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Rainer Geißler Einheit-in-Verschiedenheit. Die interkulturelle Integration von Migranten — ein humaner Mittelweg zwischen Assimilation und Segregation Der Beitrag setzt sich kritisch mit der Deba tte um Integration in der deutschen Migrationsforschung aus- einander. In Deutschl and dominiert eine assimilative Integrationstheorie: Integration sei nur als Assimila- tion möglich, weil sozialstrukturelle Integration (Ch an cengleichheit) und kultureller Pluralismus nicht mitein ander vereinbar seien (Unvereinbarkeitstheorem). Am Beispiel des klassischen Einwanderungslan- des Kanada wird gezeigt, dass das Unvereinbarkeitstheorem eine unzulässige Verallgemeinerung darstellt und dass die interkulturelle Integration nach dem k anadischen Prinzip von Einheit-in-Verschiedenheit ei- nen humanen Mittelweg zwischen Assimilation und Segregation darstellt. Dieses Konzept sucht nach ei- ner ausgewogenen Bal ance zwischen den gesellschaftlichen Erfordernissen nach sozialer Kohäsion sowie den Interessen der Mehrheit am Respekt vor ihren Grundwe rt en einerseits und den Bedürfnissen der ethni- schen Minderheiten nach Gewährung und Anerkennung sozialkultureller Differenzen andererseits. Am k anadischen Beispiel wird zugleich deutlich gemacht, dass es großer politischer und gesellschaftlicher An- strengungen bedarf (ethnic diversi ty mainstreaming), um eine Ethnisierung der Ungleichheitsstruktur ein- zudämmen. 1. Einleitung Integration ist neben Migration nicht nur der zentrale Grundbegriff der Migrationsfor- schung, sondern um Integration kreist auch die aktuelle migrationspolitische Deba tte in Deutschland, nachdem seit wenigen Jahren auch die politischen Eliten erkannt haben, dass Deutschl and zu einem Einwanderungs- l and geworden ist. In einer vorläufigen gro- ben Form kann man unter Integration die Eingliederung der Migranten in die Aufnah- megesellschaft verstehen. Beim genaueren Umgang mit der Integrationsproblematik wird schnell offensichtlich, dass das Integra- tionskonzept hoch komplex ist und einen doppelten Doppelcharakter aufweist: Zum einen bezieht es sich gleichzeitig auf den Prozess und den Zustand der Eingliederung als Ergebnis dieses Prozesses, meist aber auch noch auf das erwünschte Ziel, den er- wünschten Endzustand der Eingliederung. Letzteres weist auf den zweiten Dop- pelcharakter hin: Integration ist gleichzeitig ein wissenschaftlich-analytisches und nor- mativ-politisches Konzept. Wer sich als Wis- senschaftler mit Integration befasst, bewegt sich — ob er bzw. sie will oder nicht — stets auch in einem politischen Feld. Unterschied- liche Konzepte von Integration haben unter- schiedliche politische Implikationen. Wer In- tegration mit Assimilation und Akkulturation gleichsetzt, wird zum Teil andere Fragen stellen, andere Aspekte der Realität aus- leuchten und andere Möglichkeiten der poli- tischen Verwertung seiner Ergebnisse anbie- ten als derjenige, dessen Integrationskonzept auch kulturellen Pluralismus zulässt. Ange- sichts der hohen politischen Relev an z des Konzepts ist es nicht verwunderlich, dass die Bedeutung des Begriffs höchst umstri tt en, ja umkämpft ist, sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft. Im Folgenden werden zentrale Aspekte der Debatten um Integration im klassischen Einwanderungsland Kanada und im moder- nen Einwanderungsland Deutschland unter der Fragestellung gegenübergestellt, ob die Deutschen von den Kanadiern etwas lernen können. 287

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Rainer Geißler

Einheit-in-Verschiedenheit.Die interkulturelle Integration von Migranten — ein humanerMittelweg zwischen Assimilation und Segregation

Der Beitrag setzt sich kritisch mit der Deba tte um Integration in der deutschen Migrationsforschung aus-einander. In Deutschland dominiert eine assimilative Integrationstheorie: Integration sei nur als Assimila-tion möglich, weil sozialstrukturelle Integration (Ch ancengleichheit) und kultureller Pluralismus nichtmiteinander vereinbar seien (Unvereinbarkeitstheorem). Am Beispiel des klassischen Einwanderungslan-des Kanada wird gezeigt, dass das Unvereinbarkeitstheorem eine unzulässige Verallgemeinerung darstelltund dass die interkulturelle Integration nach dem k anadischen Prinzip von Einheit-in-Verschiedenheit ei-nen humanen Mittelweg zwischen Assimilation und Segregation darstellt. Dieses Konzept sucht nach ei-ner ausgewogenen Balance zwischen den gesellschaftlichen Erfordernissen nach sozialer Kohäsion sowieden Interessen der Mehrheit am Respekt vor ihren Grundwe rten einerseits und den Bedürfnissen der ethni-schen Minderheiten nach Gewährung und Anerkennung sozialkultureller Differenzen andererseits. Amkanadischen Beispiel wird zugleich deutlich gemacht, dass es großer politischer und gesellschaftlicher An-strengungen bedarf (ethnic diversi ty mainstreaming), um eine Ethnisierung der Ungleichheitsstruktur ein-zudämmen.

1. Einleitung

Integration ist neben Migration nicht nur derzentrale Grundbegriff der Migrationsfor-schung, sondern um Integration kreist auchdie aktuelle migrationspolitische Debatte inDeutschland, nachdem seit wenigen Jahrenauch die politischen Eliten erkannt haben,dass Deutschland zu einem Einwanderungs-land geworden ist. In einer vorläufigen gro-ben Form kann man unter Integration dieEingliederung der Migranten in die Aufnah-megesellschaft verstehen. Beim genauerenUmgang mit der Integrationsproblematikwird schnell offensichtlich, dass das Integra-tionskonzept hoch komplex ist und einendoppelten Doppelcharakter aufweist: Zumeinen bezieht es sich gleichzeitig auf denProzess und den Zustand der Eingliederungals Ergebnis dieses Prozesses, meist aberauch noch auf das erwünschte Ziel, den er-wünschten Endzustand der Eingliederung.

