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POLHIST Nr. 15 Johannes Tuchel Neues von der „Weißen Rose“? Kritische Überlegungen zu „Detlef Bald: Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand“ Berlin 2003 Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften Arbeitsbereich Historische Grundlagen der Politikwissenschaft Forschungsstelle Widerstandsgeschichte von FU Berlin und Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Neues von der „Weißen Rose“?...3 I. Seit 60 Jahren werden die Aktionen der Münchener Studenten der „Weißen Rose“, beginnend mit Thomas Manns Rundfunkansprache im Sommer

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  • POLHIST

    Nr. 15

    Johannes Tuchel Neues von der „Weißen Rose“?

    Kritische Überlegungen zu „Detlef Bald: Die Weiße Rose.

    Von der Front in den Widerstand“

    Berlin 2003

    Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften Arbeitsbereich Historische Grundlagen der Politikwissenschaft Forschungsstelle Widerstandsgeschichte von FU Berlin und Gedenkstätte Deutscher Widerstand

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    Tuchel, Johannes: Neues von der „Weißen Rose“? Kritische Überlegungen zu „Detlef Bald: Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand“ Berlin: Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, 2003 ( POLHIST; 15) ISBN 3-929532-11-5

    POLHIST Arbeitshefte des Bereichs Historische Grundlagen der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Ihnestraße 26 14195 Berlin Redaktion dieser Ausgabe: Priv.-Doz. Dr. Johannes Tuchel Forschungsstelle Widerstandsgeschichte Stauffenbergstraße 13 – 14 10785 Berlin Die Veröffentlichungen POLHIST geben ausschließlich Auffassungen der AutorInnen wieder. Nachdruck und sonstige publizistische Nutzung - auch auszugsweise - nur mit vorheriger Zustimmung der AutorInnen !

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    I. Seit 60 Jahren werden die Aktionen der Münchener Studenten der „Weißen Rose“, beginnend mit Thomas Manns Rundfunkansprache im Sommer 1943, öffentlich ge-würdigt. Das vergangene Jahrzehnt hat eine Vielzahl von Veröffentlichungen mit sich gebracht1 und auch in den letzten beiden Jahren sind neue Studien erschienen.2 Das neueste Buch „Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand“ von Detlef Bald hat im Frühjahr 2003 eine sehr positive Aufnahme gefunden.3 Lediglich die „Literarische Welt“ meldete heftige Bedenken gegen die neue Publikation an.4 Hat Detlef Bald wirklich grundsätzlich Neues zu berichten oder fügt er der Vielzahl der Instrumentalisierungen, denen die „Weiße Rose“ seit 1945 ausgesetzt war, lediglich eine weitere hinzu, die mehr mit den Wünschen und Hoffnungen der Nachgeborenen zu tun hat als mit der Rekonstruktion der historischen Realität? Dieser Frage soll im Folgenden mit der gebotenen Ausführlichkeit nachgegangen werden.5 Zum einen ist Balds Grundthese von der besonderen Wirkung des Fronterlebnisses im Sommer 1942 für den Widerstand der „Weißen Rose“ zu überprüfen. Dabei ist sein methodi-sches Vorgehen, zeitlich auseinanderliegende Ereignisse in einem gemeinsamen Er-zählstrang zu präsentieren und so Zusammenhänge zu konstruieren zu überprüfen. Ebenso ist zu prüfen, ob die vorgestellten Fakten stimmen, ob diese die Grundthese stützen können und wie der Autor mit den ihm vorliegenden Quellen umgeht. II. Detlef Bald gliedert seine Darstellung nach einer kurzen Einführung der Hauptakteure in die Erlebnisse während der Fahrt an die Front, die Erlebnisse in der Sowjetunion, die Darstellung der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft, den Kampf gegen

    1 Vgl. Tatjana Koop: Bibliographie zur Weißen Rose 1971 - 1989, in: Rudolf Lill (Hrsg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“, Konstanz 1999, S. 161 - 179. Für den Zeitraum davor vgl. Kurt Schilde: Im Schatten der „Weißen Rose“. Jugendopposition gegen den Nationalsozialismus im Spiegel der Forschung (1945 bis 1989), Frankfurt am Main 1995. 2 Vgl. Barbara Schüler: „Im Geiste der Gemordeten ...“ Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit, Paderborn u.a. 2000 sowie Armin Ziegler: Die unvollendete Geschichte der „Weißen Rose“ – Hemmnisse, Forschungslücken, Streitfragen, Legende. Ein Beitrag zur Weiße-Rose-Forschung, MS, Schönaich 2001; Armin Ziegler: Geschwister Scholl – Legenden, Fakten, offene Fra-gen. Kritische Auseinandersetzung mit Inge Scholls Buch „Die Weiße Rose“ als Quelle für Geschichts-wissen. Ein Beitrag zur Weiße-Rose-Forschung, MS, Schönaich 2001. 3 Vgl. etwa Volker Ullrich: Der Mut zur Tat, in: DIE ZEIT, 2003, Nr. 8. 4 Vgl. Raban Graf von Westphalen: Nur der Umsturz kann uns noch helfen. Eine neue Studie über die Weiße Rose leitet deren Widerstand aus dem Fronterlebnis ab, in: Die Welt, Die literarische Welt, vom 22. Februar 2003. 5 Erst nach Abschluss des vorliegenden Manuskripts erhielt ich zur Kenntnis: Armin Ziegler: Wider-stand in Sachen „Weiße Rose“, Kritische Anmerkungen zu dem Buch von Detlef Bald: „Die Weiße Ro-se – Von der Front in den Widerstand“, Schönaich 2003. Die „kritischen Anmerkungen“ Zieglers sollte zum Verständnis der Studie Balds unbedingt herangezogen werden.

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    die Partisanen, die Begegnung mit den Russen, bevor er sich mit der „politischen E-thik des aktiven öffentlichen Widerstandes“ auseinandersetzt und schließlich die Wi-derstandsaktionen im Winter 1942/43 und die Reaktion des NS-Machtapparates nach dem 18. Februar 1943 zu rekonstruieren versucht. Die Grundthese, die sich schon im Titel abzeichnet, ist kurz geschildert und wird be-reits in der ausführlichen Einleitung deutlich. Die Medizinstudenten Hans Scholl, Willi Graf und Alexander Schmorell waren ebenso wie Hubert Furtwängler und Jürgen Wit-tenstein zwischen Ende Juli und Ende Oktober 1942 für knapp 12 Wochen – nicht 16 Wochen, wie Bald auf S. 8 schreibt - im Rahmen einer „Feldfamulatur“, die sowohl Teil ihrer Ausbildung als auch konkreter Kriegseinsatz war, an der Ostfront in der Sowjet-union eingesetzt. Dieses Erlebnis ist bei Bald entscheidend für grundlegende Verän-derungen des Widerstands der „Weißen Rose“: „Angesichts von Verfolgung, Vernich-tung und Verlusten, von Entrechtung, Terror und Unterdrückung klärten sich während dieser Zeit grundlegende Wert- und Zielvorstellungen der ‚Weißen Rose’: Sie suchten nach einer zwingenden Alternative zum NS-Regime. Zurück in Deutschland, nahmen sie das Studium wieder auf. Fortan zeichneten sich die Konturen der zweiten Phase des Widerstandes der ‚Weißen Rose’ ab. Aus der Idee des passiven Widerstandes und des Protestes im Krieg wurde, weil sie scharf mit den Exzessen des totalitären Regimes abrechneten, die Vision einer politischen Alternative des Friedens im Innern wie nach außen geboren. Sie wagten es, direkt den Umsturz des ‚Dritten Reiches’ zu fordern.“6 Die Überlegung von der „zweiten Phase“ ist nicht neu. Bald verweist hier auf einen Aufsatz von Christiane Moll, die von insgesamt drei widerstandsgeschichtlichen Pha-sen der „Weißen Rose“ ausgeht.7 Aber auch frühere Arbeiten haben auf die Bedeu-tung des Fronterlebnisses im Sommer 1942 hingewiesen, dieses jedoch unterschied-lich gedeutet. Die wohl früheste, aber immer noch beeindruckende Interpretation hat Erich Kuby vorgelegt.8 Historiker in der DDR, wie Klaus Drobisch und Karl-Heinz Jahnke haben in den sechziger Jahren auf die Bedeutung der „neuen Eindrücke von himmelschreienden faschistischen Verbrechen“9 und auf die „Erlebnisse und Erfah-rungen während des Fronteinsatzes“10 hingewiesen. Christian Petry vertrat die These, das Politische sei „einem ganz unpolitischen, romantischen Russlanderlebnis gewi-

    6 Detlef Bald: Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand, Berlin 2003, S. 8. 7 Christiane Moll: Die Weiße Rose, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin und Bonn 1994, S. 443 - 467, hier S. 449. 8 Erich Kuby: Vor 10 Jahren von Freisler aufs Schafott geschickt. Hans und Sophie Scholl, Probst, Schmorell, Graf, Huber – die Opfertat „Weiße Rose“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 43 vom 21/22. Feb-ruar 1953, S. 17. 9 Klaus Drobisch (Hrsg.): Wir schweigen nicht! Die Geschwister Scholl und ihre Freunde. Eine Doku-mentation über den antifaschistischen Kampf Münchner Studenten 1942/43, 4. Auflage Berlin 1983, S. 27. 10 Karl-Heinz Jahnke: Weiße Rose contra Hakenkreuz, Frankfurt am Main, o.J.[1969], S. 29.

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    chen“11. Michael C. Schneider und Winfried Süß kamen zu einer sehr differenzierten Wertung des Frontaufenthaltes: „Das Erlebnis des nationalsozialistischen Raubkrie-ges hat mit Sicherheit entscheidend zur Fortführung und Weiterentwicklung ihres Wi-derstands beigetragen. Doch darf auch die utopische Dimension des Rußlandsauf-enthalts nicht außer acht gelassen werden.“12 Die Bedeutung des Frontaufenthaltes in der Sowjetunion für Alexander Schmorell hat Christiane Moll auf der Grundlage un-veröffentlichter Briefe und mit Ausblick auf die anderen Medizinstudenten sehr diffe-renziert analysiert.13 In seiner Auseinandersetzung mit den bisherigen Positionen hält Bald Petrys These für „absurd“14, die Ansätze von Schneider/Süß und Moll werden nicht reflektiert. Bald setzt sich zuerst allgemein mit der Nachkriegswertung des Fronterlebnisses für den Widerstand auseinander: „Menschen aus dem Umfeld des Widerstandes“ hätten die „Bedeutung der Zeit an der Ostfront erkannt und herausgestellt.“15 Bald beruft sich dabei u.a. auf Ricarda Huch: „Im Jahre 1948 sprach Ricarda Huch von dem ‚anderen Charakter’ und von der ‚neuen Entschlossenheit’, nach den Fronterfahrungen den ‚Kampf’ für die Freiheit wieder aufzunehmen.“16 Abgesehen davon, dass Ricarda Huch bereits am 17. November 1947 verstorben war, bezog sich das Originalzitat ausdrücklich nicht auf Entscheidungen, die nach dem Frontaufenthalt gefallen waren, sondern auf den Atelierabend in München bei Manfred Eickemeyer am 22. Juli 1942: „Bevor sie München verließen, fanden sich die Freunde zu einem geselligen Abend im Atelier des Malers Eikenmeyer[!] zusammen ... Sie beschlossen, mit dem begin-nenden Wintersemester, wenn alle wieder in München vereinigt sein würden, den Kampf gegen Hitler mit vermehrtem Nachdruck fortzusetzen ... Auf den Schlachtfel-dern floss das Blut in Strömen; es war wie ein Schrei, der die Lebenden mahnte, dem sinnlosen Morden ein Ende zu machen. Wie verabredet, wurde der Kampf im Spätherbst, als Hans wieder in München einge-troffen war, mit einer neuen Entschlossenheit aufgenommen. Die Flugblätter trugen einen anderen Charakter als die früheren, sie gingen weniger von mystisch-religiösen Ideen aus und bezogen sich mehr auf die Wirklichkeit und die Zukunft. Redete der Sprecher der ‚Weißen Rose’ wie ein Prophet, der das Volk vor dem Bösen warnt und

    11 Christian Petry: Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern, München 1968, S. 65. 12 Michael C. Schneider/Winfried Süß: Keine Volksgenossen. Studentischer Widerstand der Weißen Rose, München 1993, S. 27 – 29. 13 Christiane Moll: Alexander Schmorell im Spiegel unveröffentlichter Briefe, in: Rudolf Lill (Hrsg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“, Konstanz 1999, S. 129 – 160. 14 Bald, S. 11. 15 Bald, S. 12. 16 Bald, S. 13. Bald zitiert diese Textstelle nach ihrer Signatur im Archiv des IfZ, Fa 215, Bd. 4, ver-weist aber nicht auf die leichter zugängliche veröffentlichte Fassung: Ricarda Huch: In einem Gedenk-buch zu sammeln ... Bilder deutscher Widerstandskämpfer. Hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Matthi-as Schwiedrzik, Leipzig 1997, S. 100.

