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EKATERINA POLJAKOVA „ÄSTHETISCHE VOLLENDUNG“ ZUR PHILOSOPHISCHEN ÄSTHETIK NIETZSCHES UND BACHTINS Die Frage nach der Bedeutung von Nietzsches Ideen für den russischen Lite- raturwissenschaftler und Philosophen Michail Bachtin wurde in der letzten Zeit viel diskutiert. In erster Linie geht es um Konzeptionen des Karnevals bzw. des Dionysischen, um das Lachen, 1 das Wort als Material des literarischen Schaffens und das Problem des Textes. 2 Aber ein Vergleich, dessen Aspekte eher zufällig sind, kann nicht hinreichend überzeugen. Um dem Problem von Nietzsches Einfluß auf Bachtin näher zu kommen, müssen diese Aspekte in die philosophi- sche Ästhetik Bachtins im ganzen eingeordnet werden, die neue Horizonte in der theoretischen Betrachtung der künstlerischen Formen eröffnet hat. 3 Damit sind in erster Linie das Problem der Äußerung und das Problem des „fremden“ Wortes gemeint. Bachtin war einer von den wenigen russischen Literaturwissen- schaftlern, der den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Sprache der Kunst und den globalen Prozessen der europäischen Kultur zu analysieren suchte, um einen philosophischen Hintergrund für das Werden der „künstleri- schen Wahrheit“ aufzuzeigen. Mit anderen Worten, er hat „die Ästhetik des Wortkunstschaffens“ unter die Optik der „Philosophie der Handlung“ und da- 1 Vgl. Günter, Hans: M. Bachtin i „Rozhdenije tragedii“ F. Nietzsche (Bachtin und die „Geburt der Tragödie“ von F. Nietzsche). In: Dialog, karnaval, chronotop 1 (1992). S. 27–34, und Ku- jundzhitsh, D.: Smech kak „drugoj“ u Bachtina i Derrida. (Das Lachen als „der Andere“ bei Bachtin und Derrida). In: Bachtinskij sborbik 1 (1990). S. 83–107. 2 Vgl. Lukin, V. A.: Tekst kak tsennost’ u Bachtina i Nietzsche. (Der Text als Wert bei Bachtin und Nietzsche). In: Machlin, V. L. (Hg.): M. M. Bachtin i perspektivy gumanitarnych nauk. Materialy nautschnoj konferentsii. Vitebsk 1994. S. 38–43. Der Verfasser hat hier einen Versuch unter- nommen, den Dialogismus bei Bachtin und das Prinzip der Grenzenzerstörung bei Nietzsche zu vergleichen. Auch B. Grojs betrachtet Bachtins Beziehung zu Nietzsche als das für ihn grundle- gende Problem, das alle Aspekte seiner Konzeption des Textes – vom Konzept des künstleri- schen Wortes bis zum polyphonen Roman – beeinflusst hat (Grojs, Boris: Totalitarism karna- vala. (Totalitarismus des Karnevals). In: Bachtinskij sbornik 3. Moskva 1997. S. 76–80, S. 77). 3 Das hat auch Hans Günter vorgeschlagen (Günter: M. Bachtin i „Rozhdenije tragedii“ F. Nietz- sche, a.a.O., S. 27). Aber in seinem Aufsatz hat er nur einige Meinungsverschiedenheiten von Bachtin und Nietzsche angeschnitten, deren Übereinstimmung er im Entwurf einer „antiklassi- schen Ästhetik“ sieht (ebd., S. 32).

Nietzsche Bajtín

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EKATERINA POLJAKOVA

„ÄSTHETISCHE VOLLENDUNG“ZUR PHILOSOPHISCHEN ÄSTHETIK NIETZSCHES

UND BACHTINS

Die Frage nach der Bedeutung von Nietzsches Ideen für den russischen Lite-raturwissenschaftler und Philosophen Michail Bachtin wurde in der letzten Zeitviel diskutiert. In erster Linie geht es um Konzeptionen des Karnevals bzw. desDionysischen, um das Lachen,1 das Wort als Material des literarischen Schaffensund das Problem des Textes.2 Aber ein Vergleich, dessen Aspekte eher zufälligsind, kann nicht hinreichend überzeugen. Um dem Problem von NietzschesEinfluß auf Bachtin näher zu kommen, müssen diese Aspekte in die philosophi-sche Ästhetik Bachtins im ganzen eingeordnet werden, die neue Horizonte inder theoretischen Betrachtung der künstlerischen Formen eröffnet hat.3 Damitsind in erster Linie das Problem der Äußerung und das Problem des „fremden“Wortes gemeint. Bachtin war einer von den wenigen russischen Literaturwissen-schaftlern, der den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Sprache derKunst und den globalen Prozessen der europäischen Kultur zu analysierensuchte, um einen philosophischen Hintergrund für das Werden der „künstleri-schen Wahrheit“ aufzuzeigen. Mit anderen Worten, er hat „die Ästhetik desWortkunstschaffens“ unter die Optik der „Philosophie der Handlung“ und da-

1 Vgl. Günter, Hans: M. Bachtin i „Rozhdenije tragedii“ F. Nietzsche (Bachtin und die „Geburtder Tragödie“ von F. Nietzsche). In: Dialog, karnaval, chronotop 1 (1992). S. 27–34, und Ku-jundzhitsh, D.: Smech kak „drugoj“ u Bachtina i Derrida. (Das Lachen als „der Andere“ beiBachtin und Derrida). In: Bachtinskij sborbik 1 (1990). S. 83–107.

2 Vgl. Lukin, V. A.: Tekst kak tsennost’ u Bachtina i Nietzsche. (Der Text als Wert bei Bachtin undNietzsche). In: Machlin, V. L. (Hg.): M. M. Bachtin i perspektivy gumanitarnych nauk. Materialynautschnoj konferentsii. Vitebsk 1994. S. 38–43. Der Verfasser hat hier einen Versuch unter-nommen, den Dialogismus bei Bachtin und das Prinzip der Grenzenzerstörung bei Nietzsche zuvergleichen. Auch B. Grojs betrachtet Bachtins Beziehung zu Nietzsche als das für ihn grundle-gende Problem, das alle Aspekte seiner Konzeption des Textes – vom Konzept des künstleri-schen Wortes bis zum polyphonen Roman – beeinflusst hat (Grojs, Boris: Totalitarism karna-vala. (Totalitarismus des Karnevals). In: Bachtinskij sbornik 3. Moskva 1997. S. 76–80, S. 77).

3 Das hat auch Hans Günter vorgeschlagen (Günter: M. Bachtin i „Rozhdenije tragedii“ F. Nietz-sche, a.a.O., S. 27). Aber in seinem Aufsatz hat er nur einige Meinungsverschiedenheiten vonBachtin und Nietzsche angeschnitten, deren Übereinstimmung er im Entwurf einer „antiklassi-schen Ästhetik“ sieht (ebd., S. 32).

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mit die Frage nach der „ästhetischen Tätigkeit“4 und ihren Entwicklungsgeset-zen als philosophisches Problem gestellt.

Unter den vielfältigen und komplizierten Fragen, die in Bachtins Werk ange-sprochen werden, scheint es mir besonders aussichtsreich, seinen Schlüssel-begriff der „ästhetischen Vollendung“ im Zusammenhang mit Nietzsches Ideenzu betrachten.5 Dessen ausführliche Analyse ist in Bachtins Werk Autor und Held

in der ästhetischen Tätigkeit zu finden.6 Sie ist für Bachtin besonders wichtig, umdas Wesen des „ästhetischen Ereignisses“ aufzuzeigen: als Zusammentreffenvon zwei Bewußtseinen und zwei verschiedenen Tätigkeiten – der Erkenntnistä-tigkeit des Helden in ethischer Perspektive und der vollendenden Tätigkeit desAutors in ästhetischer Perspektive. Die erste ist nur unter der Bedingung des in-nerlichen, unbeendeten, unvollendeten Seins, die zweite nur als schöpferischesAußerhalbsein denkbar. Die zweite wurde von Bachtin als „die Gabe der Form“bezeichnet,7 die die unendliche, von innen nie voll zu bestimmende Tätigkeit nurvon außen vollenden kann.

Der Einfluß der neukantianischen Marburger Schule, der deutschen Phäno-menologie und der Philosophie des Dialogs von Martin Buber und Franz Rosen-zweig auf Bachtins Konzeption der Form und der ästhetischen Tätigkeit istallgemein anerkannt.8 Ein Vergleich von Bachtins philosophisch-ästhetischer

4 „Ästhetik des Wortkunstschaffens“ – der Titel des Sammelbandes von Bachtins Werken, in demseine eigene Formel benutzt worden ist, mit dem Bachtin den Schwerpunkt seiner Forschung de-finiert hat. (Bachtin, Michail M.: Estetika slovesnogo tvortschestva. Moskva, 1986. Siehe dieEinleitung von S.G. Botscharov, ebd. S. 5–6). Der Sammelband wird von dem Werk „Autor undHeld in der ästhetischen Tätigkeit“ eröffnet (S. 9–191). „Zur Philosophie der Handlung“ ist derTitel eines weiteren Werkes von Bachtin (Bachtin, Michail M.: K philosophii postupka (1921).In: Philosophija i soziologija nauki i techniki (1984/1985). S. 82–157).

5 Statt „Vollendung“ könnte auch „Abrundung“ übersetzt werden. Tatsächlich findet sich, wie inder Untersuchung von N. D. Tamartschenko erwähnt, dieser Begriff bei Goethe, der in seiner„Nachlese zu Aristoteles’ ,Poetik‘“ Katharsis als „versöhnende Abrundung“ versteht (Goethe,Johann Wolfgang: Werke. Vollständige Ausgabe in 40 Teilen. Hg. von Emil Ermatinger. Teil 33.Schriften über Literatur und Theater II. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o. J. S. 68). Siehe Tamart-schenko, N. D.: Problema „roman i tragedia“ u Nietzsche, Vjatsch. Ivanova i Bachtina. (Das Pro-blem „Roman und Tragödie“ bei Nietzsche, Vjach. Ivanov und Bachtin). In: Dialog, karnaval,chronotop 3 (2001). S. 116–134, S. 126. Dennoch benutze ich das Wort „Vollendung“, das vorallem in der Geburt der Tragödie von Nietzsche zu finden ist. Das Russische „zaverschenije“ mit„Einschränken“ oder „Abschließen“ zu übersetzen, wie Matthias Freise vorgeschlagen hat,scheint weniger plausibel (Freise, Matthias: Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Lite-ratur. Frankfurt am Main 1993. S. 14).

6 Bachtin, Michail M.: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti. (Autor und Held in der ästheti-schen Tätigkeit). In: Bachtin: Estetika slovesnogo tvortschestva, a.a.O., S. 9–191.

7 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 84.8 Vgl. Adlam, Carol: Critical Work of the Bakhtin Circle. In: Hirschkop, Ken/Shepherd, David (ed.):

Bakhtin and Cultural Theory. Manchester 2001; Bruhn, Jørgen/Lundquist, Jan: Introduction:A Novelness of Bachtin? In: Bruhn, Jørgen/Lundquist, Jan (ed.): The Novelness of Bachtin.Copenhagen 2001. S. 12–23; Freise: Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur.a.a.O.; Grübel, Rainer: Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin. In: Bachtin, Michail M.:Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979. S. 71–78, S. 28–29.

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Konzeption aus der Perspektive ihrer Synthese im Begriff der „ästhetischenVollendung“ mit Nietzsches Philosophie der Kunst wurde jedoch, soweit mirbekannt ist, noch nicht unternommen.9 Das läßt sich zum Teil dadurch erklären,dass Bachtin sich sehr selten selbst auf Nietzsche beruft. Wo er jedoch auf Nietz-sche verweist, geht es immer um grundlegende philosophisch-ästhetische Fra-gen. Dies kann dann auch in indirekten Anspielungen und versteckten Zitatengeschehen. Und das gilt für fast alle wichtigen Werke Bachtins – von den frühenWerken, die unter fremden Namen veröffentlicht wurden (Die formale Methode in

der Literaturwissenschaft und Marxismus und Sprachphilosophie)10 bis zu seinen reifenUntersuchungen wie „Probleme der Poetik Dostojewskijs“. Nietzsches Ideenstehen dabei im Hintergrund mehrerer theoretischer Fragen, die in BachtinsWerken gestellt werden – von seiner Theorie des Zeichens bis zu seiner Fragenach den Ursprüngen der literarischen Gattungen und der Entwicklung des Ro-mans. Die Auseinandersetzung Bachtins mit Nietzsches Philosophie der Kunstwar, auch wenn es nicht zur vollen Übereinstimmung kam, für den russischenDenker höchst ersprießlich. Er zeigte in ihrem Zusammenhang nicht nur die ak-tuellen Prozesse in der Entwicklung der Literatur und die „Krise des Autorbe-wußtseins“11 auf, sondern betrachtete Nietzsches Schaffen zugleich als Ideenquelle

und als Symptom dieser Krise der Kunst, dieser Problematisierung der Identität der Kunst.So wird Bachtin zum einzigen russischen Denker, der in seiner Nietzsche-Rezeption nicht danach strebt, eine logische und unwidersprüchliche Liniein Nietzsches Konzeption der Kunst zu verfolgen, sondern gerade NietzschesProblematisierung der einheitlichen Perspektive als tragenden Aspekt seinerPhilosophie der Kunst betrachtet. Nietzsches Schaffen und dessen literarischeFormen werden aber wiederum nicht als bloße Dichtung, die der philosophi-schen Bedeutung entbehrt, sondern als Synthese und Widerspiegelung seinerWeltauffassung dargelegt.