Letzteres weist auf den zweiten Dop-pelcharakter hin: Integration ist gleichzeitigein wissenschaftlich-analytisches und nor-mativ-politisches Konzept. Wer sich als Wis-senschaftler mit Integration befasst, bewegt

sich — ob er bzw. sie will oder nicht — stetsauch in einem politischen Feld. Unterschied-liche Konzepte von Integration haben unter-schiedliche politische Implikationen. Wer In-tegration mit Assimilation und Akkulturationgleichsetzt, wird zum Teil andere Fragenstellen, andere Aspekte der Realität aus-leuchten und andere Möglichkeiten der poli-tischen Verwertung seiner Ergebnisse anbie-ten als derjenige, dessen Integrationskonzeptauch kulturellen Pluralismus zulässt. Ange-sichts der hohen politischen Relevanz desKonzepts ist es nicht verwunderlich, dass dieBedeutung des Begriffs höchst umstritten, jaumkämpft ist, sowohl in der Politik als auchin der Wissenschaft.

Im Folgenden werden zentrale Aspekteder Debatten um Integration im klassischenEinwanderungsland Kanada und im moder-nen Einwanderungsland Deutschland unterder Fragestellung gegenübergestellt, ob dieDeutschen von den Kanadiern etwas lernenkönnen.

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R. Geißler: Einheit-in-Verschiedenheit

2. Zwei Grunddimensionen derIntegration: Sozialstruktur undSozialkultur

Beim Vergleich der kanadischen und deut-schen Debatten ist es sinnvoll, zwei grundle-gende Dimensionen der Integration zu unter-scheiden: Struktur und Kultur — oder etwassoziologischer formuliert: Sozialstruktur undSozialkultur.

Im Bereich der Sozialstruktur vollzieht sichdie Eingliederung in das System der sozialenUngleichheit (sozialstrukturelle Integration) —im Bereich der Sozialkultur vollzieht sich dieEingliederung in die differenzierte Vielfalt derKultur und sozialen Beziehungen (sozialkultu-relle Integration). Die Unterscheidung dieserbeiden Grunddimensionen entspricht den Vor-stellungen der klassischen Sozialstrukturana-lyse als Ungleichheitsforschung bzw. Klas-sen- oder Schichtanalyse; sie taucht aber auchbei den Vätern der Migrationsforschung auf,z.B. bei dem amerikanischen Kl assiker MiltonM. Gordon (1964).

Beide Dimensionen sind mitein ander ver-knüpft. Über das Wie dieser Verknüpfungexistieren allerdings sehr kontroverse An-sichten, die in Kapitel 4 und 5 behandelt wer-den.

3. Sozialstrukturelle Integration

Als normatives Konzept ist die sozialstruktu-relle Integration sowohl in Kanada als auchin Deutschland unstrittig. Sie gehört nicht zuden umkämpften Feldern der Integrationsde-batten. (Strittig sind allerdings die Wege zudiesem Ziel.) Und auch bei der inhaltlichenPräzisierung gibt es zwischen Deutschlandund Kanada keine grundlegenden Unter-schiede — wenn auch einige kleinere, aberdurchaus bezeichnende Nuancen.

Die sprachliche Benennung variiert in bei-den Gesellschaften. Die häufigsten termino-logischen Etiketten in Kanada sind equity,equality (of opportunities), equal participati-on oder inclusiveness. In Deutschland ist —im Anschluss an Hartmut Esser (1980) — häu-fig von sozialstruktureller Assimilation die

Rede. Ein Ausdruck dieser A rt ist im heuti-gen Kanada nicht mehr denkbar; er gehört ei-ner früheren Periode der kanadischen Ein-wanderungsgeschichte an, der „assimilatio-nist era" (Fleras/Elliot 1996: 67), die seitüber drei Jahrzehnten überwunden ist. Ande-re deutsche Bezeichnungen sind strukturelleIntegration (EFFNATIS 2001: 22), einfachIntegration (Hoffmann-Novotny 1993: 73)oder auch gleiche Teilhabechancen (Sen/Sauer/Halm 2001: 18).

Der normative Kern der sozialstrukturel-len Integration ist in beiden Gesellschaftendie ethnische Gleichheit, d.h. die Gleichstel-lung aller ethnischen Gruppen, die Chancen-gleichheit aller — unabhängig von ihrer ethni-schen Herkunft — beim Zugang zu wichtigen,meist ungleich verteilten Ressourcen und zuden Positionen, an die diese Ressourcen häu-fig gebunden sind. Die sozialstrukturelle In-tegration soll verhindern, dass sich ethnischeUngleichheit herausbildet, dass „ethclasses"(Gordon 1964: 51) entstehen oder in anderenWorten: Es soll verhindert werden, dass dieUngleichheitsstruktur ethnisiert wird.

Die sozialstrukturelle Integration vollziehtsich in verschiedenen Sektoren. Im Modell inAbbildung 4 (s.u.) sind sie zu sechs Berei-chen gebündelt: rechtliche Integration, politi-sche Integration, Bildungsintegration, Ar-beitsweltintegration, materielle Integrationund institutionelle Integration.

Im Hinblick auf die ersten fünf Bereicheunterscheiden sich Kanada und Deutschlandauf der normativen Ebene nicht, der letzte Be-reich fördert dagegen einen bezeichnendenUnterschied zutage: In Kanada gehört die For-derung nach gleichem Zugang zum Positions-system funktional wichtiger Institutionen wieMedien, Bildung und Wissenschaft, Verwal-tung, Justiz oder Polizei zu den Selbstver-ständlichkeiten; in Deutschland ist davon imwissenschaftlichen und öffentlichen Diskursbisher kaum die Rede — am häufigsten nochim Hinblick auf die Integration in die Polizei.

