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International 46 politik&kommunikation | Juli/August 2009 Die Zahl der Baustellen könnte nicht größer sein, wenn Schweden zum 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernimmt. Die europäische Agenda des zweiten Halbjahrs 2009. „Niemand beneidet Schweden“ D ie Wirtschaftskrise. Eine neue Kommission. Die immer noch offene Lösung für den EU-Re- formvertrag. Die Schweden haben im zweiten Halbjahr eine schwere Aufgabe übernommen: Sie sollen die Geschicke der EU übernehmen in einer Zeit, in der weite Teile der politischen Agenda fremdbestimmt sind. Schweden drückt deshalb auf die Erwartungsbremse – und verfolgt dennoch eine ambitionierte Agenda. Die Präsidentschaft im zweiten Halb- jahr ist keine dankbare Aufgabe, da viele organisatorische Rahmenbedingungen in den kommenden Monaten in der Schwe- be sein werden. Eine dringliche Frage, deren Beantwortung immer noch aus- steht, ist jene nach dem EU-Reformver- trag. In der Tschechischen Republik, wo Präsident Václav Klaus die Unterzeich- nung verzögert, und in Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht die Verfas- sungskonformität des Vertrags überprüft, steht die Ratifikation noch aus. Reformvertrag Die Blicke richten sich vor allem aber nach Irland. Nach einem „Nein“ zum Reformvertrag im vergangenen Jahr gilt es, in einem zweiten Referendum ein „Ja“ nach Hause zu holen. Mit der Wirtschaftskrise hat sich die Haltung der Bevölkerung zum Lissaboner Vertrag deutlich zum Positiven verändert. Er- fahrungen aus anderen Ländern lehren jedoch, dass es schwer fallen kann, eine solche Stimmungswelle über mehrere Monate zu halten. Neues Europaparlament Anfang Juni wurde das neue Europa- parlament gewählt. Trotz des Abgangs der britischen Konservativen und der tschechischen ODS konnte die konserva- tive EVP-Fraktion ihre führende Stellung im Parlament unterstreichen. Auch die grüne Fraktion hat deutlich zugelegt. Die Sozialdemokraten mussten hingegen klare Einbußen hinnehmen. Insgesamt gibt es ein deutlicheres bür- gerliches Übergewicht als bisher. Offen

Niemand beneidet Schweden

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Artikel aus "Politik & Kommunikation" Juli/August 2009 zu Schwedens bevorstehender EU-Ratspräsidentschaft

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Page 1: Niemand beneidet Schweden

International

46 politik&kommunikation | Juli/August 2009

Die Zahl der Baustellen könnte nicht größer sein, wenn Schweden zum 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernimmt. Die europäische Agenda des zweiten Halbjahrs 2009.

„ Niemand beneidet Schweden“

Die Wirtschaftskrise. Eine neue Kommission. Die immer noch offene Lösung für den EU-Re-

formvertrag. Die Schweden haben im zweiten Halbjahr eine schwere Aufgabe übernommen: Sie sollen die Geschicke der EU übernehmen in einer Zeit, in der weite Teile der politischen Agenda fremdbestimmt sind. Schweden drückt deshalb auf die Erwartungsbremse – und verfolgt dennoch eine ambitionierte Agenda.

Die Präsidentschaft im zweiten Halb-jahr ist keine dankbare Aufgabe, da viele organisatorische Rahmenbedingungen in den kommenden Monaten in der Schwe-be sein werden. Eine dringliche Frage, deren Beantwortung immer noch aus-

steht, ist jene nach dem EU-Reformver-trag. In der Tschechischen Republik, wo Präsident Václav Klaus die Unterzeich-nung verzögert, und in Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht die Verfas-sungskonformität des Vertrags überprüft, steht die Ratifikation noch aus.

Reformvertrag

Die Blicke richten sich vor allem aber nach Irland. Nach einem „Nein“ zum Reformvertrag im vergangenen Jahr gilt es, in einem zweiten Referendum ein „Ja“ nach Hause zu holen. Mit der Wirtschaftskrise hat sich die Haltung der Bevölkerung zum Lissaboner Vertrag deutlich zum Positiven verändert. Er-

fahrungen aus anderen Ländern lehren jedoch, dass es schwer fallen kann, eine solche Stimmungswelle über mehrere Monate zu halten.

Neues Europaparlament

Anfang Juni wurde das neue Europa-parlament gewählt. Trotz des Abgangs der britischen Konservativen und der tschechischen ODS konnte die konserva-tive EVP-Fraktion ihre führende Stellung im Parlament unterstreichen.

Auch die grüne Fraktion hat deutlich zugelegt. Die Sozialdemokraten mussten hingegen klare Einbußen hinnehmen. Insgesamt gibt es ein deutlicheres bür-gerliches Übergewicht als bisher. Offen

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Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt (links) und EU-Kommissions-präsident José Manuel Barroso

bleibt allerdings noch, welches Gewicht die europakritischen Parteien haben wer-den, die sich erstmals in einer gemeinsa-men Fraktion formieren wollen.