Ziel meines Beitrags ist zu zeigen, dass Nietzsches Philosophie im Hinter-grund von Bachtins Konzeption der „ästhetischen Vollendung“ steht, die alsSynthese aller Aspekte seiner Forschungen gelten kann und Bachtin ermöglicht

9 Eine Ausnahme macht der obengenannte Aufsatz von N. T. Tamartschenko, in dem das Pro-blem im Zusammenhang mit der Frage nach der Katharsis im Roman und in der Tragödie be-sprochen wird (Tamartschenko: Problema „roman i tragedia“, a.a.O., S. 123).

10 Wie die jüngsten Untersuchungen gezeigt haben, ist die Frage nach Bachtins Autorschaft dieserTexte positiv zu entscheiden. Vgl. Bachtin, Michail M. (pod maskoj) (unter Maske): Frejdism.Formal’nyj metod v literaturovedenii. Marksizm i filosofija jazyka. Statji. (Freudismus. FormaleMethode in der Literaturwissenschaft. Marxismus und Sprachphilosophie. Aufsätze.) Moskva2000, mit dem „Kommentar“ von V. L. Machlin (S. 590–601) und der textologischen Untersu-chung von I. V. Pashkov („Delu“ – venets, ili jeschio raz ob avtorstve M. Bachtina v „spornychtekstah“ („Ende – gut, oder noch mal über M. Bachtins Autorschaft der „Streittexte“; ebd.,S. 602–625).

11 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 186.

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hat, seine historische Typologie der künstlerischen Formen und ihrer Entwick-lung zu schaffen. Dabei ist wichtig zu sehen, dass die Nietzsche-AuslegungBachtins von Anfang an in engem Zusammenhang mit seiner Auseinanderset-zung mit der Nietzsche-Rezeption des russischen Symbolismus und der futuris-tischen und formalistischen Konzeptionen des poetischen Wortes steht. Dermächtige Einfluß Nietzsches auf die russische Kultur, der sich u.a. in verschie-denen poetischen Theorien zeigt, und seine eigene Distanzierung von traditio-nellen Auslegungen werden zu entscheidenden Faktoren der Entwicklung fürBachtins philosophische Ästhetik.

Als Ausgangspunkt des Vergleichs zwischen Nietzsches und Bachtins Kon-zeptionen dienen meistens zwei grundlegende Ideen des russischen Literaturwis-senschaftlers, die eindeutig auf Nietzsche verweisen, nämlich: die Konzeptionder Herkunft und des Wesens des Romans und die Konzeption des Unterschei-dungsprinzips der Kunstgattungen als monologischer und nichtmonologischer.Beide haben ihre unmittelbare Quelle in Nietzsches Werken.

In der Geburt der Tragödie beschreibt Nietzsche die literarischen Genres, diedie griechische Tragödie als Hauptgenre abgelöst haben:

Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf das-selbe wiederum in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der,durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung,Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch dasstrenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat; auf wel-chem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grösstenBuntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen undmetrischen Formen, auch das literarische Bild des „rasenden Sokrates“, den sie imLeben dazustellen pflegten, erreicht haben. Der platonische Dialog war gleichsam derKahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie samt allen ihren Kindern ret-tete …“ (GT 14, KSA 1, S. 89).

Es geht hier, neben dem platonischen Dialog, um ein besonderes Genre, dasvon den Kynikern geschaffen wurde und eine einzigartige Stilmischung dar-stellte – um „die satura Menippea“.12 Dann fährt Nietzsche fort, die Entwick-lung der künstlerischen Formen zu beschreiben, die aus der Auflösung der grie-chischen Tragödie stammen:

Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform ge-geben, das Vorbild des Roman’s : der als die unendlich gesteigerte aesopische Fabelzu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischenPhilosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theolo-gie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unterdem Drucke des dämonischen Sokrates drängte“ (GT 14, KSA 1, S. 90).

12 In Götzen-Dämmerung nennt Nietzsche dieses Genre direkt mit seinem Name (GD, Was ich denAlten verdanke 2, KSA 6, S. 155).

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Der Roman stellt also eine Etappe in der Entwicklung der Literatur dar, dieeiner dialektischen Etappe in der Entwicklung der Erkenntnis entspricht.

Bachtin stützt sich in seinen Untersuchungen der Entstehung und Entwick-lung des Romans unmittelbar auf Nietzsches Konzeption.13 Er folgt Nietzschevor allem darin, dass die Quelle des Romans in der Mischung aller Literaturgat-tungen und Stile liegt. Er nennt den Roman das Antigenre, dessen Wesen immerantikanonisch war. Der Roman war und ist immer zu Veränderlichkeit, Variabi-lität, Synthese und Vermischung aller vorhandenen Kunstformen geneigt. SeinAufkommen hat dann alle anderen Genres beeinflußt, ihre Grenzen verschobenund zersetzt.14 Als Quelle des Romans bezeichnet Bachtin wie Nietzsche dieäsopische Fabel, die menippeische Satire und den sokratischen Dialog.15 DerRoman, sagt er, wird zum Hauptgenre, wie Erkenntnistheorie zur Hauptdisziplinder Philosophie geworden ist.16 Hier sieht man die tiefe Verwandtschaft mitNietzsche: der Roman ist bei Bachtin als künstlerische Analogie der begriff-lichen Denkweise und des „mit dem Erkennen und Empfinden verbundenenHochmuthes“ (WL 1, KSA 1, S. 876) in der Wissenschaft zu betrachten.

Auch die zweite Übereinstimmung liegt auf der Hand. In der Fröhlichen Wis-

senschaft schlägt Nietzsche folgende Klassifikation der Kunstwerke vor:

Wie man zuers t be i Kunstwerken zu untersche iden hat . – Alles, was ge-dacht, gedichtet, gemalt und componiert, selbst gebaut und gebildet wird, gehört ent-weder zur monologischen Kunst oder zur Kunst vor Zeugen. Unter letztere ist auchnoch jene scheinbare Monolog-Kunst einzurechnen, welche den Glauben an Gottin sich schliesst, die ganze Lyrik des Gebets: denn für einen Frommen giebt esnoch keine Einsamkeit, – diese Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ichkenne keinen tieferen Unterschied der gesamten Optik eines Künstlers als diesen: ober vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach „sich“ –)hinblickt oder aber „die Welt vergessen hat“: wie es das Wesentliche jeder monologi-schen Kunst ist – sie ruht auf dem Vergessen, sie ist die Musik des Vergessens(FW 367, KSA 3, S. 616).

13 Siehe z.B. die Einleitung von S. G. Bocharov, die den Anmerkungen zu „Probleme der PoetikDostojewskijs“ vorausgeht: Kommentarii. In: Bachtin, Michail M.: Sobranije sotschinenij v 7 to-mach. (Gesammelte Werke in 7 Bänden.) Bd. 2. Moskva 2000. S. 438–440, und Günter: M. Bach-tin i „Rozhdenije tragedii“ F. Nietzsche, a.a.O., S. 27.

14 Vgl. Bachtin, Michail M.: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Bach-tin, Michail M.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hg. von EdwardKowalski und Michael Wegner. Berlin, Weimar 1986. S. 465–506 (Bachtin, Michail M.: Epos i ro-man. In: Bachtin, Michail M.: Voprosy literatury i estetiki. Moskva 1975. S. 447–483).

15 Vgl. Bachtin, Michail M.: Iz predystorii romannogo slova. (Aus der Vorgeschichte des Roman-worts). In: Bachtin, Michail M.: Voprosy literatury i estetiki, a.a.O., S. 408–446, und Bachtin,Michail M.: Problemy poetiki Dostojewskogo. Moskva 1963 (Der Kapitel „Zhanrovyje i suzhet-no-kompositsionnyje osobennosti proizvedenij Dostojewskogo“ [„Genre-, Sujet- und Kompo-sitionszüge Dostojewskijs Werke“]. S. 110–209).

16 Bachtin, Michail M.: Epos i roman, a.a.O., S. 459.

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Zusammen mit dem Ausschnitt aus der Geburt der Tragödie ist dieser Apho-rismus – darin stimmt die Forschung überein – ein schlagender Beweisfür Nietzsches Einfluß auf Bachtins Ideen und seine Terminologie. Es bleibtjedoch die Streitfrage, ob „nichtmonologische“ oder „dialogische“ Kunst beiBachtin und „die Kunst vor Zeugen“ bei Nietzsche dieselbe Bedeutung ha-ben.17 Um die Frage zu beantworten, ist es notwendig, soweit es im Rahmeneines Aufsatzes möglich ist, die beiden Konzeptionen in ihrer Ganzheit zu be-rücksichtigen.

1. „Der Geist der Musik“ und „die Herrschaft des Theaters“ bei Nietzsche

Es war Nietzsches bekannte Hauptthese in der Geburt der Tragödie, dass die„Fortentwickelung der Kunst“ „an die Duplicität des Apollinischen und desDionysischen gebunden ist“ – an ihren „fortwährenden Kampf und nur peri-odisch eintretende Versöhnung“ (GT 1, KSA 1, S. 25). Durch diese Versöhnunghabe die Kunst ihre höchste Blüte erreicht. Die Verderbnis sei in die Kunstdurch die Kraft der Ratio gekommen, die neue „Gottheit“, nämlich durch So-krates, der bei Nietzsche als Doppelgänger von Euripides auftritt. Ein analogerProzeß entfaltet sich in der Sprache, wie Nietzsche in der im gleichen Zeitraumwie Die Geburt der Tragödie geschriebenen Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im

außermoralischen Sinne zeigt.18 Durch die Umgestaltung von Nervenreizen in Me-taphern retten die Kräfte der apollinischen Individuation das „Bewusstseinszim-mer“ vor dem dionysischen Abgrund. Die dionysisch-apollinische Bildlichkeitder Sprache wird aber ihrerseits bedroht, wenn der Prozeß der Begriffsbildungins Spiel kommt. Der Begriffsraster zerschneidet „den Himmel durch starre ma-thematische Linien“ und überlagert jene spontanen Metaphern und die Indivi-dualität der Sprachbilder. Damit kündigt sich die Ankunft des „theoretischenMenschen“ an, der einen Sieg über den „intuitiven Menschen“ (WL 2, KSA 1,

17 Rainer Grübel ist der Meinung, dass der Unterschied zwischen Nietzsches und Bachtins„monologischer Kunst“ darin besteht, dass Nietzsche sie als positiv und Bachtin sie als negativbetrachtet (Grübel: Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin, a.a.O., S. 50). Mattias Freisesieht eine grundlegende Bedeutungsverschiedenheit der Begriffe bei beiden Denkern (Freise:Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur, a.a.O., S. 52).

18 Ich kann hier nicht E. Behler zustimmen, der „eine scharfe Trennung zwischen dem Nietzscheder Geburt der Tragödie und dem Autor von ,Wahrheit und Lüge‘“ sieht (Behler, Ernst:Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche. In: Borsche, Tilman/Gerratana Federico/Venturelli,Aldo (Hg.): „Centauren-Geburten“. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietz-sche. Berlin, New York 1994. S. 99–111, S. 108). Der Prozeß der Metaphern- und Begriffsbil-dung in Über Wahrheit und Lüge folgt denselben Etappen wie die dionysische und die sokratischeKunst.

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S. 889) erringt.19 Die platonische Idee und der sokratische Dialog in der Geburt

der Tragödie korrespondiert mit dem zum Begriff gewordenen Wort in Über Wahr-

heit und Lüge. Der sokratische Dialog, die einzigartige hybride Kunstform Pla-tons, ist die rationale Kunst par excellence. Die nachfolgende Geschichte dereuropäischen Kunst wird im wesentlichen eine Geschichte des Niedergangs, derEntfremdung von ihren dionysisch-apollinischen Urquellen sein. Um so mehrredet Nietzsche in der Geburt der Tragödie von seiner Hoffnung auf eine künftigeRückkehr, eine Wiedergeburt der Tragödie, der Rückkehr des „intuitiven Men-schen“ und der dionysisch-apollinischen Kräfte der Kunst.

Gleichwohl findet sich schon in Über Wahrheit und Lüge eine Beschreibung derSprache der Kunst, die einen Mißklang in die scheinbare Abfolge „Blütezeit –Untergang – Renaissance“ bringt:

Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den mankeinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrech-nen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen,eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheitnicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkensund ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst. Fort-während verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch, dass er neue Ue-bertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde,die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmässig folgenlos unzu-sammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traumes ist(WL 2, KSA 1, S. 887).

Danach haben die Sprache der Kunst und die Begriffsprache nicht nur diesel-ben Quellen, sondern können ohne einander nicht existieren. Die Kunst selberinitiiert den Bildungsprozeß der begrifflichen Sprache, die von der Kunst aberauch wieder umgestaltet wird. So läßt sich der Unterschied zwischen der intuiti-ven Bildlichkeit der Sprache und ihrer Rationalisierung nicht auf eine zeitlichePerspektive reduzieren. Die Sprache der Kunst geht der Sprache der Wissen-schaft nicht voraus, sie entwickeln sich nebeneinander und greifen ineinander:

Es giebt Zeitalter in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch neben-einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über dieAbstraction; der letztere ebenso unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist. Beidebegehren über das Leben zu herrschen […] (WL 2, KSA 1, S. 889).

Nietzsches Schluß daraus ist ein „ewiger Kampf zwischen der theoret i -schen und der t rag ischen Wel tbetrachtung“ (GT 17, KSA 1, S. 111), zwei

19 Die ausführliche Analyse dieses „für sich“ geschriebenen Werkes von Nietzsche (siehe: Nachlaß1884, KSA 11, 26[372], S. 249) würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Über NietzschesSprachkonzeption in Über Wahrheit und Lüge siehe: Hödl, Hans Gerald: Nietzsches frühe Sprach-kritik. Lektüren zu Nietzsches „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (1873).Wien 1997.