Natürlich klaffen in beiden GesellschaftenIdeal und Wirklichkeit auseinander; aller-dings ist das klassische EinwanderungslandKanada dem modernen EinwanderungslandDeutschland bei der Realisierung der sozial-strukturellen Integration ein erheblichesStück voraus. Der kanadische Multikultura-288

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lismus, den der liberale Premierminister Pier-re Trudeau im Jahre 1971 zur offiziellenStaatsideologie Kanadas proklamierte, hatdeutliche Spuren in der Ungleichheitsstruk-tur der kanadischen Gesellschaft hinterlas-sen. Dazu einige ausgewählte Beispiele ausden verschiedenen Bereichen:—Rechtliche Integration: Nach drei JahrenAufenthalt können Einwanderer die kanadi-sche Staatsbürgerschaft und damit die recht-liche Gleichstellung beantragen.—Politische Integration: Die Vertretung eth-nischer Minderheiten im Parlament hat sichseit den 1970er Jahren ständig verbessert .Heute entspricht der Anteil der Parlamentari-er aus den verschiedenen ethnischen Grup-pen in etwa deren Anteil an der kanadischenBevölkerung (Kymlicka 1998: 18). BeimMarsch durch die politischen Institutionensind inzwischen nicht nur die europäischenMinderheiten, sondern auch die so genannten„visible minorities" in Spitzenpositionen an

-gekommen: das amtierende Staatsoberhaupt,die Stellvertreterin der britischen Königin,Adrienne Clarkson, ist eine Chinokanadierinund die Pazifikprovinz British Columbiawurde in den 1990er Jahren für einige Zeitvon einem indokanadischen Premier regie rt,einem Sikh, der in den 1960er Jahren nachKanada eingewandert war.—Bildungsintegration: Die Bildungschancender asiatischen Minderheiten liegen nicht un-ter, sondern über dem kanadischen Durch-schnitt (Driedger 1996: 200, 247). Die UBC(University of British Columbia) in Vancou-ver wird manchmal schelmisch als „Univer-sity of Better China" bezeichnet, weil schät-zungsweise die Hälfte der Studierenden asia-tischer Herkunft ist, während der Anteil derMinderheiten aus Asien im Einzugsgebietder Universität deutlich niedriger liegt.—Materielle Gleichstellung: Die Einkommender europäischen Minderheiten sind zum Teilhöher als die der Anglo- und Frankokanadier(Driedger 1996: 198ff.). In Vancouver wei-sen sowohl die armen als auch die wohlha-benden Stadtviertel überdurchschnittlicheAnteile an Chinokanadiern auf. Symbol chi-nokanadischen Reichtums sind die Prunkvil-len der „Hongkong-Millionäre", die in den1990er Jahren zahlreich in die kanadischePazifikprovinz einwande rten und neben

ihren guten Kontakten in die internationaleWirtschafts- und Handelswelt auch viel Geldund Kapital ins Land brachten. K anada ist al-so durch ethnische Minderheiten nicht nur„unterschichtet", sondern zum Teil auch„überschichtet".—Institutionelle Integration (am Beispiel desFernsehens): Gesetzliche Regelungen undRichtlinien für die Vergabe und Verlänge-rung von Sendelizenzen haben die Repräsen-tation von ethnischen Minderheiten im Jour-nalismus und in der Medienproduktion ver-bessert (Fleras/Kunz 2001: 164f.; Fleras2004: 21). So war z.B. das Pendant des kana-dischen Ulrich Wickert im Abendmagazindes öffentlich-rechtlichen Fernsehens (CBC)in den 1990er Jahren keine kanadische AnneWill, sondern ein Indokanadier, und die An-chorwomen der News des größten TV-Re-gionalsenders im Raum Vancouver war eineChinokanadierin. lm kanadischen Fernsehenwird also nicht nur auf Gender-Proporz, son-dern auch auf Ethnic Diversi ty-Proporz ge-achtet.

4. Sozialkulturelle Integration

Spannender und lehrreicher ist der Vergleichim Hinblick auf die zweite Grunddimension—die sozialkulturelle Integration. Zum einenist die sozialkulturelle Integration inDeutschland noch heftig umkämpftes Terrain—sowohl in der Wissenschaft als auch in derPolitik. Zum anderen bestehen zwischen bei-den Gesellschaften grundlegende Unter-schiede. Während in Deutschland monokul-turelle Tendenzen dominieren, sowohl nor-mativ als auch realiter, begrei ft sich Kanadaseit über drei Jahrzehnten mit Überzeugungund Stolz als multikulturelle Gesellschaft,auch wenn der Multikulturalismus ein etwasdiffuses, unterschiedlich interpretie rtes unddurchaus nicht unums trittenes Konzept ist.

4.1 Die deutsche Debatte: Assimilationversus Pluralismus/Segregation

Die folgende Skizze der deutschen Debatteist auf die Kontroverse in der Migrationsfor- 289

„visible minorities" in Spitzenpositionen

R. Geißler: Einheit-in-Verschiedenheit

schung beschränkt und klammert den politi-schen Diskurs aus.

Die Diskussion in den Sozialwissenschaf-ten kreist um die beiden Pole sozialkulturelleAssimilation versus sozialkultureller Plura-lismus. Als einflussreich — nicht nur in derSoziologie, sondern auch über die Fachgren-zen hinaus — erwies sich das Assimilations-konzept, man kann inzwischen sagen: die As-similationstheorie von Hartmut Esser. Siehatte große Ausstrahlungskraft, weil sie ausder Anfangsphase der deutschen Migrations-soziologie stammt (Esser 1980), bereits da-mals sehr differenzie rt angelegt war undständig weiter entwickelt wurde. Ich skizzie-re kurz ihre Grundzüge nach dem Gutachten,das Esser für die Unabhängige Kommission„Zuwanderung" (Süssmuth-Kommission) er-stellt hat (Esser 2001).Esser gliedert den Prozess der Assimilationin Anlehnung an amerikanische Vorbilder invier Dimensionen — eine sozialstrukturelleDimension (strukturelle Assimilation) unddrei sozialkulturelle Dimensionen (kognitiveAssimilation, soziale Assimilation und iden-tifikatorische Assimilation).

