223
Upped By Euklid For Warthogsbooks http://kickme.to/Warthogsbooks

Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Nietzsche. Birth of Tragedy. German

Citation preview

Page 1: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

UppedBy

EuklidFor Warthogsbooks

http://kickme.to/Warthogsbooks

Page 2: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

Friedrich Nietzsche

Die Geburt der Tragödieoder

Griechentum und Pessimismus

Page 3: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

2Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Versuch einer Selbstkritik

1

Was auch diesem fragwürdigen Buche zugrundeliegen mag: es muß eine Frage ersten Ranges undReizes gewesen sein, noch dazu eine tief persönlicheFrage - Zeugnis dafür ist die Zeit, in der es entstand,trotz der es entstand, die aufregende Zeit desdeutsch-französischen Krieges von 1870/71. Wäh-rend die Donner der Schlacht von Wörth über Europaweggingen, saß der Grübler und Rätselfreund, demdie Vaterschaft dieses Buches zuteil ward, irgendwoin einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und ver-rätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmertzugleich, und schrieb seine Gedanken über die Grie-chen nieder, - den Kern des wunderlichen undschlecht zugänglichen Buches, dem diese späte Vorre-de (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige Wo-chen darauf: und er befand sich selbst unter den Mau-ern von Metz, immer noch nicht losgekommen vonden Fragezeichen, die er zur vorgeblichen »Heiter-keit« der Griechen und der griechischen Kunst gesetzthatte; bis er endlich, in jenem Monat tiefster Span-nung, als man in Versailles über den Frieden beriet,

Page 4: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

3Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

auch mit sich zum Frieden kam und, langsam voneiner aus dem Felde heimgebrachten Krankheit gene-send, die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste derMusik« letztgültig bei sich feststellte. - Aus derMusik? Musik und Tragödie? Griechen und Tragödi-en-Musik? Griechen und das Kunstwerk des Pessi-mismus? Die wohlgeratenste, schönste, bestbeneidete,zum Leben verführendste Art der bisherigen Men-schen, die Griechen - wie? gerade sie hatten die Tra-gödie nötig? Mehr noch - die Kunst? Wozu - grie-chische Kunst?...

Man errät, an welche Stelle hiermit das große Fra-gezeichen vom Werte des Daseins gesetzt war. IstPessimismus notwendig das Zeichen des Nieder-gangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdetenund geschwächten Instinkte? - wie er es bei den In-dern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den»modernen« Menschen und Europäern ist? Gibt eseinen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelleVorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Pro-blematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströ-mender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Gibt esvielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst? Eineversucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, dienach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde,dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erprobenkann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten« ist?

Page 5: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

4Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten,stärksten, tapfersten Zeit, der tragischeMythus? Unddas ungeheure Phänomen des Dionysischen? Was,aus ihm geboren, die Tragödie? - Und wiederum:das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus derMoral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeitdes theoretischen Menschen - wie? könnte nicht gera-de dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs,der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lö-senden Instinkte sein? Und die »griechische Heiter-keit« des späteren Griechentums nur eine Abendröte?Der epikurische Wille gegen den Pessimismus nureine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaftselbst, unsere Wissenschaft - ja, was bedeutet über-haupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wis-senschaft? Wozu, schlimmer noch, woher - alle Wis-senschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleichtnur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus?Eine feine Notwehr gegen - dieWahrheit? Und, mo-ralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Un-moralisch geredet, eine Schlauheit? O Sokrates, So-krates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheim-nisvoller Ironiker, war dies vielleicht deine - Iro-nie? - -

Page 6: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

5Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

2

Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtba-res und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nichtnotwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neues Pro-blem: heute würde ich sagen, daß es das Problem derWissenschaft selbst war - Wissenschaft zum erstenMale als problematisch, als fragwürdig gefaßt. Aberdas Buch, in dem mein jugendlicher Mut und Arg-wohn sich damals ausließ - was für ein unmöglichesBuch mußte aus einer so jugendwidrigen Aufgabe er-wachsen! Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrü-nen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwel-le des Mitteilbaren lagen, hingestellt auf den Bodender Kunst - denn das Problem der Wissenschaft kannnicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt wer-den -, ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Ne-benhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten(das heißt für eine Ausnahme-Art von Künstlern,nach denen man suchen muß und nicht einmal suchenmöchte...), voller psychologischer Neuerungen undArtisten-Heimlichkeiten, mit einer Arti-sten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerkvoller Jugendmut und Jugend-Schwermut, unabhän-gig, trotzig-selbständig auch noch, wo es sich einerAutorität und eignen Verehrung zu beugen scheint,

Page 7: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

6Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

kurz ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmenSinne des Wortes, trotz seines greisenhaften Pro-blems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet, vorallem mit ihrem »Viel zu lang«, ihrem »Sturm undDrang«; andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, denes hatte (insonderheit bei dem großen Künstler, anden es sich wie zu einem Zwiegespräch wendete, beiRichard Wagner) ein bewiesenes Buch, ich meine einsolches, das jedenfalls »den Besten seiner Zeit« ge-nuggetan hat. Daraufhin sollte es schon mit einigerRücksicht und Schweigsamkeit behandelt werden;trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie un-angenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetztnach sechzehn Jahren vor mir steht, - vor einem älte-ren, hundertmal verwöhnteren, aber keineswegs kältergewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbstnicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegeneBuch zum ersten Male herangewagt hat - die Wissen-schaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, dieKunst aber unter der des Lebens...

Page 8: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

7Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

3

Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmöglichesBuch, - ich heiße es schlecht geschrieben, schwerfäl-lig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig, gefühlsam,hier und da verzuckert bis zum Femininischen, un-gleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauber-keit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sichüberhebend, mißtrauisch selbst gegen die Schicklich-keit des Beweisens, als Buch für Eingeweihte, als»Musik« für solche, die auf Musik getauft, die auf ge-meinsame und seltne Kunst-Erfahrungen hin von An-fang der Dinge an verbunden sind, als Erkennungszei-chen für Blutsverwandte in artibus, - ein hochmüti-ges und schwärmerisches Buch, das sich gegen dasprofanum vulgus der »Gebildeten« von vornhereinnoch mehr als gegen das »Volk« abschließt, welchesaber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich gutgenug auch darauf verstehen muß, sich seine Mit-schwärmer zu suchen und sie auf neue Schleichwegeund Tanzplätze zu locken. Hier redete jedenfalls -das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mitAbneigung ein - eine fremde Stimme, der Jüngereines noch »unbekannten Gottes«, der sich einstwei-len unter die Kapuze des Gelehrten, unter die schwereund dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst

Page 9: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

8Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

unter die schlechten Manieren des Wagnerianers ver-steckt hat; hier war ein Geist mit fremden, noch na-menlosen Bedürfnissen, ein Gedächtnis strotzend vonFragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen derName Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beige-schrieben war; hier sprach - so sagte man sich mitArgwohn - etwas wie eine mystische und beinahemänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich,fast unschlüssig darüber, ob sie sich mitteilen oderverbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zungestammelt. Sie hätte singen sollen, diese »neueSeele«und nicht reden! Wie schade, daß ich, was ichdamals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagenwagte: ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder minde-stens als Philologe; - bleibt doch auch heute noch fürden Philologen auf diesem Gebiete beinahe alles zuentdecken und auszugraben! Vor allem das Problem,daß hier ein Problem vorliegt, - und daß die Grie-chen, so lange wir keine Antwort auf die Frage »wasist dionysisch?« haben, nach wie vor gänzlich uner-kannt und unvorstellbar sind...

Page 10: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

9Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

4

Ja, was ist dionysisch? - In diesem Buche stehteine Antwort darauf, - ein »Wissender« redet da, derEingeweihte und Jünger seines Gottes. Vielleichtwürde ich jetzt vorsichtiger und weniger bereut voneiner so schweren psychologischen Frage reden, wiesie der Ursprung der Tragödie bei den Griechen ist.Eine Grundfrage ist das Verhältnis des Griechen zumSchmerz, sein Grad von Sensibilität, - blieb diesVerhältnis sich gleich? oder drehte es sich um? - jeneFrage, ob wirklich sein immer stärkeres Verlangennach Schönheit, nach Festen, Lustbarkeiten, neuenKulten aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancho-lie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt nämlich, ge-rade dies wäre wahr - und Perikles (oder Thukydides)gibt es uns in der großen Leichenrede zu verstehen -:woher müßte dann das entgegengesetzte Verlangen,das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Ver-langen nach dem Häßlichen, der gute strenge Willedes älteren Hellenen zum Pessimismus, zum tragi-schen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen,Rätselhaften, Vernichtenden, Verhängnisvollen aufdem Grunde des Daseins, - woher müßte dann dieTragödie stammen? Vielleicht aus der Lust, aus derKraft, aus überströmender Gesundheit, aus

Page 11: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

10Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

übergroßer Fülle? Und welche Bedeutung hat dann,physiologisch gefragt, jener Wahnsinn, aus dem dietragische wie die komische Kunst erwuchs, der diony-sische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht nichtnotwendig das Symptom der Entartung, des Nieder-gangs, der überspäten Kultur? Gibt es vielleicht -eine Frage für Irrenärzte - Neurosen der Gesundheit?der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weistjene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus wel-chem Selbsterlebnis, auf welchen Drang hin mußtesich der Grieche den dionysischen Schwärmer und Ur-menschen als Satyr denken? Und was den Ursprungdes tragischen Chors betrifft: gab es in jenen Jahrhun-derten, wo der griechische Leib blühte, die griechi-sche Seele von Leben überschäumte, vielleicht ende-mische Entzückungen? Visionen und Halluzinationen,welche sich ganzen Gemeinden, ganzen Kultver-sammlungen mitteilten? Wie? wenn die Griechen, ge-rade im Reichtum ihrer Jugend, den Willen zum Tra-gischen hatten und Pessimisten waren? wenn es gera-de der Wahnsinn war, um ein Wort Platos zu gebrau-chen, der die größten Segnungen über Hellas ge-bracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt,die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Auflösungund Schwäche immer optimistischer, oberflächlicher,schauspielerischer, auch nach Logik und Logisierungder Welt brünstiger, also zugleich »heiterer« und

Page 12: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

11Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

»wissenschaftlicher« wurden? Wie? könnte vielleicht,allen »modernen Ideen« und Vorurteilen des demo-kratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Opti-mismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit,der praktische und theoretische Utilitarismus, gleichder Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, -ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahendenAlters, der physiologischen Ermüdung sein? Und ge-rade nicht - der Pessimismus? War Epikur ein Opti-mist - gerade als Leidender? - - Man sieht, es ist einganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich diesesBuch belastet hat, - fügen wir seine schwerste Fragenoch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Le-bens gesehn, - die Moral?...

5

Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird dieKunst - und nicht die Moral - als die eigentlich me-taphysische Tätigkeit des Menschen hingestellt; imBuche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wie-der, daß nur als ästhetisches Phänomen das Daseinder Welt gerechtfertigt ist. In der Tat, das ganzeBuch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinnhinter allem Geschehen, - einen »Gott«, wenn manwill, aber gewiß nur einen gänzlich unbedenklichen

Page 13: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

12Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wieim Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seinergleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will,der sich, Welten schaffend, von der Not der Fülle undÜberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegen-sätze löst. Die Welt, in jedem Augenblick die er-reichte Erlösung Gottes, als die ewig wechselnde,ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten,Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu er-lösen weiß: diese ganze Artisten-Methaphysik magman willkürlich, müßig, phantastisch nennen -, dasWesentliche daran ist, daß sie bereits einen Geist ver-rät, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die mo-ralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseinszur Wehre setzen wird. Hier kündigt sich, vielleichtzum ersten Male, ein Pessimismus »jenseits von Gutund Böse« an, hier kommt jene »Perversität der Ge-sinnung« zu Wort und Formel, gegen welche Scho-penhauer nicht müde geworden ist, im voraus seinezornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, -eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst indie Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzenund nicht nur unter die »Erscheinungen« (im Sinnedes idealistischen terminus technicus), sondern unterdie »Täuschungen«, als Schein, Wahn, Irrtum, Aus-deutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht läßt sichdie Tiefe dieses widermoralischen Hanges am besten

Page 14: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

13Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

aus dem behutsamen und feindseligen Schweigen er-messen, Mut dem in dem ganzen Buche das Christen-tum behandelt ist, - das Christentum als die aus-schweifendste Durchfigurierung des moralischen The-mas, welche die Menschheit bisher anzuhören bekom-men hat. In Wahrheit, es gibt zu der rein ästhetischenWeltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie indiesem Buche gelehrt wird, keinen größeren Gegen-satz als die christliche Lehre, welche nur moralischist und sein will und mit ihren absoluten Maßen, zumBeispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, dieKunst, jede Kunst ins Reich der Lüge verweist, - dasheißt verneint, verdammt, verurteilt. Hinter einer der-artigen Denk- und Wertungsweise, welche kunstfeind-lich sein muß, solange sie irgendwie echt ist, empfandich von jeher auch das Lebensfeindliche, den ingrim-migen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Lebenselbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täu-schung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischenund des Irrtums. Christentum war von Anfang anwe-sentlich und gründlich, Ekel und Überdruß des Le-bens am Leben, welcher sich unter dem Glauben anein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete,nur versteckte, nur aufputzte. Der Haß auf die»Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor derSchönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, umdas Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein

Page 15: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

14Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen, hinzum »Sabbat der Sabbate« - dies alles dünkte mich,ebenso wie der unbedingte Wille des Christentums,nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie diegefährlichste und unheimlichste Form aller möglichenFormen eines »Willens zum Untergang«, zum minde-sten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Miß-mutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, - dennvor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt un-bedingten Moral) muß das Leben beständig und un-vermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas es-sentiell Unmoralisches ist, - muß endlich das Leben,erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und desewigen Neins, als begehrens-unwürdig, als unwert ansich empfunden werden. Moral selbst - wie? sollteMoral nicht ein »Wille zur Verneinung des Lebens«,ein heimlicher Instinkt der Vernichtung, ein Verfalls-,Verkleinerungs-, Verleumdungsprinzip, ein Anfangvom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr der Gefah-ren?... Gegen die Moral also kehrte sich damals, mitdiesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als einfürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sicheine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertungdes Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche.Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch derWorte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit - dennwer wüßte den rechten Namen des Antichrist? - auf

Page 16: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

15Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie diedionysische. -

6

Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mitdiesem Buche zu rühren wagte?... Wie sehr bedauereich es jetzt, daß ich damals noch nicht den Mut (oderdie Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Be-trachte für so eigne Anschauungen und Wagnisseauch eine eigne Sprache zu erlauben, - daß ich müh-selig mit Schopenhauerischen und Kantischen For-meln fremde und neue Wertschätzungen auszudrückensuchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhau-ers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund ausentgegen gingen! Wie dachte doch Schopenhauer überdie Tragödie? »Was allem Tragischen den eigentüm-lichen Schwung zur Erhebung gibt« - sagt er, Weltals Wille und Vorstellung II, 495 - »ist das Aufgehender Erkenntnis, daß die Welt, das Leben kein rechtesGenügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeitnicht wert sei: darin besteht der tragische Geist -, erleitet demnach zur Resignation hin.« O wie andersredete Dionysos zu mir! O wie ferne war mir damalsgerade dieser ganze Resignationismus! - Aber es gibtetwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt

Page 17: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

16Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen For-meln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdor-ben zu haben: daß ich mir nämlich überhaupt dasgrandiose griechische Problem, wie mir es aufgegan-gen war, durch Einmischung der modernsten Dingeverdarb! Daß ich Hoffnungen anknüpfte, wo nichtszu hoffen war, wo alles allzudeutlich auf ein Endehinwies! Daß ich, auf Grund der deutschen letztenMusik, vom »deutschen Wesen« zu fabeln begann,wie als ob es eben im Begriffsei, sich selbst zu ent-decken und wiederzufinden - und das zu einer Zeitwo der deutsche Geist, der nicht vor langem noch denWillen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Füh-rung Europas gehabt hatte eben letztwillig und end-gültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwan-de einer Reichs-Begründung, seinen Übergang zurVermittelmäßigung, zur Demokratie und den »moder-nen Ideen« machte! In der Tat, inzwischen lernte ichhoffnungslos und schonungslos genug von diesem»deutschen Wesen« denken, insgleichen von der jetzi-gen deutschen Musik, als welche Romantik durch unddurch ist und die ungriechischeste aller möglichenKunstformen: überdies aber eine Nervenverderberinersten Ranges, doppelt gefährlich bei einem Volke,das den Trunk liebt und die Unklarheit als Tugendehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als be-rauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum. -

Page 18: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

17Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungen undfehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes,mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb,bleibt das große dionysische Fragezeichen, wie esdarin gesetzt ist, auch in betreff der Musik, fort undfort bestehn: wie müßte eine Musik beschaffen sein,welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre,gleich der deutschen, - sondern dionysischen?...

7

- Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik,wenn nicht Ihr Buch Romantik ist? Läßt sich der tiefeHaß gegen »Jetztzeit«, »Wirklichkeit« und »moderneIdeen« weiter treiben, als es in Ihrer Arti-sten-Metaphysik geschehen ist? - welche lieber nochan das Nichts, lieber noch an den Teufel als an das»Jetzt« glaubt? Brummt nicht ein Grundbaß von Zornund Vernichtungslust unter aller Ihrer kontrapunkti-schen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg,eine wütende Entschlossenheit gegen alles, was»jetzt« ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vompraktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint »lie-ber mag nichts wahr sein, als daß ihr Recht hättet, alsdaß eureWahrheit Recht behielte!« Hören Sie selbst,mein Herr Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit

Page 19: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

18Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

aufgeschlossnerem Ohre eine einzige ausgewählteStelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte Drachen-töter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen ver-fänglich-rattenfängerisch klingen mag: wie? ist dasnicht das echte rechte Romantiker-Bekenntnis von1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850?hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finalepräludiert, - Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr undNiedersturz vor einem alten Glauben, vor dem altenGotte... Wie? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst einStück Antigriechentum und Romantik, selbst etwas»ebenso Berauschendes als Benebelndes«, ein Narko-tikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar, deutscherMusik? Aber man höre:

»Denken wir uns eine herauswachsende Genera-tion mit dieser Unerschrockenheit des Blicks,mit diesem heroischen Zug ins Ungeheure, den-ken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachen-töter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allenden Schwächlichkeitsdoktrinen des Optimismusden Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen›resolut zu leben‹: sollte es nicht nötig sein, daßder tragische Mensch dieser Kultur, bei seinerSelbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken,eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischenTrostes, die Tragödie als die ihm zugehörigeHelena begehren und mit Faust ausrufen muß:

Page 20: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

19Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Und sollt' ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?«

»Sollte es nicht nötig sein?«... Nein, dreimal nein!ihr jungen Romantiker: es sollte nicht nötig sein!Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß es so endet, daßihr so endet, nämlich »getröstet«, wie geschriebensteht, trotz aller Selbsterziehung zum Ernst und zumSchrecken, »metaphysisch getröstet«, kurz wie Ro-mantiker enden, christlich... Nein! Ihr solltet vorerstdie Kunst des diesseitigen Trostes lernen, - ihr solltetlachen lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihrdurchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht daß ihrdaraufhin, als Lachende, irgendwann einmal alle me-taphysische Trösterei zum Teufel schickt - und dieMetaphysik voran! Oder, um es in der Sprache jenesdionysischen Unholds zu sagen, der Zarathustraheißt:

»Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher!Und vergeßt mir auch die Beine nicht! Erhebt aucheure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihrsteht auch auf dem Kopf!

Diese Krone des Lachenden, diese Rosen-kranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf,ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen ande-ren fand ich heute stark genug dazu.

Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der

Page 21: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

20Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögelnzuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: -

Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahr-lacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer,der Sprünge und Seitensprünge liebt: ich selber setztemir diese Krone auf!