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Kräften, aus deren Auseinandersetzung die Sprache der Kunst erwächst. In der Ge-

burt der Tragödie ist dieser Gedanke zwar nicht völlig deutlich. Man sieht jedochauch hier, dass die Abgrenzung von aufeinanderfolgenden Etappen – der dionysi-schen, der dionysisch-apollinischen und der sokratischen – Nietzsche mißlungenist oder, was viel plausibler scheint, gar nicht seine Absicht war. Versucht man die Unter-scheidungen auf einen historischen Zeitpunkt oder auf einen konkreten Namen(z.B. eines griechischen Tragödiendichters) zu beziehen, stellt sich heraus, dass sienicht Etappen entsprechen können. Es gab niemals eine reine dionysische Kunst.Das Dionysische ist die Macht des „geheimnissvollen Ur- Einen“ (GT 1, KSA 1,S. 30), des Rausches, der Mysterien, des Traumes.20 Die „künstlerischen Mächte“lösen sich „ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers“ heraus (GT 2, KSA 1,S. 30). „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden“ (GT 1,KSA 1, S. 30) – so beschreibt Nietzsche die dionysische Quelle der Kunst. Strenggenommen kann man darum keine der Kunstgattungen mit der reinen dionysi-schen Kunst identifizieren. Zwar stellt Nietzsche den lyrischen Dichter dem epi-schen gegenüber. Der letztere ist Plastiker, Diener Apollos. Aber der Lyriker in sei-ner „dionysisch-musikalischen Verzauberung sprüht jetzt gleichsam Bilderfunkenum sich“, wenn Apollo „ihn mit dem Lorbeer berührt“ (GT 5, KSA 1, S. 44), folg-lich ist er auch apollinischer Künstler. Ähnliches gilt für Volkslieder und die Musik.Das Dionysische bleibt stets „perpetuum vestigium“ der Melodie, „Untergrundund Voraussetzung des Volksliedes“ (GT 6, KSA 1, S. 48). Deswegen ist die Tra-gödie auch nicht aus der Musik als solcher, sondern aus dem „Geiste der Musik“,dem nicht eigentlich Erfaßbaren in ihr, geboren. Das Umgekehrte gilt von der rei-nen apollinischen Kunst. Nietzsche sagt von Euripides: „Und weil Du Dionysusverlassen, so verliess dich auch Apollo“ (GT 10, KSA 1, S. 75); und „Und siehe!Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben“ (GT 4, KSA 1, S. 40). Dasselbe kannvon der reinen dionysisch-apollinischen Kunst behauptet werden. Damit wirdaber auch so etwas wie eine Blütezeit der dionysisch-apollinischen Kunst – die at-tische Tragödie – in Frage gestellt. Nicht nur gibt es keine dionysische Kunst freivon apollinischer Bildlichkeit, es gibt auch keine reine dionysisch-apollinischeKunst frei vom ästhetischen Sokratismus. Da dies wohl weniger selbstverständlichist, muss ich etwas ausführlicher darauf eingehen.

Die reine unverdorbene attische Tragödie ist bei Nietzsche mit zwei Namenverbunden – denen von Äschylus und Sophokles. Bei Sophokles gibt es aller-dings schon Zweifel. Nietzsche schreibt:

20 Vgl. dazu: Thorgeirsdottir, Sigridur: Vis Creativa. Kunst und Wahrheit in der Philosophie Nietz-sches. Würzburg 1996. S. 55–61 und 65–74. Die Verfasserin zeigt, dass der dionysische Rauschnicht nur die Urform des Künstlerischen ist, bzw. „sich nicht nur auf den schöpferischen Akt be-schränkt“, sondern sich auch in Kunstrezeption verwirklichen muss, wie es mit der griechischenTragödie der Fall war (S. 55). Dann ist das Dionysische auch keine Etappe der Entwicklung.

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Schon bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in betreff des Chors – ein wichtigesZeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln be-ginnt (GT 14, KSA 1, S. 91).

Sophokles macht „den ersten Schritt zur Vernichtung des Chors“, woraufEuripides’ Ankunft „mit erschreckender Schnelligkeit“ folgt (GT 14, KSA 1,S. 95). Nicht nur Euripides, sondern auch schon Sophokles hat durch die psy-chologische Charakterdarstellung „den Mythus ins Joch“ gespannt und rationa-lisiert (GT 17, KSA 1, S. 113). Folglich gilt nur der Name von Äschylus als echtesSymbol der dionysisch-apollinischen Tragödie. Aber auch Äschylus, der denzweiten Schauspieler und den Dialog einführte und den Choranteil beschränkte,kann nicht als rein dionysisch-apollinischer Künstler gelten. Bei seiner Untersu-chung des Phänomen des Chors spricht Nietzsche von der „Urtragödie“, der„Selbstspiegelung des dionysischen Menschen“, in welcher der Chor „auf seinerprimitiven Stufe“ zur „Vision der dionysischen Masse“ wurde und der Zu-schauer „sich selbst Choreut wähnen“ musste (GT 8, KSA 1, S. 59).

Nachdem er A. W. Schlegels These über den Chor als einem „idealischen Zu-schauer“ mit der Begründung abgelehnt hat, dass der Zuschauer die Aufführungästhetisch wahrnehmen, d.h. eine ästhetische Grenze zwischen der „Bühne“ undsich selbst erschaffen muss und „die Welt der Scene“ nicht „leibhaft empirischauf sich wirken lassen“ darf (GT 7, KSA 1, S. 53), kommt Nietzsche nur einigeSeiten später auf Schlegels These zurück: „Das Schlegel’sche Wort muss sich hierin einem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der „idealische Zuschauer“,insofern er der einzige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Scene“(GT 8, KSA 1, S. 59). Das bedeutet, dass er im Widerspruch zur früheren Be-hauptung den Zuschauer als solchen, d.h. den unbeteiligten Zeugen, der von derOrchestra getrennt wurde, in der „Urtragödie“ überhaupt leugnet. Er ist dortnoch mit dem Schauspieler identisch, der „sich zum Satyr verzaubert“ sieht. Dasheißt, die „Visionen“ des Chors sind noch nicht zum ästhetischen Phänomen ge-worden und die Grenze zwischen den Zuschauern und Schauspielern wurde noch

nicht gezogen. Ein Widerspruch zwischen den beiden Stellen21 entsteht jedochnicht, wenn man voraussetzt, dass Nietzsche verschiedene Objekte meint: imersten Fall geht es um die Tragödie von Äschylus, im zweiten aber um die idealeUrtragödie, eine „künstlerische Urerscheinung“ (GT 8, KSA 1, S. 60), der die

21 Auf diesen scheinbaren Widerpruch hat U. von Wilamowitz-Möllendorf sarkastisch hingewie-sen: „Dass es im Grund einerlei sei, ob man im Chor den idealisierten Zuschauer, oder ,zwischenpublicum und Chor eigentlich keinen Unterschied‘ sieht, dämmert hrn. Nietzsche sacht auf: unddoch, wie herb wird A. W. Schlegel gescholten …“ (Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von: Zu-kunftsphilologie! … Eine Erwiderung auf Friedrich Nietzsches (ord. Professors der classischenPhilologie zu Basel) „Geburt der Tragödie“. In: Gründer, Karlfried (Hg.): Der Streit um Nietz-sches „Geburt der Tragödie“. Hildesheim, Zürich, New York 1989. S. 46). Nietzsche hat denscheinbaren Widerspruch stehengelassen. Es ging ihm also offensichtlich um etwas anderes.

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Aufführung von „Prometheus“ nie entsprechen könnte, da die letztere, nachNietzsches eigenem Ausdruck, „ästhetisch“, nicht aber „leibhaft empirisch“ wir-ken muss. Das bedeutet dann aber, dass auch schon bei Äschylus die Quelle derVerderbnis zu finden ist, durch welche die Tragödie zugrunde geht. Der „fre-velnde Euripides“ war dann nicht der „Mörder“ der Tragödie, sondern nur einer,der „diesen Sterbenden noch einmal zu seinem Frondienste zu zwingen suchte“(GT 10, KSA 1, S. 74). Und die entsprechende Frage stellt Nietzsche auch fürSokrates:

Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz an-zunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt: so müssenwir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie diedes Sokrates deute: die wir doch nicht imstande sind, angesichts der platonischen Dia-loge, als eine nur auflösende negative Macht zu begreifen […] so zwingt uns einetiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen demSokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss besteheund ob die Geburt eines „künstlerischen Sokrates“ überhaupt etwas in sich Wider-spruchsvolles sei (GT 14, KSA 1, S. 95f.).

Aus all dem ergibt sich, dass es sich nicht um eine zeitliche Reihenfolge, nichtum die Geschichte schlechthin, nicht um Verfall und Wiederaufleben oder um„Verderbnis“ in der Kunst handeln kann, sondern um den „ewigen Kampf“ zwi-schen zwei Kräften – den intuitiven und den sokratischen Trieben der Kunst, diebeide notwendig sind. Das Kunstphänomen kann niemals auf nur eine dieserTendenzen reduziert werden. Das Wesen des Ästhetischen ist ewige Spaltung,ewiger Kampf der feindlichen Kräfte, der „intuitiven“ und der „theoretischen“,die immer noch ineinander umschlagen können. Der „Instinct der Wissen-schaft“ „führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie inKunst umschlagen muss: auf welche es e igent l ich , be i d iesem Mecha-nismus, abgesehn i s t“ (GT 15, KSA 1, S. 99). In seinem späteren „Versucheiner Selbstkritik“ schrieb Nietzsche, dass seine Aufgabe in erster Linie darin be-stand, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aberunter der des Lebens“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 2, KSA 1, S. 14), also lo-gische, nicht zeitliche Verbindungen der beschriebenen Erscheinungen zu unter-suchen. Das ist die genealogische Methode, die in Nietzsches Philosophie der Kunstaufkommt – die Gegensätze als kämpfende Alternativen zu betrachten.22

„Die Musik des Vergessens“, von der in der Fröhlichen Wissenschaft (FW 367,KSA 3, S. 616) die Rede ist, scheint ein anderer Name für die dionysische Kunstder Geburt der Tragödie zu sein. Sie hat nach Nietzsches Logik nie anders existierenkönnen denn als Urphänomen der Kunst. Dasselbe gilt für die dionysische Kraft

22 Über Nietzsches genealogische Methode siehe: Stegmaier, Werner: Nietzsches „Genealogie derMoral“. Darmstadt 1994. S. 60–64.

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der Urmetapher, die mit keiner Etappe der Entwicklung der Sprache identifiziertwerden kann und nur als Urgrund denkbar ist. Eine notwendige Voraussetzungder Kunst ist jedoch auch Objektivität: „Den subjektiven Künstler“, sagt Nietz-sche in der Geburt der Tragödie, „kennen wir nur als schlechten Künstler“, und wirkönnen „ohne Objectivität, ohne reines interessenloses Anschauen nie an diegeringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben“ (GT 5, KSA 1, S. 43). Je-der Künstler ist, so Nietzsche, „dem unheimlichen Bild des Märchens gleich, dasdie Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject undObject, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer“ (GT 5, KSA 1, S. 48).Daher muss jedes Kunstwerk seinem innersten Wesen nach Kunst „vor Zeugen“sein, und die monologische „Musik des Vergessens“ ist nur als ideale Urquelleund „Urerscheinung“ der Kunst denkbar.

In der Fröhlichen Wissenschaft wird also deutlich gemacht (und die Enttäu-schung über Wagner war möglicherweise der Grund dafür), was schon der Geburt

der Tragödie zu entnehmen war, nämlich dass die Trennung der „Bühne“ vomZuschauer, des Darstellenden vom Dargestellten, des Subjekts vom Objekt dieQuelle des „Verderbens“ in der Kunst ist. Aber gerade in dieser Trennung hatdie Kunst nach dem frühen Nietzsche ihren Ursprung, gerade dadurch ist dieKunst zur Kunst geworden. Sie hat das letztlich „dem Schauspieler“ zu verdan-ken, der bei Nietzsche später „zum Verführer der Echten wird“ (WA, TurinerBrief vom Mai 1888 12, KSA 6, S. 39).

Die Klassifikation der Kunst in der Fröhlichen Wissenschaft bezeichnet alsMerkmal der monologischen Kunst die ungeteilte Perspektive von „innen“ und„außen“. Die Trennung zwischen ihnen ist aber, laut Nietzsche, zum Anfang derKunst geworden, als der Mythos und die attische Tragödie ins Leben gerufenwurden. Der „Geist der Musik“ und die „Musik des Vergessens“ können nurKunst vor der Kunst sein. Die andere Gattung der Kunst ist, im Gegensatz dazu,als „Vorstellung“, als Kunst „vor Zeugen“ gekennzeichnet. Hier ist in erster Li-nie die theatralische Kunst gemeint, wie der folgende Aphorismus zeigt: „Manerräth, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, – aber Wagner war umgekehrtwesentlich Theatermensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, denes gegeben hat, auch noch als Musiker! …“ Für seine Kunst ist „die Attitüde“der Zweck und die Musik nur ein „Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung,Verinnerlichung der dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit“(FW 368, KSA 3, S. 617).