Aus der Analyse der Zusammenhängezwischen den vier Dimensionen entwickelter seine Assimilationsthese: Integration istnur als Assimilation möglich. „Die Sozialin-tegration in die Aufnahmegesellschaft ist (...)eigentlich nur in der Form der Assimilationmöglich" (Esser 2001: 36; Hervorhebungenvon H. E.).

Die Assimilationsthese wird wie folgt be-gründet: Strukturelle Assimilation — sprich:Chancengleichheit — setzt die kognitive, ins-besondere die sprachliche Assimilation vor-aus. Strukturelle und kognitive Assimilationbedingen sich gegenseitig, und beide sindwiederum die Voraussetzung für die sozialeund schließlich — als letzte Phase — die identi-fikatorische Assimilation. Kognitive und

strukturelle Assimilation sind die Bedingun-gen dafür, dass Migranten in die sozialen Be-ziehungsnetze der Aufnahmegesellschafteingegliedert werden und sich schließlich mitdieser identifizieren.

Die Analyse Essers ist dichotomisch ange-legt: Den Gegenpol zur sozialstrukturellenAssimilation bildet die sozialkulturelle Plu-ralisierung, Segmentation oder auch Segre-gation. Aus dieser bipolaren Gegenüberstel-lung entwickelt Esser eine weitere wichtigeGrundannahme — sie wird im Folgenden alsUnvereinbarkeitstheorem (Inkompatibilitäts-theorem) bezeichnet: Ethnokulturelle Plurali-sierung produziert „ethnische Schichtung",das heißt: ethnokultureller Pluralismus undstrukturelle Assimilation/Integration (Chan-cengleichheit) sind nicht miteinander verein-bar. Esser zieht daraus den folgendenSchluss: „Die multiethnische Gesellschaft inder Form einer ,multikulturellen Gesell-schaft' (...) ist allem Anschein nach nichts alsein schöner Traum" (ebd.: 36). 2

Die Gegenposition zum assimilativen In-tegrationskonzept taucht in der deutschenDiskussion in verschiedenen Facetten auf.Ich skizziere hier nur kurz eine Variante; siefindet sich in einem weiteren Gutachten fürdie Unabhängige Kommission „Zuwande-rung", das vom Zentrum für Türkeistudien inEssen erstellt wurde. $en, Sauer und Halm(2001) gehen davon aus, dass es neben derAssimilation einen zweiten Typ erfolgreicherIntegration gibt — sie nennen ihn Inklusion.Integration in Form von Inklusion bedeutet:Die Aufnahmegesellschaft gewährt den Mi-granten gleiche Teilhabechancen und ermög-licht ihnen gleichzeitig aber auch weiterhindie Orientierung an ihrer Herkunftskultur.„Ein in pragmatischer Hinsicht sinnvoller In-tegrationsbegriff sollte somit einerseits Assi-milation, andererseits aber auch Inklusionbeinhalten. Denn man kann nicht ohne weite-

Abbildung 1: Dimensionen der Assimilation nach Hartmut Essersozialstrukturell sozialkulturell

kognitive Assimilation (Kulturation)soziale Assimilation (Interaktion)

emotionale/identifikatorische Assimilation(Identifikation)

strukturelle Assimilation(Platzierung)

zusammengestellt nach Esser 1980: 221 und Esser 2001: 40.290

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res davon ausgehen, dass sich ethnische, kul-turelle oder religiöse Differenzen in jedemFall langfristig nivellieren lassen, seien dieTeilhabechancen auch noch so gut. So gese-hen bedeutet Integration, dass eine andereHerkunft und abweichende Lebensarten undTraditionen nicht im Widerspruch zur gleich-berechtigten Teilhabe an gesellscha ftlichenRessourcen und Prozessen stehen" (ebd.:19). Das Konzept der Inklusion setzt alsovoraus, dass Chancengleichheit und ethno-kulturelle Pluralisierung mitein ander verein-bar sind, es fußt auf dem Vereinbarkeitstheo-rem — der Gegenthese zum Unvereinbarkeits-theorem Essers. Eine theoretische oder empi-rische Begründung dieses Theorems wirdnicht gegeben.

4.2 Die kanadische Debatte:Multikulturalismus als unity-within-diversity

Verlauf und Stand der kanadischen Debattezur sozialstrukturellen Integration weichengrundlegend von der deutschen Situation ab.Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunde rtshinein war Kanada eine hegemoniale anglo-konformistische Gesellschaft mit ethnischerUngleichheit, marginalisierten Ureinwoh-nern und einem Nationalitätenkonflikt zwi-schen den beiden „Gründernationen" derAnglo- und Frankokanadier. Erst als Staatund Gesellschaft Kanadas unter dem Druckder Anglokanadier auf die Frankokanadier zuzerbrechen drohten, setzte ein grundlegendesUmdenken ein. Der Quebec-Separatismus,der in den 1960er Jahren zeitweise terroristi-sche Züge annahm, zwang die kanadischenFöderalisten dazu, das Miteinander verschie-dener Kulturen neu zu durchdenken und zugestalten. Aus dieser Krise gingen die Philo-sophie und Politik des Multikulturalismushervor. 3 Seit mehr als drei Jahrzehnten versu-chen die Kanadier, den „schönen Traum ei-ner multikulturellen Gesellschaft" realiter zuleben — auch wenn dieses gesellschaftlicheExperiment von Anfang an zur Kritik heraus-forderten und seine theoretische Grundlagevage blieb.