Diese Krone des Lachenden, diese Rosen-kranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich dieseKrone zu! Das Lachen sprach ich heilig: ihr höherenMenschen, lernt mir - lachen!«

Also sprach Zarathustra, vierter Teil

Page 22: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

21Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Vorwort an Richard Wagner

Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Auf-regungen und Mißverständnisse ferne zu halten, zudenen die in dieser Schrift vereinigten Gedanken beidem eigentümlichen Charakter unserer ästhetischenÖffentlichkeit Anlaß geben werden, und um auch dieEinleitungsworte zu derselben mit der gleichen be-schaulichen Wonne schreiben zu können, deren Zei-chen sie selbst, als das Petrefakt guter und erhebenderStunden, auf jedem Blatte trägt, vergegenwärtige ichmir den Augenblick, in dem sie, mein hochverehrterFreund, diese Schrift empfangen werden: wie sie,vielleicht nach einer abendlichen Wanderung im Win-terschnee, den entfesselten Prometheus auf dem Titel-blatte betrachten, meinen Namen lesen und sofortüberzeugt sind, daß, mag in dieser Schrift stehen, wasda wolle, der Verfasser etwas Ernstes und Eindringli-ches zu sagen hat, ebenfalls daß er, bei allem, was ersich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärti-gen verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Ent-sprechendes niederschreiben durfte. Sie werden dabeisich erinnern, daß ich zu gleicher Zeit, als Ihre herrli-che Festschrift über Beethoven entstand, das heißt inden Schrecken und Erhabenheiten des eben ausge-brochnen Krieges, mich zu diesen Gedanken

Page 23: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

22Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwabei dieser Sammlung an den Gegensatz von patrioti-scher Erregung und ästhetischer Schwelgerei, von tap-ferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten: denenmöchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieserSchrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit wel-chem ernsthaft deutschen Problem wir zu tun haben,das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscherHoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt, hingestelltwird. Vielleicht aber wird es für eben dieselben über-haupt anstößig sein, ein ästhetisches Problem so ernstgenommen zu sehn, falls sie nämlich in der Kunstnicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auchwohl zu missendes Schellengeklingel zum »Ernst desDaseins« zu erkennen imstande sind: als ob niemandwüßte, was es bei dieser Gegenüberstellung miteinem solchen »Ernste des Daseins« auf sich habe.Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, daß ich vonder Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlichmetaphysischen Tätigkeit dieses Lebens im Sinne desMannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erha-benen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift ge-widmet haben will.Basel, Ende des Jahres 1871

Page 24: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

23Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Die Geburt der Tragödieaus dem Geiste der Musik

1

Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaftgewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischenEinsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit derAnschauung gekommen sind, daß die Fortentwicke-lung der Kunst an die Duplizität des Apollinischenund des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicherWeise, wie die Generation von der Zweiheit der Ge-schlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur peri-odisch eintretender Versöhnung, abhängt. DieseNamen entlehnen wir von den Griechen, welche dietiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauungzwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deut-lichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigenvernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten,Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis,daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegen-satz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunstdes Bildners, der apollinischen, und der unbildlichenKunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beideso verschiedne Triebe gehen nebeneinander her,

Page 25: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

24Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

zumeist im offnen Zwiespalt miteinander und sich ge-genseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten rei-zend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zuperpetuieren, den das gemeinsame Wort »Kunst« nurscheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen me-taphysischen Wunderakt des hellenischen »Willens«,miteinander gepaart erscheinen und in dieser Paarungzuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunst-werk der attischen Tragödie erzeugen.

Um uns jene beiden Triebe näherzubringen, denkenwir sie uns zunächst als die getrennten Kunstweltendes Traumes und des Rausches; zwischen welchenphysiologischen Erscheinungen ein entsprechenderGegensatz wie zwischen dem Apollinischen und demDionysischen zu bemerken ist. Im Traume traten zu-erst, nach der Vorstellung des Lukretius, die herrli-chen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, imTraume sah der große Bildner den entzückenden Glie-derbau über, menschlicher Wesen, und der hellenischeDichter, um die Geheimnisse der poetischen Zeugungbefragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert undeine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie HansSachs in den Meistersingern gibt:

Mein Freund, das grad ist Dichters Werk,daß er sein Träumen deut' und merk'.Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn

Page 26: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

25Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

wird ihm im Traume aufgetan:all Dichtkunst und Poetereiist nichts als Wahrtraum-Deuterei.

Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Er-zeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Vor-aussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wirsehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wirgenießen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt,alle Formen sprechen zu uns, es gibt nichts Gleich-gültiges und Unnötiges. Bei dem höchsten Leben die-ser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durch-schimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstensist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, jaNormalität, ich manches Zeugnis und die Aussprücheder Dichter beizubringen hätte. Der philosophischeMensch hat sogar das Vorgefühl, daß auch unter die-ser Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zwei-te ganz andre verborgen liege, daß also auch sie einSchein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezudie Gabe, daß einem zu Zeiten die Menschen und alleDinge als bloße Phantome oder Traumbilder vorkom-men, als das Kennzeichen philosophischer Befähi-gung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit desDaseins, so verhält sich der künstlerisch erregbareMensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genauund gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich

Page 27: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

26Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für dasLeben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundli-chen Bilder sind es, die er mit jener Allverständlich-keit an sich erfährt: auch das Ernste, Trübe, Traurige,Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereiendes Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz dieganze »göttliche Komödie« des Lebens, mit dem In-ferno, zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schatten-spiel - denn er lebt und leidet mit in diesen Szenen -und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindungdes Scheins; und vielleicht erinnert sich mancher,gleich mir, in den Gefährlichkeiten und Schrecken desTraumes sich mitunter ermutigend und mit Erfolg zu-gerufen zu haben: »Es ist ein Traum! Ich will ihn wei-ter träumen!« Wie man mir auch von Personen erzählthat, die die Kausalität eines und desselben Traumesüber drei und mehr aufeinanderfolgende Nächte hinfortzusetzen imstande waren: Tatsachen, welche deut-lich Zeugnis dafür abgeben, daß unser innerstesWesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen,mit tiefer Lust und freudiger Notwendigkeit denTraum an sich erfährt.

Diese freudige Notwendigkeit der Traumerfahrungist gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo aus-gedrückt worden: Apollo, als der Gott aller bildneri-schen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende Gott. Er,der seiner Wurzel nach der »Scheinende«, die

Page 28: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

27Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Scheinder inneren Phantasie-Welt. Die höhere Wahrheit, dieVollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu derlückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodanndas tiefe Bewußtsein von der in Schlaf und Traumheilenden und helfenden Natur ist zugleich das sym-bolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit undüberhaupt der Künste, durch die das Leben möglichund lebenswert gemacht wird. Aber auch jene zarteLinie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, umnicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls derSchein als plumpe Wirklichkeit uns betrügenwürde -darf nicht im Bilde des Apollo fehlen: jenemaßvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderenRegungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergot-tes. Sein Auge muß »sonnenhaft«, gemäß seinem Ur-sprunge, sein; auch wenn es zürnt und unmutig blickt,liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Und somöchte von Apollo in einem exzentrischen Sinne dasgelten, was Schopenhauer von dem im Schleier derMaja befangenen Menschen sagt, Welt als Wille undVorstellung 1, S. 416: »Wie auf dem tobendenMeere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulendWellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn einSchiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend;so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig dereinzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das

Page 29: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

28Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

principium individuationis.« Ja es wäre von Apollozu sagen, daß in ihm das unerschütterte Vertrauen aufjenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihmBefangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommenhabe, und man möchte selbst Apollo als das herrlicheGötterbild des principii individuationis bezeichnen,aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust undWeisheit des »Scheines« samt seiner Schönheit, zuuns spräche.

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das un-geheure Grausen geschildert, welches den Menschenergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformender Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grun-de, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnah-me zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausendie wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die beidemselben zerbrechen des principii individuationisaus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Naturemporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen desDionysischen, das uns am nächsten noch durch dieAnalogie des Rausches gebracht wird. Entwederdurch den Einfluß des narkotischen Getränkes, vondem alle ursprünglichen Menschen und Völker inHymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganzeNatur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlingserwachen jene dionysischen Regungen, in deren Stei-gerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit

Page 30: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

29Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälztensich unter der gleichen dionysischen Gewalt immerwachsende Scharen, singend und tanzend, von Ort zuOrt: in diesen Sankt-Johann- und Sankt-Veittänzernerkennen wir die bacchischen Chöre der Griechenwieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hinzu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es gibtMenschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder ausStumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von»Volkskrankheiten«, spöttisch oder bedauernd im Ge-fühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armenahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespen-stisch eben diese ihre »Gesundheit« sich ausnimmt,wenn an ihnen das glühende Leben dionysischerSchwärmer vorüberbraust.

Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sichnicht nur der Bund zwischen Mensch und Menschwieder zusammen: auch die entfremdete, feindlicheoder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungs-fest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Frei-willig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahendie Raubttiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumenund Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüt-tet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.Man verwandele das Beethovensche Jubellied der»Freude« in ein Gemälde und bleibe mit seiner Ein-bildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen

Page 31: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

30Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

schauervoll in den Staub sinken: so kann man sichdem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sklave freierMann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligenAbgrenzungen, die Not, Willkür oder »freche Mode«zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, beidem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich jedermit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt,verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier derMaja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor demgeheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend undtanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer hö-heren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Spre-chen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in dieLüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden sprichtdie Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden, und dieErde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihmetwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbstwandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Göt-ter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nichtmehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: dieKunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonne-befriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unterden Schauern des Rausches. Der edelste Ton, derkostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen,der Mensch, und zu den Meißelschlägen des dionysi-schen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysteri-enruf: »Ihr stürzt nieder, Millionen? Ahnest du den

Page 32: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

31Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Schöpfer, Welt?« -

2

Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinenGegensatz, das Dionysische, als künstlerische Mächtebetrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittlungdes menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und indenen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf direktemWege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Trau-mes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammen-hang mit der intellektuellen Höhe oder künstlerischenBildung des einzelnen ist, andererseits als rauschvolleWirklichkeit, die wiederum des einzelnen nicht achtet,sondern sogar das Individuum zu vernichten unddurch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösensucht. Diesen unmittelbaren Kunstzuständen derNatur gegenüber ist jeder Künstler »Nachahmer«, undzwar entweder apollonischer Traumkünstler oder dio-nysischer Rauschkünstler oder endlich - wie bei-spielsweise in der griechischen Tragödie - zugleichRausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns etwazu denken haben, wie er, in der dionysischen Trun-kenheit und mystischen Selbstentäußerung, einsamund abseits von den schwärmenden Chören nieder-sinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische

Page 33: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

32Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Traumeinwirkung, sein eigener Zustand, d.h. seineEinheit mit dem innersten Grunde der Welt in einemgleichnisartigen Traumbilde offenbart.

Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Ge-genüberstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen,um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu wel-cher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen ent-wickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand ge-setzt werden, das Verhältnis des griechischen Künst-lers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristoteli-schen Ausdrucke, »die Nachahmung der Natur« tieferzu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen derGriechen ist trotz aller Traumliteratur derselben undzahlreichen Traumanekdoten nur vermutungsweise,aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: beider unglaublich bestimmten und sicheren plastischenBefähigung ihres Auges, samt ihrer hellen und auf-richtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechenkönnen, zur Beschämung aller spätergeborenen, auchfür ihre Träume eine logische Kausalität der Linienund Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren bestenReliefs ähnelnde Folge der Szenen vorauszusetzen,deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichungmöglich wäre, gewiß berechtigen würde, die träumen-den Griechen als Homere und Homer als einen träu-menden Griechen zu bezeichnen: in einem tieferenSinne, als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich

Page 34: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

33Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt.Dagegen brauchen wir nicht nur vermutungsweise

zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedecktwerden soll, welche die dionysischen Griechen vonden dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Endender alten Welt - um die neuere hier beiseite zu las-sen -, von Rom bis Babylon können wir die Existenzdionysischer Feste nachweisen deren Typus sich, be-stenfalls, zu dem Typus der griechischen verhält wieder bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attributeverlieh, zu Dionysus selbst. Fast überall lag das Zen-trum dieser Feste in einer überschwänglichen ge-schlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen überjedes Familientum und dessen ehrwürdige Satzungenhinwegfluteten; gerade die wildesten Bestien derNatur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheuli-chen Mischung von Wollust und Grausamkeit, diemir immer als der eigentliche »Hexentrank« erschie-nen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste,deren Kenntnis auf allen Land und Seewegen zu denGriechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit langvöllig gesichert und geschützt durch die hier in sei-nem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apol-lo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicherenMacht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaftungeschlachten dionysischen, Es ist die dorischeKunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende

Page 35: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

34Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Haltung des Apollo verewigt hat. Bedenklicher undsogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlichaus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sichähnliche Triebe Bahn brachen: jetzt beschränkte sichdas Wirken des delphischen Gottes darauf, dem ge-waltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abge-schlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen ausder Hand zu nehmen. Diese Versöhnung ist der wich-tigste Moment in der Geschichte des griechischenKultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen die-ses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnungzweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer vonjetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodi-scher Übersendung von Ehrengeschenken; im Grundewar die Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wiesich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses diedionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt,im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakäen undihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger undAffen, in den dionysischen Orgien der Griechen dieBedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungs-tagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstle-rischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreißung desprincipii individuationis ein künstlerisches Phäno-men. Jener scheußliche Hexentrank aus Wollust undGrausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wunder-same Mischung und Doppelheit in den Affekten der

Page 36: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

35Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

dionysischen Schwärmer errinnert an ihn - wie Heil-mittel an tödliche Gifte erinnern -, jene Erscheinung,daß Schmerzen Lust erwecken, daß der Jubel derBrust qualvolle Töne entreißt. Aus der höchsten Freu-de tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnendeKlagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenengriechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentali-scher Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zer-stückelung in Individuen zu seufzen habe. Der Ge-sang und die Gebärdensprache solcher zwiefach ge-stimmter Schwärmer war für die home-risch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes:und insbesondere erregte ihr die dionysischeMusikSchrecken und Grausen. Wenn die Musik scheinbarbereits als eine apollinische Kunst bekannt war, sowar sie dies doch nur, genau genommen, als Wellen-schlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zurDarstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde.Die Musik des Apollo war dorische Architektonik inTönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie derKithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Ele-ment, als unapollinisch, ferngehalten, das den Cha-rakter der dionysischen Musik und damit der Musiküberhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt desTones, der einheitliche Strom des Melos und diedurchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Imdionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur

Page 37: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

36Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähig-keiten gereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zurÄußerung, die Vernichtung des Schleiers der Maja,das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur.Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch aus-drücken; eine neue Welt der Symbole ist nötig, einmaldie ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolikdes Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern dievolle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzge-bärde. Sodann wachsen die anderen symbolischenKräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik undHarmonie plötzlich ungestüm. Um diese Gesamtent-fesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, mußder Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäuße-rung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbo-lisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysus-diener wird somit nur von seinesgleichen verstanden!Mit welchem Erstaunen mußte der apollinische Grie-che auf ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um sogrößer war, als sich ihm das Grausen beimischte, daßihm jenes alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja,daß sein apollinisches Bewußtsein nur wie ein Schlei-er diese dionysische Welt vor ihm verdecke.

Page 38: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

37Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

3

Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolleGebäude der apollinische Kultur gleichsam Stein umStein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, aufdie es begründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst dieherrlichen olympischen Göttergestalten, die auf denGiebeln dieses Gebäudes stehen, und deren Taten, inweithin leuchtenden Reliefs dargestellt, seine Friesezieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eineeinzelne Gottheit neben anderen und ohne den An-spruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns da-durch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich inApollo versinnlichte, hat überhaupt jene ganze olym-pische Welt geboren, und in diesem Sinne darf unsApollo als Vater derselben gelten. Welches war dasungeheure Bedürfnis, aus dem eine so leuchtende Ge-sellschaft olympischer Wesen entsprang?

Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, andiese Olympier herantritt und nun nach sittlicherHöhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung,nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht,der wird unmutig und enttäuscht ihnen bald denRücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Aske-se, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges,ja triumphierendes Dasein zu uns, in dem alles

Page 39: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

38Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oderböse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffenvor diesem phantastischen Überschwang des Lebensstehn, um sich zu fragen, mit welchem Zaubertrankim Leibe diese übermütigen Menschen das Leben ge-nossen haben mögen, daß, wohin sie sehen, Helena,das »in süßer Sinnlichkeit schwebende« Idealbildihrer eigenen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesembereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wiraber zurufen: Geh nicht von dannen, sondern höreerst, was die griechische Volksweisheit von diesemselben Leben aussagt, das sich hier mit so unerklärli-cher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die alteSage, daß König Midas lange Zeit nach dem weisenSilen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagthabe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in dieHände gefallen ist, fragt der König, was für den Men-schen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starrund unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durchden König gezwungen, endlich unter gellem Lachenin diese Worte ausbricht: »Elendes Eintagsgeschlecht,des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst dumich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Er-sprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlichunerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein,nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich - baldzu sterben.«

Page 40: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

39Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olym-pische Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Visiondes gefolterten Märtyrers zu seinen Peinigungen.

Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zau-berberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Griechekannte und empfand die Schrecken und Entsetzlich-keiten des Daseins: um überhaupt leben zu können,mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt derOlympischen Stellen. Jenes ungeheure Mißtrauengegen die titanischen Mächte der Natur, jene überallen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira,jener Geier des großen Menschenfreundes Prome-theus, jenes Schreckenslos des weisen Odipus, jenerGeschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Mutter-morde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Wald-gottes, samt ihren mythischen Exempeln, an der dieschwermütigen Etrurier zugrunde gegangen sind -wurde von den Griechen durch jene künstlerischeMit-telwelt der Olympier fortwährend von neuem über-wunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzo-gen. Um leben zu können, mußten die Griechen dieseGötter, aus tiefster Nötigung, schaffen: welchen Her-gang wir uns wohl so vorzustellen haben, daß aus derursprünglichen titanischen Götterordnung desSchreckens durch jenen apollinischen Schönheitstriebin langsamen Übergängen die olympische Götterord-nung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus

Page 41: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

40Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hättejenes so reizbar empfindende, so ungestüm begeh-rende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Da-sein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, voneiner höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern ge-zeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst insLeben ruft, als die zum Weiterleben verführende Er-gänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch dieolympische Welt entstehen, in der sich der hellenische»Wille« einen verklärenden Spiegel vorhielt. Sorechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem siees selbst leben - die allein genügende Theodicee! DasDasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Göt-ter wird als das an sich Erstrebenswerte empfunden,und der eigentliche Schmerz der homerischen Men-schen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vorallem auf das baldige Abscheiden: so daß man jetztvon ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit,sagen könnte, »das Allerschlimmste sei für sie, baldzu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zusterben.« Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt siewieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blätter-gleichen Wechsel und Wandel des Menschenge-schlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es istdes größten Helden nicht unwürdig, sich nach demWeiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner.So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der

Page 42: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

41Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

»Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt sich derhomerische Mensch mit ihm, daß selbst die Klage zuseinem Preisliede wird.

Hier muß nun ausgesprochen werden, daß diesevon den neueren Menschen so sehnsüchtig ange-schaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit derNatur, für die Schiller das Kunstwort »naiv« in Gel-tung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sichvon selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zu-stand ist, dem wir an der Pforte jeder Kultur, alseinem Paradies der Menschheit begegnen müßten:dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rous-seaus sich auch als Künstler zu denken suchte und inHomer einen solchen am Herzen der Natur erzogenenKünstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo unsdas »Naive« in der Kunst begegnet, haben wir diehöchste Wirkung der apollinischen Kultur zu erken-nen: welche immer erst ein Titanenreich zu stürzenund Ungetüme zu töten hat und durch kräftige Wahn-vorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eineschreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarsteLeidensfähigkeit Sieger geworden sein muß. Aber wieselten wird das Naive, jenes völlige Verschlungenseinin der Schönheit des Scheines, erreicht! Wie unaus-sprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich alseinzelner zu jener apollinischen Volkskultur verhältwie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung

Page 43: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

42Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

des Volks und der Natur überhaupt. Die homerische»Naivität« ist nur als der vollkommene Sieg der apol-linischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solcheIllusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Ab-sichten, so häufig verwendet. Das wahre Ziel wirddurch ein Wahnbild verdeckt: nach diesem streckenwir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durchunsre Täuschung. In den Griechen wollte der »Wille«sich selbst, in der Verklärung des Genius und derKunstwelt, anschauen; um sich zu verherrlichen,mußten seine Geschöpfe sich selbst als verherrli-chenswert empfinden, sie mußten sich in einer höhe-ren Sphäre wiedersehn, ohne daß diese vollendeteWelt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurfwirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sieihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit die-ser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische»Wille« gegen das dem künstlerischen korrelative Ta-lent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens: undals Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, dernaive Künstler.