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es auch in Über Wahrheit

und Lüge um das Theatralische geht. „Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltungdes Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung“. Seine Wirkungrealisiert sich nach Nietzsche immer als „die Täuschung, das Schmeicheln,Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das imerborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Büh-

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nenspiel vor Anderen und vor sich selbst“ (WL 1, KSA 1, S. 876). Hier unter-scheidet Nietzsche im Theatralischen zwei Typen. Die Täuschung, die Vorstel-lung und Verstellung, die zur Erhaltung des Individuums dient, ist die Oberflä-che. Für intuitive Menschen ist die Welt darum „die Maskerade der Götter“,„die sich nur einen Scherz daraus machten, in allen Gestalten den Menschen zutäuschen“ (WL 2, KSA 1, S. 888). Auf die Täuschung wird aber auch die Welt derWissenschaft aufgebaut. Der „theoretische Mensch trägt kein zuckendes und be-wegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigemGleichmasse der Züge“, die Maske eines Stoikers (WL 2, KSA 1, S. 890). BeideArten des Schauspielerisch-Theatralischen, „die Maskerade der Götter“ in derKunst und die unbewegliche Maske des „theoretischen Menschen“, überwindendie dionysische Naturkraft, binden „den Geist der Musik“ und retten dadurchden Intellekt vom Abgrund der Ur-Einen. Das ganze Gebäude der mensch-lichen Kultur ist so auch hiernach auf deren dauernder Auseinandersetzung ge-baut. Beide Arten des Schauspielerisch-Theatralischen bedeuten eine antimonolo-

gische Tendenz, in der die Kunst zur Vorstellung „vor Zeugen“ wird. Das Prinzipdes Theatralischen ist also im Grund in jeder nichtmonologischen Kunst zu fin-den, die auf sich selbst zurückgewandt ist und des Zuschauers bedarf.23

Indem Nietzsche über die Herkunft und Entwicklung der Kunst spricht,hebt er so schon in der Geburt der Tragödie und deutlicher noch in Über Wahrheit

und Lüge und später in der Fröhlichen Wissenschaft und in Der Fall Wagner die histo-rische Perspektive zugleich auf. Die Dualität des Dionysischen und Apollini-schen, des Dionysisch-Apollinischen und Sokratischen erscheinen in jederKunst.24 Das Theatralische in seinen zwei Varianten bedroht von Anfang an dendionysischen Urgrund der Kunst, der es zugleich ermöglicht. Sogar die kurzeBlüte der attischen Tragödie ist von der theatralischen „Verderbnis“ der Subjekt-Objekt-Zerrissenheit berührt; so kann sie nicht als reine dionysisch-apollinischeKunst gelten. „Die monologische Kunst“, „die Musik des Vergessens“ als un-trennbare Einheit von Subjekt und Objekt, Darstellendem und Dargestelltem,kann mit keiner realen historischen Etappe und keinem Kunstwerk identifiziertwerden, ist aber die ideale Urquelle der Kunst.

23 Deswegen muss Nietzsches späteres antitheatralisches Pathos aus dieser Perspektive der unver-meidlichen „Krankheit“ der Kunst umgedacht werden. Der Werdensprozeß der Kunst führt zur„Herrschaft des Theaters“. Vgl. T. Meyers Behauptung („Im Grunde ist Nietzsche theaterfeind-lich“) sowie seine Deutung der „monologischen Kunst“ und „Einsamkeit“ der Fröhlichen Wissen-schaft (Meyer, Theo: Nietzsche und die Kunst. Tübingen 1993. S. 138 und S. 145–151).

24 Vgl. dazu: Porter, James I.: The Invention of Dionysos. An Essay on The Birth of Tragedy. Stan-ford 2000.

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2. Das „fremde“ Wort in Poesie und Prosa bei Bachtin

2.1. „Die Geschichte der Wahrheit“und die Aufgaben der Literaturwissenschaft

Zu Beginn seines Werks Die formale Methode in der Literaturwissenschaft definiertBachtin Literaturwissenschaft als „Wissenschaft der Ideologien.“25 Eine Erklä-rung dafür ist in Marxismus und Sprachphilosophie zu finden:

Man kann das Werden des Sinns, d.h. die Geschichte der Ideologie im genauen Sinndes Wortes, die Geschichte der Erkenntnis als Werdensgeschichte der Wahrheit unter-suchen (da die Wahrheit nur als ewiges Werden der Wahrheit ewig ist), die Geschichteder Literatur – als das Werden der künstlerischen Wahrheit. Das ist der eine Weg. In en-gem Zusammenhang, in stetiger Kooperation mit ihm verläuft der andere Weg – dasWerden der Sprache schlechthin als des ideologischen Stoffes, als des Milieus ideologischer Refraktiondes Seins zu untersuchen, da die ideologische Widerspiegelung der Refraktion des Seinsim menschlichen Bewußtsein sich nur im Wort und durchs Wort vollzieht […]. Mankann nicht das Werden des Wortes erforschen, ohne das Werden der Wahrheit und derkünstlerischen Wahrheit im Wort zu beachten, sowie die menschliche Gesellschaft,für die diese Wahrheit da ist […]. Es gibt aber noch einen Weg: die Widerspiegelungdes sozialen Werdens des Wortes im Wort, und dieser Weg hat zwei Verzweigungen: dieGeschichte der Philosophie des Wortes und die Geschichte des Wortes im Wort. In dieser letztenRichtung bewegt sich unsere Forschung […]. Die Geschichte der Wahrheit, dieGeschichte der künstlerischen Wahrheit und die Geschichte der Sprache können vieldavon gewinnen, dass man die Refraktion ihres Hauptphänomens – die konkrete Äu-ßerung – in den Konstruktionen der Sprache untersucht.26

Diese Passage ist für unser Problem von grundsätzlicher Bedeutung. DieVorstellung von der Wahrheit als Werdensprozeß muss, laut Bachtin, „im engenZusammenhang, in stetiger Kooperation“ mit der Erforschung der „künstleri-schen Wahrheit“ und ihrem Werdensprozeß verlaufen. Beide Wege gehören zu-sammen. Der Ausdruck „Werdensgeschichte der Wahrheit“, das „ewige Wer-den“ der Wahrheit, verweist sichtlich auf die Genealogie der Moral als Quelle, in derdie Hauptbegriffe der Moral – und unter ihnen der Begriff der Wahrheit – einerGenealogie unterworfen werden. Der Wortgebrauch wird auch bei Nietzschezum Material der Geschichte der Erkenntnis und der Werte. Am Ende des erstenTeils der Genealogie der Moral fragt er: „Welche Fingerzeige giebt die Sprachwis-senschaft, insbesondere die etymologische Forschung, für die Entwicklungs-geschichte der moralischen Begriffe ab?“ (GM I, 17, KSA 5, S. 289) und läßtdann die Wahrheit aus ihrem Gegensatz, d.h. aus dem Irrtum, hervorgehen. Wo

25 Medvedev, P. N.: Formal’nyj metod v literaturovedenii (Die formale Methode in der Literatur-wissenschaft). In: Bachtin (pod maskoj): Frejdism, a.a.O., S. 186.

26 Voloshinov, V. N.: Marksizm i filosofija jazyka (Marxismus und Sprachphilosophie). In: Bachtin(pod maskoj): Frejdism, a.a.O., S. 484–485.

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für Bachtin die Sprachentwicklung und ihre Widerspiegelung in der konkretenÄußerung zur Erforschung der künstlerischen Wahrheit gehört, sieht Nietzschein etymologischen Untersuchungen einen Ansatz für eine Genealogie der Mo-ralbegriffe. Nietzsche ist also den ersten der von Bachtin beschriebenen Wegegegangen, indem er sich mit der Geschichte des Sinns, der ,Ideologie‘ und derErkenntnis beschäftigte, wohingegen Bachtin nun den andern Weg wählt, deraber auch zur Wahrheitsgeschichte führt: „die Geschichte des Worts im Wort“,„das Werden des Sinns“ in der „konkreten Äußerung“ zu untersuchen.

„Die konkrete Äußerung“ wird bei Bachtin im weiteren Sinne des Wortesverstanden: als jede wertbehaftete Aussage „in der Abfolge der sprachlichenKommunikation“.27 Die schöngeistige Literatur erwächst aus der Zweistimmig-keit der Äußerung. Die letztere wird nur dann zum „Ereignis des Textes“, wennsie „auf der Grenze zwischen zwei Bewußtseinen, zwei Subjekten“ aufgebautist.28 „Jede wahrlich schöpferische Stimme muss immer die zweite Stimme sein[…]. Der Verfasser ist jemand, der Begabung für indirektes Sprechen zeigt“.29

Aus dem „Gefühl des Eigenen und des Fremden im Wort“ „wird die spätereGeburt des Autorbewußtseins geschehen“,30 d.h. der Literatur. Eine künstleri-sche Äußerung, ein literarischer Text ist immer nur als Teil eines Kontextes, alsAntwort und Reaktion möglich und darum nie völlig offenbar. Sie hat keinenendgültigen, einzigen Sinn, da es „keinen potentiellen einzigen Text der Textegibt“. Im Gegensatz zu den Formalisten, die nach einer einheitlichen „potentiel-len Sprache der Sprachen“ forschen, schlägt Bachtin ein ganz anderes Objektder Forschung vor – „das einmalige Ereignis des Textes“.31

2.2. Das Problem des „fremden“ Wortes

Die Spracherfahrung ist, so Bachtin, im Grunde genommen die Erfahrungder Erschließung der „fremden“ Wörter, die „mehr oder weniger fremd, mehroder weniger erschlossen, mehr oder weniger bewußt und als „fremde“ mar-kiert“ sind.32 Durch die Problematisierung und Hierarchisierung des „fremden“Wortes entsteht die schöne Literatur. Das Problem des „fremden“ Wortes istalso das Problem der Quelle des literarischen Schaffens. Hier ist wiederum be-

27 Bachtin, Michail M.: Problema retschevych zhanrov. (Das Problem der Redegenres). In: Bachtin,Michail M.: Sobranije sotschinenij v 7 tomach. (Gesammelte Werke in 7 Bänden.) Bd. 5. Moskva1996. S. 206.

28 Bachtin, Michail M.: Problema teksta. (Das Problem des Textes). In: Bachtin: Sobranije sotschi-nenij v 7 tomach, a.a.O., S. 310.

29 Ebd., S. 314.30 Ebd., S. 322.31 Ebd., S. 310.32 Bachtin: Problema retschevych zhanrov, a.a.O., S. 193.

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merkenswert, dass Bachtin, indem er diese Quelle der Literatur erforscht, auf dieErfahrung der Priester des Altertums und ihre Rolle für die Bildung der Kulturhinweist, wie frühere russische Symbolisten, die sich unmittelbar auf Nietzschestützten.33 „Obwohl die kultur-historischen Gestalten von Sprachkundigen sehrunterschiedlich aussehen, vom Hindupriester bis zum modernen Sprachwissen-schaftler, ist der Philologe immer und überall ein Enträtsler von ,fremden‘Schriftzeichen und Wörtern, und ein Überbringer des Erratenen oder des vonder Tradition Überlieferten“. „Die ersten Philologen und die ersten Sprachwis-senschaftler waren immer und überall Priester. Das Geheimnis der heiligenWorte zu erraten war die Aufgabe der Priester-Philologen“.34 Da, wo „das Phi-losophem eines fremden Wortes“, „und zwar eines hierarchisch fremden“, auf-kommt, sieht man „die Geburt des Wortes“, und hier, sagt Bachtin zum Schluß,„incipit philosophia, incipit philologia“.35 Die letzten Worte variieren das Endedes IV. Buches der Fröhlichen Wissenschaft: „Incipit tragoedia“ (FW 342, KSA 3,S. 571). Denselben Ausdruck benutzt der russische Symbolist und PhilosophVjacheslav Ivanov, wo er über Nietzsche spricht.36 Bachtin weist also, wenn auchindirekt, auf Nietzsche hin, um das Phänomen des hierarchisch-fremden Worteszu erklären, mit dem „die Philologie und die Philosophie beginnen“.

Aber wahrscheinlich ist für Bachtin noch ein anderer Aspekt wichtig, derebenfalls von Nietzsche kommt. Beim Erforschen fremder Sprachen stellt sichdie moderne Philologie, so Bachtin, auf die Untersuchung der „toten-schrift-lichen-fremden Sprache“37 ein. Aber aufgrund dieser „praktischen und theoreti-schen Einstellung auf die toten, fremden Sprachen, die in Schriftdenkmälern er-halten werden“, war, so Bachtin, die Untersuchung des Textereignisses nicht

33 Vgl. Zur Genealogie der Moral, wo Nietzsche zeigt, dass gerade die Priester die Wörter und dadurchWerturteile geschaffen haben. (GM I, KSA 5, S. 257–289). Andrej Belyj hat über sprachschöp-ferische Rolle der heidnischen Priester in seinem Werk Magie der Wörter geschrieben (Belyj,Andrej: Magija slov. In: Belyj, Andrej: Simvolizm kak miroponimanije. Moskva 1994. S. 132.)Auch für Vjacheslav Ivanov ist in der alten Priestersprache die Quelle des Symbolismus zu fin-den: „Der Symbolismus in der jüngsten Poesie scheint die erste und vage Erinnerung an die hei-lige Sprache der Priester und Hexenmeister zu sein, die den Wörtern der Volkssprache einmaldie besondere, geheimnisvolle Bedeutung gegeben haben […]. Sie kannten andere Namen vonGöttern und Dämonen, Menschen und Dingen, als die, mit denen sie das Volk genannt hat, undsie haben ihre Macht über die Natur durch diese Kenntnis erobert […]. So haben die ersten ,Hir-ten der Völker‘ die Rede beherrscht, die sie ,die Sprache der Götter‘ genannt haben … Das neueVerständnis der Poesie durch die alten Dichter selbst als ,Symbolismus‘ war die Erinnerungan die altertümliche ,Sprache der Götter‘“ (Ivanov, Vjatscheslav: Zavety simvolisma. (DieNachlässe des Symbolismus). In: Ivanov, Vjatscheslav: Rodnoje i vselenskoje. Moskva 1994.S. 183–184).

34 Voloshinov: Marksizm i filosofija jazyka, a.a.O., S. 409–410.35 Ebd., S. 410.36 Ivanov, Vjacheslav: Nietzsche i Dionis. (Nietzsche und Dionysos). In: Ivanov: Rodnoje i vse-

lenskoje, a.a.O., S. 27.37 Voloshinov: Marksizm i filosofija jazyka, a.a.O., S. 409.