Der kanadische Multikulturalismus ent-spricht nicht — dies soll hier sehr nachdrück-

lich hervorgehoben werden — dem Typ dessegmentativen oder segregativen Pluralis-mus, wie er in der deutschen Debatte als Ge-genpol zur Assimilation entworfen wird, undauch nicht dem „radikalen" Pluralismus, wieer im vorhin erwähnten Inklusionskonzeptdurchschimmert. Kanada ringt vielmehr umeinen Mittelweg zwischen den beiden PolenAssimilation und Segmentation. Das Schlüs-selkonzept dazu lautet: „unity-within-diver-sity" oder auch umgekehrt „diversity-within-unity" (Fleras/Elliot 2002: 38). Um die dia-lektische Spannung dieses Begriffs zu ver-deutlichen, sollte man ihn mit „Einheit-in-Verschiedenheit" und nicht mit „Einheit-in-Vielfalt" übersetzen. Was bedeutet „Einheit-in-Verschiedenheit"75

4.2.1 Verschiedenheit

Der Pol Verschiedenheit enthält drei wichti-ge Elemente:1. Das Recht auf sozialkulturelle Differenz —„the right to be different" (ebd.: 38): Alle In-dividuen haben das Recht, ihre unterschiedli-chen kulturellen Traditionen zu erhalten undzu pflegen — auch gemeinschaftlich. Derberühmte Artikel 27 der „Charter of Rightsand Freedoms" garantiert seit 1985 „the pre-servation and enhancement of the multicultu-ral heritage of Canadians" als verfassungs-mäßiges Grundrecht.2. Das Prinzip der sozialkulturellen Gleich-wertigkeit: Die verschiedenen Kulturen undethnischen Gemeinschaften werden alsgleichwertig angesehen (ebd.: 37; Kymlicka1998: 56). Daraus lässt sich das dri tte Ele-ment ableiten:3. Gegenseitiger Respekt — „mutual respect"(Annual Report 2003: 75) — und gegenseitigeToleranz.

Es lässt sich empirisch belegen, dass alledrei Elemente sozialpsychologisch miteinan-der zusammenhängen: Nur wer in einer eth-nokulturellen Eigengruppe veranke rt ist undeine entsprechende Identität entwickelt hat,verfügt über die nötige Sicherheit und dasnötige Selbstwertgefühl, um sich gegenüberAndersartigen zu öffnen, sie zu respektierenund mit ihnen gleichwertig zu kommunizie-ren und zu interagieren (Kalin/Berry 1994).Diese so genannte „ multikulturelle Annah- 291

R. Geißler: Einheit-in-Verschiedenheit

me" (auch „Sicherheit-Kontakt-Hypothese"genannt) ist so etwas wie die Sozialpsycholo-gie des Multikulturalismus. Sie gilt im Übri-gen nicht nur für ethnische Minderheiten,sondern auch für die Angehörigen der Mehr-heitskultur.

4.2.2 Einheit

Der Gegenpol Einheit markie rt das Funkti-onserfordernis der sozialen Kohäsion. Ersetzt dem Grad der Verschiedenheit Gren-zen, damit der Pluralismus nicht radikalenKultur- und Werterelativismus und spalteri-sche Segmentation und Segregation zur Fol-ge hat und schließlich in einem „existentialand unworkable nightmare" (Fleras/Elliot2002: 24) mündet.

„Forging unity from diversity" (Fleras/El-liot 1992: 68), „creating cohesion and strengthout of diversity" (Annual Report 2003: 5) —auf diese Formeln wird die zentrale Heraus-forderung an die multikulturelle kanadischeGesellschaft häufig gebracht.

Auf allen drei Ebenen der sozialkulturellenIntegration — um die Unterscheidung Essersaufzunehmen — werden der VerschiedenheitGrenzen gesetzt6 (Abbildung 4, unten):— Im kognitiven Bereich endet sie do rt, wosie mit der Verfassung, den Gesetzen undden kanadischen Grundwerten in Konfliktkommt; dazu gehören insbesondere Offen-heit und Toleranz, Gewaltverzicht sowie in-dividuelle Grundrechte und Menschenrechte,wie z.B. die Gleichheit der Geschlechter. Er-forderlich ist eine elementare Akkulturation,wie man diesen Prozess nennen könnte. Dazugehören zum einen die Kenntnisse und Ak-zeptanz der Verfassung, der Gesetze undGrundwerte; dazu gehört aber auch der Er-werb wichtiger Kompetenzen, Fähigkeitenund Fertigkeiten, um angemessen und erfolg-reich in der Aufnahmegesellschaft agieren zukönnen. Im Zentrum der elementaren Akkul-turation steht der Erwerb der sprachlichenKompetenzen (vgl. Kymlicka 1998: 28).— Im sozialen Bereich sollen interethnischeKontakte und Kommunikation gefördertwerden, um den Rückzug in abgeschotteteethnische Kolonien zu verhindern. Die Mul-tikulturalismus-Ministerin Hedy Frey siehteine wichtige Aufgabe der multikulturellen

Politik darin, „to break down the ghettoiza-tion of multiculturalism" (zitie rt bei Fleras/Elliot 2002: 68).— Im identifikatorischen Bereich gilt dasPrinzip einer hierarchischen Doppelidentität:Alle sollen sich vorrangig als Kanadierfühlen und mit Kanada identifizieren und erstin zweiter Linie als Angehö riger einer ethni-schen Gruppe. Eine rechtliche Konsequenzdieses Prinzips ist die Genehmigung der dop-pelten Staatsbürgerschaft.

Die Markierung der multikulturellenLinie, „multicultural line" (ebd.: 9), zwischenEinheit und Verschiedenheit — wo endet dasRecht auf Differenz? Wo beginnt die Ver-pflichtung zu Einheit und Kohäsion? — ist einschwieriger Prozess, der im Detail teilweiseumstritten, dynamisch und nie endgültig ab-geschlossen ist. Die Festlegung der multikul-turellen Linie ist Inhalt des politischen Dis-kurses und politischer, manchmal auch ge-richtlicher Entscheidungen.

4.2.3 Gleichheit-in-Verschiedenheit:Zusammenhänge von sozialstruktureller undsozialkultureller Integration

Neben dem Spannungsfeld Einheit -in-Ver-schiedenheit gibt es ein zweites zentralesSpannungsfeld — das zwischen Verschieden-heit und Gleichheit. Die Integrationsproble-matik wird also als „Spannungsdreieck" auf-gefasst mit den drei Polen Einheit (Kohäsi-on) — Verschiedenheit — Gleichheit.

