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Neujahrsgruß des Präsidenten Meinen Amtsantritt als Prä- sident der GDCh habe ich wie ein „training-on-the-job“ erlebt. Ich sollte mich mit einem Mal zu Themen und in Gremien äußern, die mir bis dahin, behutsam aus- gedrückt, weniger geläufig waren; und ich war überrascht, wie viele Aufgaben die GDCh innerhalb der Chemie, aber auch im Umfeld in Schule, Wirtschaft und Gesell- schaft übernimmt. Über all dieser Vielfalt der Akti- vitäten musste ich mich fragen: „Wofür bezahlen die Mitglieder ihren Beitrag? Wohin soll sich, nicht zuletzt angesichts der großen Heterogenität der Mitgliederschaft, die GDCh entwickeln?“ Deshalb haben wir Sie in einer Erhebung befragt. Fast 5200 Per- sonen, das sind immerhin 18 Pro- zent unserer Mitglieder, haben sich beteiligt. Das ist ein deutliches und sehr erfreuliches Indiz dafür, dass Ihnen Ihre GDCh am Herzen liegt und Sie sich an ihrer Entwick- lung und künftigen Ausrichtung beteiligen wollen. Wir werden Sie über die Resultate informieren und unsere Lehren daraus ziehen. Aber wer nicht teilgenommen hat, sollte nicht mehr meckern dürfen. Zwei Themen haben die Hoch- schulen während der letzten Jahre in Atem gehalten: das Forschungs- rating des Wissenschaftsrats und die Exzellenzinitiative. Es war nicht nachteilig, dass sich die Che- mie als forschungsintensives und industriebezogenes Fach für die Pilotphase des Ratings zur Ver- fügung stellte, und die Exzellenz- initiative trug zur nötigen Profilbil- dung unter den Universitäten bei. Aber es muss auch einmal Ruhe für die vielen anderen Aufgaben geben, zumal schon der Bologna- prozess, den die Deutschen viel- leicht etwas zu vorauseilend einge- führt haben, zu erheblichen Rei- bungsverlusten geführt hat. An Schulen sind trotz der Aus- rufung der „Bildungsrepublik Deutschland“ – zumindest teilwei- se – Selbstverständnis und Anse- hen der Lehrer ruiniert; wir haben den so überaus spannenden Le- bens- und Anwendungsbezug der Naturwissenschaften zugunsten eines verqueren wissenschaftlichen Anspruchs verloren, und ein Groß- teil der Studentenschaft ist schon wegen des Mangels an mathemati- scher Bildung zu einem natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Studi- um nicht mehr befähigt. Mit mehr Juristen, Analysten und Bankern allein werden wir aber die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern. Beim wissenschaftlichen Nach- wuchs sind wir zu Recht stolz auf unser umfangreiches Netz der För- derung. Aber auf welches Stellen- ziel hin wird denn gefördert? Im Gehalt eines jungen Hochschulleh- rers drücken Politik und Gesell- schaft auch das Maß ihrer Wert- schätzung für gerade den Beruf aus, der einer zu erwartenden Knappheit beim Natur- und Inge- nieurwissenschaftlernachwuchs begegnen soll. Die W-Besoldung setzt falsche Zeichen und gibt An- lass zur Sorge. Zwei Begriffe tauchen beson- ders häufig auf, wenn chemische Fachbereiche ihr Forschungsprofil zu schärfen versuchen: Lebenswis- senschaften und Materialwissen- schaften als Teil interdisziplinären Forschens. Wir betonen dabei mit Recht die Querschnittsfunktion der Chemie, müssen uns aber fra- gen, ob sie dabei zur Hilfswissen- schaft der Disziplinen verküm- mert, welche die gesellschaftsrele- vanten Themen wirksamer für sich reklamieren. Der sehr begrenzte Erfolg originär chemischer Projek- te und Verbünde im Rahmen der Exzellenzinitiative ist ein Menete- kel. Forschen die Hochschulche- miker an den Erwartungen der Ge- sellschaft vorbei? Oder sollten wir nicht mehr Selbstbewusstsein zei- gen und die Chemie in fachüber- greifenden Forschungsfeldern of- fensiver vertreten? Die GDCh kann dabei, nicht zuletzt in ihren Fach- gruppen, Diskussionen anstoßen; aber Meinungen müssen sich aus der Mitgliedschaft entwickeln. Muss ein Neujahrsgruß größt- mögliche weihnachtsfriedliche Übereinstimmung anstreben? Schreiben Sie mir bitte, wenn ich Ihren Widerspruch herausgefor- dert habe an praesident@gdch.de, oder tragen Sie die Diskussion in Ihren Ortsverband; Sie machen ihn nur lebhafter. Aber nehmen Sie vorher die besten persönlichen Wünsche zum neuen Jahr, auch für Ihre Familien, entgegen von Ihrem Professor Klaus Müllen Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker Wo liegen die Ziele? Nachrichten aus der Chemie | 57 | Januar 2009 | www.gdch.de/nachrichten 3 Leitartikel

Neujahrsgruà des Präsidenten

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Neujahrsgruß des Präsidenten

Meinen Amtsantritt als Prä-sident der GDCh habe ich wie ein „training-on-the-job“ erlebt. Ich sollte mich mit einem Mal zu Themen und in Gremien äußern, die mir bis dahin, behutsam aus-gedrückt, weniger geläufig waren; und ich war überrascht, wie viele Aufgaben die GDCh innerhalb der Chemie, aber auch im Umfeld in Schule, Wirtschaft und Gesell-schaft übernimmt.