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möglich, die sich auf andere Texte dialogisch bezieht und auf den Leser oder Zu-hörer gerichtet ist:

Diese philologische Einstellung hat größtenteils das ganze linguistische Denken dereuropäischen Welt bestimmt. An den Leichen der schriftlichen Sprachen hat diesesDenken sich gestaltet und ist es gereift […]. Das philologische Bedürfnis hat die Lin-guistik geboren, hat an ihrer Wiege gestanden und die philologische Hirtenflöte in ih-ren Schleiern gelassen. Diese Flöte muss die Toten auferwecken. Um die lebendigeRede in ihrem stetigen Werden zu beherrschen, fehlt es ihr aber an Lauten.38

Indem er diese durch die Erforschung der antiken Sprachen bedingte Situa-tion der Philologie beschreibt, die „von der Erscheinung des fremden und fremd-sprachigen Wortes bezaubert und versklavt ist“,39 schlägt Bachtin eine neue phi-lologische Einstellung zum Wort als lebendigem, d.h. immer werdendem undsich neuen Kontexten öffnendem Phänomen vor. Auch diese Einstellung hatsichtlich eine Quelle bei Nietzsche in seiner Kritik der modernen Philologie. Ob-wohl Nietzsche nur von der klassischen Philologie spricht (Bachtin dagegen vonder Philologie insgesamt), meint er dasselbe: „Flucht aus der Wirklichkeit zu denAlten: ob dadurch nicht die Auffassung des Alterthums gefälscht ist?“ (Nachlaß1875/1876, KSA 8, 3[16], S. 19) Diese Frage stellt Nietzsche auch in der Geburt der

Tragödie, indem er in den letzten Kapiteln von der Wiedergeburt der griechischenTragödie, von der neuen musikalischen Tragödie spricht, „die uns das Werden desWortes, von innen heraus, verdeutlichen“ kann (GT 21, KSA 1, S. 138). „DasWerden des Wortes“ muss also für Nietzsche, wie später für Bachtin (der Aus-druck ist derselbe), durch die Gegenüberstellung von Altem und Neuem erklärtwerden. Auch die Metapher der Flöte verweist indirekt auf Nietzsche.40

So scheinen die Konzeptionen des „fremden“ Wortes als Ursprung der schö-nen Literatur und die Idee der dialogischen Offenheit des Wortes bei Bachtin mitNietzsches Ideen aufs engste verbunden. Die versteckten Zitate und Hinweisezeigen, dass Bachtin, wie schon Nietzsche, danach sucht, wo „Philologie undPhilosophie beginnen“ und „das Werden des Sinnes“ seinen Ursprung nimmt.

2.3. Die Sprache der Poesie und die Sprache der Prosa

Seine Konzeption des „fremden“ Wortes als Anhaltspunkt der Literaturwis-senschaft hat Bachtin auch in seinen späteren Werken entwickelt, in denen erden vorgegebenen Weg beschreitet, „das Werden des Wortes im Wort“, „die Ge-schichte der Philosophie im Wort“ zu untersuchen. In Das Wort im Roman legt er

38 Ebd., S. 407.39 Ebd., S. 410.40 Zur Hirtenflöte bei Nietzsche vgl.: Za II, Das Kind mit dem Spiegel, KSA 4, S. 107.

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„Ästhetische Vollendung“ 221

seine Typologie der künstlerischen Formen vor, die nach dem Prinzip unter-schieden werden, inwieweit das „fremde“ Wort von ihnen erschlossen und ge-meistert wurde. Er setzt das poetische Wort dem prosaischen entgegen. „DerDichter läßt sich von der Idee einer einheitlichen und einzigen Sprache und einereinheitlichen, monologisch geschlossenen Äußerung bestimmen“. Er „muss dievolle Alleinherrschaft über seine Sprache antreten, muss für alle Momente aufdie gleiche Weise Verantwortung übernehmen, muss sie alle seinen und nur sei-nen Intentionen unterwerfen“.41

Das Verdrängen der fremden Intentionen und Akzente aus allen Sprachmomentenund das Auslöschen aller Spuren einer sozialen Rede- und Sprachvielfalt hat zurFolge, dass im poetischen Werk eine spannungsvolle Einheit der Sprache entsteht.42

Immer wenn die Redevielfalt ins poetische Werk kommt, kommt sie nicht als„eine andere Sprache – die ihre besonderen Standpunkte einbringt“, sondern als„das dargestellte Ding“, als Objekt der Darstellung hinein.43 Im Unterschied zurpoetischen Sprache ist die Sprache des Prosaisten nicht einheitlich, sondern vollfremder Intentionen und Stimmen, die er in sein Werk einbringt und „zwingt“,„einem zweiten Herrn zu dienen“.44 Die fremden Intentionen sind „nach größe-ren oder geringeren Entfernungsgraden vom Autor und dessen letzter sinnge-bender Instanz angeordnet“.45 Die Erschließungsweisen des „fremden“ Wortesunterscheiden sich in der Poesie und in der Prosa also grundsätzlich. Das zwei-

stimmige, doppelsinnige Wort ist zwar für die schöne Literatur grundlegend, gelangt aber nur

in der Prosa zur Redevielfalt, wo die Stimme des Autors alle andere „Stimmen“ nicht zu ab-

sorbieren und zur strikten Einheit zu bringen strebt.

Der Dichter spricht auch über das Fremde in seiner eigenen Sprache […]. Der Prosa-schriftsteller dagegen versucht, […], auch über das Eigene in der fremden Sprache zusprechen (z.B. in der nichtliterarischen Sprache eines Erzählers, der eine bestimmtesozial-ideologische Gruppe vertritt); seine eigene Welt mißt er oft mit fremdensprachlichen Maßstäben.46

In seinem frühen Werk Die formale Methode in der Literaturwissenschaft schreibtBachtin über die Übereinstimmung der Futuristen und Formalisten in ihremVerständnis des poetischen Wortes und setzt ihnen die Ästhetik des Symbolis-mus entgegen. Für die Futuristen wie auch für die Theoretiker des Formalismusexistiert das Wort nur als grammatisch-linguistische Einheit, als phonetische Ge-

41 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theoriedes Romans, a.a.O., S. 119f.

42 Ebd., S. 121.43 Ebd., S. 109.44 Ebd., S. 123.45 Ebd., S. 122.46 Ebd., S. 109.

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stalt der Dichtung. Das bedeutet die Vorherrschaft der Linguistik über die Poe-tik, des Lautes über den Sinn, der Hülle über den Wert.

Da, wo für den Symbolisten der Sinn, die Tat, die Schöpfung war, ist für den Futuris-ten nur das sinnentleerte Wort geblieben […]. Die Wörter sind für sie zu leicht gewor-den […]. Sie haben ihre Überfrachtung mit Werten verloren, die Distanz zwischen ih-nen wird herabgesetzt, ihre Hierarchie wird zerrüttet.47 – Tatsächlich wurde dieüberspannte Sprache nicht von denen gepredigt, die vom „Geist der Musik“ besessenwaren, nicht von den Dichtern, die von Rhythmus und Laut berauscht waren, wie Bal-mont, Blok, Brusow. Die Formalisten haben in dem phonetischen Laboratorium vonBoduen-de-Courtene und L. W. Schjerba den Laut zu schätzen gelernt. Diesen nüch-ternen Laut der experimentalen Phonetik haben sie dem sinnvollen Wort entgegen-gesetzt als überspannte Sprache der Poesie.48

Hier ist der Hinweis auf Nietzsche deutlich – er hilft, zwei Arten der Wort-ästhetik gegenüberzustellen. Der „Geist der Musik“ verweist auf die Überfrach-tung des Wortes mit „fremden“, ideologischen und wertbehafteten Intentionen,da nur im Symbolismus das Wort „die neue ideologische Spannung gewinnt“.49

Das empirisch „verdinglichte“ und konkretisierte Wort der Futuristen sollte alsBefreiung von der „Überfrachtung mit dem und der vollständigen Absorbierungdurch den hohen Sinn dienen, in dem das Wort bei den Symbolisten aufgegan-gen war“.50

Indem Bachtin in seinem Werk Das Wort im Roman die poetische und die pro-saische Sprache gegenüberstellt, führt er Symbolisten und Futuristen zusam-men, sofern sie nach „der einheitlichen und der einzigen poetischen Sprache“suchen, in der es keinen Platz für die Redevielfalt gibt. „Deswegen ist die Ideeder ,poetischen Sprache‘, ,der Sprache der Götter‘, ,der Priestersprache der Poe-sie‘ möglich“. Sie zeigt das Streben der Poesie nach „einer direkten intentionalenSprache“ und stellt „die ptolemäische Konzeption der sprachlichen Stilwelt“vor.51 Das semantisch und ideologisch überfrachtete Wort der Symbolisten unddas bis zum äußersten „verdinglichte“, fast gänzlich seines Sinns beraubte Wortder Futuristen stimmen in ihrem Streben nach einer homogenen, geschlossenenpoetischen Sprache überein. Die poetische Sprache macht das „fremde“ Wort

47 Medvedev: Formal’nyj metod v literaturovedenii, a.a.O., S. 301.48 Ebd., S. 240–241.49 Ebd., S. 238.50 Ebd., S. 240. Wenn Bachtin von Symbolisten spricht, zieht er auch in Betracht, dass sie sich in ih-

rer Theorie des Wortes in erster Linie auf die Konzeption der linguistischen Auffassung der „in-neren Form des Wortes“ von W. von Humboldt und der „poetischen Sprache“ von A. Potebnjagestützt haben. Im symbolischen Wort sehen sie, in Anlehnung an Potebnja, die Rückkehr zururalten „Magie der Wörter“ und „Sprache der Götter“, zur schöpferischen Quelle des Wortesund Begriffes. Dazu sagt Bachtin: „Die Fehler führen diese Konzeption in eine andere Richtung,als die der Formalisten“ (ebd., S. 262).

51 Bachtin: Das Wort im Roman, a.a.O., S. 110.

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„Ästhetische Vollendung“ 223

ganz zum „eigenen“ und läßt die Zweistimmigkeit, die „fremden“ Intentionenund Standpunkte, die den einheitlichen Sinn zerstören könnten, nicht in sich ein-dringen.

Dass Bachtin den Ausdruck „Geist der Musik“ gebraucht, ist keinesfalls zufäl-lig. Auch Nietzsche betrachtet in der Geburt der Tragödie, wo über das Wesen der Ly-rik spricht, das Problem des „Eigenen“ und seiner künstlerischen Darstellung:52

Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der „Lyriker“ als Künstlermöglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer „ich“ sagt und die ganzechromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt (GT5, KSA 1, S. 43).

Die Subjektivität „im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung“(GT 5, KSA 1, S. 44). Mit anderen Worten, das direkte, intentionale Wort über„Leidenschaften und Begehrungen“ ist für die Kunst nicht tauglich. In diesemSinn „kennen wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler“ undmüssen „in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung desSubjectiven, Erlösung vom „Ich“ und Stillschweigen jedes individuellen Willensund Gelüstens fordern“ (GT 5, KSA 1, S. 43). Nur das Wort, das von sich selbstdistanziert, das „objektiviert“, „fremd“ geworden ist, ist für die Sprache derKunst brauchbar. Später aber, wie wir gesehen haben, führt gerade dieses Prin-zip bei Nietzsche zur „Verderbnis“ der Kunst, da es sie zum Blick „nach sichselbst“, zur Kunst „vor Augen des Zeugen“ und damit zum Sieg des theatrali-schen Geistes führt.

Die Kunst bei Nietzsche zeigt ihre Dualität, indem sie einerseits auf den„Geist der Musik“, andererseits auf die Spaltung der Perspektive in das „Eigene“und das „Fremde“ zurückgeht. Das künstlerische Phänomen ist immer von die-ser Spaltung, von dieser „Verderbnis“ geprägt. Und so ist auch bei Bachtin dieQuelle der Kunst in der Erschließung der „fremden“ Intentionen zu suchen,wodurch die gesamte schöngeistige Literatur zur Erfahrung des „Fremden“ imWort wird. Im Unterschied zu Nietzsche strebt Bachtin aber danach, „die Ge-schichte der künstlerischen Wahrheit“ zu rekonstruieren und ihre realen histori-schen Etappen zu erschließen. Nietzsches Unterscheidungen der dionysischenMusik, der apollinischen Bildlichkeit und der sokratischen Verderbnis, die imKunstphänomen immer gleichzeitig da sind, deutet Bachtin als unterschiedlicheGrade der Erschließung des „fremden“ Wortes im Kunstwerk. Sie erweisen sichso als verschiedene Grade der von Nietzsche beschriebenen unvermeidlichen„Krankheit“ der Kunst. Obwohl in der Lyrik das „fremde“ Wort notwendig auf-tritt und das „direkte, intentionale Wort“ nicht vorkommt, bleibt das „Fremde“für den Dichter nur das Szenarium der Selbstbeziehung, das nie die prosaische

52 Über die Lyrik und ihre Herkunft „aus der dionysischen Musik“ in Nietzsches Geburt der Tragödiesiehe Meyer: Nietzsche und die Kunst, a.a.O., S. 114–118.