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    zu Gott führen will, so vernahm man jetzt eher staatsmännisches Denken, das Deutschlands künftige Stellung in Europa in Betracht zog.“17 Die Technik, durch Auslassungen in Zitaten oder deren Entkontextualisierung seine Thesen zu belegen, findet sich in der Arbeit von Bald immer wieder. Auf sie wird wei-ter unten noch einzugehen sein. Noch auf derselben Seite, auf der Bald Ricarda Huch wiedergibt, wird aus einer Veröffentlichung eines Mitarbeiters des Militärgeschichtli-chen Forschungsamtes pauschal „die Bundeswehr“: „Das Urteil der Bundeswehr, die zur ‚Feldfamulatur’ kommandierten Studenten hätten ‚keineswegs aus betont politi-schen Gründen’ Widerstand geübt, schont ‚die’ Wehrmacht als eine Ursache für die Motive der ‚Weißen Rose’, reduziert deren ethische Beweggründe auf christliche und humanistische Ideale und verkennt somit die historische Dimension ihrer Aktionen.“18 Doch was schrieb der Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes tat-sächlich? „Man lehnte den Nationalsozialismus keineswegs aus betont politischen Gründen ab. Entscheidend war die Ablehnung aus moralischen Gründen und die Be-jahung jener geistigen, kulturellen und religiösen Werte, die der Nationalsozialismus missachtete, missbrauchte und bekämpfte ... Die Erlebnisse an der Front im Frank-reich-, Balkan und Russlandfeldzug bestärkten sie in ihrer oppositionellen Haltung. Dies führte jedoch nicht zu konkreten Widerstandshandlungen wie beispielsweise Vorbereitungen zum Umsturz oder Sabotage, sondern vornehmlich zu einer geistigen Abrechnung mit dem NS-System.“19 An dieser Stelle ist keine „Schonung“ der Wehr-macht zu erkennen. Für Bald erlebten die jungen Männer aus dem Kreis der „Weißen Rose“ „die Front mit einem kritischen Bewußtsein. Sie teilten eine Art ‚soziales Wissen’, dessen Devise – passiver Widerstand – sie von der Mehrheit ihrer Kameraden in der Wehrmacht un-terschied. Noch am Abend vor der Abfahrt aus München hatten sie sich dazu durch-gerungen, an der Front kein Gewehr in die Hand zu nehmen.“20 Dies postuliert den Grundsatz der Gewaltlosigkeit für die gesamte Gruppe und dies lediglich auf der Grundlage einer Aussage von Alexander Schmorell vor der Gestapo. Während Schmorell seinen Willen, „weder auf Deutsche noch auf Russen zu schießen“, sogar noch in der Hauptverhandlung bekräftigte,21 gibt es jedoch überhaupt keinen Quellen-beleg, ja nicht einmal ein Indiz, wonach sich Scholl, Graf oder andere Anwesende am 22. Juli 1942 den Überlegungen Schmorells angeschlossen hätten. So erwähnt Bald 17 Huch, Gedenkbuch, S. 100. 18 Bald, S. 13. 19 Heinrich Walle: Ein Rundgang durch die Ausstellung, in: Aufstand des Gewissens. Militärischer Wi-derstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933 – 1945. Katalog zur Wanderausstellung. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Heinrich Walle, 4. Auflage, Berlin u.a. 1994, S. 115 f. 20 Bald, S. 14. 21 Bundesarchiv, R 30.01, IV g 10a 5011/43, Verfahren gegen Schmorell u.a., hier fol. 63 ff, Urteil ge-gen Schmorell u.a. vom 19. April 1943, Zitat S. 9 (fol. 67).

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    etwa Kurt Hubers Aussage über den Abend des 22. Juli 1942 nicht: „Von den jungen Leuten wurde insbesondere davon gesprochen, wie sie sich im Felde verhalten wer-den. Schmorell hat dabei besonders hervorgehoben, dass er sich ganz passiv verhal-ten wolle, während Scholl, alle Studentinnen, Eicher22 und ich der Auffassung waren, dass sie im Kampf ihren Mann stellen23 müssen. Scholl, Eickemeier und ich vertraten auch den Standpunkt, dass die Tätigkeit der SS-Verbände im Feld das Ansehen der allgemeinen Wehrmacht beeinträchtige. Durch die uns bekannt gewordenen Erschie-ßungen von Polen und Russen durch die SS waren wir zu dieser Ansicht gekommen. Schmorell vertrat ganz offen den Standpunkt, dass ein passiver Widerstand das zweckmässigste sei. In seiner Auffassung wurde er aber von allen übrigen Anwesen-den überstimmt.“24 Balds These von der grundlegenden Gewaltlosigkeit der Münche-ner Medizinstudenten seit dem 22. Juli 1942 ist damit hinfällig. Eine weitere These Balds ist, dass Scholl, Schmorell, Furtwängler und Graf an der Front eine „’massive Form der Tötungsgewalt’“ erlebten, „die sie tief erschütterte und die sie in den Feldpostbriefen und Tagebüchern zu verarbeiten und zu filtern such-ten.“25 Doch auch hier kann Bald nicht auf Quellen zur „Weißen Rose“ zurückgreifen, sondern beruft sich auf eine Publikation zum Fronterlebnis im Ersten Weltkrieg.26 III. Um „neue Blickpunkte“ einzubringen, will Bald die vorliegenden Selbstzeugnisse der „Weißen Rose“ mit „der Analyse des militärischen Geschehens und mit der Besat-zungspolitik der Wehrmacht“ verknüpfen.27 „Dazu wurden einige bislang zu wenig bzw. gar nicht berücksichtigte Quellenbestände herangezogen. Die umfangreichen von der Gestapo für die Gerichtsverfahren angefertigten Protokolle der Vernehmun-gen im Bundesarchiv Berlin sind eine wahre Fundgrube an Informationen und Fak-ten.“28 Zu wenig oder gar nicht herangezogen? Dies trifft für diese Bestände nicht zu, wie Bald den Arbeiten etwa von Moll, Schneider/Süß und Schüler hätte entnehmen können. Sie alle haben, z.T. sehr ausführlich und behutsam in der Interpretation, mit diesen Beständen gearbeitet. Warum wird also der Eindruck erweckt, dies sei bisher nicht geschehen? 22 richtig: Aicher 23 „stellen“ im Original, mglw. richtig „stehen“. 24 Bundesarchiv, NJ 1704, Bd. 7, Bl. 8 RS, Aussage von Kurt Huber vom 27.2.1943. Als Willi Graf die Aussage Hubers vorgehalten wurde, bestätigte er diese: „Ich glaube mich nun entsinnen zu können, dass Schmorell hinsichtlich des Einsatzes an der Front den Standpunkt vertrat[,] sich passiv zu verhal-ten, welcher Auffassung von den übrigen Anwesenden widersprochen wurde.“ Bundesarchiv, NJ 1704, Bd. 8, Bl. 16, Aussage von Willi Graf vom 1. März 1943. 25 Bald, S. 14. 26 Bald, S. 173, Anm. 29. 27 Bald, S. 15. 28 Bald, S. 15.

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    Zwei Quellenbestände werden tatsächlich von Bald erstmals intensiv ausgewertet: Zum einen Wehrmachtakten, vor allem die Bestände der 252. Division, die heute im Bundesarchiv/Militärarchiv in Freiburg lagern. Hier kann Bald zu Recht das Verdienst in Anspruch nehmen, neue Quellen vorgestellt zu haben. Problematischer wird es bei einem anderen Quellenbestand, den „von Jürgen Wittenstein erstmals zur Verfügung gestellten Briefe[n] und Tagebuchaufzeichnungen von der Famulatur an der Ostfront, die er mit selbstgemachten Fotos näher illustriert“29, und die auch im Buch von Bald zu finden sind. Wittensteins Tagebücher und Briefe, die bisher für Publikationen nicht zur Verfügung standen, befinden sich im Privatbesitz von Jürgen [George S.] Witten-stein, der heute in den Vereinigten Staaten lebt. Wittenstein hat sich bisher in einigen Publikationen über seine Beteiligung an den Ak-tionen der „Weißen Rose“ geäußert: Dazu gehört ein 1947 veröffentlichter Erinne-rungsbericht30, den Wittenstein in veränderter und längerer Form auch 1964 dem In-stitut für Zeitgeschichte mit einem kommentierenden Bericht zur Verfügung stellte.31 Bekannter sind heute aber Wittensteins im Internet platzierte „Memories of the White Rose“, die ebenfalls auf seinem Bericht von 1947 beruhen, aber einige wesentliche Änderungen und Ergänzungen enthalten.32 Hinzu kommt ein Interview, das Witten-stein 1993 der Zeitung „The Independent“ gab.33 Vergleicht man diese vier Texte, so wird deutlich, dass Wittenstein im Zeitverlauf die zurückhaltende Würdigung seiner Freunde aufgab und seinen eigenen Anteil am Widerstand gegen den Nationalsozia-lismus immer stärker in den Vordergrund stellte. Dies führte schließlich so weit, dass er als „embryonic stage“ der „Weißen Rose“ die Begegnung zwischen sich und Ale-xander Schmorell 1938/39 postulierte und einen eigenen Anteil an zwei Flugblättern der „Weißen Rose“ behauptete: „The first two leaflets were written by Schmorell and Scholl exclusively. In the third and fourth, Sophie and Christoph Probst had some say. So did I, and I felt very strongly that this was not enough … In the fifth leaflet, Profes-sor Huber had some input for the first time, and I think our combined input, Professor Huber’s and mine, changed the nature of the leaflet completely.”34 Nun ist es nichts Neues, dass sich die Erinnerung von Zeitzeugen im Rückblick verklärt. Bei Witten-stein ist mit dieser veränderten Selbstdarstellung jedoch ein ganz bestimmter An-spruch auf die Hervorhebung der eigenen Person verbunden. Doch gerade Autoren-

    29 Bald, S. 17. 30 Jürgen Wittenstein: Die Münchener Studentenbewegung, in: Blick in die Welt, Nr. 13, Hamburg 1947, S. 14 ff, erneut veröffentlicht in: Die Lupe, Nr. 87, Bern 1948, S. 33 – 41. 31 Institut für Zeitgeschichte, Fa 215, Band 3, fol. 204 – 208, Brief von Jürgen Wittenstein vom 7. Sep-tember 1964 und Bericht „Die Münchener Studentenbewegung“ in: Ebenda, fol. 209 – 238. 32 George J. Wittenstein: Memories of the White Rose, in: http://www.historyplace.com/point-sofview/white-rose1.htm 33 Andreas Estrada: An Interview with George Wittenstein, One of the last Surviving White Rose Activ-ists, in: The Independent Vol. 7, No. 357 vom 23. September 1993, S. 33. 34 Ebenda.