Über all dieser Vielfalt der Akti-vitäten musste ich mich fragen: „Wofür bezahlen die Mitglieder ihren Beitrag? Wohin soll sich, nicht zuletzt angesichts der großen Heterogenität der Mitgliederschaft, die GDCh entwickeln?“

Deshalb haben wir Sie in einer Erhebung befragt. Fast 5200 Per-sonen, das sind immerhin 18 Pro-zent unserer Mitglieder, haben sich beteiligt. Das ist ein deutliches und sehr erfreuliches Indiz dafür, dass Ihnen Ihre GDCh am Herzen liegt und Sie sich an ihrer Entwick-lung und künftigen Ausrichtung beteiligen wollen. Wir werden Sie über die Resultate informieren und unsere Lehren daraus ziehen. Aber wer nicht teilgenommen hat, sollte nicht mehr meckern dürfen.

Zwei Themen haben die Hoch-schulen während der letzten Jahre in Atem gehalten: das Forschungs-

rating des Wissenschaftsrats und die Exzellenzinitiative. Es war nicht nachteilig, dass sich die Che-mie als forschungsintensives und industriebezogenes Fach für die Pilotphase des Ratings zur Ver-fügung stellte, und die Exzellenz-initiative trug zur nötigen Profilbil-dung unter den Universitäten bei. Aber es muss auch einmal Ruhe für die vielen anderen Aufgaben geben, zumal schon der Bologna-prozess, den die Deutschen viel-leicht etwas zu vorauseilend einge-führt haben, zu erheblichen Rei-bungsverlusten geführt hat.

An Schulen sind trotz der Aus-rufung der „Bildungsrepublik Deutschland“ – zumindest teilwei-se – Selbstverständnis und Anse-hen der Lehrer ruiniert; wir haben

den so überaus spannenden Le-bens- und Anwendungsbezug der Naturwissenschaften zugunsten eines verqueren wissenschaftlichen Anspruchs verloren, und ein Groß-teil der Studentenschaft ist schon wegen des Mangels an mathemati-scher Bildung zu einem natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Studi-um nicht mehr befähigt.

Mit mehr Juristen, Analysten und Bankern allein werden wir aber die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern.

Beim wissenschaftlichen Nach-wuchs sind wir zu Recht stolz auf unser umfangreiches Netz der För-derung. Aber auf welches Stellen-ziel hin wird denn gefördert? Im Gehalt eines jungen Hochschulleh-rers drücken Politik und Gesell-schaft auch das Maß ihrer Wert-schätzung für gerade den Beruf aus, der einer zu erwartenden Knappheit beim Natur- und Inge-nieurwissenschaftlernachwuchs

begegnen soll. Die W-Besoldung setzt falsche Zeichen und gibt An-lass zur Sorge.

Zwei Begriffe tauchen beson-ders häufig auf, wenn chemische Fachbereiche ihr Forschungsprofil zu schärfen versuchen: Lebenswis-senschaften und Materialwissen-schaften als Teil interdisziplinären Forschens. Wir betonen dabei mit Recht die Querschnittsfunktion der Chemie, müssen uns aber fra-gen, ob sie dabei zur Hilfswissen-schaft der Disziplinen verküm-mert, welche die gesellschaftsrele-vanten Themen wirksamer für sich reklamieren. Der sehr begrenzte Erfolg originär chemischer Projek-te und Verbünde im Rahmen der Exzellenzinitiative ist ein Menete-kel. Forschen die Hochschulche-miker an den Erwartungen der Ge-sellschaft vorbei? Oder sollten wir nicht mehr Selbstbewusstsein zei-gen und die Chemie in fachüber-greifenden Forschungsfeldern of-fensiver vertreten? Die GDCh kann dabei, nicht zuletzt in ihren Fach-gruppen, Diskussionen anstoßen; aber Meinungen müssen sich aus der Mitgliedschaft entwickeln.

Muss ein Neujahrsgruß größt-mögliche weihnachtsfriedliche Übereinstimmung anstreben? Schreiben Sie mir bitte, wenn ich Ihren Widerspruch herausgefor-dert habe an [email protected], oder tragen Sie die Diskussion in Ihren Ortsverband; Sie machen ihn nur lebhafter. Aber nehmen Sie vorher die besten persönlichen Wünsche zum neuen Jahr, auch für Ihre Familien, entgegen von Ihrem

Professor Klaus Müllen

Präsident der Gesellschaft

Deutscher Chemiker

Wo liegen die Ziele?

Nachrichten aus der Chemie | 57 | Januar 2009 | www.gdch.de/nachrichten

3�Leitartikel