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Redevielfalt erreichen kann. Bachtins zweierlei Deutung des Symbolismus er-wächst gerade aus der Doppelsinnigkeit des „Geistes der Musik“ bei Nietzsche:als ideale Urquelle ist er, einerseits, mit der künstlerischen Darstellung zu über-winden, wodurch die Tragödie geboren wird; andererseits aber ist gerade durchdiese Überwindung die theatralische „Verderbnis“, die Spaltung in die Kunsteingedrungen. Diese Verderbnis und das Kunstphänomen selbst gehören zu-sammen. Unter „Geist der Musik“ versteht Bachtin wiederum die Sinn- undWertsättigung des Wortes mit „fremden“ Intentionen bei den Symbolisten (imGegensatz zum indifferenten und „formalen“ Wort der Futuristen), wodurchdie künstlerische Sprache erst möglich wird. Dieser Ausdruck kennzeichnet aberauch das illusorische Streben aller Dichter, zwei Intentionen, zwei Stimmen alsuntrennbare Einheit der Autorenstimme, als „Einsamkeit“ im Sinne der Fröh-

lichen Wissenschaft darzustellen. Auch die lyrische Stimme ist in zwei Perspektivengespalten bzw. erschafft eine für die Kunst unvermeidliche und notwendige Dis-tanz zwischen dem Autor und dem Helden, die in der Poesie immer durch dieEinheit der Sprache verhüllt wird. Dennoch ist von der einheitlichen Sprache derLyrik die heterogene prosaische Sprache zu unterscheiden, die einen „Mikrokos-mos“ verschiedener Stimmen darstellt, in denen „jedes Wort nach einem undmehreren Kontexten schmeckt, in denen es sein intensives soziales Leben gelebthat“.53 Nur in der Prosa wird also das Prinzip des „fremden“ Wortes wirklichrealisiert. Mit ihr aber, „einer entwickelten künstlerischen Prosa- und vor allemRomankultur“, ist nach Bachtin die Entwicklung einer nationalen Literaturspra-che und damit der Literatur als solcher eng verbunden.54

2.4. Der Roman als Etappe der Entwicklung der Literatur Bachtinund Nietzsche über die Romane Dostojewskijs

Im Mittelpunkt von Bachtins Untersuchungen des künstlerischen Wortessteht der Roman. Im Roman gelangt das prosaische Prinzip der Redevielfalt zuseinem Höhepunkt, es wird zur Spaltung der narrativen Perspektiven umgestal-tet, der des Autors und der des Helden. Das „fremde“ Wort hat sich hier dieSelbständigkeit der „sozialen Redevielfalt“ erobert, und dadurch eröffnen sichneue Möglichkeiten für die Koordination und die Gegenüberstellung der narra-tiven Perspektiven.

In der Vielfalt der Standpunkte und der Spaltung der Perspektiven sieht so-wohl Bachtin als auch Nietzsche die Grundlage des theatralischen Phänomens.Die künstlerische Form des Romans faßt Bachtin durch den Begriff des „thea-

53 Bachtin: Das Wort im Roman, a.a.O., S. 116.54 Ebd., S. 117.

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tralischen Chronotopos“. Der „theatralische Chronotopos“ ist ein „dazwischen-liegender Raum“, über den „das Andere-Dasein“ in die Literatur hineingebrachtwird. Es ist der „theatralische Chronotopos“ des Platzes des Volksfests, des Kar-nevals, der verkehrten Welt, in der die unbeteiligte Position des Narren und Pos-senreißers möglich wird.

Der Romanschriftsteller kommt ohne die Maske einer wesentlichen Genreform, dieseine Position beim Sehen des Lebens wie auch seine Position beim Veröffentlichendieses Lebens bestimmt, nicht aus […]. Diese Masken wurden nicht erfunden, siewurzeln zutiefst im Volk, sie sind durch die geheiligten Privilegien, die darin bestehen,daß der Narr am Leben unbeteiligt und daß sein Narrenwort unantastbar ist, mit demVolk verbunden, sind mit dem Chronotopos des Volksfestplatzes und den Theater-gerüsten verknüpft […]. Für den Roman ist dieser Sinnbild-Zustand von enormerformbildender Bedeutung.55

Der „theatralische Chronotopos“ also ist der Chronotopos des Autors, deraußerhalb der von ihm geschaffenen Welt steht und aus dieser unbeteiligtenPosition seinen Helden beobachtet. Von dieser Position aus werden die „Kom-plexität und Vielschichtigkeit“ des prosaischen Wortes geschaffen, die Bachtin„das prosaische Sinnbild“, „die prosaische Metapher“ nennt.56 Im Gegensatzzur poetischen Metapher und zum Symbol werden durch die „prosaische Meta-pher“ die vielstimmigen Intentionen und Standpunkte in den Roman hineinge-bracht. Für den Roman ist also die Vielstimmigkeit und Redevielfalt ebenso be-stimmend wie die „einheitliche und homogene Sprache“ für die Lyrik.

Der Held im Roman, so Bachtin, gewinnt einen eigenen Standpunkt und eineeinzigartige Stimme, die mit anderen nicht vermischt werden darf. Die Roman-gattungen in der „Optik“ des Autors unterscheiden sich eben dadurch, in wel-cher Position er zu seinem Helden stehen kommt: ob er zum allwissenden Rich-ter wird, der den Helden nach seinen Handlungen oder Gedanken beurteilt, wiees bei L. Tolstoj der Fall ist, oder ob der Autor auf ein sein solches Privileg ver-zichtet und den Helden gestattet, einen offenen Dialog, einen unendlichen Streitzu führen. Im letzteren Fall ist der Held zum „Anderen“ und „Unbekannten“geworden, und sein Standpunkt kommt dem des Autors gleich, es entsteht einDialog, in dem jede Stimme, die der Helden ebenso wie die des Autors, ihreeigene Wahrheit hat. So behalten z.B. in den Dämonen alle Helden – Schatov, Ki-rillov, Stepan Verchovenskyj, sogar Pjotr Stepanovitsch und Lebjadkin – bis zumEnde einen unbestreitbaren Anspruch auf eigene Wahrheit.57 Bachtin unter-

55 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. In: Bachtin: Untersu-chungen zur Poetik und Theorie des Romans, a.a.O., S. 350–351.

56 Ebd., S. 355.57 Bachtin weist darauf hin, dass im polyphonen Roman kein Held als positiv oder negativ betrach-

tet werden kann. Eine solche Darstellung würde einen – im polyphonen Roman unmöglichen –Eingriff in das Bewußtsein des Helden bedeuten (Bachtin: Problema teksta, a.a.O., S. 315).

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scheidet die monologische und nichtmonologische, die „dialogische“ Linie inder Entwicklung der Literatur. Während die Lyrik zur monologischen Kunst ge-hört, da hier eine einzige Perspektive völlig dominiert,58 erreicht die dialogischeDarstellung des Helden im Roman ihren Höhepunkt im polyphonen Roman, wokeine Position durch das „letzte“ Wort des Autors, durch seine „letzte“ Wahrheitaufzuheben ist.

Der polyphone Roman ist nach Bachtin eine große künstlerische Entde-ckung Dostojewskijs.59 In seinen Romanen verliert der Autor sein Privileg der„letzten“ Instanz und Sinnvollendung, im Unterschied etwa zu der parodieren-den Stilisierung, in der „die fremde Stimme beschränkt und passiv ist und es ander produktiven Wechselbeziehung der Stimmen (die schöpferisch, bereicherndist) fehlt“.60 Der polyphone Roman wird zum Wendepunkt der Autor-Held-Be-ziehungen in der Literatur, da er „den Verfall des Autorenkontexts“ und die Zer-störung der äußerlichen Position des Autors aufzeigt.61 Das prosaische Prinzipdes „fremden“ Wortes hat hier seinen Höhepunkt erreicht.

Als Nietzsche aus Dostojewskijs Roman Bessy (Dämonen) Exzerpte machte,der für ihn „psychologisch“ höchst interessant war, notierte er: „Die Theatro-manie“ (Nachlaß 1887/1888, KSA 13, 11[342], S. 150). Da es in DostojewskijsRoman nirgends direkt ums Theater geht, kommt man dem Sinn dieser Notiznur durch die Logik der oben beschriebenen Ideen näher, und dabei wird dieenge Verwandtschaft von Nietzsches und Bachtins Denkweisen deutlich (ob-wohl Nietzsches Exzerpte Bachtin nicht bekannt waren). Der Geist des Theatersin der „Kunst vor Zeugen“, der „die Musik des Vergessens“ vernichtet, gleichtstark dem „theatralischen Chronotopos“ Bachtins. Mit dem allein dastehendenWort „Theatromanie“ könnte Nietzsche wie später Bachtin an DostojewskijsRomanen das bis zum äußersten geführte Prinzip des Theatralischen betont ha-ben, das von „dem Anderen“ getrennte „ich“, das jetzt zu einem anderen „frem-den“ Subjekt geworden ist – Schauspieler und Zuschauer zugleich.

Das Prinzip der Klassifikation der Kunst bei Bachtin scheint so dem Prinzipder Fröhlichen Wissenschaft, „wie man zuerst bei Kunstwerken zu unterscheidenhat“, analog zu sein – sofern beide Denker zu denselben Schlüssen kommen. Ein

58 Es ist bemerkenswert, dass Lyrik und Gebet für Bachtin wie auch für Nietzsche in FW 372 zu-sammengehören. Vgl. Voloshiniv, V.N.: Slovo v zhizni i slovo v poezii. (Das Wort im Leben unddas Wort in der Dichtung). In: Bachtin (pod maskoj): Frejdism. a.a.O., S. 89. Während sie aberfür Nietzsche eine „scheinbare Monolog-Kunst“ darstellen, sind sie für Bachtin eine monologi-sche Kunstgattung und unterscheiden sich von der dialogischen Etappe der Entwicklung derKunst.

59 Der Terminus „polyphon“ verweist wiederum auf den „Geist der Musik“, bei allem Gegensatzbeider Kunstformen auf ihre innere Verwandtschaft. Vgl. zur „Polyphonie der griechischen Na-tur“: PHG, Vorrede 1, KSA 1, S. 802.

60 Bachtin: Problema teksta, a.a.O., S. 315.61 Voloshinov: Marksizm i philosophija jazyka, a.a.O., S. 452.

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wesentlicher Unterschied zeigt sich jedoch dort, wo sie sie auf die Kunstwerke und den Ent-

wicklungsprozeß der Kunst anwenden. Zwar verweist Bachtins Wort von der „Geburtdes Autorbewußtseins“ wie Nietzsches Wort von der „Geburt der Tragödie“ da-rauf, dass es ihm um die philosophische Quelle des literarischen Werks geht.Dennoch führt der Hinweis auf „den Ursprung“ der Literatur bei Bachtin nichtzur Zerstörung der zeitlichen Perspektive, sondern gerade zu einer historischenTypologie und Entwicklungskonzeption. Bachtins philologisches Interesse ander Geschichte der literarischen Formen, an dem Werden der „künstlerischenWahrheit“ läßt ihn die Begriffe „Geist der Musik“, „fremdes Wort“ und „thea-tralischer Chronotopos“ chronologisch deuten und Etappen der Kunstentwick-lung nach dem Prinzip der Dialogizität und Erschließbarkeit des „fremden“Wortes unterscheiden. Diese Unterscheidung wurde durch den Begriff der „ästheti-

schen Vollendung“ möglich. An diesem Begriff ist Bachtins Auseinandersetzungmit Nietzsches Philosophie der Kunst am klarsten zu verfolgen. NietzschesSchaffen wird für Bachtin selbst zu einem ästhetischen Phänomen und zugleichzu einem Krisensymptom, das einen Wendepunkt in dem von ihm untersuchtenWerdensprozeß kennzeichnet.

3. Der Begriff der „ästhetischen Vollendung“ bei Nietzsche und Bachtin

Der Begriff der „ästhetischen Vollendung“ wird, wie erwähnt, von Bachtin inseinen Werken Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit und Das Problem von Inhalt,

Material und Form im Wortkunstschaffen erörtert.62 Er ist Grundlage der ganzenbachtinischen Typologie der Kunstformen.

Jede ästhetische Sichtweise, so Bachtin, setzt eine handelnde Person voraus:

In diesem Sinn enthält jede ästhetische Sichtweise eine Tendenz zum Helden, einePotenz des Helden; in jeder ästhetischen Wahrnehmung schlummert eine bestimmtemenschliche Gestalt, etwa so, wie im Marmorklumpen für Bildhauer.63

Bachtin schlägt vor, Kunstwerke mit realen Helden von Kunstwerken mitpotentiellen Helden zu unterscheiden. Die Kunstwerke ohne reale Personen, wiezum Beispiel „die Naturbeschreibung, die philosophische Lyrik, der ästhetisie-rende Aphorismus […], fast alle Musik, das Ornament, die Arabeske, die Land-schaft, die nature morte, die ganze Architektur“ haben nur potentielle Helden.„Zwar kann die Grenze zwischen dem Menschen, der die Bedingung der ästhe-

62 Bachtin, Michail M.: Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen. In:Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, a.a.O., S. 95–153.

63 Bachtin, Michail M. Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti (Fragment pervoj glavy). (Autorund Held in der ästhetischen Tätigkeit [Das Fragment des ersten Kapitels]). In: Bachtin, MichailM.: Avtor i geroj. Moskva 2000. S. 28–29.

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tischen Sichtweise, und dem Helden, der ihren Gegenstand bildet, sehr wackeligwerden“.64 Doch nur in Bezug auf eine menschliche Gestalt, auf einen Helden istdas „ästhetische Ereignis“ möglich: als eine von außen vollendete ästhetischeAbrundung der von innen unendlichen ethischen Perspektive. Das ist das Wesender „ästhetischen Tätigkeit“, der ästhetischen Tat.

Das künstlerische Phänomen entsteht danach immer auf einer Grenze, diekünstlerische Weltauffassung wird möglich in dem Moment, in dem die Grenzezwischen Autor und Helden als zweier Tätigkeitsformen und zweier Perspekti-ven gezogen wird. So heißt es auch bei Nietzsche: „Die ästhetische Kultur isteine Kultur der Grenzen“.65 Das Zusammenstoßen von zwei Perspektivenbringt die künstlerische Form hervor:

Die Form ist der Ausdruck der Aktivität des Verfassers in Bezug auf den Helden –einen anderen Menschen; in diesem Sinn ist sie das Ergebnis ihrer Beziehungen. DerHeld aber ist in dieser Beziehung passiv, er ist kein ausdrückender, sondern ein ausge-drückter, aber auch als solcher bestimmt er die Form, da sie ihm entsprechen, seine in-nere gegenständliche Lebensaktivität von außen vollenden muss.66

Die zwei Intentionen – die innere und die äußere, die ausdrückende und aus-gedrückte – müssen einander treffen, um ein Ereignis hervorzubringen:

Das ästhetische Ereignis kann nicht nur einen Teilnehmer haben, der das Leben erlebtund gleichzeitig sein Erlebnis in bedeutsamer Kunstform ausdrückt. Das Subjekt desLebens und das Subjekt der ästhetischen Aktivität, die dieses Leben ausformt, sind imPrinzip verschiedene Subjekte.67

Das Subjekt, das das Leben des Anderen von außen ausformt, ist der Autor.Er vollendet das Bewußtsein des Helden und bringt ihm „die Gabe der Form“.Die „Geburt des Autorbewußtseins“ geschieht in jedem Kunstwerk als Ereignisder „ästhetischen Vollendung“ des Lebens als eines ästhetischen und nicht ethi-schen Phänomens. Dieses Ereignis kann unterschiedlich sein, ist aber stets un-erläßliche Voraussetzung der künstlerischen Weltauffassung.