Page 44: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

43Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

4

Über diesen naiven Künstler gibt uns die Traum-analogie einige Belehrung. Wenn wir uns den Träu-menden vergegenwärtigen, wie er, mitten in der Illusi-on der Traumwelt und ohne sie zu stören, sich zuruft:»es ist ein Traum, ich will ihn weiter träumen«, wennwir hieraus auf eine tiefe innere Lust des Trauman-schauens zu schließen haben, wenn wir andererseits,um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauenträumen zu können, den Tag und seine schrecklicheZudringlichkeit völlig vergessen haben müssen: sodürfen wir uns alle diese Erscheinungen etwa in fol-gender Weise, unter der Leitung des traumdeutendenApollo, interpretieren. So gewiß von den beiden Hälf-ten des Lebens, da wachen und der träumenden Hälf-te, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wich-tigere, würdigere, lebenswertere, ja allein gelebtedünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine einerParadoxie, für jenen geheimnisvollen Grund unseresWesens dessen Erscheinung wir sind, gerade die ent-gegengesetzte Wertschätzung des Traumes behaupten.Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigenKunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsuchtzum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein ge-wahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der

Page 45: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

44Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

metaphysischen Annahme gedrängt, daß das Wahr-haft-Seiende und Ur-Eine, als das Ewig-Leidend undWiderspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision,den lustvollen Schein zu seiner steten Erlösungbraucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangenund aus ihm bestehend, als das Wahr-haft-Nichtseiende, d.h. als ein forrwährendes Werdenin Zeit, Raum und Kausalität, mit anderen Worten,als empirische Realität zu empfinden genötigt sind.Sehen wir also einmal von unsrer eignen »Realität«für einen Augenblick ab, fassen wir unser empirischesDasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedemMoment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so mußuns jetzt der Traum als der Schein des Scheins, somitals eine noch höhere Befriedigung der Urbegierdenach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grun-de hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibli-che Lust an dem naiven Künstler und dem naivenKunstwerke, das gleichfalls nur »Schein des Scheins«ist. Raffael, selbst einer jener unsterblichen »Naiven«,hat uns in einem gleichnisartigen Gemälde jenes De-potenzieren des Scheins zum Schein, den Urprozeßdes naiven Künstlers und zugleich der apollinischenKultur, dargestellt. In seiner Transfiguration zeigtuns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben,den verzweifelnden Trägern, den ratlos geängstigtenJüngern, die Widerspiegelung des ewigen

Page 46: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

45Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der»Schein« ist hier Widerschein des ewigen Wider-spruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Scheinsteigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visions-gleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im erstenSchein Befangenen nichts sehen - ein leuchtendesschweben in reinster Wonne und Schmerzlosem, ausweiten Augen strahlenden Anschauen. Hier habenwir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinischeSchönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckli-che Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und be-greifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Notwendig-keit. Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttli-chung des principii individuationis entgegen, in demallein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Er-lösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt unsmit erhabenen Gebärden, wie die ganze Welt der Qualnötig ist, damit durch sie der einzelne zur Erzeugungder erlösenden Vision gedrängt werde und dann, insAnschauen derselben versunken, ruhig auf seinemschwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.

Diese Vergöttlichung der Individuation kennt,wenn sie überhaupt imperativisch und Vorschriftengebend gedacht wird, nur ein Gesetz, das Individuum,d.h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, dasMaß im hellenischen Sinne. Apollo, als ethischeGottheit, fordert von den Seinigen das Maß und, um

Page 47: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

46Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

es einhalten zu können, Selbsterkenntnis. Und so läuftneben der ästhetischen Notwendigkeit der Schönheitdie Forderung des »Erkenne dich selbst« und des»Nicht zu viel!« her, während Selbstüberhebung undÜbermaß als die eigentlich feindseligen Dämonen dernicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaftender vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, undder außer-apollinischen Welt, d.h. der Barbarenwelt,erachtet wurden. Wegen seiner titanenhaften Liebe zuden Menschen mußte Prometheus von den Geiern zer-rissen werden, seiner übermäßigen Weisheit halber,die das Rätsel der Sphinx löste, mußte Ödipus ineinen verwirrenden Strudel von Untaten stürzen: sointerpretierte der delphische Gott die griechische Ver-gangenheit.

»Titanenhaft« und »barbarisch« dünkte dem apolli-nischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysi-sche erregte: ohne dabei sich verhehlen zu können,daß er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenengestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja ermußte noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein, mitaller Schönheit und Mäßigung, ruhte auf einem ver-hüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntnis,der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedecktwurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysusleben! Das »Titanische« und das »Barbarische« warzuletzt eine eben solche Notwendigkeit wie das

Page 48: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

47Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in dieseauf den Schein und die Mäßigung gebaute und künst-lich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Diony-susfeier in immer lockenderen Zauberweisen hin-einklang, wie in diesen das ganze Übermaß der Naturin Lust, Leid und Erkenntnis, bis zum durchdringen-den Schrei, laut wurde denken wir uns, was diesemdämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodie-rende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaftenHarfenklange, bedeuten konnte! Die Musen der Kün-ste des »Scheins« verblaßten vor einer Kunst, die inihrem Rausche die Wahrheit sprach die Weisheit desSilen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olym-pier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen undMaßen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dio-nysischen Zustände unter und vergaß die apollini-schen Satzungen. Das Übermaß enthüllte sich alsWahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen gebo-rene Wonne sprach von sich aus dem Herzen derNatur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dio-nysische durchdrang, das Apollinische aufgehobenund vernichtet. Aber ebenso gewiß ist, daß dort, woder erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehenund die Majestät des delphischen Gottes starrer unddrohender als je sich äußerte. Ich vermag nämlich dendorischen Staat und die dorische Kunst mir nur alsein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu

Page 49: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

48Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

erklären: nur in einem unausgesetzten Widerstrebengegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysi-schen konnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerkenumschlossene Kunst, eine so kriegsgemäße und herbeErziehung, ein so grausames und rücksichtslosesStaatswesen von längerer Dauer sein.

Bis zu diesem Punkte ist des weiteren ausgeführtworden, was ich am Eingange dieser Abhandlung be-merkte: wie das Dionysische und das Apollinische, inimmer neuen aufeinanderfolgenden Geburten, undsich gegenseitig steigernd, das hellenische Wesen be-herrscht haben: wie aus dem »erzenen« Zeitalter, mitseinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilo-sophie, sich unter dem Walten des apollinischenSchönheitstriebes die homerische Welt entwickelt,wie diese »naive« Herrlichkeit wieder von dem ein-brechenden Strome des Dionysischen verschlungenwird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich dasApollinische zur starren Majestät der dorischen Kunstund Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weisedie ältere hellenische Geschichte, im Kampf jenerzwei feindseligen Prinzipien, in vier große Kunststu-fen zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt, weiter nachdem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zufragen, falls uns nicht etwa die letzterreichte Periode,die der dorischen Kunst, als die Spitze und Absichtjener Kunsttriebe gelten sollte: und hier bietet sich

Page 50: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

49Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

unseren Blicken das erhabene und hochgeprieseneKunstwerk der attischen Tragödie und des dramati-schen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beiderTriebe, deren geheimnisvolles Ehebündnis, nach lan-gem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchenKinde - das zugleich Antigone und Kassandra ist -verherrlicht hat.

5

Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrerUntersuchung, die auf die Erkenntnis des diony-sisch-apollonischen Genius und seines Kunstwerkes,wenigstens auf das ahnungsvolle Verständnis jenesEinleitungsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wirnun zunächst, wo jener neue Keim sich zuerst in derhellenischen Welt bemerkbar macht, der sich nachherbis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambusentwickelt. Hierüber gibt uns das Altertum selbstbildlich Aufschluß, wenn es als die Urväter undFackelträger der griechischen Dichtung Homer undArchilochus auf Bildwerken, Gemmen usw. neben-einander stellt, in der sicheren Empfindung, daß nurdiese beiden gleich völlig originalen Naturen, vondenen aus ein Feuerstrom auf die gesamte griechischeNachwelt fortfließe, zu erachten seien. Homer, der in

Page 51: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

50Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

sich versunkene greise Träumer, der Typus des apolli-nischen, naiven Künstlers, sieht nun staunend den lei-denschaftlichen Kopf des wild durchs Dasein getrie-benen kriegerischen Musendieners Archilochus: unddie neuere Ästhetik wußte nur deutend hinzuzufügen,daß hier dem »objektiven« Künstler der erste »subjek-tive« entgegengestellt sei. Uns ist mit dieser Deutungwenig gedient, weil wir den subjektiven Künstler nurals schlechten Künstler kennen und in jeder Art undHöhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung dessubjektiven, Erlösung vom »Ich« und stillschweigenjedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, jaohne Objektivität, ohne reines interesseloses An-schauen nie an die geringste wahrhaft künstlerischeErzeugung glauben können. Darum muß unsre Ästhe-tik erst jenes Problem lösen, wie der »Lyriker« alsKünstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung allerZeiten, immer »ich« sagt und die ganze chromatischeTonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen voruns absingt. Gerade dieser Archilochus erschrecktuns, neben Homer, durch den Schrei seines Hassesund Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Be-gierde; ist er, der erste subjektiv genannte Künstler,nicht damit der eigentliche Nichtkünstler? Woher aberdann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, geradeauch das delphische Orakel der Herd der »objektiven«Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen

Page 52: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

51Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

hat?Über den Prozeß seines Dichtens hat uns Schiller

durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht be-denklich scheinende psychologische BeobachtungLicht gebracht; er gesteht nämlich, als den vorberei-tenden Zustand vor dem Aktus des Dichtens nichtetwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Kausali-tät der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zuhaben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung(»Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimm-ten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst spä-ter. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung gehtvorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetischeIdee«), Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomender ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natür-lich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikersmit dem Musiker - der gegenüber unsre neuere Lyrikwie ein Götterbild ohne Kopf erscheint -, so könnenwir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten ästhe-tischen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyri-ker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler,gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Wi-derspruch, eins geworden und produziert das Abbilddieses Ur-Einen als Musik, wenn anders diese mitRecht eine Wiederholung der Welt und ein zweiterAbguß derselben genannt worden ist; jetzt aber wirddiese Musik ihm wieder, wie in einem

Page 53: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

52Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gleichnisartigen Traumbilde, unter der apollinischenTraumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begriffloseWiderschein des Urschmerzes in der Musik, mit sei-ner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweiteSpiegelung, als einzelnes Gleichnis oder Exempel.Seine Subjektivität hat der Künstler bereits in demdionysischen Prozeß aufgegeben: das Bild, das ihmjetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, isteine Traumszene, die jenen Urwiderspruch und Ur-schmerz, samt der Urlust des Scheines, versinnlicht.Das »Ich« des Lyrikers tönt also aus dem Abgrundedes Seins: seine »Subjektivität« im Sinne der neuerenÄsthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus,der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebeund zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly-kambes kundgibt, so ist es nicht seine Leidenschaft,die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehenDionysus und die Mänaden, wir sehen den berausch-ten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesun-ken wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt,den Schlaf auf hoher Alpentrift, in der Mittagssonne-: und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihnmit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische Ver-zauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bil-derfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrerhöchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Di-thyramben heißen.

Page 54: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

53Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epi-ker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken.Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlignur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben.Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbst-entäußerungs- und Einheitszustande eine Bilder- undGleichniswelt hervorwachsen, die eine ganz andereFärbung, Kausalität und Schnelligkeit hat als jeneWelt des Plastikers und Epikers. Während der letztge-nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudi-gem Behagen lebt und nicht müde wird, sie bis aufdie kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, wäh-rend selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihnnur ein Bild ist, dessen zürnenden Ausdruck er mitjener Traumlust am Scheine genießt - so daß er,durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins-werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gedan-ken geschützt ist -, so sind dagegen die Bilder desLyrikers nichts als er selbst und gleichsam nur ver-schiedene Objektivationen von ihm, weshalb er alsbewegender Mittelpunkt jener Welt »ich« sagen darf:nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wa-chen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzigeüberhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde derDinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyri-sche Genius bis auf den Grund der Dinge hindurch-sieht. Nun denken wir uns einmal, wie er unter diesen

Page 55: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

54Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius erblickt,d.h. sein »Subjekt«, das ganze Gewühl subjektiver,auf ein bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerich-teter Leidenschaften und Willensregungen; wenn esjetzt scheint, als ob der lyrische Genius und der mitihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob dererstere von sich selbst jenes Wörtchen »ich« spräche,so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführenkönnen, wie er allerdings diejenigen verführt hat, dieden Lyriker als den subjektiven Dichter bezeichnethaben. In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaft-lich entbrannte, liebende und hassende Mensch, nureine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archi-lochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Ur-schmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archi-lochus symbolisch ausspricht: während jener subjek-tiv wollende und begehrende Mensch Archilochusüberhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es istaber gar nicht nötig, daß der Lyriker gerade nur dasPhänomen des Menschen Archilochus vor sich siehtals Wiederschein des ewigen Seins; und die Tragödiebeweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikersvon jenem allerdings zunächst stehenden Phänomenentfernen kann.Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der

Lyriker für die philosophische Kunstbetrachtungmacht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg

Page 56: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

55Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann,während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysikder Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mitdem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werdenkonnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seinerEhre, hier getan zu haben glaube. Dagegen bezeichneter als das eigentümliche Wesen des Liedes folgendes(Welt als Wille und Vorstellung I, S. 295): »Es istdas Subjekt des Willens, d.h. das eigene Wollen, wasdas Bewußtsein des Singenden füllt, oft als ein ent-bundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl nochöfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Af-fekt, Leidenschaft, bewegter Gemütszustand. Nebendiesem jedoch und zugleich damit wird durch den An-blick der umgebenden Natur der Singende sich seinerbewußt als Subjekts des reinen, willenlosen Erken-nens, dessen unerschütterliche selige Ruhe nunmehrin Kontrast tritt mit dem Drange des immer be-schränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Emp-findung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles isteigentlich, was sich im Ganzen des Liedes aussprichtund was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht.In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu unsheran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu er-lösen: wir folgen, doch nur auf Augenblicke: immervon neuem entreißt das Wollen, die Erinnerung an un-sere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen

Page 57: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

56Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Beschauung; aber auch immer wieder entlockt unsdem Wollen die nächste schöne Umgebung, in wel-cher sich die reine willenlose Erkenntnis uns darbie-tet. Darum geht im Liede und der lyrischen Stimmungdas Wollen (das persönliche Interesse des Zwecks)und das reine Anschauen der sich darbietenden Umge-bung wundersam gemischt durcheinander: es werdenBeziehungen zwischen beiden gesucht und imaginiert;die subjektive Stimmung, die Affektion des Willens,teilt der angeschauten Umgebung und diese wiederumjener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen sogemischten und geteilten Gemütszustande ist dasechte Lied der Abdruck.« Wer vermöchte in dieserSchilderung zu verkennen, daß hier die Lyrik als eineunvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge undselten zum Ziel kommende Kunst charakterisiert wird,ja als eine Halbkunst, derenWesen darin bestehensolle, daß das Wollen und das reine Anschauen, d.h.der unästhetische und der ästhetische Zustand, wun-dersam durcheinandergemischt seien? Wir behauptenvielmehr, daß der ganze Gegensatz, nach dem wienach einem Wertmesser auch noch Schopenhauer dieKünste einteilt, der des Subjektiven und des Objekti-ven, überhaupt in der Ästhetik ungehörig ist, da dasSubjekt, das wollende und seine egoistischen Zweckefördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ur-sprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber

Page 58: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

57Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

das Subjekt Künstler ist, ist es bereits von seinem in-dividuellen Willen erlöst und gleichsam Medium ge-worden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiendeSubjekt seine Erlösung im Scheine feiert. Denn diesmuß uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Er-höhung, deutlich sein, daß die ganze Kunstkomödiedurchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung undBildung wegen, aufgeführt wird, ja daß wir ebenso-wenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind:wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, daßwir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilderund künstlerische Projektionen sind und in der Bedeu-tung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben -denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Daseinund die Welt ewig gerechtfertigt; - während freilichunser Bewußtsein über diese unsre Bedeutung kaumein andres ist, als es die auf Leinwand gemalten Krie-ger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben.Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde einvöllig illusorisches, weil wir als Wissende mir jenemWesen nicht eins und identisch sind, das sich als ein-ziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie,einen ewigen Genuß bereitet. Nur soweit der Geniusim Aktus der künstlerischen Zeugung mit jenem Ur-künstler der Welt verschmilzt, weiß er etwas über dasewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ister, wunderbarerweise, dem unheimlichen Bild des

Page 59: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

58Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Märchens gleich das die Augen drehn und sich selberanschaun kann; jetzt ist er zugleich Subjekt und Ob-jekt, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.

6

In betreff des Archilochus hat die gelehrte For-schung entdeckt, daß er das Volkslied in die Literatureingeführt habe, und daß ihm, dieser Tat halber, jeneeinzige Stellung neben Homer in der allgemeinenSchätzung der Griechen zukomme. Was aber ist dasVolkslied im Gegensatz zu dem völlig apollinischenEpos? Was anders als das perpetuum vestigium einerVereinigung des Apollinischen und des Dionysischen;seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckendeund in immer neuen Geburten sich steigernde Verbrei-tung ist uns ein Zeugnis dafür, wie stark jener künst-lerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analogerWeise seine Spuren im Volkslied hinterläßt, wie dieorgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seinerMusik verewigen. Ja es müßte auch historisch nach-weisbar sein, wie jede an Volksliedern reich produk-tive Periode zugleich auf das stärkste durch dionysi-sche Strömungen erregt worden ist, welche wir immerals Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zubetrachten haben.

Page 60: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

59Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Das Volkslied aber gilt uns zuallernächst als musi-kalischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, diesich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht unddiese in der Dichtung ausspricht. Die Melodie ist alsodas Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrereObjektivationen, in mehreren Texten, an sich erleidenkann. Sie ist auch das bei weitem Wichtigere undNotwendigere in der naiven Schätzung des Volkes.Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich, und zwarimmer wieder von neuem; nichts andres will uns dieStrophenform des Volksliedes sagen: welches Phäno-men ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ichendlich diese Erklärung fand. Wer eine Sammlungvon Volksliedern, z.B. des Knaben Wunderhorn, aufdiese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispie-le finden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bil-derfunken um sich aussprüht, die in ihrer Buntheit,ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzeneine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fort-strömen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Stand-punkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmä-ßige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurteilen: unddies haben gewiß die feierlichen epischen Rhapsodender apollinischen Feste im Zeitalter des Terpandergetan.

In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also dieSprache auf das stärkste angespannt, die Musik

Page 61: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

60Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

nachzuahmen: deshalb beginnt mit Archilochus eineneue Welt der Poesie, die der homerischen in ihremtiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir daseinzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie undMusik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild,der Begriffsucht einen der Musik analogen Ausdruckund erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. Indiesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte desgriechischen Volkes zwei Hauptströmungen unter-scheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs-und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Mandenke nur einmal tiefer über die sprachliche Differenzder Farbe, des syntaktischen Baus, des Wortmaterialsbei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung diesesGegensatzes zu begreifen; ja es wird einem dabeihandgreiflich deutlich, daß zwischen Homer und Pin-dar die orgiastischen Flötenweisen des Olympus er-klungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Ari-stoteles, inmitten einer unendlich entwickelterenMusik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewißin ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischenAusdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zurNachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier anein bekanntes, unserer Ästhetik nur anstößig dünken-des Phänomen unserer Tage. Wir erleben es immerwieder, wie eine Beethovensche Symphonie die ein-zelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nötigt, sei es auch,

Page 62: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

61Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

daß eine Zusammenstellung der verschiedenen, durchein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phan-tastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: an sol-chen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu übenund das doch wahrlich erklärenswerte Phänomen zuübersehen, ist recht in der Art jener Ästhetik. Ja selbstwenn der Tondichter in Bildern über eine Kompositi-on geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pa-storale und einen Satz als »Szene am Bach«, einenanderen als »lustiges Zusammensein der Landleute«bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnisartige,aus der Musik geborne Vorstellungen - und nichtetwa die nachgeahmten Gegenstände der Musik -Vorstellungen, die über den dionysischen Inhalt derMusik uns nach keiner Seite hin belehren können, jadie keinen ausschließlichen Wert neben andern Bil-dern haben. Diesen Prozeß einer Entladung der Musikin Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische,sprachlich schöpferische Volksmenge zu übertragen,um zur Ahnung zu kommen, wie das strophischeVolkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermö-gen durch das neue Prinzip der Nachahmung derMusik aufgeregt wird.

Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nach-ahmende Effulguration der Musik in Bildern und Be-griffen betrachten, so können wir jetzt fragen: »alswas erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit

Page 63: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

62Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

und der Begriffe?« Sie erscheint als Wille, das Wortim schopenhauerischen Sinne genommen, d.h. als Ge-gensatz der ästhetischen, rein beschaulichen willenlo-sen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharfals möglich den Begriff des Wesens von dem der Er-scheinung denn die Musik kann, ihrem Wesen nach,unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlichaus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre -denn derWille ist das an sich Unästhetische -; aber sie er-scheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bil-dern auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungender Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung bis zumGrollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apollini-schen Gleichnissen von der Musik zu reden, verstehter die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewigWollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber dieMusik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillenMeeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehrauch alles, was er durch das Medium der Musik an-schaut, um ihn herum in drängender und treibenderBewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbeMedium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bildim Zustande des unbefriedigten Gefühls: sein eignesWollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm einGleichnis, mit dem er die Musik sich deutet. Dies istdas Phänomen des Lyrikers: als apollinischer Geniusinterpretiert er die Musik durch das Bild des Willens,

Page 64: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

63Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

während er selbst, völlig losgelöst von der Gier desWillens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist.