Kanada versucht, Widersprüche zwischenVerschiedenheit und Gleichheit, die Esserzum Unvereinbarkeitstheorem generalisierthat, durch politische Praxis abzubauen. Sowurden z.B, im Multikulturalismusgesetzvon 1988 zwei wichtige Ziele formuliert :— das multikulturelle Erbe zu erhalten und zustärken und— die Gleichheit aller Kanadier im wirtschaft-lichen, sozialen, kulturellen und politischenLeben zu erreichen.

In der Präambel dieses Gesetzes heißt es:„The Government of Canada recognizes thediversity of Canadians as regards race, natio-nal or ethnic origin, colour and religion as afundamental characteristic of Canadian so-ciety and is committed to a policy of multi-culturalism designed to preserve and enhance292

Berl.J.Soziol., Heft 3 2004, S. 287-298

Abbildung 2: „Spannungsdreieck"der Integration

rVerschiedenheit

the multicultural heritage of Canadians whileworking to achieve the equality of all Cana-dians in the economic, social, cultural andpolitical life of Canada".

„Different yet equal" (ebd.: 16, 25) —Gleichheit-in- Verschiedenheit — ist das Zielder multikulturellen Integration. Die „poly-ethnischen Rechte", wie Kymlicka sie nennt,sollen den ethnischen Minderheiten helfen,„ihre kulturellen Besonderheiten und ihrenStolz zum Ausdruck zu bringen, ohne dabeiihren Erfolg in den ökonomischen und politi-schen Institutionen der dominanten Gesell-schaft zu beeinträchtigen" (Kymlicka 1995:31).

Die vorhin erwähnten Beispiele zeigen,dass das multikulturelle Kanada dem ZielGleichheit erheblich näher gekommen ist alsdas monokulturelle Deutschland. Allerdingsbedurfte es dazu erheblicher politischer An-strengungen — und das fahrt mich noch kurzzu einem weiteren wichtigen Punkt des kana-dischen Konzepts.

4.2.4 Engaging diversity

Multikulturelle Integration vollzieht sich nichtvon allein, sie bedarf des politischen Manage-ments und der aktiven Akzeptanz. Aktive Ak-zeptanz (vgl. Fleras/Elliot 2002. 40) ist mehrals bloße Toleranz und bloße Hinnahme vonMigration und Multikulturalität (in den er-wähnten Grenzen). In Politik und Gesellschaftmuss dreierlei erkannt und akzeptie rt werden:— dass Migration und damit verbundene eth-nokulturelle Verschiedenheit die Grundlageder Gesellschaft ist;— dass ethnokulturelle Verschiedenheit eineQuelle von Bereicherung und Stärke seinkann;— dass es staatlicher und gesellschaftlicherAnstrengungen bedarf, allen Gruppen glei-che Chancen zu gewähren.

In Deutschland hat sich in den letzten Jah-ren das internationale Konzept des „gendermainstreaming" ausgebreitet. Damit werdendie umfassenden Anstrengungen bezeichnet,die nötig sind, um die Gleichstellung der Ge-schlechter voranzubringen. In Kanada habendie Bemühungen um die Gleichstellung derethnischen Minderheiten einen ähnlichenRang, wenn sich auch der Begriff „diversitymainstreaming" noch nicht durchgesetzt hat.So gibt es z.B. an den Universitäten keineGleichstellungsbeauftragten fir Frauen, son-dern so genannte „equity commissions", de-ren Gleichstellungsanliegen ein doppeltes ist:Es geht nicht nur um die Gleichstellung derGeschlechter, sondern auch um die der so ge-nannten „sichtbaren Minderheiten" („visibleminorities”) und der Ureinwohner.

Der Motor des kanadischen Multikultura-lismus ist das Prinzip des Engaging Diversi-ty, wie der programmatische Titel der Neu-auflage eines kanadischen Klassikers zumMultikulturalismus heißt (Fleras/Elliot2002); man kann ihn übersetzen mit „Einsatzfir und von Verschiedenheit".

5. Begriffliche und theoretischeSchlussfolgerungen

Welche begrifflichen und theoretischenSchlussfolgerungen lassen sich aus dem FallKanada fir die Integration von Migranten inder deutschen Gesellschaft ziehen?

Nicht alles, was Kanada an normativemund realem Multikulturalismus hervorge-bracht hat, ist auf Deutschland übertragbar.Der kanadische Multikulturalismus ist in ei-nem spezifischen historischen, sozialen, kul-turellen und politischen Kontext entstanden,der in Deutschland fehlt.? Dennoch lassensich aus dem „innovative yet flawed socialexperiment" (ebd.: 13) drei Schlussfolgerun-gen ziehen, die fir die Analyse der deutschenSituation relevant sind.

293

Einheit (Kohäsion)

A----► Gleichheit

R. Geißler: Einheit-in-Verschiedenheit

5.1 Sozialkulturelle Verschiedenheit undsozialstrukturelle Gleichheit müssen kei-ne Gegensätze sein — eine Widerlegungdes Unvereinbarkeitstheorems

Zwischen Gleichheit bzw. Chancengleich-heit und Multikulturalität besteht — ähnlichwie zwischen Gleichheit und Geschlecht —ein Spannungsverhältnis, aber dieses Span-nungsverhältnis darf nicht als „gesetzmäßi-ger", sozusagen unüberwindbarer Wider-spruch interpretiert und zu einem Unverein-barkeitstheorem generalisiert werden. DieZusammenhänge von (begrenztem) sozial-kulturellem Pluralismus und sozialstrukturel-ler Integration sind — ähnlich wie die ge-schlechtstypischen sozialen Ungleichheiten —durch politische und gesellschaftliche Praxiszu beeinflussen. Dazu bedarf es allerdings ei-ner Politik, die nicht allein am Ziel von Assi-milation orientiert ist, sondern die Realisie-rung beider Ziele, nämlich Gleichheit undVerschiedenheit bzw. Gleichheit-in-Ver-schiedenheit, vor Augen hat. Integration istnicht ausschließlich über Assimilation denk-bar, sondern eine multikulturelle Gesell-schaft auf der Basis von Einheit-in-Verschie-denheit ist durchaus möglich und nicht nurein schöner Traum.