Seine Produktivität kommt nicht aus der Verschmelzung in eine unzertrennliche Ein-heit, sondern aus der Spannung seines unvermischten Außerhalbseins, das eine ein-zige, privilegierte Stelle außerhalb aller anderen Menschen nutzen kann.68

64 Ebd., S. 28.65 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 187. Über Nietzsches Deutung

der griechischen Tragödie „als permanente Praxis von Begrenzung und Entgrenzung“ und seineAuslegung des „Tragischen“ bei den Griechen siehe: Müller, Enrico: „Aesthetische Lust“ und„dionysische Weisheit“. Nietzsches Deutung der griechischen Tragödie. In: Nietzsche-Studien31 (2002). S. 153.

66 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 80.67 Ebd., S. 83.68 Ebd., S. 84.

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Nur die äußere Aktivität des Autors kann ein solches Privileg besitzen.69

Auch Bachtins Begriff der „ästhetischen Vollendung“ hat seinen Ursprung inNietzsches Geburt der Tragödie, in Nietzsches Deutung des Kunstphänomens alsKampf zwischen dionysischen und apollinischen Kräften. Dort ist von der„apollinischen Vollendung“ die Rede:

Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass sie geradezudie Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber dentragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der dann, einem mächtigenTitanen gleich, die ganze dionysische Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davonentlastet (GT 21, KSA 1, S. 134).70

Auch mit dem berühmten Wort von der Rechtfertigung des Daseins und derWelt „nur als aes thet i sches Phänomen“ (GT 5, KSA 1, S. 47) ist die ästhe-tische Vollendung des Daseins, die Illusion gemeint, durch welche der Künstlerdie „Erlösung im Scheine feiert“ (GT 5, KSA 1, S. 47). Der Künstler baut dieZwischenwelt des Helden auf und besteigt als Autor „den olympischen Zauber-berg“.71 Nietzsches „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ hat darin denselben

Sinn wie Bachtins „Geburt des Autorbewußtseins“ aus der anthropomorphen Weltauffassung.

Dennoch zeigt sich hier wieder Nietzsches doppelsinniger Perspektivismus.Einerseits ist die Objektivierung, die eine Grenze zwischen Autor und Helden,zwischen der inneren Welt der Bühne und äußeren Welt des Autors und Zu-schauers erschaffen hat, als Ursprung der Kunst gedacht. Andererseits aber wirdgerade diese Invasion des Anderen, die apollinische Individuation, die Trennungvon Subjekt und Objekt des Anschauens, von Bühne und Zuschauern undspäter von narrativen Perspektiven letztendlich als „Verderbnis“ umgedacht,wodurch die Urtragödie zugrunde geht. Das Theater wird „zum Verführer derEchten“, die Kunst „zu einer Kunst zu lügen“ (WA, KSA 6, S. 39). Es ist geradedas anthropomorphe Prinzip der Kunst, das principium individuationis, das zumVerfall führt, dessen Anfang Nietzsche im „Ueberhandnehmen der Charak-terdars te l lung“ (GT 17, KSA 1, S. 113) schon bei Sophokles und sogar nochfrüher sieht, da, wo die antidionysische Tendenz anfängt, an der Quelle derKunst. Die Objektivierung, die Trennung des schaffenden Subjekts von seinem

69 Hier sieht man den fundamentalen Unterschied zwischen Bachtin und der sogenannten. „ex-pressiven Ästhetik“. Vgl. dazu Bachtins Polemik mit Lipps, Volkelt und Cohen (ebd., S. 63–88).

70 Vgl. auch: GT 3, KSA 1, S. 36; GT 8, KSA 1, S. 62.71 Es ist auch bemerkenswert, dass Bachtin, indem er über das Außerhalbsein des Autors spricht,

immer das göttliche Wesen solcher Position meint – „die Gabe der Form“ (Bachtin: Avtor i gerojv estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 86), „eine bereuende und betende Unendlichkeit“ derinneren Perspektive und „schenkende, absolvierende und vollendende“ Form (ebd., S. 185). DieGöttlichkeit als ästhetisches Phänomen, als ästhetische Position, als von außen „umfassendesBewußtsein Gottes“ (ebd., S. 25) verweist meiner Meinung nach direkt auf Nietzsches „Artis-ten-Metaphysik“.

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Objekt ist die apollinische Kraft der Individuation, die die olympische Kunster-scheinung zur Welt bringt, eine heilende „Lichtbilderscheinung“, die den Blick„von grausiger Nacht“ (GT 9, KSA 1, S. 65) rettet. Es ist aber auch das „grosseCyklopenauge“ (GT 14, KSA 1, S. 92), das nicht mehr im Stande ist, die diony-sische Quelle der Kunst zu sehen und jede Verbindung mit dem Ur-Einen, mitder tragischen Kunst, mit der monologischen Einheit des Darstellenden undDargestellten, mit der „Einsamkeit“ im Sinne der Fröhlichen Wissenschaft verlorenhat.

Im Zwischenraum dieser zwei Pole der Kunst, die Nietzsche aufgezeigt hat,ordnet Bachtin jedes Genre, jedes Kunstwerk nach dem Grad der Vollendungder Helden, nach der Festigkeit der künstlerischen (apollinischen) Grenze alseine eigene Art der „ästhetischen Vollendung“, als eine ästhetische Einheit ein.So wird dann aus der Lyrik die Vorgeschichte der Prosa – sofern in ihr die Tren-nung des Helden vom Autor nicht vollendet ist:

Die Lyrik strebt nicht danach, einen vollendeten Charakter des Helden zu erschaffen,und zieht keine deutliche Grenze zwischen seiner gesamten Seele und seinem innerenLeben. […] Sie schafft eine Illusion der Selbsterhaltung des Helden und seiner inne-ren Position, seines reinen Selbsterlebnisses, den Schein, dass er sich in der Lyrik nurauf sich selbst bezieht und für sich selbst da ist, dass er in der Lyrik einsam und nichtvon einem Anderen besessen ist. Diese Illusion läßt den Autor in die tiefste Innenweltseines Helden eindringen und ihn vollständig beherrschen, ihn total mit seiner Akti-vität durchdringen.72

Die lyrische Kunst ist die „Einsamkeit“ im Sinne der Fröhlichen Wissenschaft,die sich aber nicht als Urgrund der Kunst, als die dionysische „Musik des Verges-sens“, sondern als Ereignis des dargestellten und vollendeten Monologs erweist,der zwar ein scheinbarer Monolog und eine Illusion ist, aber eine konkrete his-torische Etappe in der Literaturentwicklung darstellt. Die „künstlerische Wahrheit“

ist dann gerade in dem Moment möglich, in welchem eine Art der Illusion, d.h. der Vollendung

der Heldenwelt erschaffen wird. Vom poetischen Wort des Lyrikers bis zum prosai-schen Wort des polyphonen Romans wird das ästhetische Phänomen nicht aufder „Einsamkeit“ von den „Gottlosen“, nicht auf der „Musik des Vergessens“,sondern auf den Beziehungen zwischen Autor und Helden erbaut, auf dem Er-eignis der „ästhetischen Vollendung“.

72 Ebd., S. 155–156. Das Wort „einsam“ weist auch direkt auf die Fröhliche Wissenschaft hin: die Ein-samkeit des Lyrikers ist eine Art der Täuschung.

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4. „Die Krise des Autorbewußtseins“ und „hybride ästhetische Formen“

Der Begriff der „ästhetischen Vollendung“ macht es möglich, nicht nur eineTypologie der künstlerischen Formen aufzubauen, sondern auch einige globaleProzesse in der Literatur aufzuzeigen und dabei vor allem „die Krise des Autor-bewußtseins“ und deren Symptome festzustellen. „Die Geburt des Autor-bewußtseins“ entspricht dem Anfang der schöngeistigen Literatur als solcher.Durch die Entwicklung ihres Hauptprinzips – des prosaischen Prinzips des„fremden“ Wortes – ist die Krise, so Bachtin, unvermeidlich geworden. Hierkommt wieder Nietzsches Gedanke über die Notwendigkeit und Unvermeid-lichkeit des „Verderbens“ der Kunst durch die „Herrschaft des Theaters“ insSpiel. Für Bachtin stellt sich die Krise aber als Ergebnis der historischen Ent-wicklung und Kennzeichen der modernen Situation dar.73

Wie soll die „Krise des Autorbewußtseins“ sich entwickeln? Die Richtungenwurden von Bachtin sehr deutlich umrissen. In der einen Richtung

[…] wird die Position des Außerhalb-Seins des Autors zerrüttet und als unwesentlichedargestellt, dem Autor wird das Recht abgestritten, außer dem Leben zu stehen und eszu vollenden. Die Zersetzung aller stabilen transgredienten Formen (vor allem in derProsa von Dostojewskij bis Belyj) beginnt […]. Das Leben wird nur von innen ver-stehbar und ereignisvoll.74

Das heißt, der Held ist zur Position des Autors aufgestiegen, sofern er dazutendiert, die privilegierte Position des Außerhalb-Seins zu bestreiten. In deranderen Richtung steigt der Verfasser dagegen zur Position des Helden hinab,wobei sich „die Position des Außerhalb-Seins der ethischen Position nähern,seine ästhetische Eigenschaft verlieren kann“.75 In dieser Richtung hat sich dieKrise in der monologischen Linie der Literatur entwickelt, und zwar beim spätenL. Tolstoj, der von der ästhetischen zur rein ethischen Position übergeht und alsPublizist hervortritt, die künstlerische, ästhetische Funktion der Literatur völligablehnt und durch die ethisch-homiletische Funktion ersetzt. Bachtin hat diesezwei Richtungen dann in einen weiteren Kontext gestellt und dabei eine dritte

Linie der Krisenentwicklung hervorgehoben: „Die Lebenskrise im Gegensatzzur Krise der Autorschaft, von der sie aber oft begleitet wird, ist das Besiedelndes Lebens mit literarischen Helden, die Abtrennung des Lebens von der abso-luten Zukunft, seine Umwandlung in die Tragödie ohne Chor und ohne Autor“ (Hervor-hebung E. P.).76 Dies verweist wiederum deutlich auf Nietzsche.

73 Nicht zufällig deutet Nietzsche die moderne Situation in der Kunst zuerst als Renaissance, späteraber als Krankheit und Verfall. Im Gegensatz zu Bachtin bleiben für ihn beide Möglichkeiten fürdie Kunst immer offen.

74 Bachtin, Michail M.: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 186.75 Ebd., S. 188.76 Ebd., S. 84.

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In Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen treten die„ästhetischen Auffassungen außerhalb der Kunst“ als besondere Kunstgat-tung in Bachtins Auslegung der Kunstformen hervor. Unter anderem nennt erdabei den Mythos und auch jede „unzulässige Übertragung ästhetischer For-men auf die Bereiche der ethischen […] Handlung und der Erkenntnis (dashalbwissenschaftliche ästhetisierte Denken solcher Philosophen wie Nietz-sche u. a.)“.

Eine charakteristische Besonderheit all dieser Sachverhalte ästhetischen Sehensaußerhalb der Kunst liegt im Fehlen eines bestimmten, organisierten Materials unddaher auch der Technik; die Form ist hier in den meisten Fällen nicht objektiviert undnicht fixiert […], sie sind verworren, unstabil, hybride.

Obwohl sie für die Kunst peripher sind, sah Bachtin eine notwendige Auf-gabe der Ästhetik darin, „diese hybriden und nicht reinen Formen des Ästheti-schen“ zu erklären und zu erforschen. „Diese Aufgabe ist philosophisch und lebens-

praktisch (Hervorhebung E. P.) außerordentlich wichtig“.77 Bei den Kunstformenmit einem potentiellen Helden erwähnt Bachtin noch einmal Nietzsches Schaf-fen als eine besondere Art der Weltauffassung:

Am Grunde der halb philosophischen, halb künstlerischen Weltauffassungen – wieder Auffassung von Nietzsche, teilweise auch der von Schopenhauer – liegt die leben-dige Beziehung des Autors zur Welt, die der Beziehung des Künstlers zu seinem Hel-den gleicht, und um diese Auffassungen zu verstehen, bedarf man der gewissermaßenanthropomorphen Welt – als Objekt ihres Denkens.78

Die Beziehung Nietzsches zur Welt ist den Beziehungen zwischen dem Au-tor und dem Helden eines literarischen Werkes ähnlich. Sie setzt die Erscheinungeines Helden voraus, die Spaltung der Perspektiven, wodurch „Eins zu Zweiwurde“, wie Nietzsche von der Erscheinung Zarathustras schrieb (FW, Sils-Maria, KSA 3, S. 649).

Die Untersuchung der Autor-Held-Beziehungen in Also sprach Zarathustra

würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ich kann hier nur auf einige we-sentliche Züge hinweisen.79 Wie W. Stegmaier erwähnt hat, bleibt es unklar, wemdie Hauptphrase des Buches „Also sprach Zarathustra“, die als Titel hervortrittund vielmals wiederholt wird, gehört:

77 Bachtin: Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen, a.a.O., S. 109.78 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti (Fragment pervoj glavy), a.a.O., S. 29.79 Über Zarathustra als Helden siehe Happ, Winfried: Nietzsches „Zarathustra“ als Tragödie.