Diese ganze Erörterung hält daran fest, daß dieLyrik ebenso abhängig ist vom Geiste der Musik, alsdie Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit,das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihnnur neben sich erträgt. Die Dichtung des Lyrikerskann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuerstenAllgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musiklag, die ihn zur Bilderrede nötigte. Der Weltsymbolikder Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keineWeise erschöpfend beizukommen, weil sie sich aufden Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen desUr-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre sym-bolisiert, die über alle Erscheinung und vor aller Er-scheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Er-scheinung nur Gleichnis: daher kann die Sprache, alsOrgan und Symbol der Erscheinungen, nie und nir-gends das tiefste Innere der Musik nach außen kehren,sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachah-mung der Musik einläßt, nur in einer äußerlichen Be-rührung mit der Musik, während deren tiefster Sinn,durch alle Lyrische Beredsamkeit, uns auch keinenSchritt näher gebracht werden kann.

Page 65: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

64Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

7

Alle die bisher erörterten Kunstprinzipien müssenwir jetzt zu Hilfe nehmen, um uns in dem Labyrinthzurechtzufinden, als welches wir den Ursprung dergriechischen Tragödie bezeichnen müssen. Ich denkenichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, daßdas Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nichteinmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gelöstist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antikenÜberlieferung schon kombinatorisch aneinanderge-näht und wieder auseinandergerissen sind. DieseÜberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit,daß die Tragödie aus dem tragischen Chore ent-standen ist und ursprünglich nur Chor und nichts alsChor war: woher wir die Verpflichtung nehmen, die-sem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdramains Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen Kunst-redensarten - daß er der idealische Zuschauer sei oderdas Volk gegenüber der fürstlichen Region der Szenezu vertreten habe - irgendwie genügen zu lassen.Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhabenklingende Erläuterungsgedanke - als ob das unwan-delbare Sittengesetz von den demokratischen Athe-nern in dem Volkschore dargestellt sei, der über dieleidenschaftlichen Ausschreitungen und

Page 66: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

65Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht be-halte - mag noch so sehr durch ein Wort des Aristote-les nahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formationder Tragödie ist er ohne Einfluß, da von jenen rein re-ligiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz von Volkund Fürst, überhaupt jegliche politisch-soziale Sphäreausgeschlossen ist; aber wir möchten es auch in Hin-sicht auf die uns bekannte klassische Form des Chorsbei Äschylus und Sophokles für Blasphemie erachten,hier von der Ahnung einer »konstitutionellen Volks-vertretung« zu reden, vor welcher Blasphemie anderenicht zurückgeschrocken sind. Eine konstitutionelleVolksvertretung kennen die antiken Staatsverfassun-gen in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch inihrer Tragödie nicht einmal »geahnt«.

Viel berühmter als diese politische Erklärung desChors ist der Gedanke A. W. Schlegels, der uns denChor gewissermaßen als den Inbegriff und Extrakt derZuschauermenge, als den »idealischen Zuschauer« zubetrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammenge-halten mit jener historischen Überlieferung, daß ur-sprünglich die Tragödie nur Chor war, erweist sichals das, was sie ist, als eine rohe, unwissenschaftliche,doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz aber nurdurch ihre konzentrierte Form des Ausdrucks, durchdie echt germanische Voreingenommenheit für alles,was »idealisch« genannt wird, und durch unser

Page 67: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

66Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

momentanes Erstaunt sein erhalten hat. Wir sind näm-lich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Thea-terpublikum mit jenem Chore vergleichen und uns fra-gen, ob es wohl möglich sei, aus diesem Publikum jeetwas dem tragischen Chore Analoges herauszuideali-sieren. Wir leugnen dies im stillen und wundern unsjetzt ebenso über die Kühnheit der Schlegelschen Be-hauptung wie über die total verschiedene Natur desgriechischen Publikums. Wir hatten nämlich dochimmer gemeint, daß der rechte Zuschauer, er sei werer wolle, sich immer bewußt bleiben müsse, einKunstwerk vor sich zu haben, nicht eine empirischeRealität: während der tragische Chor der Griechen inden Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu er-kennen genötigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirk-lich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und hältsich selbst für ebenso real wie den Gott der Szene.Und das sollte die höchste und reinste Art des Zu-schauers sein, gleich den Okeaniden den Prometheusfür leiblich vorhanden und real zu halten? Und eswäre das Zeichen des idealischen Zuschauers auf dieBühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zubefreien? Wir hatten an ein ästhetisches Publikum ge-glaubt und den einzelnen Zuschauer um so befähigtergehalten, je mehr er imstande war, das Kunstwerk alsKunst, d.h. ästhetisch zu nehmen; und jetzt deuteteuns der Schlegelsche Ausdruck an, daß der

Page 68: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

67Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Szenegar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch aufsich wirken lasse. O über diese Griechen! seufztenwir; sie werfen uns unsre Ästhetik um! Daran aber ge-wöhnt, wiederholten wir den Schlegelschen Spruch,so oft der Chor zur Sprache kam.

Aber jene so ausdrückliche Überlieferung redet hiergegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, alsodie primitive Gestalt der Tragödie und jener Choridealischer Zuschauer vertragen sich nicht miteinan-der. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus demBegriff des Zuschauers herausgezogen wäre, als dereneigentliche Form der »Zuschauer an sich« zu geltenhätte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist ein wider-sinniger Begriff. Wir fürchten, daß die Geburt derTragödie weder aus der Hochachtung vor der sittli-chen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff desschauspiellosen Zuschauers zu erklären sei, und hal-ten dies Problem für zu tief, um von so flachen Be-trachtungsarten auch nur berührt zu werden.

Eine unendlich wertvollere Einsicht über die Be-deutung des Chors hatte bereits Schiller in der be-rühmten Vorrede zur Braut von Messina verraten, derden Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die dieTragödie um sich herum zieht, um sich von der wirk-lichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealenBoden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.

Page 69: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

68Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegenden gemeinen Begriff des Natürlichen, gegen die beider dramatischen Poesie gemeinhin geheischte Illusi-on. Während der Tag selbst auf dem Theater nur einkünstlicher, die Architektur nur eine symbolische seiund die metrische Sprache einen idealen Charaktertrage, herrsche immer noch der Irrtum im ganzen: essei nicht genug, daß man das nur als eine poetischeFreiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei.Die Einführung des Chores sei der entscheidendeSchritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunstoffen und ehrlich der Krieg erklärt werde. -Eine sol-che Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unsersich über legen wähnendes Zeitalter das wegwerfendeSchlagwort »Pseudoidealismus« gebraucht. Ich fürch-te, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrungdes Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol allesIdealismus angelangt, nämlich in der Region derWachsfigurenkabinette. Auch in ihnen gibt es eineKunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Ge-genwart: nur quäle man uns nicht mit dem Anspruch,daß mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche »Pseu-doidealismus« überwunden sei.

Freilich ist es ein »idealer« Boden, auf dem, nachder richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyr-chor, der Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wan-deln pflegt, ein Boden, hoch emporgehoben über die

Page 70: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

69Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Griechehat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fin-gierten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fin-gierte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist auf die-sem Fundamente emporgewachsen und freilich schondeshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonter-feien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist esdoch keine willkürlich zwischen Himmel und Erdehineinphantasierte Welt: vielmehr eine Welt von glei-cher Realität und Glaubwürdigkeit, wie sie der Olympsamt seinen Insassen für den gläubigen Hellenenbesaß. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt ineiner religiös zugestandenen Wirklichkeit unter derSanktion des Mythus und des Kultus. Daß mit ihmdie Tragödie beginnt, daß aus ihm die dionysischeWeisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns ebensobefremdendes Phänomen, wie überhaupt die Entste-hung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewin-nen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wennich die Behauptung hinstelle, daß sich der Satyr, dasfingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in glei-cher Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zi-vilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, daß sievon der Musik aufgehoben werde wie der Lampen-schein vom Tageslicht. In gleicher Weise, glaube ich,fühlte sich der griechische Kulturmensch im Ange-sicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die

Page 71: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

70Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, daß derStaat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwi-schen Mensch und Mensch einem übermächtigen Ein-heitsgefühle weichen, welches an das Herz der Naturzurückführt. Der metaphysische Trost - mit welchem,wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödieentläßt - daß das Leben im Grunde der Dinge trotzallem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mäch-tig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafterDeutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen,die gleichsam hinter aller Zivilisation unvertilgbarleben und trotz allem Wechsel der Generationen undder Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.

Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige undzum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigteHellene, der mit schneidigem Blicke mitten in dasfurchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Welt-geschichte, ebenso wie in die Grausamkeit der Naturgeschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer bud-dhistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihnrettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich -das Leben.

Die Verzückung des dionysischen Zustandes mitseiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken undGrenzen des Daseins enthält nämlich während seinerDauer ein lethargisches Element, in das sich allespersönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So

Page 72: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

71Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit dieWelt der alltäglichen und der dionysischen Wirklich-keit voneinander ab. Sobald aber jene alltäglicheWirklichkeit wieder ins Bewußtsein tritt, wird sie mitEkel als solche empfunden; eine asketische, willen-verneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände.In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Ähnlich-keit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahrenBlick in das Wesen der Dinge getan, sie haben er-kannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Hand-lung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern,sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, daßihnen zugemutet wird, die Welt, die aus den Fugenist, wieder einzurichten. Die Erkenntnis tötet dasHandeln, zum Handeln gehört das Umschleiertseindurch die Illusion - das ist die Hamletlehre, nicht jenewohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der auszu viel Reflexion, gleichsam aus einem Überschußvon Möglichkeiten, nicht zum Handeln kommt; nichtdas Reflektieren, nein! - die wahre Erkenntnis, derEinblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedeszum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohlals bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängtkein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Weltnach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, dasDasein wird, samt seiner gleißenden Wiederspiege-lung in den Göttern oder in einem unsterblichen

Page 73: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

72Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Jenseits, verneint. 1n der Bewußtheit der einmal ge-schauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nurdas Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt ver-steht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia,jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: esekelt ihn.

Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, nahtsich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst:sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Ent-setzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungenumzubiegen, mit denen sich leben läßt: diese sind dasErhabene als die künstlerische Bändigung des Ent-setzlichen und das Komische als die künstlerischeEntladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor desDithyrambus ist die rettende Tat der griechischenKunst; an der Mittelwelt dieser dionysischen Beglei-ter erschöpften sich jene vorhin beschriebenen An-wandlungen.

8

Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neue-ren Zeit sind beide Ausgeburten einer auf das Ur-sprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht;aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe faßteder Grieche nach seinem Waldmenschen, wie

Page 74: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

73Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

verschämt und weichlich tändelt der moderne Menschmit dem Schmeichelbild eines zärtlichen, flötenden,weichgearteten Hirten! Die Natur, an der noch keineErkenntnis gearbeitet, in der die Riegel der Kulturnoch unerbrochen sind - das sah der Grieche in sei-nem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affenzusammenfiel. Im Gegenteil: es war das Urbild desMenschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärk-sten Regungen, als begeisterter Schwärmer, den dieNähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse,in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, alsWeisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Naturheraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewaltder Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchti-gem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Er-habenes und Göttliches: so mußte er besonders demschmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Men-schen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schä-fer beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmertgroßartigen Schriftzügen der Natur weilte sein Augein erhabener Befriedigung; hier war die Illusion derKultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt,hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtigeSatyr, der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihmschrumpfte der Kulturmensch zur lügenhaften Karika-tur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischenKunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine lebendige

Page 75: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

74Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weiler -der Satyrchor - das Dasein wahrhaftiger, wirkli-cher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich alseinzige Realität achtende Kulturmensch. Die Sphäreder Poesie liegt nicht außerhalb der Welt, als einephantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: siewill das gerade Gegenteil sein, der ungeschminkteAusdruck der Wahrheit, und muß eben deshalb denlügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeitdes Kulturmenschen von sich werfen. Der Kontrastdieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich alseinzige Realität gebärdenden Kulturlüge ist ein ähnli-cher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, demDing an sich, und der gesamten Erscheinungswelt:und wie die Tragödie mit ihrem metaphysischen Tro-ste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei demfortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin-weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchorsin einem Gleichnis jenes Urverhältnis zwischen Dingan sich und Erscheinung aus. Jener idyllische Schäferdes modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihmals Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen;der dionysische Grieche will die Wahrheit und dieNatur in ihrer höchsten Kraft - er sieht sich zumSatyr verzaubert.

Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen ju-belt die schwärmende Schar der Dionysusdiener:

Page 76: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

75Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

deren Macht sie selbst vor ihren eignen Augen ver-wandelt, so daß sie sich als wiederhergestellte Natur-genien, als Satyrn, zu erblicken wähnen. Die spätereKonstitution des Tragödienchors ist die künstlerischeNachahmung jenes natürlichen Phänomens; bei dernun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zu-schauern und dionysischen Verzauberten nötig wurde.Nur muß man sich immer gegenwärtig halten, daß dasPublikum der attischen Tragödie sich selbst in demChore der Orchestra wiederfand, daß es im Grundekeinen Gegensatz von Publikum und Chor gab: dennalles ist nur ein großer erhabener Chor von tanzendenund singenden Satyrn oder von solchen, welche sichdurch diese Satyrn repräsentieren lassen. Das Schle-gelsche Wort muß sich uns hier in einem tieferenSinne erschließen. Der Chor ist der »idealische Zu-schauer«, insofern er der einzige Schauer ist, derSchauer der Visionswelt der Szene. Ein Publikum vonZuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen un-bekannt: in ihren Theatern war es jedem, bei dem inkonzentrischen Bogen sich erhebenden Terrassenbaudes Zuschauerraumes, möglich, die gesamte Kultur-welt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen undin gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zuwähnen. Nach dieser Einsicht dürfen wir den Chor,auf seiner primitiven Stufe in der Urtragödie, eineSelbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen:

Page 77: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

76Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozeßdes Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafterBegabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbildzum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen schwe-ben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Visionder dionysischen Masse, wie wiederum die Welt derBühne eine Vision dieses Satyrchors ist: die Kraftdieser Vision ist stark genug, um gegen den Eindruckder »Realität«, gegen die rings auf den Sitzreihen ge-lagerten Bildungsmenschen den Blick stumpf und un-empfindlich zu machen. Die Form des griechischenTheaters erinnert an ein einsames Gebirgstal: die Ar-chitektur der Szene erscheint wie ein leuchtendesWolkenbild, welches die im Gebirge herumschwär-menden Bacchen von der Höhe aus erblicken, als dieherrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bilddes Dionysus offenbar wird.

Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zurErklärung des Tragödienchors zur Sprache bringen,ist, bei unserer gelehrtenhaften Anschauung über dieelementaren künstlerischen Prozesse, fast anstößig;während nichts ausgemachter sein kann, als daß derDichter nur dadurch Dichter ist, daß er von Gestaltensich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln,und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durcheine eigentümliche Schwäche der modernen Bega-bung sind wir geneigt, uns das ästhetische

Page 78: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

77Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Urphänomen zu kompliziert und abstrakt vorzustel-len. Die Metapher ist für den echten Dichter nichteine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendesBild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vor-schwebt. Der Charakter ist für ihn nicht etwas aus zu-sammengesuchten Einzelzügen komponiertes Ganzes,sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendigePerson, die von der gleichen Vision des Malers sichnur durch das fortwährende Weiterleben und Weiter-handeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer soviel anschaulicher als alle Dichter? Weil er um so vielmehr anschaut. Wir reden über Poesie so abstrakt,weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. ImGrunde ist das ästhetische Phänomen einfach; manhabe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendigesSpiel zu sehen und immerfort von Geisterscharen um-ringt zu leben, so ist man Dichter; man fühle nur denTrieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Lei-bern und Seelen herauszureden, so ist man Dramati-ker.

Die dionysische Erregung ist imstande, einer gan-zen Masse diese künstlerische Begabung mitzuteilen,sich von einer solchen Geisterschar umringt zu sehen,mit der sie sich innerlich eins weiß. Dieser Prozeß desTragödienchors ist das dramatische Urphänomen:sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zuhandeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in

Page 79: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

78Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

einen andern Charakter eingegangen wäre. DieserProzeß steht an dem Anfang der Entwicklung desDramas. Hier ist etwas anderes als der Rhapsode, dermit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, demMaler ähnlich, mit betrachtendem Auge außer sichsieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuumsdurch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar trittdieses Phänomen epidemisch auf: eine ganze Scharfühlt sich in dieser Weise verzaubert. Der Dithyrambist deshalb wesentlich von jedem anderen Chorge-sange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lor-beerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel desApollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen,bleiben, wer sie sind, und behalten ihren bürgerlichenNamen: der dithyrambische Chor ist ein Chor vonVerwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangen-heit, ihre soziale Stellung völlig vergessen ist: siesind die zeitlosen, außerhalb aller Gesellschaftssphä-ren lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle an-dere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheureSteigerung des apollinischen Einzelsängers; währendim Dithyramb eine Gemeinde von unbewußten Schau-spielern vor uns steht, die sich selbst untereinanderals verwandelt ansehen.

Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dra-matischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sichder dionysische Schwärmer als Satyr und als Satyr

Page 80: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

79Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

wiederum schaut er den Gott, d.h. er sieht in seinerVerwandlung eine neue Vision außer sich, als apolli-nische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuenVision ist das Drama vollständig.

Nach dieser Erkenntnis haben wir die griechischeTragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, dersich immer von neuem wieder in einer apollinischenBilderwelt entladet. Jene Chorpartien, Mut denen dieTragödie durchflochten ist, sind also gewissermaßender Mutterschoß des ganzen sogenannten Dialogs,d.h. der gesamten Bühnenwelt, des eigentlichen Dra-mas. In mehreren aufeinanderfolgenden Entladungenstrahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision desDramas aus: die durchaus Traumerscheinung und in-sofern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objek-tivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apol-linische Erlösung im Scheine, sondern im Gegenteildas Zerbrechen des Individuums und sein Einswerdenmit dem Ursein darstellt. Somit ist das Drama dieapollinische Versinnlichung dionysischer Erkennt-nisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine un-geheure Kluft vom Epos abgeschieden.

Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbolder gesamten dionysisch erregten Masse, findet andieser unserer Auffassung seine volle Erklärung.Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellungeines Chors auf der modernen Bühne, zumal eines

Page 81: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

80Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jenertragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher, jawichtiger sein sollte, als die eigentliche »Aktion« -wie dies doch so deutlich überliefert war -, währendwir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtig-keit und Ursprünglichkeit nicht reimen konnten,warum er doch nur aus niedrigen dienenden Wesen, jazuerst nur aus bocksartigen Satyrn zusammengesetztworden sei, während uns die Orchestra vor der Szeneimmer ein Rätsel blieb, sind wir jetzt zu der Einsichtgekommen, daß die Szene samt der Aktion im Grundeund ursprünglich nur als Vision gedacht wurde, daßdie einzige »Realität« eben der Chor ist, der die Visi-on aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Sym-bolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet.Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn undMeister Dionysus und ist darum ewig der dienendeChor: er sieht, wie dieser, der Gott, leidet und sichverherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht. Beidieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stel-lung ist er doch der höchste, nämlich dionysischeAusdruck der Natur und redet darum, wie diese, inder Begeisterung Orakel- und Weisheitssprüche: alsder mitleidende ist er zugleich der weise, aus demHerzen der Welt die Wahrheit verkündende. So ent-steht denn jene phantastische und so anstößig schei-nende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der

Page 82: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

81Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

zugleich »der tumbe Mensch« im Gegensatz zumGotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe,ja Symbol derselben und zugleich Verkünder ihrerWeisheit und Kunst: Musiker, Dichter, Tänzer, Gei-sterseher in einer Person.Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittel-

punkt der Vision, ist gemäß dieser Erkenntnis undgemäß der Überlieferung, zuerst, in der allerältestenPeriode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, son-dern wird nur als vorhanden vorgestellt: d.h. ur-sprünglich ist die Tragödie nur »Chor« und nicht»Drama«. Später wird nun der Versuch gemacht, denGott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestaltsamt der verklärenden Umrahmung als jedem Augesichtbar darzustellen: damit beginnt das »Drama« imengeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambischeChor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zudem Grade dionysisch anzuregen, daß sie, wenn dertragische Held auf der Bühne erscheint, nicht etwaden unförmlich maskierten Menschen sehen, sonderneine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geboreneVisionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sin-nen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis ge-denkend und ganz im geistigen Anschauen derselbensich verzehrend - wie ihm nun plötzlich ein ähnlichgestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Ver-hüllung entgegengeführt wird: denken wir uns seine

Page 83: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

82Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches Verglei-chen, seine instinktive Überzeugung - so haben wirein Analogon zu der Empfindung, mit der der diony-sisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne her-anschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins ge-worden ist. Unwillkürlich übertrug er das ganze ma-gisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes aufjene maskierte Gestalt und löste ihre Realität gleich-sam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies istder apollinische Traumeszustand, in dem die Welt desTages sich verschleiert und eine neue Welt, deutli-cher, verständlicher, ergreifender als jene und dochschattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich un-serem Auge neu gebiert. Demgemäß erkennen wir inder Tragödie einen durchgreifenden Stilgegensatz:Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Redetreten in der dionysischen Lyrik des Chors und and-rerseits in der apollinischen Traumwelt der Szene alsvöllig gesonderte Sphären des Ausdrucks auseinan-der. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sichDionysus objektiviert, sind nicht mehr »ein ewigesMeer, ein wechselnd Weben, ein glühend Leben«, wiees die Musik des Chors ist, nicht mehr jene nur emp-fundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, indenen der begeisterte Dionysusdiener die Nähe desGottes spürt: jetzt spricht, von der Szene aus, dieDeutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung

Page 84: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

83Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte,sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Ho-mers.