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    schaft und Verbreitung der Flugblätter lassen sich heute sehr gut rekonstruieren. Hierzu liegen umfassende Aussagen vor der Gestapo und aus den Prozessunterlagen vor. Versuchten Hans und Sophie Scholl am Anfang, die anderen Beteiligten, etwa Kurt Huber zu decken, sagten sie ebenso wie Huber und Schmorell später zur Urhe-berschaft der Flugblätter ausführlich aus. Nirgendwo fiel in diesem Zusammenhang der Name Jürgen Wittenstein, der erst seit dem Beginn der neunziger Jahre massiv eine Mitautorenschaft beansprucht und sich damit auf eine Stufe mit Kurt Huber stel-len will. Die verschiedenen Berichte Wittensteins sind aber weder in sich wider-spruchsfrei, noch lassen sie sich mit den anderen vorliegenden Quellen in Überein-stimmung bringen. Bald aber stellt nirgendwo die Frage nach dem Quellenwert der Aussagen und Texte Wittensteins. Beim „Aufbruch im Sommer 1942“ etwa setzt er sich zuerst mit der Na-mensgebung der „Weißen Rose“ auseinander, bevor er kurz auf die Biographien des „engeren Kreises“ der „Weißen Rose“ mit Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf eingeht. Doch zu diesem „engeren Kreis“ gehört plötzlich auch – noch vor Chris-toph Probst – Jürgen Wittenstein. Dabei stützt sich Bald lediglich auf Selbsteinschät-zungen Wittensteins, er habe zum „inneren Kreis der Münchener studentischen Wi-derstandsbewegung“ gehört35. Aber Bald geht noch weiter: „Nachdem Wittenstein Ende Juni 1942 die ersten zwei ‚Flugblätter der Weißen Rose’ mit der Post erhalten und Scholl auf seine Urheberschaft angesprochen hatte, zog dieser ihn ins Vertrauen und schlug ihm vor, die weiteren Flugblätter stilistisch zu ‚redigieren’.“36 Zweifel an dieser Version Wittensteins lassen sich bei Bald nicht erkennen. Bald gibt auch einen Bericht Wittensteins über eine Diskussion mit Schmorell wieder, an dessen Ende dieser zu Wittenstein gesagt haben soll: „Vielleicht wird eines Tages an dieser Tür ein Schild hängen mit der Aufschrift: ‚Hier hat die Revolution begon-nen.’“37 Tatsächlich hieß es noch im Bericht Wittensteins in den vierziger und sechzi-ger Jahren – und dies noch nicht unter Berufung auf Schmorell - : „In zehn Jahren wird dann vielleicht an der Tür dieses Zimmers einmal ein Schild hängen: ‚Von hier aus nahm die Bewegung ihren Fortgang!’“38 Die Frage nach dem Quellenwert und der Glaubwürdigkeit der Tagebücher, Aufzeich-nungen und Briefe Jürgen Wittensteins bleibt. Wann sind diese in der von Bald zitier-ten Form wirklich entstanden? Welche Bearbeitungen sind möglicherweise wann vor-genommen worden? Sind die Berichte und Tagebücher widerspruchsfrei? Hier stellt 35 Bald, S. 27. 36 Bald, S. 28, stützt sich hier auf eine Mitteilung Jürgen Wittensteins vom 28. September 2002 und gibt auf S. 175, Anmerkung 65 an, dass Wittenstein damit „ausdrücklich“ seinen Bericht im IfZ „korrigiert“. 37 Bald, S. 27 unter Berufung auf eine Mitteilung Jürgen Wittensteins vom 28. September 2002. 38 Institut für Zeitgeschichte, Fa 215, Band 3, fol. 209 – 238, Bericht Jürgen Wittensteins: „Die Münche-ner Studentenbewegung“, hier fol. 210.

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    sich die Frage nach den Mindeststandards in der historischen Quellenanalyse über-deutlich, denn nur so lassen sich die Ereignisse angemessen rekonstruieren. Herkunft und Entstehungszusammenhang historischer Texte müssen benannt werden.39 Bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist ein zuerst kryptisch erscheinender Ab-schnitt im Bericht Wittensteins von 1947: „Es mag hier zur Kennzeichnung der Situa-tion in Deutschland angemerkt werden, dass die Bespitzelung bereits derart weit fort-geschritten war, dass es zu Beginn der Bewegung den einzelnen Mitgliedern geraten schien, zu ihrem Schutze der Partei oder einer ihrer Gliederungen als Anwärter beizu-treten. Die überwiegende Mehrzahl führte diesen gemeinsamen Entschluss aus, was das jahrelange Bestehen der Bewegung bestimmt zu einem großen Teil überhaupt nur ermöglichte. Beim Hereinbrechen des Verhängnisses musste es freilich bei den Hauptbelasteten versagen – dafür rettete es nicht wenigen das Leben.“40 Die „über-wiegende Mehrheit“ sei in die NSDAP oder ihre Gliederungen eingetreten? Wen au-ßer Huber, der NSDAP-Mitglied war, mag Wittenstein hier gemeint haben? Eine Antwort darauf gibt ein Blick in die NSDAP-Mitgliederkartei im Bundesarchiv. Danach beantragte der am 26. April 1919 in Tübingen geborene Student Jürgen Wit-tenstein am 12. Dezember 1939 die Aufnahme in die NSDAP. Er wurde mit der NSDAP-Nummer 7667868 zum 1. Juni 1940 in die NSDAP, Ortsgruppe Beilstein, Gau Württemberg, aufgenommen.41 Warum hat Jürgen Wittenstein bisher in keiner seiner Publikationen darauf hingewie-sen, dass er Ende 1939, also drei Monate nach dem deutschen Überfall auf Polen, seine Aufnahme in die NSDAP beantragte und seit 1. Juni 1940 eingetragenes NSDAP-Mitglied war? Auf eine Absprache mit Schmorell oder seinen Freunden in der „Weißen Rose“ kann sich Wittenstein hier nicht berufen, da ein größerer Diskussions-zusammenhang zu dieser Zeit noch nicht bestand. Offenbar ist die Faszination der neuen Quellen, der Aufzeichnungen, Tagebücher und Briefe Wittensteins, für Bald dermaßen stark gewesen, dass die notwendige Quellen-kritik unterblieb. Es gibt jedenfalls nichts außer dessen Eigenzuschreibungen, das auf Jürgen Wittenstein als Mitverfasser oder gar „Redakteur“ der Flugblätter der „Weißen Rose“ hinweist. Zur Ausweitung des „engeren Kreises“ der „Weißen Rose“ über Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und Kurt Huber hinaus besteht keine Veranlassung. Im Gegenteil, es bleibt der Widerspruch, dass

    39 Hans Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Ge-schichtswissenschaft, in: APuZ B 28/2001, S. 15-30. 40 Institut für Zeitgeschichte, Fa 215, Band 3, Jürgen Wittenstein: Die Münchener Studentenbewegung, hier fol. 236. 41 Bundesarchiv, NSDAP-Mitgliederkartei, Ortsgruppenkartei, Mitgliedskarte Nr. 7667868.

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    Jürgen Wittenstein, der nach Bald „Enge und Unfreiheit des Nationalsozialismus so-wie die Pogrome und die Zerstörungen der Synagogen“42 verabscheute, in Wirklich-keit Ende 1939 der NSDAP beitrat. Auch die Darstellung der Herstellung und Verbreitung der Flugblätter im Sommer 1942 enthält einige Fehler. Bald übernimmt etwa die Aussage vor der Gestapo, dass die Adressaten der ersten vier Flugblätter aus dem Telefonbuch ausgewählt waren.43 Tatsächlich aber waren darunter, wie eine Analyse der entsprechenden Anschriften zeigt, etliche Bekannte von Scholl, Schmorell und auch von Christoph Probst.44 Bei der Darstellung der Kontakte zwischen dem Architekten Manfred Eickemeyer und vor allem des 22. Juli 1942 werden unterschiedlichste Ereignisse zusammengezogen. So belegt Bald hier die politischen Gemeinsamkeiten zwischen Scholl und Eickemey-er für den Sommer 1942 mit einer Aussage von Gisela Schertling.45 Gisela Schertling aber lernte Hans Scholl erst im Dezember 1942 kennen, Eickemeyer frühestens zu diesem Zeitpunkt, so dass dieser Beleg für den Sommer 1942 nicht zutreffen kann. Sicher ist, dass die Gruppe über Eickemeyer von den nationalsozialistischen Gewalt-verbrechen in Polen erfuhr. Doch Bald genügt diese Gewissheit nicht, sondern er stellt zusätzlich Behauptungen auf, die sich bei näherer Überprüfung als falsch her-ausstellen: „Eickemeyer hatte sicherlich von den Tiraden Hans Franks berichtet, Kra-kau zur ‚judenfreiesten Stadt’ Polens zu machen und Warschau ‚in absehbarer Zeit von der arbeitsfähigen Judenlast’ zu befreien.“46 Beide Zitate stammen aus den Diensttagebüchern des deutschen „Generalgouverneurs“ im besetzten Polen, Hans Frank. Das erste Zitat stammt vom 12. April 1940 aus einer Sitzung der Abteilungslei-ter des „Generalgouvernements“ und lautet richtig: „Die Stadt Krakau müsse die ju-denreinste Stadt des Generalgouvernements werden.“47 Das zweite Zitat stammt aus einer Sitzung über Polizeifragen vom 18. Juni 1942 und zudem nicht von Hans Frank, sondern von Vize-Gouverneur und Amtschef Dr. Herbert Hummel. Hummel hoffte auf dieser Sitzung, „dass die Stadt Warschau in absehbarer Zeit von der arbeitsunfähi-gen Judenlast befreit werde.“48 Beide Zitate waren auch nicht etwa öffentlich gefallen, sondern wurden auf Sitzungen der „Regierung“ des „Generalgouvernements“ proto-kolliert. Diese Protokolle lagerten im Safe des Chefs der Kanzlei des Generalgouver-

    42 Bald, S. 27. 43 Bald, S. 32. 44 Bundesarchiv, ZC 13267, Band 1, Bl. 22 f. 45 Bald, S. 41. 46 Bald, S. 42. 47 Werner Präg/Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.): Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouver-neurs in Polen 1939-1945, Stuttgart 1975, S. 165. Bald ist nicht auf diese historisch-kritische Edition zurückgegangen, sondern übernimmt den Fehler von Joseph Wulf: Das Dritte Reich und seine Voll-strecker, Berlin 1961 (Nachdruck Berlin 1978), S. 357. 48 Präg/Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 510.

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    neurs.49 Wie hätte also Manfred Eickemeyer diese geheim gehaltenen „Tiraden“, von denen zumindest eine gar nicht von Hans Frank stammte, kennen können? Eickemeyer hätte im Sommer 1942 auch berichten können – so Bald – „dass ‚SS-Leute’ nach den Sperrstunden durchs Ghetto fuhren und mit Maschinenpistolen ‚auf alles, was sich zeigt’, schossen.50 Hier merkt Bald zwar an, dass er aus dem Tage-buch von Ulrich von Hassell zitiert, enthält dem Leser aber vor, dass der Eintrag erst vom 20. Dezember 1942 stammt und vollständig lautet: „Dauernde unaussprechliche Judenmorde in großen Gebinden. SS-Leute fahren mit Maschinenpistolen nach der Stunde, die als Aufhören der Ausgehfreiheit festgesetzt ist, durchs Ghetto und schie-ßen auf alles, was sich zeigt, zum Beispiel spielende Kinder, die sich unglücklicher-weise etwas länger auf der Straße befinden.“51 Tatsächlich hatte Hassell diese Infor-mationen erst kurz zuvor von Max Frauendorfer, dem Präsidenten der Hauptabteilung Arbeit im „Generalgouvernement“ erhalten, der sich ausdrücklich auf den Herbst 1942 bezog, also auf eine Zeit weit nach den Gesprächen am 22. Juli 1942, die Bald hier illustrieren will. IV. Um seine Grundthese zu untermauern, befasst sich Bald ausführlich mit der Fahrt an die Front, der Wahrnehmung von nationalsozialistischen Verbrechen in Warschau und schließlich mit dem Fronterlebnis von Hans Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf sowie von Furtwängler und Wittenstein. Wie schon eben gezeigt, verknüpft er dabei Texte durchaus unterschiedlicher Herkunft und verschiedenster Kontexte, wobei er immer wieder einen Zusammenhang mit den Angehörigen der „Weißen Rose“ sugge-riert. Seine Darstellung beruht auf sehr vielen Vorannahmen, zum Teil auf Spekulatio-nen sowie auf der Verkürzung oder Entkontextualisierung von Zitaten. Dies zeigt sich etwa in dem Kapitel „Auf der Fahrt: Ghetto und Greuel“.52 Bald sugge-riert, dass die Münchener Studenten in Warschau auf eine „noch gänzlich unbe-schreiblichere Szenerie“ gestoßen seien, als sie am Mittag des 26. Juli 1942 in War-schau eintrafen: „Nun erlebten sie eine andere Realität, die sie bereits auf dem Bahn-hof erstarren ließ. Ringsum das totale Chaos. Waggons zum Transport von Kriegsge-fangenen von der Ostfront kreuzten sich mit den Todeszügen der Juden in die Ver-nichtungslager im Osten. Die Weiterfahrt des Sanitätszuges verzögerte sich. In der 49 Präg/Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 32. 50 Bald, S. 42. 51 Ulrich von Hassell: Die Hassell-Tagebücher 1938-1944. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland. Nach der Handschrift revidierte und erweiterte Ausgabe unter Mitarbeit von Klaus Peter Reiß hrsg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Berlin 1988, S. 339 f. 52 Bald, S. 48 - 59.