Frankfurt am Main 1984. S. 87–166. Happ geht es freilich nicht um das künstlerische Verfahrender Darstellung des Helden bei Nietzsche, sondern um die Analyse der Ideen und den Vergleichmit anderen Heldentypen bzw. mit dem Helden in der griechischen Tragödie.

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„Ästhetische Vollendung“ 233

Der Erzähler, der im Dunkel bleibt, spricht von Zarathustra so, wie Zarathustra in derErzählung spricht. So entsteht der unbestimmte Eindruck eines großen Selbstge-sprächs, das auch fiktiv, vielleicht sogar ein Traumgespräch sein könnte. Nietzscheentzieht der Erzählung von den Lehren Zarathustras einen erkennbaren Autor, derdie Verantwortung für sie übernimmt.80

Es bleibt unklar, wo das Wort des Helden anfängt und das Wort des Autorsendet. Damit ist im Sinn Bachtins die Heldengestalt auf der Ebene der Narrationnicht vollendet. Das lässt sich auch von Zarathustras Charakter sagen. Schonin „Zarathustras Vorrede“ erscheint Zarathustra nicht als handelnde Person, daer ständig die Attribute von anderen handelnden Personen übernimmt, dieihrerseits ständig ihre Merkmale austauschen und sich in einander umwandeln.Zarathustra wird nacheinander dem Übermenschen, dem Seiltänzer, dem Pos-senreißer, dem Teufel gleichgestellt. Und dies in erster Linie deshalb, weil das„fremde“ Wort über ihn immer zu seinem eigenen Wort über sich selbst werdenkann.81 Dadurch wird dem Wort seine Individualität und Einzigkeit zurückgege-ben, es wird zum Attribut der Person, die es ausspricht. Diese aber hat keinebeständigen Eigenschaften. Die „handelnden Personen“ (der Seiltänzer, derPossenreißer, der Einsiedler, die Totengräber) gehen ineinander über und kön-nen auch bloß zur Metapher werden.82 Das sind Zirkelverweise: die Aussage

80 Stegmaier, Werner: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Stegmaier, Werner, unterMitarbeit von Frank, Hartwig: Hauptwerke der Philosophie. Von Kant bis Nietzsche. Stuttgart1997. S. 402–442. S. 413. Zu Zarathustra als Redendem im Zusammenhang mit NietzschesPerspektivismus vgl.: Oger, Erik: Nietzsches Inszenierung der Philosophie. In: Duhamel, Ro-land/Oger, Erik (Hg.): Die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst. Würzburg 1994.S. 9–36.

81 So sagt z.B. der Possenreißer über Zarathustra: „und wahrlich, du redetest gleich einem Possen-reisser“ (Za, Zarathustra’s Vorrede 8, KSA 4, S. 23). Und später sagt Zarathustra: „über dieZögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!“(Za, Zarathustra’s Vorrede 9, KSA 4, S. 27). Das ist eben die Tat des Possenreißers, der über denSeiltänzer hinweggesprungen ist. Am Ende der Vorrede sehen wir, dass damit Zarathustras eige-ner Untergang begonnen hat (Za, Zarathustra’s Vorrede 10, KSA 4, S. 28). Dieser Kunstgriffwiederholt sich durch das ganze Buch. Wenn umgekehrt jemand Zarathustras Worte wiederholt,nimmt Zarathustra seine Worte sofort zurück: „Zarathustra antwortete: Ich liebe die Men-schen“. „Warum, sagte der Heilige, ging ich doch in den Wald und die Einöde? War es nicht, weilich die Menschen allzu sehr liebte?“ „Zarathustra antwortete: Was sprach ich von Liebe!“ (Za,Zarathustra’s Vorrede 2, KSA 4, S. 13).

82 Es ist bemerkenswert, dass Nietzsche, wo er über „den Schauspieler, den „Künstler“ in der Fröh-lichen Wissenschaft redet, ihn dem „Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown“gleichstellt, „denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers“ (FW 361). Ge-nannt sind die handelnden Personen aus „Zarathustras Vorrede“, sie sind zur Metapher deskünstlerischen Phänomens geworden. Bei Bachtin werden gerade diese Typen als Vorgeschichteder schönen Literatur betrachtet (vgl. die Kapitel „Die Funktionen des Schelms, des Narren unddes Tölpels im Roman“. In: Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, a.a.O.,S. 347–356). Über den metaphorischen Diskurs in Also sprach Zarathustra siehe: Gasser, Peter:Leseversuche zum metaphorischen Diskurs in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Bern1993. S. 15–40.

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wird durch den Aussagenden definiert, dieser aber wiederum durch sein Wort.Als Folge haben wir eine echte „Maskerade“ der handelnden Personen, in der,wie Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge über das Wesen der Kunst sagt, „in je-dem Augenblicke, wie im Traume, alles möglich“ ist.

Der Ausdruck „als Dichter zu sagen“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 3,KSA 1, S. 15) muss folglich auch die Möglichkeit der „Objektivierung“, des Fin-dens von Anderen in sich selbst bedeuten. Die Grenzen werden aber nichtgezogen und die Gestalten werden nicht zu handelnden Personen. Die Lügeder Dichtung wird damit als ewige „Verstellungskunst auf ihren Gipfel“, d.h. als„die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein,die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst“(WL 1, KSA 1, S. 876) aufgezeigt.83 Das Buch über Zarathustra stellt insofern eineigenartiges Experiment dar: den Versuch, eine Kunstgattung zu erschaffen, diedie Kunst als „Kunst zu lügen“, als „verhüllende Convention“ schlechthin ent-hüllt. Dadurch wird die Kunst von theatralischer „Verderbnis“ nicht erlöst, son-dern als notwendige Illusion, als ewiges „Umsonst“ dargestellt.84

In der Götzendämmerung erwähnt Nietzsche seine „dionysische Tat“ noch ein-mal:

Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare viel-leicht? … Aber nein! mit der wahren Wel t haben wir auch d ie sche inbareabgeschaff t ! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irr-thums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.) (GD, Wie die„wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde, KSA 6, S. 81).

Zusammen mit der wahren Welt wird auch die scheinbare abgeschafft, d.h.die Welt der apollinischen Illusion, die Welt der Gestaltung, die Welt der Gren-zen, da man gar keiner „ästhetischen Vollendung“, ästhetischer „Rechtfertigungder Welt“ bedarf. Der „dionysische Unhold“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 7,KSA 1, S. 22), die ästhetische „Hybride“ muss jede Möglichkeit der „ästheti-schen Vollendung“ der Welt als „metaphysische Trösterei“85 aufheben.

83 In diesem Sinn kann der berühmte (von Zarathustra selbst betonte) Widerspruch zwischen denzwei Sätzen „die Dichter lügen zuviel“ und „Aber auch Zarathustra ist ein Dichter“ (Za II, Vonden Dichtern, KSA 4, S. 163) als Hinweis auf den Urwiderspruch der Kunst betrachtet werden:in dem Grad, in dem sie zur Kunst wird, d.h. zur Täuschung und Repräsentation, ist sie „dieKunst zu lügen“.

84 Über Also sprach Zarathustra als zugleich dichterisches und philosophisches Werk siehe: Steg-maier: Nietzsches „Genealogie der Moral“, a.a.O., S. 35–40.

85 In der Geburt der Tragödie betrachtet es Nietzsche als seinen Zweck, „einen kühnen Anlauf in eineMetaphysik der Kunst hinein zu schwingen“, indem er mehrmals den Satz wiederholt, „dass nurals ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“ (GT 24, KSA1, S. 152). Im „Versuch einer Selbstkritik“ wird eben diese „Artisten-Metaphysik“ als „metaphy-sische Trösterei“ bezeichnet (GT, Versuch einer Selbstkritik 7, KSA 1, S. 22) und dem „dionysi-

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Im ganzen lässt sich so behaupten, dass Nietzsche für Bachtin nicht nur dieQuelle und der Anstoß für seine grundlegenden ästhetisch-philosophischenIdeen darstellt, sondern auch als Schöpfer einer einzigartigen Kunstgattungeinen wichtigen Platz in seiner Typologie der künstlerischen Formen bean-sprucht.86 Von Nietzsches Klassifikationsprinzip ausgehend war es ihm mög-lich, dessen Schaffen aus der Entwicklungsperspektive der Kunst zu erforschen.In Bachtins Terminologie handelt es sich um eine ästhetische Form mit „einempotentiellen Helden“. Die Grenze zwischen der ethischen und ästhetischen Weltauffas-

sung, die sowohl für Nietzsche als auch für Bachtin jahrtausendelang die Kunst ermöglichte,

ist damit brüchig und durchlässig geworden.

Bei der Klassifizierung der Arten, Biographien zu verfassen, spricht Bachtinin Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit noch einmal direkt von Nietzsches„ästhetisierter Philosophie“, die „dem Tanzen in einem langsamen Tempogleicht (das Tanzen im schnelleren Tempo ist die Lyrik). Hier will alles Innereund alles Äußere im wertbehafteten Bewußtsein eines Anderen zusammentref-fen, das Innere will zum Äußeren und das Äußere zum Inneren werden“.87

Es war eben die Umgrenzung, das Ereignis der „ästhetischen Vollendung“ als „rettenderThat“ der Kunst (GT 7, KSA 1, S. 57), die Nietzsche „unter der Optik des Le-bens“ betrachtet und dadurch problematisiert hat. Die „hybride ästhetischeForm“, die damit geschaffen wurde, ist „eine Tragödie ohne Chor und ohneAutor“, d.h. eine Tragödie, die der Vollendung ganz und gar entbehrt – der ethischen

Vollendung von innen in der Auffassung des Chores und der ästhetischen Voll-

endung von außen in der Auffassung des Autors. In einer solcher Tragödie gibt

schen Unholde“ entgegengesetzt. Deswegen erscheint Günther Wohlfarts Definition der ewi-gen Wiederkunftslehre Zarathustras als „Artisten-Metaphysik“ kaum plausibel (Wohlfart,Günther: Friedrich Nietzsche. In: Nida-Rümelin, Julian/Betzler, Monika (Hg.): Ästhetik undKunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart 1998. S. 578–585). Vgl. auch:Djuric, Mihailo: Nietzsche und die Metaphysik. Berlin, New York 1985. (Monographien undTexte zur Nietzsche-Forschung 16).

86 James Curtis ist dieser Meinung: „Apparently alluding to Thus spoke Zarathustra, Bakhtin speaksof „Nietzsche’s estheticized philosophy““ (Curtis, James M.: Michael Bakhtin, Nietzsche, andRussian Pre-revolutionary Thought. In: Rosenthal, Bernice Glatzer (ed.): Nietzsche in Russia.Princeton 1986. S. 331–354, S. 333.) Es kann aber nicht nur um Also sprach Zarathustra, sondernmuß auch um „den ästhetisierten Aphorismus“ (Bachtin, Michail M.: Avtor i geroj v estetitsches-koj dejatel’nosti (Fragment pervoj glavy, a.a.O., S. 28) gehen. Über den Aphorismus als „Kunst-form der Wissenschaft“ siehe Stegmaier: Nietzsches „Genealogie der Moral“, a.a.O., S. 29–30.

87 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a. a. O, S. 148. Es kann natürlich hier auchum Ecce homo gehen. Bachtin aber spricht von der „ästhetisierten Philosophie“ Nietzsches undkann damit ebenso auch Die Geburt der Tragödie wie Also sprach Zarathustra meinen. James Curtis istder Meinung, dass der Ausdruck sich auf den Stil von Also sprach Zarathustra im Unterschied zuder Geburt der Tragödie bezieht (Curtis: Michael Bakhtin, Nietzsche, and Russian Pre-revolutio-nary Thought, a.a.O., S. 334). Bemerkenswert ist auch, dass Nietzsches Werke in Analogie zuLyrik und Tanz beschrieben werden. Die Symbolik des Tanzes bei Nietzsche kann hier nicht aus-geführt werden. Vgl. Tietz, Udo: Musik und Tanz als symbolische Formen: Nietzsches ästheti-sche Intersubjektivität des Performativen. In: Nietzsche-Studien 31 (2002). S. 75–90.

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es, nach Bachtin, auch keinen „Geist der Musik“, der „die Unterstützung durchden Chor“, „die Besessenheit durch den Chor“88 braucht; sie kann aber auch kei-nen „theatralischen Chronotopos“ in sich enthalten, da sie keinen Autor hat, dersie vollenden könnte. Die „ästhetische Form“ mit einem „potentiellen Helden“stellt „die Krise des Lebens“ vor, die „die Krise der Autorschaft“ für Bachtin in dergegenwärtigen Situation begleitet. „Die Krise der Autorschaft“ kommt durchdie äußerste Personifizierung und durch das Übergewicht entweder der ästheti-schen oder der ethischen Perspektive in der Literatur auf. Dagegen hebt „die Krise

des Lebens“ die anthropomorphen Grenzen sowie die ästhetisch-ethische Unterscheidung über-

haupt auf. Die Perspektive des Autors in der Kunst ist wie die göttliche Perspektive auf das

Leben zum unberechtigten Anspruch geworden. Darin zeigt sich die globale Krise der Kul-

tur als „eine Revision der Stellung der Kunst im Ganzen der Kultur, im Ereignisdes Daseins; jede traditionelle Stelle wird damit als ungerechtfertigt verstan-den“.89 Diese Krise hat, so Bachtin, in der schöngeistigen Literatur alle Möglich-keiten abgeschnitten, den Menschen als vollendetes Objekt zu schildern. Durch dieAufhebung der Grenze zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen ist dannaber eine direkte und verantwortliche Erkenntnisaussage ebenso unmöglich wieeine Bestimmung des Lebens „in der Perspektive der Zukunft“.

88 Bachtin: Avtor i geroj v estetitscheskoj dejatel’nosti, a.a.O., S. 156.89 Ebd., S. 186.