Die neue Kommission

Eigentlich ist geplant, dass die neue Kom-mission bereits am 1. November 2009 ihre Arbeit aufnimmt. Die offene Frage nach dem Ausgang des irischen Referen-dums macht jedoch einen Strich durch diese Rechnung: Bei einem irischen „Ja“ würde der Vertrag von Lissabon erlau-ben, dass jeder Mitgliedsstaat weiterhin einen Kommissar stellen darf. Dieses Szenario würde auch die Schaffung ei-nes EU-Außenministerpostens und eines

permanenten Ratspräsidenten erlauben. Anders bei einem irischen „Nein“: Hier müsste mindestens ein Land auf seinen Kommissarposten verzichten. Die Nomi-nierung der künftigen Kommissare wird somit voraussichtlich erst nach dem iri-schen Referendum stattfinden und das Mandat der aktuellen Kommission bis zum 1. Januar 2010 verlängert. Einige Kommissare haben bereits angekün-digt, dass sie nicht erneut kandidieren werden, so auch der deutsche EU-Kom-missar für Unternehmen und Industrie, Günter Verheugen. Nach ihrem starken Abschneiden bei der Europawahl hat die CDU/CSU bereits gefordert, den künfti-gen deutschen Kommissar zu stellen.

Der derzeitige Kommissionspräsident José Manuel Barroso kündigte jüngst an, für eine zweite Amtszeit kandidie-ren zu wollen. Eine Nominierung durch die EU-Staatschefs Mitte Juni – nach Redaktionsschluss – ist wahrscheinlich, nicht jedoch unbedingt die Bestätigung durch das Parlament Mitte Juli. Die Grünen haben bereits angekündigt, sich gegen die Barroso-Kandidatur zu stellen. Die Sozialdemokraten und die Liberalen sind gespalten.

Wirtschaft und Finanzen

Die Wirtschaftskrise wird die EU auch im zweiten Halbjahr unter Handlungs-druck setzen. Andererseits liegt gerade in der Krisenbekämpfung eine der großen Möglichkeiten für die EU, staatenüber-greifende Problemlösungskompetenzen zu entwickeln und unter Beweis zu stel-len. Schon in den vergangenen Monaten hat die EU eine Reihe von Vorschlägen zur Krisenbewältigung unterbreitet, so unter anderem den Entwurf für eine neue Richtlinie über alternative Anlage-formen, insbesondere Private Equity und Hedge Fonds, oder eine neue Architek-tur für die EU-Finanzaufsicht.

Der Vorstoß im Bereich der Private Equity und Hedge-Fonds wird als be-sonders sensibel angesehen. Die Sozi-aldemokraten haben Regulierungen in diesem Bereich zuoberst auf ihre Agen-da gesetzt. Gemeinsam mit den Grünen und den Sozialisten übten sie harte Kri-tik am zurückhaltenden Ansatz des libe-ralen Binnenmarktkommissars Charlie McCreevy. Auch die Aufsicht im Finanz-sektor wird im zweiten Halbjahr hoch auf die Agenda rücken. Der Larosiere-Report spiegelt sich im vorgelegten Ent-wurf der Kommission, auch wenn einige der weiterreichenden Vorschläge wie die

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weil sie Leistungsbereitschaft und Wettbewerb und Schutz für die Schwachen wie keine andere Wirtschaftsform mit-einander verbindet.“Mehr Informationen unter www.insm.de

„SozialeMarktwirtschaftmacht’s besser,

Wolfgang ClementBundesminister für Wirtschaft

und Arbeit a.D.

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eines zentralen EU-Supervisors gekippt wurden. Die Überarbeitung wurde von den meisten Parteien begrüßt. Ein de-tailliertes Paket zur Finanzaufsicht wird für den Herbst erwartet.

Schwedische Ratspräsidentschaft

Die schwedische Regierung trägt bei ihrer aktuellen EU-Ratspräsidentschaft eine schwere Bürde. Die Präsidentschaft befindet sich in einem organisatorischen Leerraum, der erst mit dem irischen Re-ferendum gefüllt werden kann. Die Wirt-schaftskrise wird die Agenda weitgehend fremdbestimmen. Und die Bundestags-wahl so wie auch eine eventuell vorgezo-gene Wahl in Großbritannien machen es der schwedischen Regierung schwer, die Regierungen der großen EU-Mitglieds-staaten an einen Tisch zu bekommen.

„Niemand beneidet Schweden um diese Auf-gabe“, sagte Ministerprä-sident Fredrik Reinfeldt jüngst bei seiner ersten Programmrede zur Rats-präsidentschaft. Seine Aussagen fallen dennoch überraschend selbstbewusst aus: Statt die Erwartungen zu dämpfen, hat er eine ambitionierte Zusammenstel-lung an Themen präsentiert, die Schwe-den im Präsidentschaftshalbjahr auf die Agenda setzen will.