9

Alles, was im apollinischen Teile der griechischenTragödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt,sieht einfach, durchsichtig, schön aus. In diesemSinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessenNatur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze diegrößte Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Ge-schmeidigkeit und Üppigkeit der Bewegung verrät.So überrascht uns die Sprache der sophokleischenHelden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Hel-ligkeit, so daß wir sofort bis in den innersten Grundihres Wesens zu blicken wähnen, mit einigem Erstau-nen, daß der Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist.Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberflächekommenden und sichtbar werdenden Charakter desHelden ab - der im Grunde nichts mehr ist als das aufeine dunkle Wand geworfene Lichtbild, d.h. Erschei-nung durch und durch -, dringen wir vielmehr in denMythus ein, der in diesen hellen Spiegelungen sichprojiziert, so erleben wir plötzlich ein Phänomen, dasein umgekehrtes Verhältnis zu einem bekannten

Page 85: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

84Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch,die Sonne ins Auge zu fassen, uns geblendet abwen-den, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsamals Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jeneLichtbildererscheinungen des sophokleischen Helden,kurz das Apollinische der Maske, notwendige Erzeu-gungen eines Blickes ins Innere und schreckliche derNatur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung desvon grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in die-sem Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften undbedeutenden Begriff der »griechischen Heiterkeit«richtig zu fassen; während wir allerdings den falschverstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustandeungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegender Gegenwart antreffen.

Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, derunglückselige Ödipus, ist von Sophokles als der edleMensch verstanden worden, der zum Irrtum und zumElend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber amEnde durch sein ungeheures Leiden eine magische se-gensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über seinVerscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Menschsündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen:durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürlicheOrdnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, ebendurch dieses Handeln wird ein höherer magischerKreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf

Page 86: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

85Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

den Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das willuns der Dichter, insofern er zugleich religiöser Denkerist, sagen: als Dichter zeigt er uns zuerst einen wun-derbar geschürzten Prozeßknoten, den der Richterlangsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Verder-ben löst; die echt hellenische Freude an dieser dialek-tischen Lösung ist so groß, daß hierdurch ein Zug vonüberlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt,der den schauderhaften Voraussetzungen jenes Pro-zesses überall die Spitze abbricht. Im »Odipus aufKolonos« treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber ineine unendliche Verklärung emporgehoben; dem vomÜbermaße des Elends betroffenen Greise gegenüber,der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisge-geben ist - steht die überirdische Heiterkeit, die ausgöttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet,daß der Held in seinem rein passiven Verhalten seinehöchste Aktivität erlangt, die weit über sein Lebenhinausgreift, während sein bewußtes Dichten undTrachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität ge-führt hat. So wird der für das sterbliche Auge unauf-löslich verschlungene Prozeßknoten der Odipusfabellangsam entwirrt - und die tiefste menschliche Freudeüberkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück derDialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dich-ter gerecht geworden sind, so kann doch immer nochgefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus

Page 87: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

86Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

erschöpft ist: und hier zeigt sich, daß die ganze Auf-fassung des Dichters nichts ist als eben jenes Licht-bild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund,die heilende Natur vorhält. Odipus der Mörder seinesVaters, der Gatte seiner Mutter, Odipus der Rätsellö-ser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnisvolleDreiheit dieser Schicksalstaten? Es gibt einen uralten,besonders persischen Volksglauben, daß ein weiserMagier nur aus Inzest geboren werden könne: was wiruns, im Hinblick auf den rätsellösenden und seineMutter freienden Odipus, sofort so zu interpretierenhaben, daß dort, wo durch weissagende und magischeKräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, dasstarre Gesetz der Individuation und überhaupt der ei-gentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine unge-heure Naturwidrigkeit - wie dort der Inzest - als Ur-sache vorausgegangen sein muß; denn wie könnteman die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnissezwingen, wenn nicht dadurch, daß man ihr siegreichwiderstrebt, d.h. durch das Unnatürliche? Diese Er-kenntnis sehe ich in jener entsetzlichen Dreiheit derÖdipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Rätselder Natur - jener doppelgearteten Sphinx - löst, mußauch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter dieheiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja der Mythusscheint uns zuraunen zu wollen, daß die Weisheit undgerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger

Page 88: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

87Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Greuel sei, daß der, welcher durch sein Wissen dieNatur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch ansich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe.»Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Wei-sen; Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur«: sol-che schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu: derhellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahldie erhabene und furchtbare Memnonssäule des My-thus, so daß er plötzlich zu tönen beginnt - in so-phokleischen Melodien!

Der Glorie der Passivität Stelle ich jetzt die Glorieder Aktivität gegenüber, welche den Prometheus desÄschylus umleuchtet. Was uns hier der DenkerÄschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichterdurch sein gleichnisartiges Bild uns nur ahnen läßt,das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenenWorten seines Prometheus zu enthüllen gewußt:

»Hier sitz ich, forme MenschenNach meinem Bilde,Ein Geschlecht, das mir gleich sei,Zu leiden, zu weinen,Zu genießen und zu freuen sich,Und dein nicht zu achten,Wie ich!«

Der Mensch, ins Titanische sich steigernd,

Page 89: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

88Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

erkämpft sich selbst seine Kultur und zwingt die Göt-ter, sich mit ihm zu verbinden, weil er in seinerselbsteignen Weisheit die Existenz und die Schrankenderselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste anjenem Promethensgedicht, das seinem Grundgedankennach der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit ist,ist aber der tiefe äschyleische Zug nach Gerechtig-keit: das unermeßliche Leid des kühnen »Einzelnen«auf der einen Seite, und die göttliche Not, ja Ahnungeiner Götterdämmerung auf der andern, die zur Ver-söhnung, zum metaphysischen Einssein zwingendeMacht jener beiden Leidenswelten - dies alles erin-nert auf das stärkste an den Mittelpunkt und Haupt-satz der äschyleischen Weltbetrachtung, die über Göt-tern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeitthronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit derÄschylus die olympische Welt auf seine Gerechtig-keitswagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärti-gen, daß der tiefsinnige Grieche einen unverrückbarfesten Untergrund des metaphysischen Denkens inseinen Mysterien hatte, und daß sich an den Olympi-ern alle seine skeptischen Anwandlungen entladenkonnten. Der griechische Künstler insbesondere emp-fand im Hinblick auf die Gottheiten ein dunkles Ge-fühl wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade imPrometheus des Äschylus ist dieses Gefühl symboli-siert. Der titanische Künstler fand in sich den

Page 90: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

89Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympi-sche Götter wenigstens vernichten zu können: unddies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durchewiges Leiden zu büßen gezwungen war. Das herrli-che »Können« des großen Genius, das selbst mit ewi-gem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz desKünstlers - das ist Inhalt und Seele der äschyleischenDichtung, während Sophokles in seinem Ödipus dasSiegeslied des Heiligen präludierend anstimmt. Aberauch mit jener Deutung, die Äschylus dem Mythusgegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckenstiefenicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust desKünstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit deskünstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- undHimmelsbild, das sich auf einem schwarzen See derTraurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein ur-sprüngliches Eigentum der gesamten arischen Völker-gemeinde und ein Dokument für deren Begabung zumTiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne Wahr-scheinlichkeit sein, daß diesem Mythus für das ari-sche Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeu-tung innewohnt, die der Sündenfallmythus für das se-mitische hat, und daß zwischen beiden Mythen einVerwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruderund Schwester. Die Voraussetzung jenes Promethens-mythus ist der überschwängliche Wert, den eine naiveMenschheit dem Feuer beilegt als dem wahren

Page 91: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

90Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Palladium jeder aufsteigenden Kultur: daß aber derMensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur einGeschenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahloder wärmenden Sonnenbrand, empfängt, erschienjenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, alsein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleichdas erste philosophische Problem einen peinlichenunlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gotthin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pfortejeder Kultur. Das Beste und Höchste, dessen dieMenschheit teilhaftig werden kann, erringt sie durcheinen Frevel und muß nun wieder seine Folgen dahin-nehmen, nämlich die ganze Flut von Leiden und vonKümmernissen, mit denen die beleidigten Himmli-schen das edel emporstrebende Menschengeschlechtheimsuchen - müssen: ein herber Gedanke, der durchdieWürde, die er dem Frevel erteilt, seltsam gegenden semitischen Sündefallmythus absticht, in wel-chem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung,die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihevornehmlich weiblicher Affektionen als der Ursprungdes Übels angesehen wurde. Das, was die arischeVorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht vonder aktiven Sünde als der eigentlich prometheischenTugend: womit zugleich der ethische Untergrund derpessimistischen Tragödie gefunden ist, als die Recht-fertigung des menschlichen Übels, und zwar sowohl

Page 92: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

91Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

der menschlichen Schuld als des dadurch verwirktenLeidens. Das Unheil im Wesen der Dinge - das derbeschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln -,der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sichihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z.B.einer göttlichen und einer menschlichen, von denenjede als Individuum im Recht ist, aber als einzelneneben einer anderen für ihre Individuation zu leidenhat. Bei dem heroischen Drange des einzelnen ins All-gemeine, bei dem Versuche, über den Bann der Indi-viduation hinauszuschreiten und das eine Weltwesenselbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in denDingen verborgenen Urwiderspruch, d.h. er freveltund leidet. So wird von den Ariern der Frevel alsMann, von den Semiten die Sünde als Weib verstan-den, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ur-sünde vom Weibe begangen wird. Übrigens sagt derHexenchor:

»Wir nehmen das nicht so genau:Mit tausend Schritten machts die Frau;Doch wie sie auch sich eilen kann,Mit einem Sprunge machts der Mann.«

Wer jenen innersten Kern der Prometheussage ver-steht - nämlich die dem titanisch strebenden Indivi-duum gebotene Notwendigkeit des Frevels -, der muß

Page 93: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

92Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

auch zugleich das Unapollinische dieser pessimisti-schen Vorstellung empfinden; denn Apollo will dieEinzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, daß erGrenzlinien zwischen ihnen zieht und daß er immerwieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mitseinen Forderungen der Selbsterkenntnis und desMaßes erinnert. Damit aber bei dieser apollinischenTendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit undKälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, dereinzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzu-schreiben, die Bewegung des ganzen Sees ersterbe,zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Flut desDionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der ein-seitig apollinische »Wille« das Hellenentum zu ban-nen suchte. Jene plötzlich anschwellende Flut desDionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wel-lenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie derBruder des Prometheus, der Titan Atlas, die Erde.Dieser titanische Drang, gleichsam der Atlas aller ein-zelnen zu werden und sie mit breitem Rücken höherund höher, weiter und weiter zu tragen, ist das Ge-meinsame zwischen dem Prometheischen und demDionysischen. Der äschyleische Prometheus ist in die-sem Betracht eine dionysische Maske, während injenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach Gerechtig-keit Äschylus seine väterliche Abstammung vonApollo, dem Gotte der Individuation und der

Page 94: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

93Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Gerechtigkeitsgrenzen, dem Einsichtigen verrät. Undso möchte das Doppelwesen des äschyleischen Pro-metheus, seine zugleich dionysische und apollinischeNatur in begrifflicher Formel so ausgedrückt werdenkönnen: »Alles Vorhandene ist gerecht und ungerechtund in beidem gleich berechtigt.«

Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt! -

10

Es ist eine unanfechtbare Überlieferung, daß diegriechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur dieLeiden des Dionysus zum Gegenstand hatte, und daßder längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnen-held eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Si-cherheit darf behauptet werden, daß niemals bis aufEuripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Heldzu sein, sondern daß alle die berühmten Figuren dergriechischen Bühne, Prometheus, Ödipus usw. nurMasken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind.Daß hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt,das ist der eine wesentliche Grund für die so oft ange-staunte typische »Idealität« jener berühmten Figuren.Es hat ich weiß nicht wer behauptet, daß alle Indivi-duen als Individuen komisch und damit untragischseien: woraus zu entnehmen wäre, daß die Griechen

Page 95: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

94Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nichtertragen konnten. In der Tat scheinen sie so empfun-den zu haben: wie überhaupt jene platonische Unter-scheidung und Wertabschätzung der »Idee« im Ge-gensatze zum »Idol«, zum Abbild, tief im helleni-schen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Termi-nologie Platos zu bedienen, so wäre von den tragi-schen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zureden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint ineiner Vielheit der Gestalten, in der Maske eineskämpfenden Helden und gleichsam in das Netz desEinzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinendeGott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden stre-benden leidenden Individuum: und daß er überhauptmit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit er-scheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo,der dem Chore seinen dionysischen Zustand durchjene gleichnisartige Erscheinung deutet. In Wahrheitaber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysteri-en, jener die Leiden der Individuation an sich erfah-rende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen,wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt wordensei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrtwerde: wobei angedeutet wird, daß diese Zerstücke-lung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einerUmwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei,daß wir also den Zustand der Individuation als den

Page 96: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

95Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sichVerwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächelndieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus sei-nen Tränen die Menschen entstanden. In jener Exi-stenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppel-natur eines grausamen verwilderten Dämons undeines milden sanftmütigen Herrschers. Die Hoffnungder Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dio-nysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ah-nungsvoll zu begreifen haben: diesem kommendendritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesangder Epopten. Und nur in dieser Hoffnung gibt es einenStrahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, inIndividuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythusdurch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbild-licht, welche zum ersten Male wieder sich freut, alsman ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmalgebären. In den angeführten Anschauungen haben wirbereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessi-mistischen Weltbetrachtung und zugleich damit dieMysterienlehre der Tragödie zusammen: die Grun-derkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, dieBetrachtung der Individuation als des Urgrundes desÜbels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß derBann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ah-nung einer wiederhergestellten Einheit. -

Es ist früher angedeutet worden, daß das

Page 97: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

96Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

homerische Epos die Dichtung der olympischen Kul-tur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über dieSchrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt,unter dem übermächtigen Einflusse der tragischenDichtung, werden die homerischen Mythen vonneuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsycho-se, daß inzwischen auch die olympische Kultur voneiner noch tieferen Weltbetrachtung besiegt wordenist. Der trotzige Titan Prometheus hat es seinemolympischen Peiniger angekündigt, daß einst seinerHerrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zurrechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Äschy-lus erkennen wir das Bündnis des erschreckten, vorseinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. Sowird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wiederaus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophieder wilden und nackten Natur schaut die vorübertan-zenden Mythen der homerischen Welt mit der unver-hüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie zit-tern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis siedie mächtige Faust des dionysischen Künstlers in denDienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysischeWahrheit übernimmt das gesamte Bereich des Mythusals Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht dieseteils in dem öffentlichen Kultus der Tragödie, teils inden geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfe-ste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus.

Page 98: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

97Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Welche Kraft war dies, die den Prometheus von sei-nen Geiern befreite und den Mythus zum Vehikel dio-nysischer Weisheit umwandelte? Dies ist die herak-lesmäßige Kraft der Musik: als welche, in der Tragö-die zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, denMythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu in-terpretieren weiß; wie wir dies als das mächtigsteVermögen der Musik früher schon zu charakterisierenhatten. Denn es ist das Los jedes Mythus, allmählichin die Enge einer angeblich historischen Wirklichkeithineinzukriechen und von irgendeiner späteren Zeitals einmaliges Faktum mit historischen Ansprüchenbehandelt zu werden: und die Griechen waren bereitsvöllig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Ju-gendtraum mit Scharfsinn und Willkür in eine histo-risch-pragmatische Jugendgeschichte umzustempeln.Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterbenpflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzun-gen einer Religion unter den strengen, verstandesmä-ßigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus alseine fertige Summe von historischen Ereignissen sy-stematisiert werden und man anfängt, ängstlich dieGlaubwürdigkeit der Mythen zu verteidigen, abergegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwu-chern derselben sich zu sträuben, wenn also das Ge-fühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle derAnspruch der Religion auf historische Grundlagen

Page 99: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

98Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt derneugeborne Genius der dionysischen Musik: und inseiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie ersie noch nie gezeigt, mit einem Duft, der eine sehn-süchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte.Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen,seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöt-tischen Luciane des Altertums nach den von allenWinden fortgetragenen, entfärbten und verwüstetenBlumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zuseinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form;noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held,und der ganze Überschuß von Kraft, samt der weis-heitsvollen Ruhe des sterbenden, brennt in seinemAuge mit letztem, mächtigem Leuchten.

Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du die-sen sterbenden noch einmal zu deinem Frondienste zuzwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamenHänden: und jetzt brauchtest du einen nachgemach-ten, maskierten Mythus, der sich wie der Affe des He-rakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzenwußte. Und wie dir der Mythus starb, so starb dirauch der Genius der Musik: mochtest du auch mit gie-rigem zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auchso brachtest du es nur zu einer nachgemachten mas-kierten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, soverließ dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften

Page 100: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

99Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis,spitze und feile dir für die Reden deiner Helden einesophistische Dialektik zurecht - auch deine Heldenhaben nur nachgeahmte maskierte Leidenschaften undsprechen nur nachgeahmte maskierte Reden.

11

Die griechische Tragödie ist anders zugrunde ge-gangen als sämtliche ältere schwesterliche Kunstgat-tungen: sie starb durch Selbstmord, infolge eines un-lösbaren Konfliktes, also tragisch, während jene allein hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todesverblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichenNaturzustande gemäß ist, mit schöner Nachkommen-schaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, sozeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einensolchen glücklichen Naturzustand: sie tauchen lang-sam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken stehtschon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit MutigerGebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode dergriechischen Tragödie dagegen entstand eine unge-heure, überall tief empfundene Leere; wie einmal grie-chische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem ein-samen Eiland den erschütternden Schrei hörten »dergroße Pan ist tot«: so klang es jetzt wie ein

Page 101: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

100Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt:»die Tragödie ist tot! Die Poesie selbst ist mit ihr ver-lorengegangen! Fort, fort mit euch verkümmerten, ab-gemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damit ihreuch dort an den Brosamen der vormaligen Meistereinmal sattessen könnt!«

Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattungaufblühte, die in der Tragödie ihre Vorgängerin undMeisterin verehrte, da war mit Schrecken wahrzuneh-men, daß sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage,aber dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfegezeigt hatte. Diesen Todeskampf der Tragödiekämpfte Euripides; jene spätere Kunstgattung ist alsneuere attische Komödie bekannt. In ihr lebte dieentartete Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmaleihres überaus mühseligen und gewaltsamen Hinschei-dens.

Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftli-che Zuneigung begreiflich, welche die Dichter derneueren Komödie zu Euripides empfanden; so daß derWunsch des Philemon nicht weiter befremdet, dersich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um denEuripides in der Unterwelt aufsuchen zu können:wenn er nur überhaupt überzeugt sein dürfte, daß derVerstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Willman aber in aller Kürze und ohne den Anspruch,damit etwas Erschöpfendes zu sagen, dasjenige

Page 102: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

101Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

bezeichnen, was Euripides mit Menander und Phile-mon gemein hat und was für jene so auf, regend vor-bildlich wirkte: so genügt es zu sagen, daß der Zu-schauer von Euripides auf die Bühne gebracht wor-den ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die pro-metheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden form-ten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treueMaske der Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, derwird auch über die gänzlich abweichende Tendenzdes Euripides im klaren sein. Der Mensch des alltägli-chen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräu-men auf die Szene, der Spiegel, in dem früher nur diegroßen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeig-te jetzt jene peinliche Treue, die auch die mißlunge-nen Linien der Natur gewissenhaft wiedergibt. Odys-sens, der typische Hellene der älteren Kunst, sankjetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figurdes Graecolus herab, der von jetzt ab als gutmü-tig-verschmitzter Haussklave im Mittelpunkte desdramatischen Interesses steht. Was Euripides sich inden aristophanischen »Fröschen« zum Verdienst an-rechnet, daß er die tragische Kunst durch seine Haus-mittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe,das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spü-ren. Im wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschau-er seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühneund freute sich, daß jener so gut zu reden verstehe.