5.2 Einheit-in-Verschiedenheit: einhumaner Mittelweg zwischenAssimilation und Absonderung

Es ist daher sinnvoll, zwei Vari anten von In-tegration zu unterscheiden: neben der assimi-lativen Integration — ein offensichtlich eherlangfristig, über mehrere Generationen ver-laufender Prozess — die Integration nach demPrinzip von Einheit-in-Verschiedenheit.

Eigentlich müsste man den letztgen anntenTyp von Integration als multikulturelle Inte-gration bezeichnen, da er dem kanadischenMultikulturalismuskonzept entnommen ist.Allerdings würde der Begriff „multikultu-rell" in Deutschland zu schädlichen Missver-ständnissen führen, weil das Konzept der„multikulturellen Gesellscha ft" in der deut-schen Debatte diffus blieb, zu einem emotio-nal stark besetzten Reizwort hoch stilisiert

wurde und dadurch politisch weitgehend ver-schlissen und für eine sachliche Auseinan-dersetzung fast unbrauchbar geworden ist. 8

Auch ist das kanadische Konzept des Multi-kulturalismus in Deutschland weitgehend un-bekannt. Häufig werden mit „multikulturell"völlig andere Bedeutungen verbunden, wiez.B. ein beziehungsloses Nebeneinander ver-schiedener ethnokultureller Gruppen, ethni-sche Parallelgesellschaften oder ethnischeKolonien sowie ethnische Gettos. Um Miss-verständnissen vorzubeugen, ist es dahersinnvoll, den skizzierten Typ von Integrationnicht als multikulturelle, sondern als inter-kulturelle Integration zu bezeichnen. DieserBegriff ist nicht vorbelastet. Sein Präfix „in-ter" betont auch stärker das Miteinander, denAustausch, das Gemeinschaftliche als dasPräfix „multi", mit dem man auch ein„bloßes Nebeneinander" assoziieren kann.„Interkulturell" wird zudem seit längerem inden Erziehungswissenschaften in der Kombi-nation interkulturelle Erziehung oder inter-kulturelle Bildung verwendet und taucht imÜbrigen auch im frankophonen Kanada auf:Die Quebecer lehnen das föderale Prinzipdes offiziellen Multikulturalismus ab und be-zeichnen ihre Art des Umgangs mit ethni-schen Minderheiten als „interculturalisme" —ein Begriff, der in seinem Bedeutungsgehaltmit dem föderalen Konzept des Multikultura-lismus nahezu identisch ist (vgl. Kymlicka1998: 67f.).

Es ist wichtig, dass in Deutschl and dasdichotomische Denken in den beiden PolenAssimilation versus Pluralisierung/Segmenta-tion/Segregation überwunden und erweite rtwird zu einer Trichotomie, die auch den Mit-telweg der interkulturellen Integration als sinn-volle und mögliche Form des Miteinanders ineiner multiethnischen Gesellschaft enthält.

Wer mit dieser Trichotomie die gesell-schaftliche Realität analysie rt, dürfte alle dreiTypen gleichzeitig und nebeneinander vor-finden: Bei einigen Migranten vollziehensich assimilative Integrationsprozesse, beianderen interkulturelle und bei wieder ande-ren Prozesse der Absonderung. Auf langeSicht — über Generationen hinweg — dürftedie interkulturelle Integration so etwas wieeine Vorstufe zur assimilativen sein. Die in-terkulturelle Integration sollte allerdings als294

Assimilation(=Integration)

PluralismusSegmentation,Segregation

Berl.J.Soziol., Heft 3 2004, S. 287-298

Abbildung 3: Modelle soziokulturellerIntegrationsverläufe — von der Dichotomiezur Trichotomie

assimilative interkulturelle Segmentation

Integration Integration Segregation

normatives Konzept dominieren, denn es hatzwei Vorzüge: Zum einen versucht es, unter-schiedliche Gruppeninteressen und gesell-schaftliche Erfordernisse auszubalancieren.Es hat durchaus die funktionalen Erforder-nisse gesellschaftlicher Kohäsion und die In-teressen der Mehrheit am Respekt vor ihrenGrundwerten im Blick, gleichzeitig geht esaber auch auf die Bedürfnisse der Minderhei-ten nach Gewährung und Anerkennung vonDifferenzen ein. Es ist daher humaner als dasKonzept der assimilativen Integration, weiles den monokulturellen Assimilationsdruckauf die Migranten milde rt. Und dieser Druckwird — wie eine neuere Studie belegt hat(Rauer/Schmidtke 2001) — von vielen Mi-granten in Deutschland als großes Problemund Zumutung empfunden. Das Assimilati-onskonzept ist rücksichtslos, da es auf diepsychischen Befindlichkeiten vieler Migran-ten nicht eingeht. Das Konzept der interkul-turellen Integration trägt hingegen auch derBefindlichkeit der Minderheiten — insbeson-dere der ersten und zweiten Migrantengene-ration — Rechnung, ihrem Bedürfnis, nichtvöllig mit ihrer Herkunftskultur zu brechen.

Zum anderen fordert das Konzept der in-terkulturellen Integration dazu auf, genauerüber die innovativen und produktiven Poten-ziale der Verschiedenheit nachzudenken unddiese nicht nur als kulinarische, modischeoder architektonische Schnörkel mit unver-bindlicher Beliebigkeit wahrzunehmen. Ver-schiedenheit in Form von Bilingualität undBikulturalität gewinnt in einer Epoche zu-nehmender transnationaler Ver flechtungenals gesellschaftliche Ressource an Gewicht.Transkulturelle Brückenbauer, die sich inmindestens zwei Kulturen und Sprachen gut

auskennen, werden immer häufiger gefragt.Und es wäre zu schade, die sozialkulturelleVerschiedenheit einfach „hinweg zu assimi-lieren".9

