisen wir mit dem Motto 

hin und setzen es auf dem Kongress auch um. 

Wie machen Sie das konkret? Zum einen sprechen wir in unserem wissen-

schaftlichen Programm über die neuen Ent-

wicklungen in der Krebsmedizin – mit Blick 

auf alle beteiligten Fächer und auf interdis-

ziplinäre und individualisierte Behandlungs-

ansätze. Darüber hinaus haben wir auch die 

Diskussionsformate geändert. Alle, die an der 

Versorgung von Krebspatienten beteiligt sind, 

diskutieren miteinander und nicht in getrenn-

ten Sitzungen. Ich freue mich auf die Impulse, 

die daraus entstehen. 

Professor Heinemann, Sie haben als Sprecher der AIO, der Arbeitsgemein-schaft Internistische Onkologie in der DKG, gemeinsam mit Ihrem Vorgänger Dr. Graeven aktiv an der Programmpla-nung zum DKK 2014 mitgewirkt. Was erwartet die Internisten und Gastroen-terologen auf dem DKK 2014?Wir haben entsprechend unserem sehr brei-

ten Fachgebiet viele Themen ins Programm 

eingebracht. Höhepunkt ist unter anderem 

der Kongressfreitag, der 21. Februar. Da findet 

die Plenarsitzung Gastrointestinale Tumoren 

statt, beginnend mit dem Educational “Up-

date – interdisziplinäre Therapie des kolo-

rektalen Karzinoms: Primärtumor und Lokal-

rezidiv“. Die Keynote „Genomische Marker 

– personalisierte Medizin?“ hält Prof. Alberto 

Bardelli von der University of Torino-School 

of Medicine, ein Meinungsbildner auf diesem 

Gebiet. Über seine Zusage freue ich mich sehr. 

Die Pro-und-Kontra-Diskussion widmet sich 

der adjuvanten Therapie des Kolonkarzinoms 

im Stadium II: Brauchen wir molekulare Mar-

ker zur Entscheidungsfindung? Darüber hin-

aus geht es im Rahmen der Plenarsitzung um 

aktuelle Entwicklungen der medikamentösen 

Therapie metastasierter gastrointestinaler 

Tumoren. 

Wir haben des Weiteren an jedem Kongress-

tag Sitzungen zu verschiedenen Tumor-

entitäten, beispielsweise zum kolorektalen 

Karzinom, zu Ösophagus-/Magenkarzinomen, 

hepatozellulären Karzinomen und Pankreas-

karzinomen. In der gastrointestinalen Onkolo-

gie ist derzeit sehr viel in Bewegung. Der DKK 

2014 ist eine hervorragende Gelegenheit, die 

Neuheiten vorzustellen und sich selbst auf 

den neuesten Wissensstand zu bringen. 

Wie wird in den Sitzungen das Kon-gressmotto Interdisziplinarität, Innova-tion und Individualisierung umgesetzt?Das spielt überall eine Rolle. Ich möchte nur 

ein Beispiel nennen: Die Arbeitsgemeinschaft 

onkologische Thoraxchirurgie und die Chi-

rurgische Arbeitsgemeinschaft Onkologie/

Viszeralchirurgie der DKG führen gemeinsam 

die Sitzung „Leber- und Lungenmetastasen 

beim Kolonkarzinom“ durch. Es geht bei die-

sem fachübergreifenden Format darum, ge-

meinsame Krankheitsbilder zu thematisieren 

und Innovationen bei diagnostischen sowie 

therapeutischen Verfahren ohne Redundan-

zen zu diskutieren. Das Ziel ist immer die für 

den individuellen Patienten bestmögliche 

Behandlung. Viele unserer Sitzungen haben 

dieses fachübergreifende Format: Die ver-

schiedenen Blickwinkel sind wichtig, und 

anschließend ein abgestimmtes Miteinander. 

Es sind auch Fachverbände in die Programm-

planung involviert. Zum Beispiel gibt die 

Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und 

Stoffwechselkrankheiten auf dem DKK einen 

Überblick über moderne Konzepte in der 

gastrointestinalen Onkologie – von der Prä-

vention zur Therapie. Sie sehen: Wir haben für 

den DKK ein umfassendes und hochkarätiges 

Programm erarbeitet. Es ist unter www.dkk2014.de veröffentlicht. Ich erhoffe mir 

spannende Diskussionen und lade jeden ein, 

dabei zu sein.

Und was erhoffen Sie sich, Professor Hallek, vom DKK 2014? Die Erarbeitung des Kongressprogramms hat 

dank der Arbeitsgemeinschaften der Deut-

schen Krebsgesellschaft, der Landeskrebsge-

sellschaften und der Fachgesellschaften viel 

Spaß gemacht. Ich erhoffe mir nun auf dem 

DKK 2014 ebenfalls einen solchen intensiven 

und konstruktiven Austausch sowie Denkan-

stöße in jeder Hinsicht.  

Im Gespräch: Prof. Dr. Michael Hallek, Präsident des Deut-

schen Krebskongresses 2014

Prof. Dr. Volker Heinemann, Sprecher der 

Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie 

bei der Deutschen Krebsgesellschaft

Fachnachrichten

„Interdisziplinarität, Innovationen, Individualisierung in der Gastroenterologie – diskutieren Sie mit!“Prof. Dr. Michael Hallek und Prof. Dr. Volker Heinemann über den Deutschen Krebskongress 2014 in Berlin