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    ganzen Stadt herrschte Betriebsamkeit, überall Polizei, Militärpatrouillen. Bewaffnete SS aus Lublin und Trupps von zwei lettischen Bataillonen aus Riga fielen auf. Sie wa-ren Experten im Umgang mit den Todeszügen, da seit Monaten die Transporte aus dem Reich, aus Breslau oder München, nach Lublin geleitet worden waren. Von dort aus wurden die Züge zu den Rampen in Sobibor und Treblinka gelenkt, die direkt zu den Gaskammern führten.“53 In diesem Absatz sind fast alle Aussagen fehlerhaft, denn in dem Bemühen, seine These zu belegen, zieht Bald unterschiedlichste Vorgänge zusammen. Das von ihm beschriebene Chaos im Bahnverkehr vor Warschau Ende Juli 1942 hat es nicht ge-geben. Ebenso wenig lassen sich Transportzüge für Kriegsgefangene in diesen Tagen belegen. Die Deportationszüge, die vom „Umschlagplatz“ des Ghettos in Warschau über den etwa fünf Kilometer nördlich vom Hauptbahnhof gelegenen „Danziger Bahn-hof“ zum Bahnhof Malkinia in der Nähe des Vernichtungslagers Treblinka geleitet wurden, behinderten den Truppentransport und den Nachschub überhaupt nicht. Aus Sicht der Bahn waren es nur ein oder zwei Züge täglich, die vom „Umschlagplatz“ nach Malkinia fuhren. Die Frage, wann welche lettischen Einheiten in welcher Stärke im Warschauer Ghetto Ende Juli 1942 eingesetzt wurden, ist noch nicht endgültig geklärt. Sicher ist nur, dass die lettischen Schutzmannschaftsangehörigen Ende Juli/Anfang August 1942 wegen zu großer Grausamkeit nicht mehr im Ghetto eingesetzt, sondern durch „Trawniki-Männer“ abgelöst wurden. Mit Sicherheit aber waren diese lettischen Verbände nicht an den Mordaktionen im Sommer 1942 im Raum Lublin beteiligt, denn sie kamen di-rekt von Riga nach Warschau. Die „Transporte aus dem Reich, aus Breslau und München“ wurden in den Monaten vor Juli 1942 weder nach Lublin noch in den Raum Lublin geleitet. Die Breslauer Ju-den wurden vor allem nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert, die meisten Münchener Juden nach Theresienstadt und Riga. Lediglich ein Transport vom 3. April 1942 führte von München in das „Durchgangsghetto“ von Piaski bei Lublin. Da es diese Transporte aus Breslau und München in den Raum Lublin nicht gegeben hatte, konnten sie von dort auch nicht „seit Monaten“ nach Sobibor oder Treblinka weitergeleitet worden sein. Die Vergasungen in Sobibor begannen im April 1942, die in Treblinka tatsächlich erst am 22. Juli 1942, also nur wenige Tage vor dem Aufent-halt der Münchener Studenten in Warschau. Die „bewaffnete SS aus Lublin“ bestand zu dieser Zeit aus einem Kommando von maximal 10 Personen, das in drei oder vier Pkws aus Lublin kommend am 22. Juli

    53 Bald, S. 50.

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    1942 in Warschau eintraf. Diese SS-Führer und Unterführer dürften im Stadtbild nicht sonderlich aufgefallen sein. Als Fazit kann nur festgehalten werden, dass die Situation in Warschau Ende Juli 1942 selten fehlerhafter dargestellt worden als in diesem kurzen Abschnitt über die Ghettowahrnehmung der Medizinstudenten. Fehler finden sich auch in den Bildunterschriften in diesem Abschnitt: ein angeblicher „SS-Offizier mit Peitsche“ am Tor zum Warschauer Ghetto ist zwar ein SS- oder Poli-zeiangehöriger, aber mit Sicherheit kein Offizier. Auf dem Bild darunter wird zwar ein Mann getreten, aber nicht wie die Bildunterschrift behauptet, geschlagen, und auch wiederum nicht von einem SS-Offizier. Interessant ist auf diesem Bild allerdings eine neugierige Gruppe von vier Wehrmachtsoldaten, die diesem Vorgang zusieht und of-fensichtlich versucht, noch etwas näher an das Geschehen heranzukommen. Sie be-finden sich außerhalb des Ghettos, nicht im Ghetto selbst. Dies bedeutet auch, dass die auf S. 55 abgedruckte Ghetto-Beschreibung von Alina Margolis-Edelmann die Wahrnehmung der Medizinstudenten nicht illustrieren kann, denn diese hatten keine Möglichkeit, ins Ghetto selbst, das seit dem Beginn der De-portationen abgesperrt war, hineinzugelangen Nach der von Bald übernommenen Darstellung Wittensteins waren die Wachposten, die alle 15 Meter mit geschultertem Gewehr standen, „Ukrainer, dieselben, die in Lublin ein Ghetto mit 35000 Insassen in anderthalb Monaten geräumt hatten“ und sich dieser Tat auch rühmen würden.54 Tatsächlich wurden nach den Feststellungen des Landgerichts Hamburg im Verfahren gegen den ehemaligen Kommandanten des Ausbildungslagers Trawniki zwischen dem 17. März und dem 16. April 1942 mindes-tens 25.000 Juden aus dem Lubliner Ghetto in das Vernichtungslager Belzec depor-tiert, wobei zwei Kompanien Trawniki-Wachmänner („Ukrainer“) eingesetzt wurden.55 Im selben Verfahren ist aber auch festgestellt worden, dass Wachmänner aus Trawni-ki in Warschau erst zur Ablösung der lettischen Verbände, spätestens mit Ablauf des 5. August 1942, möglicherweise auch einen oder zwei Tage früher, eingesetzt wur-den.56 Nach den Feststellungen des Hamburger Gerichts waren Ende Juli 1942 noch keine „Ukrainer“ im Warschauer Ghetto eingesetzt.

    54 Bald, S. 51 f. 55 Landgericht Hamburg, Verfahren (50) 8/72, Urteil gegen Karl Streibel und andere vom 3. Juni 1976. 56 Ebenda, S. W 21. „Fremdvölkische Wachmänner aus dem SS-Ausbildungslager Trawniki waren auch bis zu diesem Zeitpunkt [5.8.42, d.V.] noch nicht nachweisbar an Räumungsmaßnahmen im In-nern des Ghettos oder an der Außenbewachung beteiligt. Es ist möglich, dass sie bereits vor dem 6.8.1942 in Warschau eintrafen und seitdem als Reserve bereitstanden.“

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    Balds behauptet, dass die Medizinstudenten „begriffen“ hatten, wohin „die Transporte ‚in Richtung Osten’ gingen.“57 Er belegt dies mit einem „ahnungsvollen“ Zitat von Jür-gen Wittenstein: „Nur die Arbeitsfähigen erreichen jemals ihr Ziel. Frauen und Kinder sehen es nie.“58 Dies stellt erneut die Frage nach dem Quellenwert dieser Tagebü-cher, denn gerade für die Transporte von Warschau nach Malkinia gilt, dass Frauen, Männer und Kinder vollkommen unabhängig von ihrem Alter und ihrer Arbeitsfähigkeit sämtlich ermordet wurden. Selektionen zur Arbeitsfähigkeit gab es in den Vernich-tungslagern der Aktion Reinhard nicht; auch Gerüchte darüber lassen sich im Som-mer 1942 nicht nachweisen. Es gibt aber nach wie vor keinen Beleg dafür, dass die Münchener Studenten wäh-rend ihres kurzen Aufenthaltes in Warschau einen Deportationszug gesehen haben oder sein Ziel kannten. Der „Umschlagplatz“ war abgesperrt, das Ghetto ebenso. Die Studenten konnten also auf keinen Fall ins Ghetto selbst; es war ihnen, wenn über-haupt, nur möglich, zu einem der Ghettotore zu gelangen. Falsch ist Balds Behauptung, dass die SS „wenige Wochen zuvor ... das (Sonder-) Kommando in der ‚Judenfrage’“ übernommen hatte.59 Zumindest für das General-Gouvernement waren alle Zuständigkeiten spätestens im Herbst/Winter 1941 geklärt worden. Seither hatten die Vernichtungslager der Aktion Reinhard systematisch mit den Mordaktionen begonnen, nicht erst „wenige Wochen“ zuvor. Den grundlegenden Befehl Himmlers über die „Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung“ im „Ge-neralgouvernement“ beschränkt Bald auf Warschau.60 Ebenso hypothetisch sind sei-ne Überlegungen über den Zusammenhang von Deportationszügen und der Verzöge-rung der Soldatentransporte. Die angebliche Verstopfung der „direkten Linien“ lässt sich auf keinen Fall auf die Deportationstransporte zurückzuführen, für die andere Strecken als für die Truppentransporte genutzt wurden. Ausführlich zitiert Bald das Tagebuch Wittensteins, der von der Bereitschaft eines Po-lizisten berichtet, für sechs Zigaretten einen Juden über die Ghettomauer hinweg zu erschießen, und weiter: „Als auf das Auto des SS-Chefs Steine geworfen wurden, ließ er einen ganzen Häuserblock niederreißen und sämtliche Insassen erschießen.“61 Die reichhaltige Literatur über Warschau und die Vielzahl der vorliegenden Erinnerungs-berichte erwähnen eine derartige Geschichte, die mit Sicherheit überliefert wäre, nicht. Bald ist dieses Ereignis nicht einmal eine quellenkritische Anmerkung wert. Für ihn ist die Interpretation klar: „Angesichts der endlosen Transportzüge mit Nachschub

    57 Bald, S. 51 f. 58 Bald, S. 52. 59 Bald, S. 52. 60 Bald, S. 53. 61 Bald, S. 56.

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    für Stalingrad und der permanenten Erniedrigung der Juden erkannten sie, daß die Vernichtung Priorität hatte.“62 Doch an dieser Stelle verweist Bald nicht etwa auf ein Quellenzeugnis der „Weißen Rose“, sondern auf eine Studie Ralph Giordanos über nationalsozialistische Kriegsziele, die mit dem angesprochenen Thema nichts zu tun hat. Fassen wir diesen Abschnitt zusammen: Die Münchener Studenten hatte es nach Bald „wiederholt“ zum Ghetto gezogen, sie hätten hier den „Horror der Barbarei“ er-lebt. Tatsächlich aber waren sie am Mittag des 26. Juli in Warschau eingetroffen und warteten in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli bereits auf die Weiterfahrt. Waren sie wirklich alle an der Mauer zum Ghetto gewesen oder nur einzelne von ihnen? Waren sie wirklich „mehrfach“ dort gewesen? Am Spätnachmittag des 26. Juli 1942 gingen sie in die Stadt, und Willi Graf notierte: „Das Elend sieht uns an. Wir wenden uns ab.“63 Interessant ist, dass Bald dieses Zitat auseinanderreißt und auf zwei Seiten verteilt.64 Willi Grafs Eintrag vom 27. Juli, der Balds These möglicherweise etwa rela-tivieren könnte, wird nicht zitiert: „Ein wenig geschrieben, um ein Zeichen zu schicken. Dann gehen wir wieder zur Stadt, laufen umher, essen, sitzen dann in der ‚Blauen Ente’. Unser ganzes Geld geht zu Ende. Wir trinken Wodka in kleinen Schlücken. Hof-fentlich sehe ich Warschau nicht mehr unter diesen Vorzeichen und Bedingungen.“65 Hans Scholl hat für Bald „krampfhaft“ reagiert; dieser habe nur „totale Ohnmacht“ empfunden. Hält man die Briefe Hans Scholls an seine Eltern vom 27. Juli und an Kurt Huber dagegen, so kann man hier lediglich lesen, dass Warschau ihn „auf die Dauer krank machen“ würde und sein Fazit: „Die Stadt, das Ghetto und alles Drum und Dran hatte auf alle einen sehr entscheidenden Eindruck gemacht.“66 Ein Beleg für eine „krampfhafte“ Reaktion oder gar für „totale Ohnmacht“ findet sich hier ebenso wenig wie ein Beleg, dass die Münchener Studenten in Warschau die Priorität der na-tionalsozialistischen Vernichtungspolitik erkannt hätten. V. Balds Technik, Ereignisse einzubeziehen, die mit dem Aufenthalt der Medizinstuden-ten an der Front zeitlich in keinerlei Zusammenhang stehen, wird im Abschnitt über „die Massaker in Kowno“ in voller Klarheit erkennbar. Bald berichtet hier über die

    62 Bald, S. 56. 63 Willi Graf: Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg. von Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens, Frankfurt am Main 1988, S. 44. 64 Bald, S. 55 f. 65 Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 44. 66 Hans Scholl, Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1984, S. 83 und 85.