5.3 Aktive Akzeptanz — eine zentraleVoraussetzung interkulturellerIntegration

Ein sensibler Integrationsbegriff ist schonimmer davon ausgegangen, dass die Integra-tion von Migranten kein einseitiger Vorgangist, bei dem die Forderung nach Anpassungausschließlich an die „Neuankömmlinge" ge-richtet wird. Integration wird vielmehr als einwechselseitiger, „interaktionistischer" Pro-zess betrachtet mit Anforderungen an beideSeiten, sowohl an die Migranten als auch andie Aufnahmegesellschaft. Mit dem Konzeptder aktiven Akzeptanz lässt sich eine wesent-liche Anforderung an eine Aufnahmegesell-schaft benennen, ohne die interkulturelle In-tegration nicht möglich ist. Aktive Akzep-tanz meint dreierlei:

1. Die Akzeptanz des Faktums der not-wendigen Einwanderung: Die Aufnahmege-sellschaft erkennt an, dass Einwanderung (ineinem bestimmten Umfang) aus ökonomi-schen und demographischen Gründen, einTeil auch aus humanitären Verpflichtungenheraus, notwendig ist und steht daher der An-wesenheit von Migranten, die eine wichtigeRolle bei der sozioökonomischen und sozio-kulturellen Weiterentwicklung spielen, posi-tiv gegenüber.

2. Die Akzeptanz der Notwendigkeit, dieMigranten sozialstrukturell und interkultu-rell zu integrieren: Es wird anerkannt, dassdie sozialstrukturelle Gleichstellung und dieinterkulturelle Integration nach dem PrinzipEinheit-in-Verschiedenheit die Leitlinienbeim politischen und gesellschaftlichen Um-gang mit Migranten sind.

3. Die Einsicht in die Notwendigkeit kol-lektiver aktiver Förderung der Integration:Es wird anerkannt, dass sich die Integrationvon Migranten nicht von allein vollzieht,sondern dass es dazu erheblicher kollektiver— politischer und gesellschaftlicher — An-strengungen bedarf. Ohne etwas wie einemethnic diversity mainstreaming dürften die 295

R. Geißler: Einheit-in-Verschiedenheit

Abbildung 4: Das Konzept der interkulturellen Integration im Gesamtüberblick

6 Dimensionen der sozialstrukturellen Integration

SozialstrukturellerBereich Prinzip der Integration Form der Integration

Recht Gewährung gleicher RechteMacht und

gleiche politische TeilnahmechancenHerrschaftBildung gleiche BildungschancenArbeit gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt

und in der ArbeitsweltLebensstandard und

gleiche Chancen auf Einkommen, Besitz,soziale Sicherheit

Wohnqualität, soziale Sicherheit u. a.wichtige gleicher Zugang zum Positionssystem inInstitutionen

Medien, Bildung und Wissenschaft,Verwaltung, Justiz, Polizei

rechtliche Integrationpolitische Integration

BildungsintegrationArbeitsweltintegration

materielle Integration

institutionelleIntegration

3 Dimensionen der sozialkulturellen Integration

Einheit in Verschiedenheit

kognitiveIntegration

sozialeIntegration

elementare Akkulturation— Verfassung, Gesetze, Grundwerte— Kompetenzen (insbes. Sprache)

interethnische Kontakte undKommunikation

Recht auf(gleichberechtigte)kulturelle Differenz

ethnischeGemeinschaften

gegenseitiger Respekt

identifikatorischeIntegration

hierarchische Identität Doppelidentität

3 Dimensionen der aktiven Akzeptanz

Akzeptanz der Notwendigkeit von EinwanderungAkzeptanz der Notwendigkeit interkultureller Integration

politische und gesellschaftliche Aktivität: diversity mainstreaming

296

Bemühungen, eine Ethnisierung der Un-gleichheitsstruktur zu verhindern, fehlschla-gen.

Anmerkungen

I An der Universität Siegen wird derzeit einDFG-Forschungsprojekt zur medialen Integra-tion von Migranten durchgeführt, in dem d asProblem der „institutionellen Integration" imMediensektor — die Beteiligung von Migrantenin der Medienproduktion als Journalisten oderMedienmanager — eine wichtige Rolle spielt.

2 Das Unvereinbarkeitstheorem taucht auch beianderen Migrationstheoretikem auf, z.B. bei

Hoffmann-Novotny (1993: 75): „Integrationohne Assimilation (...) ist eine ideologischeVorstellung" (Hervorhebung von H.-N.).

3 In Kanada überlagern sich drei Problemkreisedes ethnokulturellen Mitein anders, die histo-risch unterschiedliche Wurzeln haben und sichqualitativ grundlegend unterscheiden: DasVerhältnis zu den Ersten Nationen (Ureinwoh-nern), das Verhältnis von Frankokanadiern inQuebec und Anglokanadiern und d as Verhält-nis zu den Minoritäten, die seit Ende des 19.Jahrhunderts eingewandert sind. Im Zentrumder folgenden Skizze steht der letztgenannteProblemkreis — nic ht zuletzt deshalb, weil sichdie kanadische Multikulturalismuspolitik insbe-sondere an diese Einwanderergruppen richtet.

Berl.J.Soziol., Heft 3 2004, S. 287 -298

4 Kritik von links: z.B. Bolaria/Li (1988); einÜberblick bei Fleras/Kunz (2001: 23). Kritikvon rechts: z.B. Bibby (1990); Bissoondath(1994); Gwyn (1995); McRoberts (1997);Stoffman (2002).

5 Die folgende Skizze der Prinzipien des kanadi-schen Multikulturalismus stützt sich insbeson-dere auf Fleras/Elliot (2002) und Kymlicka(1998) sowie auf folgende Dokumente: RedePierre Trudeaus im House of Commons am 8.Oktober 1971; Multiculturalism Act 1988; An-nual Reports des Department of Canadian He-ritage on the Operation of the MulticulturalismAct; Ontario Policy on Multiculturalism.

6 Dazu Fleras/Elliot (2002), Kap. 1; Kymlicka(1998), Kap. 4.

7 Genaueres dazu bei Geißler (2003); zur Über-tragung kanadischer Erfahrungen auf die deut-sche Situation vgl. auch Adam (2002).

8 Ein guter Abriss zur deutschen Diskussionüber die multikulturelle Gesellschaft findetsich bei Mintzel (1997: 24ff.).

9 Zur Bedeutung der Mehrsprachigkeit vgl. Go-golin (2000).

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