Viele Beobachter trauen Schweden ein gutes Krisenmanagement zu. Die Be-kämpfung der schwedischen Bankenkrise Anfang der neunziger Jahre ist sicherlich ein geeigneter Erfolgsmaßstab. Rein-feldt setzt aber auch hier höhere Ziele: „In Schweden hat es uns fast zehn Jah-re gekostet, bis wir uns endgültig erholt hatten“, so der Ministerpräsident. „Wir müssen vermeiden, dass es auch diesmal so sein wird.“

Neben akuten Hilfsmaßnahmen wol-len die Schweden die Bankenaufsicht verschärfen und Managerboni begrenz-en, um ähnliche Krisen in der Zukunft zu vermeiden. Im Mittelpunkt der Kri-senbekämpfung steht für Reinfeldt der Arbeitsmarkt. Schweden will Impulse für eine aktive Arbeitsmarktpolitik setzen. „Wenn ein Schiff sinkt“, so Reinfeldt, „ist mein erstes Ziel, die Besatzung zu retten – nicht das Schiff.“

Trotz Wirtschaftskrise hält Schweden an dem früh formulierten Ziel fest, die Präsidentschaft in den Dienst des Kli-maschutzes zu stellen. Klimaschutz, so Reinfeldt, sei auch in Zeiten der Krise

mehr als nur ein „grüner Traum“. Mit der UN-Klimakonferenz im Dezember ist die Chance gegeben, dass die EU einen wesentlichen Einfluss auf die glo-balen Klimaschutzziele der kommenden Jahre ausübt.

Krisenbekämpfung und Klimaschutz sind somit die beiden großen Ziele dieser Präsidentschaft. Ferner hat Stockholm programmatische Arbeit zu leisten, so bei der Nachfolge für die Lissabon-Stra-tegie für Wachstum und Beschäftigung wie auch bei der Umsetzung des „Stock-holm-Programms“ zur Zusammenarbeit bei Polizei und Justiz, das die Nachfolge des „Haager Programms“ antreten soll. Schweden will die Erweiterungsverhand-lungen mit den westlichen Balkanstaaten vorantreiben und auch die Weiterführ-ung des Dialogs mit der Türkei sichern.

Dies, so untersteichen die Schweden, sei allerdings auch von den Bemühungen dieser Staaten selbst abhängig.

Ein besonderes Anliegen der schwedi-schen Regierung ist es, eine Ostseestra-tegie zu implementieren. Dies ist nicht der erste Versuch, die Ostsee als Han-dels- und Verkehrsknotenpunkt aus der Peripherie der mentalen Europalandkar-te zu holen. Mit der EU-Präsidentschaft als Klangkörper könnten diese Versuche erstmals mit Erfolg beschieden sein.

Bei der letzten schwedischen Rats-präsidentschaft im Jahr 2001 hatte der damalige sozialdemokratische Regie-rungschef Göran Persson die Rolle des Ratspräsidenten genutzt, sich als euro-päischer Staatsmann zu positionieren. Diese Strategie wird Reinfeldt, ein Jahr vor der nächsten schwedischen Reichs-tagswahl, voraussichtlich auch fahren. Die Europäische Union kann daher mit einem Ratspräsidenten rechnen, der trotz der schwierigen Rahmenbeding-ungen und knappen Handlungsräume klare Akzente setzen wird.

Henry Werner, Anne Laumen, Åse Lidbeck

Burson-Marsteller Berlin, Brüssel und Stockholm

Kontakt: Marco HardtManaging Director Public AffairsBurson-Marsteller [email protected]

Entscheidungen und Wegmarken Diese Termine sollten Unternehmen während der schwedischen Ratspräsidentschaft im Auge behalten:

Termine von übergeordneter Bedeutung

• 15. Juli: Europaparlament stimmt über Kommissionspräsidenten ab

• voraussichtlich Oktober: zweites irisches Referendum zum Lissaboner Vertrag

• 29. – 30. Oktober, 10. – 11. Dezember: Europäischer Rat (voraussichtlich)

Finanz- und Versicherungsaufsicht

• 7. Juli, 20. Oktober, 10. November, 2. Dezember: Rat „Wirtschaft und Finanzen“

• 1.–2. Oktober: Informelles Treffen der Finanzminister

• Herbst 2009: Kommission legt detailliertes Paket zur Finanzaufsicht vor

Klima und Energiesicherheit

• 23.–24. Juli: Informelles Treffen der Energieminister

• 24.–25. Juli: Informelles Treffen der Umweltminister

• 23. Oktober, 22. Dezember: Rat „Umwelt“

• 7.–18. Dezember: UN Klimagipfel COP-15

Verbraucherfragen

• 7.– 9. Juli: Informelles Treffen des Rates „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherfragen“

• 1. Oktober, 30. November – 1. Dezember: Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherfragen“

• 14. Juli, 28. – 29. September, 19.–20. Oktober: Rat „Landwirtschaft und Fischerei“

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„ Auch Reinfeldt wird klare Akzente setzen “