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    Massenmorde im Sommer 1941 in Kowno, die „zum Präzedenzfall“ wurden „dafür, daß die Wehrmacht den Gewaltaktionen gegen jüdische Gemeinden und der Dezi-mierung der jüdischen Einwohnerschaft tatenlos zuschaute.“67 In Kowno sei auch im November 1941 der erste Sammeltransport Münchener Juden angekommen und hier ermordet worden. Nachdem diese Fakten dargelegt sind, präsentiert Bald den „Zu-sammenhang“ dieser Ereignisse mit der „Weißen Rose“: „Die Medizinstudenten pas-sierten in der Nacht des 29. Juli nichts ahnend Kowno.“68 Ähnlich ist es im Abschnitt „Vorbei an Wilna“, in dem Bald auf die Massenmorde vom Herbst 1941, aber auch auf die Hilfsaktionen des Feldwebel Anton Schmid verweist: „Davon wußten die Medizin-studenten auf ihrer Fahrt an die Ostfront nichts; aber sie ahnten, daß ihre Route einer grausamen Blutspur der deutschen Besatzungsherrschaft folgte.“69 Und auch diese These belegt Bald mit einem stark gekürzten Scholl-Zitat, das keine besondere Refle-xion der deutschen Besatzungsherrschaft, sondern die Frage an den „Gott der Liebe“ nach dem Ende menschlichen Leids enthält.70 Dieser Zusammenhang wird jedoch ebenso wie fast alle anderen metaphysischen Überlegungen in den Selbstzeugnissen der „Weißen Rose“, besonders bei Hans Scholl, von Bald ausgeblendet. Im Abschnitt über den Einsatz an der Ostfront suggeriert Bald erneut vielfach Zu-sammenhänge, die so nicht bestanden haben. Er berichtet, dass am 1. August 1942 Furtwängler, Graf, Schmorell, Scholl und Wittenstein einen Rundgang durch Vjaz’ma gemacht und sich dabei „einen ersten Eindruck vom Kriegsalltag in der Etappe“ ver-schafft hätten. „Hier war das mobile SS-Einsatzkommando Nr. 9 stationiert, das seit November 1941 den rückwärtigen Raum der Front befriedete, und ein Durchgangsla-ger für Kriegsgefangene errichtet worden.“71 Dies erweckt beim Leser den Eindruck, als sei das Einsatzkommando 9 der Einsatzgruppe B des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD noch während des Einsatzes der Münchener Studenten in Vjaz’ma stati-oniert gewesen. Tatsächlich aber gibt es keinerlei Hinweise, dass das EK 9 im Som-mer 1942 noch im Raum Vjaz’ma – Gzatsk eingesetzt war.72 Bald berichtet auch über den Kommandanten des Durchgangslagers für Kriegsgefan-gene in Vjaz’ma, den er bezeichnenderweise nicht namentlich nennt.73 Johannes Gutschmidt, so sein Name, lehnte die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ab; aber – so Bald - gegen die „Vollmacht und das Wirken der Geheimen Feldpolizei

    67 Bald, S. 57. 68 Bald, S. 58. 69 Bald, S. 59. 70 Hans Scholl, Sophie Scholl, Briefe und Aufzeichnungen, S. 91, nicht S. 114 wie bei Bald, S. 180, Anmerkung 179 angegeben. 71 Bald, S. 60. 72 Vgl. mit den Standortnachweisen Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltan-schauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 – 1942, Stuttgart 1981, S. 183 ff. 73 Bald, S. 60.

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    konnte niemand etwas ausrichten. Auch beispielsweise nicht im Mai 1942, als eine Gruppe junger Menschen, Buben und Mädchen, die dem Kommandanten aufgefallen waren, weil sie im Lager gesungen und getanzt hatten, einige Tage später von der Feldpolizei erschossen wurden.“74 Tatsächlich hatte Gutschmidt in seinem Tagebuch notiert: „Um 20 Uhr ging ich noch einmal durch das Lager und hörte mir das Singen der Ukrainer an. Einige tanzten auch und dazu ein Junge und mehrere Mädels aus dem Ort. Der Junge, ein Zigeuner, tanzte großartig. Nach einigen Tagen wurden alle Zigeuner aus dem Ort von der Geheimen Feldpolizei abgeholt und erschossen, dar-unter auch dieser Junge.“75 Welch ein Unterschied zwischen Balds Darstellung und dem Originalzitat! Im übrigen war Gutschmidt auch im Sommer 1942 nicht mehr in Vjaz’ma, sondern bereits Anfang Juli versetzt worden. Auch bei der Zusammensetzung der Medizinergruppe am 1. August 1942 in Vjaz’ma irrt Bald. Tatsächlich war es nicht Jürgen Wittenstein, sondern Raimund Samüller, der nach einer Auskunft von Hubert Furtwängler an Anneliese Knoop-Graf mit in Vjaz’ma war.76 Wittenstein kam umgehend an einen anderen Einsatzort und sah die vier Freunde aus München erst anlässlich der Rückfahrt Anfang November wieder. Den-noch wird er in den folgenden Abschnitten immer wieder zur Illustration der Erlebnisse der „Kerngruppe“ an der Ostfront herangezogen. Bald suggeriert weiter: „Die Sanitätsfeldwebel standen unter dem desillusionierenden Eindruck der Öde in der Etappe“ und zitiert Willi Graf: „Schmutz, Elend, deutsche Marschmusik, (...) Trümmer.“77 Dieses Zitat ist wiederum gegenüber dem Original verkürzt, denn tatsächlich lautet der Text bei Willi Graf: „Wir schlendern zu fünft durch die Stadt, Schmutz, Elend, deutsche Marschmusik. Auf dem Hügel inmitten der Häu-ser und Trümmer die Kirche.“78 Gerade in dem Abschnitt über die „Ostfront“ hätte man von Bald als erfahrenem Mili-tärhistoriker ein besonders präzises Vorgehen erwartet. Aber allein der letzte Absatz auf Seite 63 vermengt – in dieser Reihenfolge! – Ereignisse aus dem Juli 1942, aus dem Dezember 1941 und aus der Zeit bis April 1942, bis dann im folgenden Abschnitt auf Willi Grafs Einsatz in dieser Gegend zwischen Januar und Anfang April 1942 ein-gegangen wird.

    74 Bald, S. 60 f. 75 Christian Hartmann: Massensterben oder Massenvernichtung? Sowjetische Kriegsgefangene im „Unternehmen Barbarossa“. Aus dem Tagebuch eines deutschen Lagerkommandanten, in: Viertel-jahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), S. 98 ff, Zitat S. 117. 76 Vgl. Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 278. 77 Bald, S. 61. 78 Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 46.

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    Bald erweckt den Eindruck, als habe Willi Graf erst ab Ende August regelmäßig an den Visiten in der Seuchenabteilung des Hauptverbandplatzes teilgenommen.79 Tat-sächlich war er seit dem 4. August 1942 gemeinsam mit Hans Scholl in der Seuchen-abteilung eingesetzt; die ersten Visiten sind in Grafs Tagebuch am 5. August 1943 nachgewiesen.80 Bei der Darstellung des Einsatzes im August und September 1942 lässt sich der Zu-sammenhang zwischen den geschilderten militärischen Ereignissen und den Medizi-nern der „Weißen Rose“ für den Leser nicht immer unmittelbar nachvollziehen, eben-so wenig im Kapitel „Kriegserfahrungen beim Frontdurchbruch“. Es empfiehlt sich hier, die Darstellung von Bald und das Tagebuch von Willi Graf parallel zu lesen, um Konstruktion und tatsächliches Geschehen auseinanderhalten zu können. Angeblich erst in Sosnowska, also nach dem 5. Oktober 1942, seien die angehenden Mediziner „erstmals Russen“ begegnet, „die nicht völlig unter das Joch der Besatzung gezwun-gen worden waren.“81 Auch hier sprechen die überlieferten Aufzeichnungen von Graf und Scholl eine andere Sprache.82 VI. Das Kapitel über die Besatzungsherrschaft ist von einem unaufhörlichen Wechsel der Schauplätze und der Daten gekennzeichnet. Bald geht davon aus, dass die Angehö-rigen der „Weißen Rose“ ihre Erfahrungen mit der deutschen Besatzungspolitik „kaum direkt beschrieben“ hätten und will dies offensichtlich in einem Kompendium aus Plä-nen, Befehlen und immer wieder verkürzten Zitaten nachholen. Die deutsche Besat-zungs- und Ausbeutungspolitik in der Sowjetunion ist bekannt; die konkrete Frage ist jedoch, in welchen Formen die Medizinstudenten sie erlebt haben. So beruft sich Bald im Abschnitt „Das System der Zwangsarbeit“ ausführlich auf Befehle der 252. Division über den „Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung“.83 Nur in der Anmerkung ist zu erkennen, dass diese Befehle erst vom 25. Oktober 1942 datierten. Haben die Münchener Studenten wirklich die Ausführung dieser Befehle noch miter-lebt, obwohl sie sich schon auf den Rücktransport nach Deutschland vorbereiteten? Nichts spricht dafür. Unstrittig ist, dass die Medizinstudenten an der sowjetischen Front auch die Bedro-hung durch Partisanen erlebten. Da – so Bald – die Folgen zentraler Entscheidungen 79 Bald, S. 66. 80 Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 47. 81 Bald, S. 82. 82 Hans Scholl, Sophie Scholl, Briefe und Aufzeichnungen, S. 91, Eintrag vom 7. August 1942; Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 167, Brief an Marita Herfeldt vom 29. August 1942. 83 Bald, S. 92.