Page 103: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

102Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernteselbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt ersich selbst im Wettkampfe mit Äschylus: wie durchihn jetzt das Volk kunstmäßig und mit den schlaustensophistikationen zu beobachten, zu verhandeln undFolgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesenUmschwung der öffentlichen Sprache hat er über-haupt die neuere Komödie möglich gemacht. Dennvon jetzt ab war es kein Geheimnis mehr, wie und mitwelchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf derBühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmäßig-keit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnun-gen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahinin der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der be-trunkene Satyr oder der Halbmensch den Sprachcha-rakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophani-sche Euripides zu seinem Preise hervor, wie er dasallgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Trei-ben dargestellt habe, über das ein jeder zu urteilen be-fähigt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere,mit unerhörter Klugheit Land und Gut verwalte undihre Prozesse führe, so sei dies sein Verdienst und derErfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weis-heit.

An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Massedurfte sich jetzt die neuere Komödie wenden, für dieEuripides gewissermaßen der Chorlehrer geworden

Page 104: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

103Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

ist; nur daß diesmal der Chor der Zuschauer eingeübtwerden mußte. Sobald dieser in der euripideischenTonart zu singen geübt war, erhob sich jene schach-spielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Ko-mödie, mit ihrem fortwährenden Triumphe derSchlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber - derChorlehrer - wurde unaufhörlich gepriesen: ja manwürde sich getötet haben, um noch mehr von ihm zulernen, wenn man nicht gewußt hätte, daß die tragi-schen Dichter eben so tot seien wie die Tragödie. Mitihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Un-sterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben aneine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glaubenan eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekanntenGrabschrift »als Greis leichtsinnig und grillig« giltauch vom greisen Hellenentume. Der Augenblick, derWitz, der Leichtsinn, die Laune sind seine höchstenGottheiten; der fünfte stand, der des Sklaven, kommt,wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft:und wenn jetzt überhaupt noch von »griechischer Hei-terkeit« die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit desSklaven, der nichts schweres zu verantworten, nichtsGroßes zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zu-künftiges höher zu schätzen weiß als das Gegenwär-tige. Dieser Schein der »griechischen Heiterkeit« wares, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen dervier ersten Jahrhunderte des Christentums so empörte:

Page 105: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

104Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernstund dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassenam bequemen Genuß - nicht nur verächtlich, sondernals die eigentlich antichristliche Gesinnung. Undihrem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß die durchJahrhunderte fortlebende Anschauung des griechi-schen Altertums mit fast unüberwindlicher Zähigkeitjene blaßrote Heiterkeitsfarbe festhielt - als ob es nieein sechstes Jahrhundert mit seiner Geburt der Tragö-die, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklitgegeben hätte, ja als ob die Kunstwerke der großenZeit gar nicht vorhanden wären, die doch - jedes fürsich -aus dem Boden einer solchen greisenhaften undsklavenmäßigen Daseinslust und Heiterkeit gar nichtzu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbe-trachtung als ihren Existenzgrund hinweisen.

Wenn zuletzt behauptet wurde, daß Euripides denZuschauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleichdamit den Zuschauer zum Urteil über das Drama erstwahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als obdie ältere tragische Kunst aus einem Mißverhältniszum Zuschauer nicht herausgekommen sei: und manmöchte versucht sein, die radikale Tendenz des Euri-pides, ein entsprechendes Verhältnis zwischen Kunst-werk und Publikum zu erzielen, als einen Fortschrittüber Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist »Pu-blikum« nur ein Wort und durchaus keine gleichartige

Page 106: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

105Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

und in sich verharrende Größe. Woher soll demKünstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraftzu akkomodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat?Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Ab-sichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauererhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamenAusdruck aller dieser ihm untergeordneten Kapazitä-ten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ amhöchsten begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheithat kein griechischer Künstler mit größerer Verwe-genheit und Selbstgenügsamkeit sein Publikum durchein langes Leben hindurch behandelt als gerade Euri-pides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihmzu Füßen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenenTendenz öffentlich ins Gesicht schlug, derselben Ten-denz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenndieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandä-monium des Publikums gehabt hätte, so wäre er unterden Keulenschlägen seiner Mißerfolge längst vor derMitte seiner Laufbahn zusammengebrochen. Wirsehen bei dieser Erwägung, daß unser Ausdruck, Eu-ripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht,um den Zuschauer wahrhaft urteilsfähig zu machen,nur ein provisorischer war, und daß wir nach einemtieferen Verständnis seiner Tendenz zu suchen haben.Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Äschylusund Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über

Page 107: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

106Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst stan-den, wie also bei diesen Vorgängern des Euripideskeineswegs von einem Mißverhältnis zwischenKunstwerk und Publikum die Rede sein kann. Wastrieb den reichbegabten und unablässig zum Schaffengedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab,über dem die Sonne der größten Dichternamen undder unbewölkte Himmel der Volksgunst leuchteten?Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer führ-te ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er aus zuhoher Achtung vor seinem Publikum - sein Publikummißachten?

Euripides fühlte sich - das ist die Lösung des ebendargestellten Rätsels - als Dichter wohl über dieMasse, nicht aber über zwei seiner Zuschauer erha-ben: die Masse brachte er auf die Bühne, jene beidenZuschauer verehrte er als die allein urteilsfähigenRichter und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisun-gen und Mahnungen folgend, übertrug er die ganzeWelt von Empfindungen, Leidenschaften und Erfah-rungen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als un-sichtbarer Chor zu jeder Festvorstellung sich einstell-ten, in die Seelen seiner Bühnenhelden, ihren Forde-rungen gab er nach, als er für diese neuen Charaktereauch das neue Wort und den neuen Ton suchte, inihren Stimmen allein hörte er die gültigen Richter-sprüche seines Schaffens ebenso wie die

Page 108: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

107Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

siegverheißende Ermutigung, wenn er von der Justizdes Publikums sich wieder einmal verurteilt sah.

Von diesen beiden Zuschauern ist der eine - Euri-pides selbst, Euripides als Denker, nicht als Dichter.Von ihm könnte man sagen, daß die außerordentlicheFülle seines kritischen Talentes, ähnlich wie bei Les-sing, einen produktiv künstlerischen Nebentrieb wennnicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe.Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behen-digkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides imTheater gesessen und sich angestrengt, an den Mei-sterwerken seiner großen Vorgänger wie an dunkelge-wordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Liniewiederzuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet,was dem in die tieferen Geheimnisse der äschylei-schen Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet seindarf: er gewahrte etwas Inkommensurables in jedemZug und in jeder Linie, eine gewisse täuschende Be-stimmtheit und zugleich eine rätselhafte Tiefe, ja Un-endlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatteimmer noch einen Kometenschweif an sich, der insUngewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. DasselbeZwielicht lag über dem Bau des Dramas, zumal überder Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft bliebihm die Lösung der ethischen Probleme! Wie frag-würdig die Behandlung der Mythen! Wie ungleichmä-ßig die Verteilung von Glück und Unglück! Selbst in

Page 109: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

108Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

der Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles an-stößig, mindestens rätselhaft; besonders fand er zuviel Pomp für einfache Verhältnisse, zu viel Tropenund Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der Cha-raktere. So saß er, unruhig grübelnd, im Theater, under, der Zuschauer, gestand sich, daß er seine großenVorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstandals die eigentliche Wurzel alles Genießens und Schaf-fens, so mußte er fragen und um sich schauen, obdenn niemand so denke wie er und sich gleichfallsjene Inkommensurabilität eingestehe. Aber die vielenund mit ihnen die besten einzelnen hatten nur ein miß-trauisches Lächeln für ihn; erklären aber konnte ihmkeiner, warum seinen Bedenken und Einwendungengegenüber die großen Meister doch im Rechte seien.Und in diesem qualvollen Zustande fand er den ande-ren Zuschauer, der die Tragödie nicht begriff unddeshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde durfte eres wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den unge-heuren Kampf gegen die Kunstwerke des Äschylusund Sophokles zu beginnen - nicht mit Streitschrif-ten, sondern als dramatischer Dichter, der seine Vor-stellung von der Tragödie der überlieferten entgegen-stellt. -

Page 110: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

109Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

12

Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namennennen, verharren wir hier einen Augenblick, um unsjenen früher geschilderten Eindruck des Zwiespältigenund Inkommensurablen im Wesen der äschyleischenTragödie selbst ins Gedächtnis zurückzurufen. Den-ken wir an unsere eigene Befremdung dem Chore unddem tragischen Helden jener Tragödie gegenüber, diewir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenigwie mit der Überlieferung zu reimen wußten - bis wirjene Doppelheit selbst als Ursprung und Wesen dergriechischen Tragödie wiederfanden, als den Aus-druck zweier ineinandergewobenen Kunsttriebe, desApollinischen und des Dionysischen.

Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysischeElement aus der Tragödie auszuscheiden und sie reinund neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbe-trachtung aufzubauen - dies ist die jetzt in heller Be-leuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripi-des.

Euripides selbst hat am Abend seines Lebens dieFrage nach dem Wert und der Bedeutung dieser Ten-denz in einem Mythus seinen Zeitgenossen auf dasnachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dio-nysische bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem

Page 111: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

110Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

hellenischen Boden auszurotten? Gewiß, sagt uns derDichter, wenn es nur möglich wäre; aber der GottDionysus ist zu mächtig: der verständigste Gegner -wie Pentheus in den »Bacchen« - wird unvermutetvon ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser Ver-zauberung in sein Verhängnis. Das Urteil der beidenGreise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urteildes greisen Dichters zu sein: das Nachdenken derklügsten einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen,jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Diony-sus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderba-ren Kräften gegenüber, mindestens eine diplomatischvorsichtige Teilnahme zu zeigen: wobei es aberimmer noch möglich sei, daß der Gott an einer solauen Beteiligung Anstoß nehme und den Diploma-ten - wie hier den Kadmus - schließlich in einenDrachen verwandle. Dies sagt uns der Dichter, der mitheroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dio-nysus widerstanden hat - um am Ende desselben miteiner Glorifikation seines Gegners und einem Selbst-morde seine Laufbahn zu schließen, einem schwin-delndem gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nichtmehr erträglichen Wirbel zu entgehen, sich vomTurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protestgegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach, und siewar bereits ausgeführt! Das Wunderbare war ge-schehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine

Page 112: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

111Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragi-schen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Eu-ripides redende dämonische Macht. Auch Euripideswar in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, dieaus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apol-lo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt So-krates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysischeund das Sokratische, und das Kunstwerk der griechi-schen Tragödie ging an ihm zugrunde. Mag nun auchEuripides uns durch seinen Widerruf zu trösten su-chen, es gelingt ihm nicht: der herrlichste Tempelliegt in Trümmern; was nützt uns die Wehklage desZerstörers und sein Geständnis, daß es der schönstealler Tempel gewesen sei? Und selbst daß Euripideszur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einenDrachen verwandelt worden ist -wen möchte dieseerbärmliche Kompensation befriedigen?

Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz,mit der Euripides die äschyleische Tragödie bekämpf-te und besiegte.

Welches Ziel - so müssen wir uns jetzt fragen -konnte die euripideische Absicht, das Drama alleinauf das Undionysische zu gründen, in der höchstenIdealität ihrer Durchführung überhaupt haben? Wel-che Form des Dramas blieb noch übrig, wenn es nichtaus dem Geburtsschoße der Musik, in jenem geheim-nisvollen Zwielicht des Dionysischen geboren werden

Page 113: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

112Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

sollte? Allein das dramatisierte Epos: in welchemapollinischen Kunstgebiete nun freilich die tragischeWirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht aufden Inhalt der dargestellten Ereignisse an; ja ichmöchte behaupten, daß es Goethe in seiner projektier-ten »Nausikaa« unmöglich gewesen sein würde, denSelbstmord jenes idyllischen Wesens - der den fünf-ten Akt ausfüllen sollte -tragisch ergreifend zu ma-chen; so ungemein ist die Gewalt desEpisch-Apollinischen, daß es die schreckensvollstenDinge mit jener Lust am Scheine und der Erlösungdurch den Schein vor unseren Augen verzaubert. DerDichter des dramatischen Epos kann ebensowenig wieder epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig ver-schmelzen: er ist immer noch ruhig unbewegte, ausweiten Augen blickende Anschauung, die die Bildervor sich sieht. Der Schauspieler in seinem dramati-sierten Epos bleibt im tiefsten Grunde immer nochRhapsode; die Weihe des inneren Träumens liegt aufallen seinen Aktionen, so daß er niemals ganz Schau-spieler ist.

Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollini-schen Dramas gegenüber das euripideische Stück?Wie zu dem feierlichen Rhapsoden der alten Zeitjener jüngere, der sein Wesen im platonischen »Jon«also beschreibt: »Wenn ich etwas Trauriges sage, fül-len sich meine Augen mit Tränen; ist aber das, was

Page 114: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

113Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen dieHaare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, undmein Herz klopft.« Hier merken wir nichts mehr vonjenem epischen Verlorensein im Scheine, von der af-fektlosen Kühle des wahren Schauspielers, der, gera-de in seiner höchsten Tätigkeit, ganz Schein und Lustam Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mitdem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehendenHaaren; als sokratischer Denker entwirft er den Plan,als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus.Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch imAusführen. So ist das euripideische Drama ein zu-gleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren undzum Verbrennen gleich befähigt; es ist ihm unmög-lich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen,während es andererseits sich von den dionysischenElementen möglichst gelöst hat und jetzt, um über-haupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, dienun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunst-triebe, des apollinischen und des dionysischen, liegenkönnen. Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxeGedanken - an Stelle der apollinischen Anschauun-gen - und feurige Affekte - an Stelle der dionysischenEntzückungen - und zwar höchst realistisch nachge-machte, keineswegs in den Äther der Kunst getauchteGedanken und Affekte.

Haben wir demnach so viel erkannt, daß es

Page 115: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

114Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Euripides überhaupt nicht gelungen ist, das Dramaallein auf das Apollinische zu gründen, daß sich viel-mehr seine undionysische Tendenz in eine naturalisti-sche und unkünstlerische verirrt hat, so werden wirjetzt dem Wesen des ästhetischen Sokratismus schonnäher treten dürfen, dessen oberstes Gesetz ungefährso lautet: »Alles muß verständig sein, um schön zusein«; als Parallelsatz zu dem sokratischen »nur derWissende ist tugendhaft«. Mit diesem Kanon in derHand maß Euripides alles einzelne und rektifizierte esgemäß diesem Prinzip: die Sprache, die Charaktere,den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Waswir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie sohäufig dem Euripides als dichterischen Mangel undRückschritt anzurechnen pflegen, das ist zumeist dasProdukt jenes eindringenden kritischen Prozesses,jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideischeProlog diene uns als Beispiel für die Produktivitätjener rationalistischen Methode. Nichts kann unsererBühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog imDrama des Euripides. Daß eine einzelne auftretendePerson am Eingange des Stückes erzählt, wer sie sei,was der Handlung vorangehe, was bis jetzt gesche-hen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde,das würde ein moderner Theaterdichter als ein Mut-williges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten aufden Effekt der Spannung bezeichnen. Man weiß ja

Page 116: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

115Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen,daß dies wirklich geschieht? - da ja hier keinesfallsdas aufregende Verhältnis eines wahrsagenden Trau-mes zu einer später eintretenden Wirklichkeit stattfin-det. Ganz anders reflektierte Euripides. Die Wirkungder Tragödie beruhte niemals auf der epischen Span-nung, auf der anreizenden Ungewißheit, was sich jetztund nachher ereignen werde: vielmehr auf einen gro-ßen rhetorisch-lyrischen Szenen, in denen die Leiden-schaft und die Dialektik des Haupthelden zu einembreiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pa-thos, nicht zur Handlung bereitete alles vor: und wasnicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerf-lich. Das aber, was die genußvolle Hingabe an solcheSzenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörerfehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe der Vorge-schichte; solange der Zuhörer noch ausrechnen muß,was diese und jene Person bedeute, was dieser undjener Konflikt der Neigungen und Absichten für Vor-aussetzungen habe, ist seine volle Versenkung in dasLeiden und Tun der Hauptpersonen, ist das atemloseMitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Dieäschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte diegeistreichsten Kunstmittel, um dem Zuschauer in denersten Szenen gewissermaßen zufällig alle jene zumVerständnis notwendigen Fäden in die Hand zugeben: ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft

Page 117: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

116Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

bewährt, die das notwendige Formelle gleichsammaskiert und als Zufälliges erscheinen läßt. Immerhinaber glaubte Euripides zu bemerken, daß währendjener ersten Szenen der Zuschauer in eigentümlicherUnruhe sei, um das Rechenexempel der Vorgeschichteauszurechnen, so daß die dichterischen Schönheitenund das Pathos der Exposition für ihn verlorenginge.Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Expositionund legte ihn einer Person in den Mund, der man Ver-trauen schenken durfte: eine Gottheit mußte häufigden Verlauf der Tragödie dem Publikum gewisserma-ßen garantieren und jeden Zweifel an der Realität desMythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartesdie Realität der empirischen Welt nur durch die Ap-pellation an die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Un-fähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbegöttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch ein-mal am Schlusse seines Dramas, um die Zukunft sei-ner Helden dem Publikum sicherzustellen: dies ist dieAufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischender epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dra-matisch-lyrische Gegenwart, das eigentliche»Drama«.

So ist Euripides vor allem als Dichter der Wider-hall seiner bewußten Erkenntnisse; und gerade diesverleiht ihm eine so denkwürdige Stellung in der Ge-schichte der griechischen Kunst. Ihm muß im

Page 118: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

117Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Hinblick auf sein kritisch-produktives schaffen oft zu-mute gewesen sein, als sollte er den Anfang derSchrift des Anaxagoras für das Drama lebendig ma-chen, deren erste Worte lauten: »im Anfang war allesbeisammen: da kam der Verstand und schuf Ord-nung«. Und wenn Anaxagoras mit seinem »Nus«unter den Philosophen wie der erste Nüchterne unterlauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripidessein Verhältnis zu den anderen Dichtern der Tragödieunter einem ähnlichen Bilde begriffen haben. Solangeder einzige Ordner und Walter des Alls, der Nus,noch vom künstlerischen Schaffen ausgeschlossenwar, war noch alles in einem chaotischen Urbrei bei-sammen; so mußte Euripides urteilen, so mußte er die»trunkenen« Dichter als der erste »Nüchterne« verur-teilen. Das, was Sophokles von Äschylus gesagt hat,er tue das Rechte, obschon unbewußt, war gewißnicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur sovielhätte gelten lassen, daß Äschylus, weil er unbewußtschaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttlichePlato redet vom schöpferischen Vermögen des Dich-ters, insofern dies nicht die bewußte Einsicht ist, zuallermeist nur ironisch und stellt es der Begabung desWahrsagers und Traumdeuters gleich; sei doch derDichter nicht eher fähig zu dichten, als bis er bewußt-los geworden sei, und kein Verstand mehr in ihmwohne. Euripides unternahm es, wie es auch Plato

Page 119: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

118Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

unternommen hat, das Gegenstück des »unverständi-gen« Dichters der Welt zu zeigen, sein ästhetischerGrundsatz »alles muß bewußt sein, um schön zusein«, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem so-kratischen »alles muß bewußt sein, um gut zu sein«.Demgemäß darf uns Euripides als der Dichter des äs-thetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber warjener zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nichtbegriff und deshalb nicht achtete; mit ihm im Bundewagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaf-fens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu-grunde ging, so ist also der ästhetische Sokratismusdas mörderische Prinzip: insofern aber der Kampfgegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtetwar, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Diony-sus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus er-hebt und, obschon bestimmt, von den Mänaden desathenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden, dochden übermächtigen Gott selbst zur Flucht nötigt: wel-cher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurgfloh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, nämlich indie mystischen Fluten eines die ganze Welt allmählichüberziehenden Geheimkultus.