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    auch in Gzatsk zu spüren waren, schildert er diese ausführlich. Hier unterlaufen ihm Fehler, die den komplexen Sachverhalten nicht gerecht werden. Er vermengt Hitlers Weisung Nr. 46 vom 18. August 1942 („Richtlinien für die verstärkte Bekämpfung des Bandenunwesens im Osten“) und den sogenannten „Kommandobefehl“ vom 18. Ok-tober 1942.84 Dem Leser wird durch die Textkomposition suggeriert, der „Kommando-befehl“ stamme noch aus dem August 1942. Der Text des Befehls vom 18. Oktober 1942 wird zudem von Bald noch „bearbeitet“, wenn er statt des Begriffs „Spreng-, Sa-botage- oder Terroristentrupps“ den Begriff „Banden“ einsetzt.85 Bald konstruiert Zu-sammenhänge, die nicht vorhanden waren. Warum werden hier Dokumente zeitlich zusammengezogen und so Quellen manipuliert? Dieser Eindruck wird im übrigen noch verstärkt, wenn im Anschluss an die fehlerhafte Wiedergabe des Befehls vom Oktober 1942 Organisation und Aktionen der 252. Division aus dem Sommer 1942 geschildert werden. Auf diese Weise kommt Bald auch zu vollkommen falschen Schlüssen: „Hitlers ge-heime Kommandosache dürfte kaum wörtlich unter den Soldaten kolportiert worden sein, doch ist anzunehmen, daß die Einheimischen, zu denen Schmorell gute Kontak-te hatte, offen über Zwangsmaßnahmen, Drangsale oder Massaker in ihrem Gebiet berichtet haben, die auf dem Kommandobefehl basierten: ‚Der Krieg gegen die Parti-sanen (ist - D.B.) ein Kampf der restlosen Ausrottung.’“86 – Doch die „Einheimischen“ konnten derartige Berichte nicht geben, denn der von Bald zitiert Befehl wurde ja erst am 18. Oktober 1942 von Hitler gegeben, kurz bevor die Medizinstudenten wieder nach München zurückkehrten. Im Kapitel „Die Begegnungen mit Russen“ setzt sich die Zitatenmontage mit einem Zusammenschnitt aus dem Tagebuch von Willi Graf vom 1. und 2. August 1942 fort.87 Auch die Darstellung der Begegnungen zwischen Graf und dem russischen Mädchen Sina ist verkürzt und falsch datiert.88 Die Gespräche fanden nicht an zwei aufeinander folgenden Tagen statt, sondern am 14. und 20. Oktober 1942.89 Bedauerlich ist an diesem Abschnitt insgesamt, dass Bald zwar die Kontakte mit der russischen Bevöl-kerung als Versuch wertet, „das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen und ihre Kultur aufzunehmen“90, aber etwa bei der Darstellung der Position Schmorells die neuere Forschung zu diesem schlicht nicht berücksichtigt.91 84 Bald, S. 104. 85 Vgl. Nürnberger Beweisdokument PS 503, gedruckt IMT, Bd. II, S. 117 ff. 86 Bald, S. 106. 87 Bald, S. 107. 88 Bald, S. 113. 89 Vgl. Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 65, S. 67. 90 Bald, S. 115. 91 Vgl. Christiane Moll: Alexander Schmorell im Spiegel unveröffentlichter Briefe, in: Rudolf Lill (Hrsg): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“, Konstanz 1999, S. 129 – 160.

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    VII. Eines der Kernstücke der Studie ist der Abschnitt über „Die Fronterfahrung – Klärung des politischen Widerstands“92 mit der These, der „aktive öffentliche Widerstand“ sei aus der Erfahrung des Fronterlebnisses entstanden. Doch Zitate etwa aus den Tage-büchern Hans Scholls, die zum Beleg herangezogen werden, sind aus dem Sinnzu-sammenhang gerissen und zum Teil extrem verkürzt.93 Außer mit verschiedenen Ta-gebuch- und Brieffragmenten Scholls argumentiert Bald hier mit dessen Aussagen vor der Gestapo. Tatsächlich aber beziehen sich die herangezogenen Aussagen aus-drücklich auf die ersten Flugblätter der „Weißen Rose“, nicht etwa auf die nach dem Frontaufenthalt entstandenen.94 Hans Scholls Entschluss, „nicht nur in Gedanken, sondern auch in der Tat meine Ge-sinnung zu zeigen“, lag damit nicht im Spätherbst, sondern bereits im Frühsommer 1942, vor der Frontfamulatur. Gerade die Aussage Hans Scholls vom 18. Februar 1943 wird von Bald in einer geradezu sinnentstellenden Verkürzung wiedergegeben: „’Nach qualvollen Überlegungen’ angesichts der ‚Greuel’ und der ‚Behandlung der von uns besetzten Gebiete und Völker’ zog Scholl ruhig und rational das Fazit: ‚Ich konnte mir nicht vorstellen, daß nach diesen Methoden der Herrschaft eine friedliche Aufbau-arbeit in Europa möglich sein wird.’ Die Analyse der ‚militärischen Lage’ zwang ihn zu der Einsicht, ‚daß es nur noch ein Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee gebe, nämlich die Verkürzung des Krieges.’“95 Tatsächlich hatte Hans Scholl ausgesagt: „Nachdem ich geglaubt hatte, dass die mili-tärische Lage nach der Niederlage an der Ostfront und dem ungeheuren Anwachsen der militärischen Macht Englands und Amerikas eine siegreiche Beendigung des Krieges unsererseits unmöglich sei, gelangte ich nach vielen qualvollen Überlegun-gen zu der Ansicht, dass es nur noch ein Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee gebe, nämlich die Verkürzung des Krieges. Andererseits war mir die Behandlung der von uns besetzten Gebiete und Völker ein Greuel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nach diesen Methoden der Herrschaft eine friedliche Aufbauarbeit in Europa möglich sein wird.“96 Man vergleiche nur, wie Bald den von Scholl benutzten Begriff „Greuel“ umdeutet!

    92 Bald, S. 119 f. 93 Vgl. Bald, S. 119, letzter und vorletzter Absatz. Vgl. auch das Tagebuch Hans Scholls vom 22. Au-gust 1942 (Hans Scholl, Sophie Scholl, Briefe und Aufzeichnungen, S. 99) und die von Bald daraus genutzten Textfragmente auf S. 120, vorletzter Absatz. 94 Vgl. Bundesarchiv, ZC 13267, Band 2, Bl. 12, Aussage Hans Scholls vom 18. Februar 1943. 95 Bald, S. 120 f. 96 Bundesarchiv, ZC 13267, Band 2, Aussage Hans Scholls vom 18. Februar 1943.

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    Auch die Sabotageaufforderung Schmorells, auf die Bald rekurriert, war bereits im vierten Flugblatt vom Juli 1942 enthalten.97 Die für Willi Grafs „Entscheidung für den aktiven politischen Widerstand“ herangezogenen Verhörpassagen98 eignen sich eben-falls nicht als Beleg für den von Bald genannten Termin, denn danach wäre dessen Entscheidung erst im Januar 1943 gefallen.99 All dies macht deutlich, dass es Bald weniger um die Motive und Aktionen der damals handelnden Menschen geht, sondern mehr um die Bestätigung seiner Thesen. Die in diesem Kapitel herangezogenen Zitate können also nicht belegen, dass die „politische Ethik des ‚Kleeblatts’ ... an der Ostfront ihren Kern gefunden“ hatte.100 Für Bald ist es jedoch konsequent, wenn er der Rückfahrt der Freunde von Smolensk ü-ber Warschau nach Berlin besondere Bedeutung beimisst: „Diesmal konnten sie die Fahrt nicht im selben Zugabteil zurücklegen, aber sie tauschten sich, wann immer sich die Gelegenheit bot, ausgiebig aus, erzählten ‚von den letzten Wochen’ und be-sprachen die Entscheidung zum aktiven öffentlichen Widerstand.“101 Bald belegt je-doch nicht, worauf sich diese bislang unbekannte These stützt. Dass diese Fahrt von Vjaz’ma bis Warschau in Güterwaggons vor sich ging und sich die Freunde danach bis Berlin in einen „vollen Urlauberzug“ „zwängen“ mussten, es sich also um Orte handelte, die sich für regimekritische Gespräche wirklich nicht eigneten, erfährt der Leser allerdings nicht.102 VIII. Den Abschnitt über die Aktivitäten der „Weißen Rose“ zwischen November 1942 und Februar 1943 stützt Bald hauptsächlich auf die Aussagen vor der Gestapo, die ohne angemessene Kontextualisierung interpretiert werden. Dies führt zu geradezu aben-teuerlichen Fehlschlüssen: „Das ‚Kleeblatt’ hatte, was Vertrauen und Verläßlichkeit anbelangt, an der Ostfront seine Nagelprobe bestanden. Jetzt galt es aus der De-ckung der völligen Abgeschlossenheit herauszutreten und andere in den Kreis der Verbündeten aufzunehmen, vor allem Sophie Scholl, Christoph Probst und Kurt Hu-ber. Sie alle hatten im Sommer einzelne ‚Flugblätter der Weißen Rose’ erhalten oder wenigstens gelesen und an den wichtigen abendlichen Diskussionen teilgenommen. In jenen Tagen [November 1942, d. V.] erlangten sie Gewißheit über die Ziele der Ver-fasser.“103

    97 Bald, S. 122. 98 Bald, S. 123. 99 Vgl. Bundesarchiv, NJ 1704, Bd. 8, Bl. 32, Aussage Willi Grafs vom 16. März 1943. 100 Bald, S. 123. 101 Bald, S. 124. 102 Vgl. Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 71 f. 103 Bald, S. 126.

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    Diese Interpretation, die die Bedeutung des Fronterlebnisses noch einmal heraus-hebt, ist nur möglich unter Ignoranz der bisherigen Forschungen zur „Weißen Rose“. Wer Sophie Scholl und Christoph Probst erst im November 1942 in den „Kreis der Verbündeten“ rechnet, übersieht deren Aktivitäten in der ersten Phase der „Weißen Rose“ im Sommer 1942 vollständig. Bei der Analyse der Zieldarstellungen führt die Konzentration auf das Gestapo-Material zu ähnlichen Problemen. Kurt Huber wird mit dem Argument wiedergegeben, „es sei an der Zeit, ‚eine Änderung’ der ‚Staatsform herbeizuführen.’“104 Doch was ge-ändert werden sollte, benennt Bald nicht. Tatsächlich hatte Huber ausgesagt: „Sinn und Zweck dieser Flugblätter sollte sein, eine Änderung der unserer Ansicht nach ausgesprochen links eingestellten Staatsform herbeizuführen.“105 Huber zudem die Bereitschaft zu unterstellen, „eine ‚linke’ Wirtschafts- und Sozialpoli-tik nach dem Krieg“ zu akzeptieren, kann nur eine Missinterpretation auf Grundlage der Gestapo-Protokolle sein. Liest man dagegen die Berichte von Falk Harnack über seine Begegnungen in München mit Huber, ergeben sich ganz andere Perspekti-ven.106 Gerade die Passagen, in denen Bald auf Huber eingeht, müssen sehr kritisch gelesen werden. Huber verfolgte in seinen Verhören und auch im Prozess eine Verteidigungs-strategie, in der er immer wieder Elemente der nationalsozialistischen Ideologie ein-baute. Es ist daher kaum möglich, aus diesen Aussagen politische Inhalte zu destillie-ren, ohne dabei sämtliche andere dazu vorliegenden Aussagen und Quellen heranzu-ziehen. Eine Interpretation nur auf Grundlage der Aussagen Hubers vor der Gestapo und im Prozess kann ihm nicht gerecht werden. Hieraus politische Ansätze zu kon-struieren, wie dies Bald auf den S. 138 und 139 unternimmt, muss vom Ansatz her fehlgehen. Bald differenziert an dieser Stelle nicht zwischen der Verteidigungsstrate-gie und den tatsächlichen Ansichten Hubers. Der Abschnitt über „Die öffentliche Verantwortung der Kirchen“ suggeriert eine Dis-kussion innerhalb der „Weißen Rose“, die Ende Januar 1943 zu einem Konsens ge-führt hätte.107 Tatsächlich aber war diese Diskussion durchaus kontrovers, wie die ü-berlieferten Aussagen deutlich machen. An dieser Stelle hätte etwa die Möglichkeit

    104 Bald, S. 129. 105 Bundesarchiv, NJ 1704, Band 7, Bl. 9, Vernehmung Kurt Hubers vom 27. Februar 1943. 106 Gedenkstätte Deutscher Widerstand, NL Falk Harnack, Manuskript „Es war nicht umsonst, Erinne-rungen an die Münchener revolutionären Studenten, Teildruck in: Inge Scholl: Die Weiße Rose, Frank-furt am Main 1982, S. 180 ff. Falk Harnack haben, wie er im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser mehrfach betonte, gerade die wirtschaftspolitischen Differenzen, die beim Gespräch mit Huber offen-sichtlich wurden, immer wieder beschäftigt. 107 Bald, S. 131 ff.

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    bestanden, sich mit den Aussagen der durchaus kontrovers diskutierten neuen Arbeit von Barbara Schüler auseinander zu setzen.108 Bald verzichtet jedoch darauf, da dann nicht der Konsens, sondern gerade der Dissens in Einzelfragen deutlich gewor-den wäre. Doch Bald benötigt zur Unterstützung seiner Thesen nicht Pluralität, son-dern Homogenität und Konsens. Gerade aber die Studien zu den einzelnen Angehöri-gen der „Weißen Rose“ aus den letzten zehn Jahren haben Vielfalt der Motive und Grundhaltungen analysiert, die heute nicht mehr übersehen werden darf. Besonders problematisch ist die Verwertung der Gestapo-Protokolle bei der Darstel-lung des Verhältnisses zwischen Hans Scholl und Gisela Schertling.109 Hier unkom-mentiert Aussagen vor der Gestapo wiederzugeben, die ein intimes Verhältnis zwi-schen beiden betreffen, kann der Realität der Jahreswende 1942/43 nicht gerecht werden. Insgesamt sind die Passagen, in denen „Die öffentliche Verantwortung der Kirchen“, „Die freiheitliche Alternative“ referiert werden, lediglich Zusammenschnitte unterschiedlichster Verhörauszüge. Die Anmerkungen 456 bis 522 beziehen sich - mit drei Ausnahmen - sämtlich auf Verhör- oder Prozessquellen – und dies ohne Rück-sicht auf den Entstehungszusammenhang. Bald interpretiert dieses Material jedoch nicht kontextabhängig, sondern nutzt es, um seine Thesen eklektisch zu belegen. Diese Technik, quellenunkritisch nur auf Gestapo-Akten zurückzugreifen, führt dann auch zu fundamentalen Interpretationsfehlern. Für Bald ist Sophie Scholl Mitverfasse-rin des fünften Flugblatts „An alle Deutsche“.110 Tatsächlich machte sie diese Aussage nur, um Kurt Hubers Beteiligung an diesem Flugblatt der Gestapo vorzuenthalten. Auch Sophie Scholls Aussage, am 27. und 28. Januar 1943 in Stuttgart 600 bis 700 Flugblätter „alle frankiert für den Ortsverkehr“ versandt zu haben, wird von Bald un-kommentiert übernommen. Sie wollte mit dieser Aussage – und dies ist in der For-schung wirklich intensiv behandelt worden – die Ulmer Schüler Hans und Susanne Hirzel sowie Franz Josef Müller schützen. Überhaupt wird gerade der Zusammen-hang mit der Ulmer Schülergruppe vollständig vernachlässigt, obwohl hierzu eine Fül-le von Publikationen vorliegt. Seit Mitte Dezember 1942 sei – so Bald - die Herbeiführung eines „Umsturzes“ das Ziel der „Weißen Rose“ gewesen: „Diese Worte markieren den Wendepunkt des Wi-derstands der ‚Weißen Rose’“.111 Doch wie deckt sich diese späte Terminfestlegung mit den Worten des Dritten Flugblatts vom Juli 1942? „Der Sinn und das Ziel des pas-

    108 Vgl. Barbara Schüler: „Im Geist der Gemordeten...“: Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit, Paderborn 2000. 109 Bald, S. 130. 110 Bald, S. 143. 111 Bald, S. 128.

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    siven Widerstandes ist, den Nationalsozialismus zu Fall zu bringen und in diesem Kampf ist vor keinem Weg, vor keiner Tat zurückzuschrecken, mögen sie auf Gebie-ten liegen, auf welchen sie auch wollen. An allen Stellen muss der Nationalsozialis-mus angegriffen werden, an denen er nur angreifbar ist. Ein Ende muss diesem Un-staat möglichst bald bereitet werden – ein Sieg des faschistischen Deutschland in diesem Krieg hätte unabsehbare, fürchterliche Folgen. Nicht der militärische Sieg ü-ber den Bolschewismus darf die erste Sorge für jeden Deutschen sein, sondern die Niederlage der Nationalsozialisten. Dies muss unbedingt an erste Stelle stehen.“112 Sind in diesen Worten das revolutionäre Konzept und die Bereitschaft zum Umsturz nicht schon längst enthalten? IX. Im Abschnitt „Hochverrat für eine demokratische Zukunft“ geht es um die politischen Ziele der Gruppe im Winter 1942. Bald geht zu Recht davon aus, dass die Beendi-gung von Krieg, Besatzung und Verfolgung im Vordergrund der politischen Ziele stand, und betont, dass ein „breites Spektrum politischer Konzepte und Ansätze“113 diskutiert wurde. Doch statt es dabei zu belassen, stellt er – wiederum nur auf der Basis von Aussagen vor der Gestapo - einige politische Positionen vor und kommt zu dem Fazit: „Die ‚Weiße Rose’ stritt um die Gültigkeit von Werten in der Politik. Ihre Beweggründe waren im Rahmen des gesamten deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus singulär: Sie ging in die Öffentlichkeit und suchte Resonanz für einen breiten Widerstand zu finden. Darüber hinaus erwies sich Hans Scholl als mutig und zukunftsweisend, da er die Vision von der parlamentarischen Demokratie anzu-sprechen wagte.“114 Doch einen direkten Beleg, dass Hans Scholl sich selbst für die „parlamentarischen Demokratie“ ausgesprochen hat, kann Bald nicht bringen. Es ist unverständlich, was diese Überhöhung der „Weißen Rose“, die zugleich durch die Behauptung der Singularität eine Abwertung anderer Gruppen und Formen des Widerstandes darstellt, an dieser Stelle soll. Gingen die anderen Widerstandsgruppen der Kriegszeit, etwa die „Rote Kapelle“ oder die kommunistischen Gruppen in Berlin und im Ruhrgebiet nicht auch an die Öffentlichkeit? Versuchten diese nicht auch, Re-sonanz für einen breiten Widerstand zu finden? An dieser Stelle ist – unabhängig da-von, wie kritisch Balds Interpretation der Gedanken Hans Scholls zu beurteilen ist – die Basis für einen neuen Mythos über die „Weiße Rose“ zu finden. Dies folgt leider einem in der Widerstandsforschung immer noch anzutreffenden Phänomen: die Auf-

    112 Flugblätter der Weißen Rose, III. 113 Bald, S. 138. 114 Bald, S. 142.

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    wertung der jeweils analysierten Gruppe durch immanente Abwertung anderer For-men und Gruppen des Widerstands. X. Bei der Darstellung der Ereignisse vor dem 18. Februar 1943 schildert Bald vorab eine merkwürdige Begebenheit vom 9. Februar 1943. Danach schrieb Jürgen Witten-stein „in Gängen und Nebenräumen der Universität die Parolen ‚Nieder mit Hitler!’ und ‚Freiheit’ an. Er benutzte schwarze Tuschfarbe.“115 Das Universitätsgebäude stand jedoch zu dieser Zeit bereits unter der Überwachung der Gestapo; kein einziger der damaligen Berichte über die Aktionen an der Münchener Universität gibt Hinweise auf Tuscheschmierereien im Innern des Universitätsgebäudes. Hätte es sie gegeben, wä-re darüber berichtet worden. Auch die Darstellung der Ereignisse des 18. Februar 1943 fällt hinter die bisherigen Erkenntnisse zurück. Aus dem Universitätsdiener, der Hans Scholl festnahm, wird bei Bald ein Gestapo-Beamter.116 Aus dem Rektor der Münchener Universität, SS-Standartenführer Walter Wüst, wird ohne jeden Beleg „der wahre Gegner der ‚Weißen Rose’“,117 obwohl Wüst für den weiteren Fortgang der Ereignisse fast ohne jede Be-deutung ist. Den Flugblattentwurf von Christoph Probst nahm Hans Scholl angeblich in die Universität mit, weil die „nächsten Schritte“ anstanden.118 Hierfür gibt es jedoch keinen Beleg. Aus der Darstellung wird auch nicht deutlich, dass es Hans Scholl ge-lang, den Entwurf zumindest teilweise zu vernichten, denn der bei ihm auf S. 152 fak-similiert abgedruckte Text war nicht etwa, wie die Bildunterschrift behauptet, von Christoph Probst „bestätigt“, sondern darin waren – wie an dieser Stelle im Faksimile für den Leser endlich einmal nachprüfbar – die „Lücken“ ergänzt. Probst betonte dies ausdrücklich: „Ich habe mich bemüht, den Text in seinem Ursprung so lückenlos als möglich wiederzugeben.“119 XI. Im Kapitel über die Reaktion des NS-Machtapparates treten extreme Probleme bei der Interpretation von Justizakten zutage. Einen Vermerk aus dem Reichsjustizminis-terium, der sich auf ein Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft München I vom 5. Feb-

    115 Bald, S. 147. 116 Bald, S. 155. 117 Bald, S. 155. 118 Bald, S. 155. 119 Bald, S. 152 f.

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    ruar 1943 bezieht und spätestens am 15. Februar 1943 entstanden ist, wird auf Er-eignisse des 16. Februar 1943 bezogen. Bald postuliert, dass diese „im Reichsminis-terium der Justiz eine außerordentliche und dringende ‚Führerinfo“ erforderlich ge-macht“ hätten.120 Tatsächlich war Reichsjustizminister Thierack lediglich um Weisung gebeten worden, „ob Führerinformation vorzulegen ist.“121 Er entschied anders: „von Führerinformation soll abgesehen werden, da Führer durch PK. [Parteikanzlei, d.V.] schon unterrichtet.“122 Dass sich „schnell zusammengezogene Arbeitsgruppen“ trafen, „um die Lage zu son-dieren“, lässt sich den Akten ebenso wenig entnehmen wie Balds Behauptung, am 18. Februar 1943 habe in Berlin „helle Aufregung“ geherrscht. Auch die These, dass ge-gen Mittag des 19. Februar 1943 ein „zentraler Lenkungsstab“ in Berlin zusammenge-treten sei, ist falsch. Angeblich hätten sich am Nachmittag des 19. Februar „die drei wichtigsten Institutionen“ untereinander abgestimmt: „das Justizministerium, die Reichskanzlei des ‚Führers’ und das Oberkommando der Wehrmacht.“123 Doch die Reichskanzlei hatte mit der gesamten Angelegenheit überhaupt nichts zu tun. Nach Bald sah sich die „Wehrmacht“ in einem „Dilemma“, weil es sich bei den Fest-genommenen um Wehrmachtsangehörige handele124: „Wie konnte die Wehrmacht nur das Problem loswerden?“.125 Doch die Wehrmacht hatte kein Problem, dass sie „loswerden“ musste. Sie agierte nicht, sondern reagierte. Tatsächlich hatte sich der Münchener Gauleiter Giesler am 19. Februar 1943 an Reichsleiter Martin Bormann, den Leiter der Parteikanzlei gewandt und über das „hochverräterische Unternehmen“ berichtet: „Da die Straftaten zu einer starken Beunruhigung der Zivilbevölkerung Süd-deutschlands geführt haben, ist eine schnelle Aburteilung unerlässlich. Diese ist aber im Hinblick auf die Beteiligung weiblicher Zivilpersonen nur möglich, wenn auch das Verfahren gegen die Wehrmachtangehörigen am Volksgerichtshof stattfindet. Ich bitte deshalb, eine Weisung des Führers herbeizuführen, dahingehend, dass das Reichs-kriegsgericht das Verfahren gegen die vier Studenten sofort an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof abzugeben hat. Auf die beschleunigte Durchführung durch den Volksgerichtshof werde ich selbst hinwirken.“126 Am selben Tag um 17 Uhr konnte Giesler mitteilen, „dass Generalfeldmarschall Keitel die beteiligten Soldaten aus der Wehrmacht ausgestoßen hat und mit ihrer Aburteilung durch den Volksgerichtshof

    120 Bald, S. 156. Die Originalvorgänge liegen im Bundesarchiv, R 3001, IV g 10 a 5011/43. Bald zitiert offensichtlich nach einer Kopie in Bundesarchiv, NJ 1704, Band 33, die er fälschlich, aber konsequent, immer als NJ 1703, Band 33, bezeichnet. 121 Bundesarchiv, R 3001, IV g 10 a 5011/43, fol. 3. Vermerk mit Abzeichung von 15. Februar 1943. 122 Bundesarchiv, R 3001, IV g 10 a 5011/43, fol. 3. Vermerk mit Abzeichung von 15. Februar 1943. 123 Bald, S. 157. 124 Bald, S. 157. 125 Bald, S. 157. 126 Bundesarchiv, ZC 12367, Band 1, Bl. 62, Fernschreiben vom 19. Februar 1943.

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    einverstanden ist.“127 Die Wehrmacht war in dieser Angelegenheit also keineswegs der Hauptakteur, sondern kam einer Bitte der Münchener Gauleitung nach. Warum vertauscht Bald hier die Rollen der beteiligten Institutionen? Nach Bald „glühten“ am 20. Februar „die Telefondrähte“, weil „in Berlin ... bereits die Anklageschrift unter Verwendung der aktuellen Aussagen vor der Gestapo erarbeitet und fertiggestellt“ wurde.128 Der Autor stellt sich nicht einmal die Frage, wie dies unter den Kommunikationsbedingungen des Februar 1943 überhaupt möglich gewesen sein soll. Tatsächlich wurde die Anklage am 20. Februar abends und am 21. Februar tagsüber in München vom Ersten Staatsanwalt Bischoff entworfen, gefertigt, von Reichsanwalt Weyersberg unterzeichnet und in Druck gegeben. Bischoff etwa traf in München so unvorbereitet ein, dass er in seinem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls am 21. Februar 1943 noch von den „Beschuldigten Eheleuten Scholl“ ausging.129 Der Präsident des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, begab sich angeblich am 21. Februar „mit seinem 1. Senat von Berlin nach München“.130 Tatsächlich fuhren nur Freisler als Präsident und Landgerichtsdirektor Stier als hauptamtliche Richter des Volksgerichtshofs von Berlin nach München, die nebenamtlichen Richter SS-Gruppenführer Breithaupt und die SA-Gruppenführer Bunge und Köglmaier hatten ihre Dienstsitze in München und mussten daher nicht von Berlin aus anreisen. Die „große Jubel- und Solidaritätskundgebung“ in der Universität, „auf der Studenten und Professoren ihre Abscheu über die ‚Weiße Rose’ und ihre Zustimmung zum NS-Regime mit dem Hitler-Gruß demonstrierten“131, fand nicht am 25. Februar, sondern bereits am 22. Februar 1943 statt.132 Vom zweiten Prozess gegen die Angehörigen der „Weißen Rose“ am 19. April 1943 erfährt der Leser weder die Namen der Angeklagten noch die Anklagevorwürfe oder die Urteile.133 Man kann den folgenden Abschnitten lediglich entnehmen, dass Schmorell, Graf und Huber in diesem Verfahren zum Tode verurteilt worden sind, über die anderen Angeklagten gibt es keine Informationen. Wie verhält es sich mit der danach aufgestellten Behauptung, die Todesurteile aus dem zweiten „Weiße-Rose“-Prozess vom 19. April 1943 seien auf besonderen Druck

    127 Ebenda. 128 Bald, S. 158. 129 Bundesarchiv, ZC 13267, Band 1, Bl. 28, Antrag vom 21. Februar 1943. 130 Bald, S. 158. 131 Bald, S. 159. 132 Bundesarchiv, R 21/10.922, fol. 124 f, Schreiben des Rektors der Universität München an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 23. Februar 1943. 133 Bald, S. 162.

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    der NSDAP-Gauleitung in München vollstreckt worden? Die Verzögerungen bei der Vollstreckung hätten sich – so Bald - ergeben, „weil die Ermittlungen über die ‚Weiße Rose’ einen erschreckenden Umfang angenommen“ hätten.134 Es trifft zu, dass vor allem Willi Graf nach der Verurteilung noch mehrfach vernommen wurde, aber die Verzögerungen der Vollstreckung hatten eine andere Ursache, die auch den Akten hätte entnommen werden können: Weil unklar war, ob Graf und Schmorell zum Zeit-punkt der Verurteilung noch Soldaten waren, gab es Unklarheiten über den Gnaden-weg. Daher war auch die bei Bald auf S. 161 abgedruckte Entscheidung Hitlers und Keitels über die Ablehnung der Begnadigung notwendig und nicht nur, wie bei vom Volksgerichtshof verurteilten Zivilpersonen, die des Reichsjustizministers. XII. Im „Epilog“ führt Bald seine einzelnen Argumentationsstränge noch einmal zusam-men: „Der Widerstand im Winter 1942/43 steht in engem Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Gewalttaten, denen die Sanitätsfeldwebel an der Ostfront wie in einem Brennglas – komprimiert und konzentriert – begegneten [...] Die Fahrt von München über Warschau an die Front vor Moskau folgte der Blutspur von Terror und Repressalien, deren ungezählte Opfer sie mit Grauen sahen. Die Deportation der jü-dischen Bevölkerung mit den Todeszügen in die Vernichtungslager führte ihnen die Konsequenz der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus vor Augen.“135 Bald führt damit seine These von der Bedeutung des Fronterlebnisses konsequent fort. Doch bleibt das Problem, dass die Studenten zwar auf ihrer Reise bestimmte Orte berührten, dort aber keineswegs all jenes sahen, was Bald suggeriert. Sie sahen kei-nen einzigen „Todeszug in die Vernichtungslager“ fahren, sie sahen keinesfalls „unge-zählte Opfer.“ Was sie tatsächlich in Warschau hätten sehen können, ist weiter oben dargestellt. Sie waren über die Mordaktionen in Polen vor ihrem Frontaufenthalt, spä-testens im Juni/Juli 1942 informiert, was auch sicherlich zur Entstehung der ersten vier Flugblätter der „Weißen Rose“ beitrug – und zur Entscheidung für den aktiven politischen Widerstand vor dem Fronteinsatz im Sommer 1942. Dieser Befund ordnet sich ein in die seit einigen Jahren geführte grundsätzliche De-batte über die Kenntnis nationalsozialistischer Gewaltverbrechen als Motiv für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Kriegszeit. Wir wissen, welche Be-deutung dies etwa für die „Rote Kapelle“ in Berlin oder die kommunistische Gruppe um Wilhelm Knöchel und den „Friedenskämpfer“ gehabt haben, wir wissen, wie be-deutsam die Kenntnisse der NS-Gewaltverbrechen für Helmuth James Graf von Molt-

    134 Bald, S. 163. 135 Bald, S. 167.

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    ke oder Axel von dem Bussche gewesen sind. Wir wissen auch, dass die „Weiße Ro-se“ über nationalsozialistische Gewaltverbrechen in Polen informiert war, ebenso über Mordaktionen der „SS-Verbände.“ Ein Fronterlebnis im Sommer 1942 war damit als besonderer Auslöser für intensivere Widerstandsaktivitäten nicht notwendig. Dem er-fahrenen Soldaten Willi Graf waren auch vor der Frontfamulatur die Realitäten des Krieges und der Besatzungspolitik in der Sowjetunion bekannt. Wie steht es also in der Gesamtwertung mit der Bedeutung des Fronterlebnisses im Herbst 1942? Erfahren wir tatsächlich etwas Neues über die Motive der „Weißen Ro-se“? Diese Frage lässt sich mit einem klaren Nein beantworten, da Bald viele Doku-mente außerhalb ihres Kontextes stellt und Ereignisse wiedergibt, an denen die An-gehörigen der „Weißen Rose“ entweder gar nicht teilnehmen oder um die sie nicht wissen konnten, aus denen also ihr Verhalten und ihre Motive nicht abgeleitet werden können. Man könnte es sich jetzt leicht machen und einfach von einem mit extrem vielen Feh-lern und Ungenauigkeiten durchsetzten Buch sprechen.136 Doch dieses Vorgehen hat Methode. Die Entkontextualisierung von Zitaten, die Kontextualisierung von Ereignis-sen, die nichts miteinander zu tun haben, die Verwendung fragwürdiger Quellen, schließlich der quellenunkritische Zusammenschnitt von Verhöraussagen dienen nur dem einen Ziel: Die These „Von der Front in den Widerstand“ zu untermauern. Insgesamt liefert Bald für seine Grundthese „Von der Front in den Widerstand“ keine ausreichenden Belege. Dem bisherigen Forschungsstand, dass das Fronterlebnis zwar Bedeutung besaß, aber insgesamt in der Kontinuität des Widerstandes der „Weißen Rose“ 1942/43 zu sehen ist, muss auf Grundlage des vorliegenden Buches nichts hinzugefügt werden. Das von Christiane Moll entwickelte und 1994 ausgeführte Modell der drei Phasen des Widerstands der „Weißen Rose“ ist immer noch tragfähig und berücksichtigt die handelnden Personen ebenso überzeugend wie den politisch-militärischen Kontext. Bereits hier ist ebenso wie in früheren Publikationen anderer Autorinnen und Autoren angemessen auf die Bedeutung des Fronterlebnisses hinge-wiesen worden.137

    136 Auf die Fehler in den Anmerkungen ist oben an einigen Stellen bereits hingewiesen worden. Andere Fehler sind durchgängig. So werden die Aufzeichnungen von Hans Scholl und Sophie Scholl durch-gängig als von Hans und Inge Scholl stammend zitiert, auch die Seitenzählung bezieht sich offensicht-lich nicht auf die zitierte Originalausgabe von 1984. Der „Ober Reichsanwalt“ (Anm. 34) ist ein „Ober-reichsanwalt“. Die vielfach zitierte Signatur der Staatsanwaltschafts-Akten aus dem Staatsarchiv Mün-chen in Anm. 68 u.a. ist nicht „1 Z 530“, sondern „StAnw. 12530“. Ulrich von Hassel (Anm. 124) wird richtig „Hassell“ geschrieben. Das in Anm. 146 genannte Buch „Gewalt und Gewissen“ hat nur 125 Seiten, nicht die dort zitierte Seite 276. 137 Christiane Moll: Die Weiße Rose, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin und Bonn 1994, S. 443 ff.

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    Die Behauptung „Von der Front in den Widerstand“ suggeriert jedoch, dass die „Wei-ße Rose“ erst nach dem November 1942 umfassend zum Widerstand zu rechnen sei. Der Entstehungsgeschichte der „Weißen Rose“ und den komplizierten Vorgängen zwischen den Handelnden im Sommer 1942 wird Bald damit ebenso wenig gerecht wie den Aktionen zwischen Dezember 1942 und Februar 1943, den Versuchen zur Ausweitung der Gruppe und den Kontakten in andere Städte Deutschlands. Das Mo-tivgeflecht der „Weißen Rose“ ist vielschichtiger und – was die theologischen und poli-tischen Dimensionen angeht – auch differenzierter und längst nicht so widerspruchs-frei, wie diese Studie es erscheinen lässt. Die zivilen Aspekte der „Weißen Rose“, ihre Entstehungs- und Formierungsgeschichte außerhalb des soldatischen Kontextes, bleiben fast unberücksichtigt und führen zu einem sehr verkürzten Bild. Nahezu grotesk ist, dass Christoph Probst und Sophie Scholl erst nach dem Frontaufenthalt in die Widerstandsaktivitäten eingeweiht worden sein sollen; unverständlich ist auch, dass die Ulmer Schülergruppe etwa bei der Verbreitung des fünften Flugblattes überhaupt nicht erscheint. Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, der Völkermord an den Juden Euro-pas, die verbrecherische Besatzungspolitik und auch die Beteiligung der Wehrmacht daran haben ihre Bedeutung als Motive für die im Widerstand gegen den Nationalso-zialismus handelnden Menschen gehabt. Die Analyse dieser Motive verlangt aber, sehr genau herauszuarbeiten, was der Einzelne wirklich erlebt und gesehen hat, und wie groß sein Wissen tatsächlich war. Historische Analyse ist erforderlich, nicht Spe-kulation und Übertreibung. Die vorliegende Arbeit ist einen anderen Weg gegangen. Sie hat eine Grundthese gehabt und diese dann zu belegen versucht. Dabei sind fragwürdige Quellen benutzt, grundlegende Regeln der Quellenkritik missachtet und Ereignisse falsch oder entstellt dargestellt worden. Insofern hat diese Arbeit tatsächlich mehr mit den Projektionen der Nachlebenden und mit dem Wunsch nach eindeutiger Kausalität zu tun als mit der historischen Realität der Jahre 1942 und 1943. Stattdessen ist die Basis für einen neuen Mythos über die „Weiße Rose“ geschaffen worden. Tatsächlich aber ist dieses von der Kritik auch hoch gelobte Buch noch aus einem anderen Grund ärgerlich: In der Kombination aus Selbstzeugnissen, Militärakten und den Aussagen vor der Gestapo hätte eine Studie entstehen können, die wirklich die politische Geschichte der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ erzählt. Doch hier wurde leichtfertig konstruiert, statt behutsam historische Realität angemessen zu rekon-struieren. Dieses Buch bleibt weit hinter jenen Forschungsergebnissen zurück, die in den letzten zehn Jahren über die „Weiße Rose“ veröffentlicht worden sind.