Page 120: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

119Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

13

Daß Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zuEuripides habe, entging dem gleichzeitigen Altertumenicht; und der beredteste Ausdruck für diesen glückli-chen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende sage, So-krates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen.Beide Namen wurden von den Anhängern der »gutenalten Zeit« in einem Atem genannt, wenn es galt, dieVolksverführer der Gegenwart aufzuzählen: von derenEinflusse es herrühre, daß die alte marathonische vier-schrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehreiner zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitenderVerkümmerung der leiblichen und seelischen Kräfte,zum Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrü-stung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanischeKomödie von jenen Männern zu reden, zumSchrecken der Neueren, welche zwar Euripides gernepreisgeben, aber sich nicht genug darüber wundernkönnen, daß Sokrates als der erste und oberste So-phist, als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischenBestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei eseinzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbstals einen liederlich lügenhaften Alcibiades der Poesiean den Pranger zu Stellen. Ohne an dieser Stelle dietiefen Instinkte des Aristophanes gegen solche

Page 121: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

120Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Angriffe in Schutz zu nehmen, fahre ich fort, die engeZusammengehörigkeit des Sokrates und des Euripidesaus der antiken Empfindung heraus zu erweisen; inwelchem Sinne namentlich daran zu erinnern ist, daßSokrates als Gegner der tragischen Kunst sich des Be-suchs der Tragödie enthielt und nur, wenn ein neuesStück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter denZuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber dienahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphi-schen Orakelspruche, welcher Sokrates als den Wei-sesten unter den Menschen bezeichnete, zugleich aberdas Urteil abgab, daß dem Euripides der zweite Preisim Wettkampfe der Weisheit gebühre.

Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophoklesgenannt; er, der sich gegen Äschylus rühmen durfte,er tue das Rechte, und zwar, weil er wisse, was dasRechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der Hellig-keit diesesWissens dasjenige, was jene drei Männergemeinsam als die drei »Wissenden« ihrer Zeit aus-zeichnet.

Das schärfste Wort aber für jene neue und uner-hörte Hochschätzung des Wissens und der Einsichtsprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand,der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, aufseiner kritischen Wanderung durch Athen, bei dengrößten Staatsmännern, Rednern, Dichtern undKünstlern vorsprechend, überall die Einbildung des

Page 122: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

121Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, daß alle jeneBerühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtigeund sichere Einsicht seien und denselben nur aus In-stinkt trieben. »Nur aus Instinkt«: mit diesem Aus-druck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokrati-schen Tendenz. Mit ihm verurteilt der Sokratismusebenso die bestehende Kunst wie die bestehendeEthik: wohin er seine prüfenden Blicke richtet, siehter den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahnsund schließt aus diesem Mangel auf die innerlicheVerkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen.Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates dasDasein korrigieren zu müssen: er, der Einzelne, trittmit der Miene der Nichtachtung und der Überlegen-heit, als der Vorläufer einer ganz anders geartetenKultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, derenZipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum größ-ten Glücke rechnen würden.

Dies ist die ungeheure Bedenklichkeit, die uns je-desmal, angesichts des Sokrates, ergreift und die unsimmer und immer wieder anreizt, Sinn und Absichtdieser fragwürdigsten Erscheinung des Altertums zuerkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Ein-zelner das griechische Wesen zu verneinen, das alsHomer, Pindar und Äschylus, als Phidias, als Peri-kles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrundund die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung

Page 123: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

122Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gewiß ist? Welche dämonische Kraft ist es, die diesenZaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnendarf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchorder Edelsten der Menschheit zurufen muß: »Weh!Weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mitmächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt!«

Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietetuns jene wunderbare Erscheinung, die als »Dämoniondes Sokrates« bezeichnet wird. In besonderen Lagen,in denen sein ungeheurer Verstand ins Schwanken ge-riet, gewann er einen festen Anhalt durch eine in sol-chen Momenten sich äußernde göttliche Stimme.Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab.Die instinktive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlichabnormen Natur nur, um dem bewußten Erkennenhier und da hindernd entgegenzutreten. Währenddoch bei allen produktiven Menschen der Instinkt ge-rade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und dasBewußtsein kritisch und abmahnend sich gebärdet:wird bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker, das Be-wußtsein zum Schöpfer - eine wahre Monstrositätper defectum! Und zwar nehmen wir hier einen mon-strösen defectus jeder mystischen Anlage wahr, sodaß Sokrates als der spezifische Nicht-Mystiker zubezeichnen wäre, in dem die logische Natur durcheine Superfötation ebenso exzessiv entwickelt ist wieim Mystiker jene instinktive Weisheit. Andrerseits

Page 124: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

123Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

aber war es jenem in Sokrates erscheinenden logi-schen Triebe völlig versagt, sich gegen sich selbst zukehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt ereine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrößteninstinktiven Kräften zu unsrer schaudervollen Überra-schung antreffen. Wer nur einen Hauch von jenergöttlichen Naivität und Sicherheit der sokratischenLebensrichtung aus den platonischen Schriften ge-spürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebraddes logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokratesin Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wiedurch einen Schatten hindurch angeschaut werdenmuß. Daß er aber selbst von diesem Verhältnis eineAhnung hatte, das drückt sich in dem würdevollenErnste aus, mit dem er seine göttliche Berufung über-all und noch vor seinen Richtern geltend machte. Ihndarin zu widerlegen war im Grunde ebenso unmöglichals seinen die Instinkte auflösenden Einfluß gutzuhei-ßen. Bei diesem unlösbaren Konflikte war, als er ein-mal vor das Forum des griechischen Staates gezogenwar, nur eine einzige Form der Verurteilung geboten,die Verbannung; als etwas durchaus Rätselhaftes, Un-rubrizierbares, Unaufklärbares hätte man ihn über dieGrenze weisen dürfen, ohne laß irgendeine Nachweltim Recht gewesen wäre, die Athener einer schmähli-chen Tat zu zeihen. Daß aber der Tod und nicht nurdie Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das

Page 125: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

124Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit undohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durch-gesetzt zu haben: er ging in den Tod, mit jener Ruhe,mit der er nach Platos Schilderung als der letzte derZecher im frühen Tagesgrauen das Symposion ver-läßt, um einen neuen Tag zu beginnen; indes hinterihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafe-nen Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates,dem wahrhaften Erotiker, zu träumen. Der sterbendeSokrates wurde das neue, noch nie sonst geschauteIdeal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sichder typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller in-brünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor die-sem Bilde niedergeworfen.

14

Denken wir uns jetzt das eine große Zyklopenaugedes Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, indem nie der holde Wahnsinn künstlerischer Begeiste-rung geglüht hat - denken wir uns, wie es jenemAuge versagt war, in die dionysischen Abgründe mitWohlgefallen zu schauen - was eigentlich mußte esin der »erhabenen und hochgepriesenen« tragischenKunst, wie sie Plato nennt, erblicken? Etwas rechtUnvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen,

Page 126: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

125Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schie-nen; dazu das ganze so bunt und mannigfaltig, daß eseiner besonnenen Gemütsart widerstreben müsse, fürreizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährli-cher Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattungder Dichtkunst von ihm begriffen wurde, die äsopi-sche Fabel: und dies geschah gewiß mit jener lächeln-den Anbequemung, mit welcher der ehrliche gute Gel-lert in der Fabel von der Biene und der Henne dasLob der Poesie singt:

»Du siehst an mir, wozu sie nützt,Dem, der nicht viel Verstand besitzt,Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen.«

Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nichteinmal »die Wahrheit zu sagen«: abgesehen davon,daß sie sich an den wendet, der »nicht viel Verstandbesitzt«, also nicht an den Philosophen: ein zweifa-cher Grund, von ihr fernzubleiben. Wie Plato, rechne-te er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nurdas Angenehme, nicht das Nützliche darstellen, undverlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsamkeitund strenge Absonderung von solchen unphilosophi-schen Reizungen; mit solchem Erfolge, daß der ju-gendliche Tragödiendichter Plato zuallererst seineDichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates

Page 127: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

126Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagengegen die sokratischen Maximen ankämpften, war dieKraft derselben, samt der Wucht jenes ungeheurenCharakters, immer noch groß genug, um die Poesieselbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zudrängen.

Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er,der in der Verurteilung der Tragödie und der Kunstüberhaupt gewiß nicht hinter dem naiven Zynismusseines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus vol-ler künstlerischer Notwendigkeit eine Kunstformschaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen undvon ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich ver-wandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der älterenKunst zu machen hatte - daß sie Nachahmung einesScheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre,als die empirische Welt ist, angehöre -, durfte vorallem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet wer-den: und so sehen wir denn Plato bestrebt, über dieWirklichkeit hinauszugehn und die jener Pseu-do-Wirklichkeit zugrunde liegende Idee darzustellen.Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwegeebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimischgewesen war, und von wo aus Sophokles und dieganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf pro-testierten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgat-tungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe

Page 128: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

127Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

wiederum in einem exzentrischen Sinne vom platoni-schen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vor-handenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzäh-lung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in derMitte schwebt und damit auch das strenge ältere Ge-setz der einheitlichen sprachlichen Form durchbro-chen hat; auf welchem Wege die zynischen Schrift-steller noch weiter gegangen sind, die in der größtenBuntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwan-ken zwischen prosaischen und metrischen Formen,auch das literarische Bild des »rasenden Sokrates«,den sie im Leben darzustellen pflegten, erreichthaben. Der platonische Dialog war gleichsam derKahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesiesamt allen ihren Kindern rettete: auf einem engenRaum zusammengedrängt und dem einen SteuermannSokrates ängstlich untertänig, fuhren sie jetzt in eineneue Welt hinein, die an dem phantastischen Bildedieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklichhat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einerneuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Romans:der als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel zubezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichenRangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wieviele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zurTheologie: nämlich als ancilla. Dies war die neueStellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke

Page 129: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

128Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

des dämonischen Sokrates drängte.Hier überwächst der philosophische Gedanke die

Kunst und zwingt sie zu einem engenSich-Anklammern an den Stamm der Dialektik. Indem logischen Schematismus hat sich die apollini-sche Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripides etwasEntsprechendes und außerdem eine Übersetzung desDionysischen in den naturalistischen Affekt wahrzu-nehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held implatonischen Drama, erinnert uns an die verwandteNatur des euripideischen Helden, der durch Grundund Gegengrund seine Handlungen verteidigen mußund dadurch so oft in Gefahr gerät, unser tragischesMitleiden einzubüßen: denn wer vermöchte das opti-mistische Element im Wesen der Dialektik zu verken-nen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert undallein in kühler Helle und Bewußtheit atmen kann:das optimistische Element, das, einmal in die Tragö-die eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmäh-lich überwuchern und sie notwendig zur Selbstver-nichtung treiben muß - bis zum Todessprunge insbürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sichnur die Konsequenzen der sokratischen Sätze: »Tü-gend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissen-heit; der Tugendhafte ist der Glückliche«; in diesendrei Grundformen des Optimismus liegt der Tod derTragödie. Denn jetzt muß der tugendhafte Held

Page 130: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

129Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Dialektiker sein, jetzt muß zwischen Tugend undWissen, Glaube und Moral ein notwendiger sichtbarerVerband sein, jetzt ist die transzendentale Gerechtig-keitslösung des Äschylus zu dem flachen und frechenPrinzip der »poetischen Gerechtigkeit« mit seinemüblichen deux ex machina erniedrigt.

Wie erscheint dieser neuen sokra-tisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt derChor und überhaupt der ganze musika-lisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwasZufälliges, als eine auch wohl zu missende Reminis-zenz an den Ursprung der Tragödie; während wirdoch eingesehen haben, daß der Chor nur als Ursacheder Tragödie und des Tragischen überhaupt verstan-den werden kann. Schon bei Sophokles zeigt sich jeneVerlegenheit in betreff des Chors - ein wichtiges Zei-chen, daß schon bei ihm der dionysische Boden derTragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nichtmehr, dem Chor den Hauptanteil der Wirkung anzu-vertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaßenein, daß er jetzt fast den Schauspielern koordiniert er-scheint, gleich als ob er aus der Orchestra in dieSzene hineingehoben würde: womit freilich seinWesen völlig zerstört ist, mag auch Aristoteles geradedieser Auffassung des Chors seine Beistimmunggeben. Jene Verrückung der Chorposition, welche So-phokles jedenfalls durch seine Praxis und, der

Page 131: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

130Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Überlieferung nach, sogar durch eine Schrift an, emp-fohlen hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung desChors, deren Phasen in Euripides, Agathon und derneueren Komödie mit er, schreckender Schnelligkeitaufeinanderfolgen. Die optimistische Dialektik treibtmit der Geißel ihrer Syllogismen dieMusik aus derTragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie,welches sich einzig als eine Manifestation und Ver-bildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Sym-bolisierung der Musik, als die Traumwelt eines diony-sischen Rausches interpretieren läßt.

Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wir-kende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nurin ihm einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt:so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken,wohin denn eine solche Erscheinung wie die des So-krates deute: die wir doch nicht imstande sind, ange-sichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflö-sende negative Macht zu begreifen. Und so gewiß dieallernächste Wirkung des sokratischen Triebes aufeine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging,so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung desSokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen demSokratismus und der Kunst notwendig nur ein antipo-disches Verhältnis bestehe und ob die Geburt eines»künstlerischen Sokrates« überhaupt etwas in sichWiderspruchsvolles sei.

Page 132: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

131Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Jener despotische Logiker hatte nämlich hier undda der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einerLeere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht ver-säumten Pflicht. Öfters kam ihm, wie er im Gefängnisseinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumer-scheinung, die immer dasselbe sagte: »Sokrates, trei-be Musik!« Er beruhigt sich bis zu seinen letztenTagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei diehöchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, daß eineGottheit ihn an jene »gemeine, populäre Musik« erin-nern werde. Endlich im Gefängnis versteht er sich, umsein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jenevon ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und indieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollound bringt einige äsopische Fabeln in Verse. Das waretwas der dämonischen warnenden Stimme Ähnliches,was ihn zu diesen Übungen drängte, es war seineapollinische Einsicht, daß er wie ein Barbarenkönigein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahrsei, sich an seiner Gottheit zu versündigen - durchsein Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischenTraumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Be-denklichkeit über die Grenzen der logischen Natur:vielleicht - so mußte er sich fragen -ist das mirNichtverständliche doch nicht auch sofort das Unver-ständige? Vielleicht gibt es ein Reich der Weisheit,aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die

Page 133: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

132Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Kunst sogar ein notwendiges Korrelativum und Sup-plement der Wissenschaft?

15

Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen mußnun ausgesprochen werden, wie der Einfluß des So-krates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunfthinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immergrößer werdenden Schatten, über die Nachwelt hinausgebreitet hat, wie derselbe zur Neuschaffung derKunst - und zwar der Kunst im bereits metaphysi-schen, weitesten und tiefsten Sinne - immer wiedernötigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auchderen Unendlichkeit verbürgt.

Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die inner-ste Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, denGriechen von Homer bis auf Sokrates, überzeugenddargetan war, mußte es uns mit diesen Griechen erge-hen wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit undBildungsstufe hat einmal sich mit tiefem Mißmutevon den Griechen zu befreien gesucht, weil angesichtsderselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig Ori-ginelle und recht aufrichtig Bewunderte plötzlichFarbe und Leben zu verlieren schien und zur mißlun-genen Kopie, ja zur Karikatur zusammenschrumpfte.

Page 134: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

133Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Und so bricht immer von neuem einmal der herzlicheIngrimm gegen jenes anmaßliche Völkchen hervor,das sich erkühnte, alles Nichteinheimische für alleZeiten als »barbarisch« zu bezeichnen: wer sind jene,fragt man sich, die, obschon sie nur einen ephemerenhistorischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte Insti-tutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitteaufzuweisen haben und sogar mit häßlichen Lasterngekennzeichnet sind, doch die Würde und Sonderstel-lung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die demGenius unter der Masse zukommt? Leider war mannicht so glücklich, den Schierlingsbecher zu finden,mit dem ein solches Wesen einfach abgetan werdenkonnte: denn alles Gift, das Neid, Verleumdung undIngrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jeneselbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und soschämt und fürchtet man sich vor den Griechen; es seidenn, daß einer die Wahrheit über alles achte und sosich auch diese Wahrheit einzugestehen wage, daß dieGriechen unsere und jegliche Kultur als Wagenlenkerin den Händen haben, daß aber fast immer Wagenund Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorieihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einenScherz erachten, ein solches Gespann in den Abgrundzu jagen: über den sie selbst, mit dem Sprunge desAchilles, hinwegsetzen.

Um die Würde einer solchen Führerstellung auch

Page 135: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

134Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

für Sokrates zu erweisen, genügt es, in ihm den Typuseiner vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen,den Typus des theoretischen Menschen, über dessenBedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen, unserenächste Aufgabe ist. Auch der theoretische Menschhat ein unendliches Vergnügen am Vorhandenen, wieder Künstler, und ist wie jener vor der praktischenEthik des Pessimismus und vor seinen nur im Finste-ren leuchtenden Lynkeusaugen durch jenes Genügengeschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Ent-hüllung der Wahrheit immer nur mit verzücktenBlicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nachder Enthüllung, noch Hülle bleibt, genießt und befrie-digt sich der theoretische Mensch an der abgeworfe-nen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Pro-zeß einer immer glücklichen, durch eigene Kraft ge-lingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft,wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und umnichts anderes zu tun wäre. Denn dann müßte es ihrenJüngern zumute sein, wie solchen, die ein Loch gera-de durch die Erde graben wollten: von denen ein jedereinsieht, daß er, bei größter und lebenslänglicher An-strengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheurenTiefe zu durchgraben imstande sei, welches vor sei-nen Augen durch die Arbeit des nächsten wieder über-schüttet wird, so daß ein dritter wohl daran zu tunscheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für

Page 136: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

135Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

seine Bohrversuche wählt. Wenn jetzt nun einer zurÜberzeugung beweist, daß auf diesem direkten Wegedas Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wirdnoch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es seidenn, daß er sich nicht inzwischen genügen lasse,edles Gestein zu finden oder Naturgesetze zu ent-decken. Darum hat Lessing, der ehrlichste theoreti-sche Mensch, es auszusprechen gewagt, daß ihm mehram suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei:womit das Grundgeheimnis der Wissenschaft, zumErstaunen, ja Ärger der Wissenschaftlichen, aufge-deckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser ver-einzelten Erkenntnis, als einem Exzeß der Ehrlichkeit,wenn nicht des Übermutes, eine tiefsinnigeWahnvor-stellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zurWelt kam, - jener unerschütterliche Glaube, daß dasDenken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in dietiefsten Abgründe des Seins reiche, und daß das Den-ken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zukorrigieren imstande sei. Dieser erhabene metaphysi-sche Wahn ist als Instinkt der Wissenschaft beigege-ben und führt sie immer und immer wieder zu ihrenGrenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muß: auswelche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, ab-gesehen ist.

Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedan-kens, auf Sokrates hin: so erscheint er uns als der

Page 137: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

136Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

erste, der an der Hand jenes Instinktes der Wissen-schaft nicht nur leben, sondern - was bei weitemmehr ist -auch sterben konnte; und deshalb ist dasBild des sterbenden Sokrates als des durch wissenund Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschendas Wappenschild, das über dem Eingangstor derWissenschaft einen jeden an deren Bestimmung erin-nert, nämlich das Dasein als begreiflich und damit alsgerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich,wenn die Gründe nicht reichen, schließlich auch derMythus dienen muß, den ich sogar als notwendigeKonsequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soebenbezeichnete.

Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach So-krates, dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philo-sophenschule nach der anderen wie Welle auf Wellesich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität derWissensgier in dem weitesten Bereich der gebildetenWelt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Be-fähigten die Wissenschaft auf die hohe See führte,von der sie niemals seitdem wieder völlig vertriebenwerden konnte, wie durch diese Universalität erst eingemeinsames Netz des Gedankens über den gesamtenErdball, ja mit Ausblicken über die Gesetzlichkeiteines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde; werdies alles, samt der erstaunlich hohen Wissenspyra-mide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann

Page 138: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

137Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wende-punkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zusehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze un-bezifferbare Summe von Kraft, die für jene Weltten-denz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Er-kennens, sondern auf die praktischen, d.h. egoisti-schen Ziele der Individuen und Völker verwendet, sowäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungs-kämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen dieinstinktive Lust zum Leben so abgeschwächt, daß, beider Gewohnheit des Selbstmordes, der einzelne viel-leicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfindenmüßte, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln,als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund er-drosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst einegrausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid er-zeugen könnte - der übrigens überall in der Welt vor-handen ist und vorhanden war, wo nicht die Kunst inirgendwelchen Formen, besonders als Religion undWissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenesPesthauchs erschienen ist.

Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist So-krates das Urbild des theoretischen Optimisten, der indem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit derNatur der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis dieKraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrtumdas Übel an sich begreift. In jene Gründe

Page 139: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

138Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

einzudringen und die wahre Erkenntnis vom Scheinund vom Irrtum zu sondern, dünkte dem sokratischenMenschen der edelste, selbst der einzige wahrhaftmenschliche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismusder Begriffe, Urteile und Schlüsse von Sokrates ab alshöchste Betätigung und bewunderungswürdigsteGabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten ge-schätzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Taten,die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des He-roismus und jene schwer zu erringende Meeresstilleder Seele, die der apollinische Grieche Sophrosynenannte, wurden von Sokrates und seinen gleichgesinn-ten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus derDialektik des Wissens abgeleitet und demgemäß alslehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischenErkenntnis an sich erfahren hat und spürt, wie diese,in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Er-scheinungen zu umfassen sucht, der wird von da ankeinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, hefti-ger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zuvollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spin-nen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platoni-sche Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Formder »griechischen Heiterkeit« und Daseinsseligkeit,welche sich in Handlungen zu entladen sucht unddiese Entladungen zumeist in mäeutischen und erzie-henden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck

Page 140: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

139Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen

Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Gren-zen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgenerOptimismus scheitert. Denn die Peripherie des Krei-ses der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, undwährend noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals derKreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifftdoch der edle und begabte Mensch, noch vor derMitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solcheGrenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhell-bare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht,wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbstringelt und endlich sich in den Schwanz beißt - dabricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragi-sche Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, alsSchutz und Heilmittel die Kunst braucht.

Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechenerlabten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigenWelt, die uns umflutet, so gewahren wir die in Sokra-tes vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichenoptimistischen Erkenntnis in tragische Resignationund Kunstbedürftigkeit umgeschlagen: während aller-dings dieselbe Gier, auf ihren niederen Stufen, sichkunstfeindlich äußern und vornehmlich die diony-sisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muß,wie dies an der Bekämpfung der äschyleischen

Page 141: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

140Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Tragödie durch den Sokratismus beispielsweise dar-gestellt wurde.

Hier nun klopfen wir, bewegten Gemütes, an diePforten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes »Um-schlagen« zu immer neuen Konfigurationen des Geni-us und gerade des musiktreibenden Sokrates führen?Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst,sei es auch unter dem Namen der Religion oder derWissenschaft, immer fester und zarter geflochten wer-den, oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barba-rischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt »die Ge-genwart« nennt, in Fetzen zu reißen? - Besorgt, dochnicht trostlos stehen wir eine kleine Weile beiseite,als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugenjener ungeheuren Kämpfe und Übergänge zu sein.Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, daß, wer sieschaut, sie auch kämpfen muß!

16

An diesem ausgeführten historischen Beispielhaben wir klarzumachen gesucht, wie die Tragödie andem Entschwinden des Geistes der Musik ebensogewiß zugrunde geht, wie sie aus diesem Geiste alleingeboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Be-hauptung zu mildern und andererseits den Ursprung

Page 142: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

141Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

dieser unserer Erkenntnis aufzuzeigen, müssen wiruns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungender Gegenwart gegenüberstellen; wir müssen mittenhinein in jene Kämpfe treten, welche, wie ich ebensagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Er-kenntnis und der tragischen Kunstbedürftigkeit in denhöchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpftwerden. Ich will hierbei von allen den anderen gegne-rischen Trieben absehen, die zu jeder Zeit der Kunstund gerade der Tragödie entgegenarbeiten und dieauch in der Gegenwart in dem Maße siegesgewiß umsich greifen, daß von den theatralischen Künsten z.B.allein die Posse und das Ballett in einem einigerma-ßen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für jeder-mann wohlriechenden Blüten treiben. Ich will nur vonder erlauchtesten Gegnerschaft der tragischen Welt-betrachtung reden und meine damit die in ihrem tief-sten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihremAhnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auchdie Mächte bei Namen genannt werden, welche mireine Wiedergeburt der Tragödie - und welche ande-re selige Hoffnungen für das deutsche Wesen! - zuverbürgen scheinen.

Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstür-zen, hüllen wir uns in die Rüstung unserer bisher er-oberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu allen denen,welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen

Page 143: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

142Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Prinzip, als dem notwendigen Lebensquell jedesKunstwerks, abzuleiten, halte ich den Blick auf jenebeiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apol-lo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die le-bendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier inihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen ver-schiedenen Kunstwelten. Apollo steht vor mir als derverklärende Genius des principii individuationis,durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zuerlangen ist: während unter dem mystischen Jubelrufdes Dionysus der Bann der Individuation zersprengtwird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu deminnersten Kern der Dinge offenliegt. Dieser ungeheureGegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunstals der apollinischen und der Musik als der dionysi-schen Kunst klaffend auftut, ist einem einzigen dergroßen Denker in dem Maße offenbar geworden, daßer, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göt-tersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charak-ter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuer-kannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Er-scheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willensselbst sei und also zu allem Physischen der Welt dasMetaphysische, zu aller Erscheinung das Ding ansich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille undVorstellung I, S. 310.) Auf diese wichtigste Erkennt-nis aller Ästhetik, mit der, in einem ernsteren Sinne

Page 144: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

143Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

genommen, die Ästhetik erst beginnt, hat RichardWagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit sei-nen Stempel gedrückt, wenn er im »Beethoven« fest-stellt, daß die Musik nach ganz anderen ästhetischenPrinzipien als alle bildenden Künste und überhauptnicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessensei: obgleich eine irrige Ästhetik, an der Hand einermißleiteten und entarteten Kunst, von jenem in derbildnerischen Welt geltenden Begriff der Schönheitaus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnlicheWirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zufordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schö-nen Formen. Nach der Erkenntnis jenes ungeheurenGegensatzes fühlte ich eine starke Nötigung, michdem Wesen der griechischen Tragödie und damit dertiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zunahen: denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtigzu sein, über die Phraseologie unserer üblichen Äs-thetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leib-haft vor die Seele stellen zu können: wodurch mir einso befremdlich eigentümlicher Blick in das Helleni-sche vergönnt war, daß es mir Scheinen mußte, als obunsre so stolz sich gebärdende klassisch-hellenischeWissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur anSchattenspielen und Äußerlichkeiten sich zu weidengewußt habe.

Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser

Page 145: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

144Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Frage berühren: welche ästhetische Wirkung entsteht,wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apol-linischen und des Dionysischen nebeneinander in Tä-tigkeit geraten? Oder in kürzerer Form: wie verhältsich die Musik zu Bild und Begriff? - Schopenhauer,dem Richard Wagner gerade für diesen Punkt einenicht zu überbietende Deutlichkeit und Durchsichtig-keit der Darstellung nachrühmt, äußert sich hierüberam ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ichhier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Weltals Wille und Vorstellung I, S. 309: »Diesem allenzufolge können wir die erscheinende Welt, oder dieNatur, und die Musik als zwei verschiedene Aus-drücke derselben Sache ansehen, welche selbst daherdas allein Vermittelnde der Analogie beider ist, des-sen Erkenntnis erfordert wird, um jene Analogie ein-zusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruckder Welt angesehen, eine im höchsten Grad allge-meine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit derBegriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnenDingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jeneleere Allgemeinheit der Abstraktion, sondern ganz an-derer Art, und ist verbunden mit durchgängiger deutli-cher Bestimmtheit. Sie gleicht hierin den geometri-schen Figuren und den Zahlen, welche als die allge-meinen Formen aller möglichen Objekte der Erfah-rung und auf alle a priori anwendbar, doch nicht

Page 146: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

145Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

abstrakt, sondern anschaulich und durchgängig be-stimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregun-gen und Äußerungen des Willens, alle jene Vorgängeim Innern des Menschen, welche die Vernunft in denweiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind durch dieunendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken,aber immer in der Allgemeinheit bloßer Form, ohneden Stoff, immer nur nach dem An-sich, nicht nachder Erscheinung, gleichsam die innerste Seele dersel-ben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältnis,welches die Musik zum wahren Wesen aller Dingehat, ist auch dies zu erklären, daß, wenn zu irgendei-ner Szene, Handlung, Vorgang, Umgebung eine pas-sende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinnderselben aufzuschließen scheint und als der richtigsteund deutlichste Kommentar dazu auftritt: ingleichen,daß es dem, der sich dem Eindruck einer Symphonieganz hingibt, ist, als sähe er alle möglichen Vorgängedes Lebens und der Welt an sich vorüberziehen: den-noch kann er, wenn er sich besinnt, keine Ähnlichkeitangeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen,die ihm vorschwebten. Denn die Musik ist, wie ge-sagt, darin von allen anderen Künsten verschieden,daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger,der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmit-telbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allemPhysischen der Welt das Metaphysische, zu aller

Page 147: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

146Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könntedemnach die Welt ebensowohl verkörperte Musik, alsverkörperten Willen nennen: daraus also ist es erklär-lich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Szene deswirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhterBedeutsamkeit hervortreten läßt; freilich um so mehr,je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gege-benen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, daß man einGedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstel-lung als Pantomime, oder beides als Oper der Musikunterlegen kann. Solche einzelne Bilder des Men-schenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik un-tergelegt, sind nie mit durchgängiger Notwendigkeitihr verbunden oder entsprechend; sondern sie stehenzu ihr nur im Verhältnis eines beliebigen Beispiels zueinem allgemeinen Begriff: sie stellen in der Be-stimmtheit der Wirklichkeit dasjenige dar, was dieMusik in der Allgemeinheit bloßer Form aussagt.Denn die Melodien sind gewissermaßen, gleich denallgemeinen Begriffen, ein Abstraktum der Wirklich-keit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnenDinge, liefert das Anschauliche, das Besondere undIndividuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allge-meinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Me-lodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber ingewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem dieBegriffe nur die allererst aus der Anschauung

Page 148: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

147Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

abstrahierten Formen, gleichsam die abgezogene äu-ßere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlichAbstrakta sind; die Musik hingegen den innerstenaller Gestaltung vorhergängigen Kern, oder das Herzder Dinge gibt. Dies Verhältnis ließe sich recht gut inder Sprache der Scholastiker ausdrücken, indem mansagte: die Begriffe sind die universalia post rem, dieMusik aber gibt die universalia ante rem, und dieWirklichkeit die universalia in re. - Daß aber über-haupt eine Beziehung zwischen einer Kompositionund einer anschaulichen Darstellung möglich ist, be-ruht, wie gesagt, darauf, daß beide nur ganz verschie-dene Ausdrücke des selben innern Wesens der Weltsind. Wann nun im einzelnen Fall eine solche Bezie-hung wirklich vorhanden ist, also der Komponist dieWillensregungen, welche den Kern einer Begebenheitausmachen, in der allgemeinen Sprache der Musikauszusprechen gewußt hat: dann ist die Melodie desLiedes, die Melodie der Oper ausdrucksvoll. Die vomKomponisten aufgefundene Analogie zwischen jenenbeiden muß aber aus der unmittelbaren Erkenntnis desWesens der Welt, seiner Vernunft unbewußt, hervor-gegangen und darf nicht, mit bewußter Absichtlich-keit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein:sonst spricht die Musik nicht das innere Wesen, denWillen selbst aus; sondern ahmt nur seine Erschei-nung ungenügend nach; wie dies alle eigentlich

Page 149: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

66624 148Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

nachbildende Musik tut.« -Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauers,

die Musik als die Sprache des Willens unmittelbarund fühlen unsere Phantasie angeregt, jene zu uns re-dende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte Gei-sterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Bei-spiel uns zu verkörpern. Andrerseits kommt Bild undBegriff, unter der Einwirkung einer wahrhaft entspre-chenden Musik, zu einer erhöhten Bedeutsamkeit.Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysischeKunst auf das apollinische Kunstvermögen auszu-üben: die Musik reizt zum gleichnisartigen Anschau-en der dionysischen Allgemeinheit, die Musik läßt so-dann das gleichnisartige Bild in höchster Bedeutsam-keit hervortreten. Aus diesen an sich verständlichenund keiner tieferen Beobachtung unzugänglichen Tat-sachen erschließe ich die Befähigung der Musik, denMythus, d.h. das bedeutsamste Exempel zu gebärenund gerade den tragischenMythus: den Mythus, dervon der dionysischen Erkenntnis in Gleichnissenredet. An dem Phänomen des Lyrikers habe ich darge-stellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, inapollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zugeben: denken wir uns jetzt, daß die Musik in ihrerhöchsten Steigerung auch zu einer höchsten Verbildli-chung zu kommen suchen muß, so müssen wir fürmöglich halten, daß sie auch den symbolischen

Page 150: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

149Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Ausdruck für ihre eigentliche dionysische Weisheit zufinden wisse; und wo anders werden wir diesen Aus-druck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödieund überhaupt im Begriff des Tragischen?

Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nachder einzigen Kategorie des Scheines und der Schön-heit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicherWeise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste derMusik heraus verstehen wir eine Freude an der Ver-nichtung des Individuums. Denn an den einzelnenBeispielen einer solchen Vernichtung wird uns nurdas ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlichgemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsamhinter dem principio individuationis, das ewigeLeben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Ver-nichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysischeFreude am Tragischen ist eine Übersetzung der in-stinktiv unbewußten dionysischen Weisheit in dieSprache des Bildes: der Held, die höchste Willenser-scheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er dochnur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willensdurch seine Vernichtung nicht berührt wird. »Wirglauben an das ewige Leben«, so ruft die Tragödie;während die Musik die unmittelbare Idee dieses Le-bens ist. Ein ganz verschiedenes Ziel hat die Kunstdes Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden desIndividuums durch die leuchtende Verherrlichung der

Page 151: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

150Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Ewigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheitüber das dem Leben inhärierende Leiden, derSchmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügender Natur hinweggelogen. In der dionysischen Kunstund in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbeNatur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an:»Seit wie ich bin! unter dem unaufhörlichen Wechselder Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zumDasein zwingende, an diesem Erscheinungswechselsich ewig befriedigende Urmutter!«

17

Auch die dionysische Kunst will uns von der ewi-gen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir dieseLust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter denErscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wiealles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereitsein muß, wir werden gezwungen, in die Schreckender Individualexistenz hineinzublicken - und sollendoch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reißtuns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestaltenheraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken dasUrwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseins-gier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Ver-nichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie

Page 152: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

151Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

notwendig, bei dem Übermaß von unzähligen, sichins Leben drängen, den und stoßenden Daseinsfor-men, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit desWeltwillens; wir werden von dem wütenden Stacheldieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt,wo wir gleichsam mit der unermeßlichen Urlust amDasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstör-barkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Ent-zückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir dieGlücklich, Lebendigen, nicht als Individuen, sondernals das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wirverschmolzen sind.

Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragö-die sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wiedas tragische Kunstwerk der Griechen wirklich ausdem Geiste der Musik herausgeboren ist: durch wel-chen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprüngli-chen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht ge-worden zu sein glauben. Zugleich aber müssen wirzugeben, daß die vorhin aufgestellte Bedeutung destragischen Mythus den griechischen Dichtern, ge-schweige den griechischen Philosophen, niemals inbegrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist;ihre Helden sprechen gewissermaßen oberflächlicher,als sie handeln; der Mythus findet in dem gesproch-nen Wort durchaus nicht seine adäquate Objektivati-on. Das Gefüge der Szenen und die anschaulichen

Page 153: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

152Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dich-ter selbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie dasgleiche auch bei Shakespeare beobachtet wird, dessenHamlet z.B. in einem ähnlichen Sinne oberflächlicherredet, als er handelt, so daß nicht aus den Worten her-aus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Über-schauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehrezu entnehmen ist. In betreff der griechischen Tragö-die, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt,habe ich sogar angedeutet, daß jene Inkongruenz zwi-schen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte,sie für flacher und bedeutungsloser zu halten, als sieist, und demnach auch eine oberflächlichere Wirkungfür sie vorauszusetzen, als sie nach den Zeugnissender Alten gehabt haben muß: denn wie leicht vergißtman, daß, was dem Wortdichter nicht gelungen war,die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythuszu erreichen, ihm als schöpferischer Musiker in jedemAugenblick gelingen konnte! Wir freilich müssen unsdie Übermacht der musikalischen Wirkung fast aufgelehrtem Wege rekonstruieren, um etwas von jenemunvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wah-ren Tragödie zu eigen sein muß. Selbst diese musika-lische Übermacht aber würden wir nur, wenn wirGriechen wären, als solche empfunden haben: wäh-rend wir in der ganzen Entfaltung der griechischenMusik - der uns bekannten und vertrauten, so

Page 154: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

153Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

unendlich reicheren gegenüber - nur das in schüchter-nem Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des mu-sikalischen Genius zu hören glauben. Die Griechensind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigenKinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kin-der, welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeugunter ihren Händen entstanden ist und - zertrümmertwird.

Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicherund mythischer Offenbarung, welches von den Anfän-gen der Lyrik bis zur attischen Tragödie sich steigert,bricht plötzlich, nach eben erst errungener üppigerEntfaltung, ab und verschwindet gleichsam von derOberfläche der hellenischen Kunst: während die ausdiesem Ringen geborene dionysische Weltbetrachtungin den Mysterien weiterlebt und in den wunderbarstenMetamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ern-stere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrermystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigenwird?

Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, anderen Entgegenwirken die Tragödie sich brach, füralle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wie-dererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbe-trachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödiedurch den dialektischen Trieb zum Wissen und zumOptimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise

Page 155: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

154Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gedrängt wurde, so wäre aus dieser Tatsache auf einenewigen Kampf zwischen der theoretischen und dertragischen Weltbetrachtung zu schließen; und erstnachdem der Geist der Wissenschaft bis an seineGrenze geführt ist, und sein Anspruch auf universaleGültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen ver-nichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödiezu hoffen sein: für welche Kulturform wir das Symboldes musiktreibenden Sokrates, in dem früher erörter-ten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüber-stellung verstehe ich unter dem Geiste der Wissen-schaft jenen zuerst in der Person des Sokrates ansLicht gekommenen Glauben an die Ergründlichkeitder Natur und an die Universalheilkraft des Wissens.

Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vor-wärtsdringenden Geistes der Wissenschaft erinnert,wird sich sofort vergegenwärtigen, wie durch ihn derMythus vernichtet wurde und wie durch diese Ver-nichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealenBoden als eine nun mehr heimatlose, verdrängt war.Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugespro-chen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können,so werden wir den Geist der Wissenschaft auch aufder Bahn zu suchen haben, wo er dieser mythenschaf-fenden Kraft der Musik feindlich entgegentritt. Diesgeschieht in der Entfaltung des neueren attischen Di-thyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere

Page 156: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

155Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur dieErscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe ver-mittelten Nachahmung wiedergab: von welcher inner-lich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischenNaturen mit demselben Widerwillen abwandten, densie vor der kunstmörderischen Tendenz des Sokrateshatten. Der sicher zugreifende Instinkt des Aristopha-nes hat gewiß das Rechte erfaßt, wenn er Sokratesselbst, die Tragödie des Euripides und die Musik derneueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle desHasses zusammenfaßte und in allen drei Phänomenendie Merkmale einer degenerierten Kultur witterte.Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik infrevelhafter Weise zum imitatorischen Konterfei derErscheinung z.B. einer Schlacht, eines Seesturmes ge-macht und damit allerdings ihrer mythenschaffendenKraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsereErgötzung nur dadurch zu erregen sucht, daß sie unszwingt, äußerliche Analogien zwischen einem Vor-gange des Lebens und der Natur und gewissen rhyth-mischen Figuren und charakteristischen Klängen derMusik zu suchen, wenn sich unser Verstand an derErkenntnis dieser Analogien befriedigen soll, so sindwir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Emp-fängnis des Mythischen unmöglich ist; denn der My-thus will als ein einziges Exempel einer ins Unendli-che hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit

Page 157: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

156Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft diony-sische Musik tritt uns als ein solcher allgemeinerSpiegel des Weltwillens gegenüber: jenes anschauli-che Ereignis, das sich in diesem Spiegel bricht, erwei-tert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einerewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches an-schauliches Ereignis durch die Tonmalerei des neue-ren Dithyrambus sofort jedes mythischen Charaktersentkleidet; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbildeder Erscheinung geworden und darum unendlichärmer als die Erscheinung selbst: durch welche Armutsie für unsere Empfindung die Erscheinung selbstnoch herabzieht, so daß jetzt z.B. eine derartig musi-kalisch imitierte Schlacht sich in Marschlärm, Signal-klängen usw. erschöpft, und unsere Phantasie geradebei diesen Oberflächlichkeiten festgehalten wird. DieTonmalerei ist also in jeder Beziehung das Gegen-stück zu der mythenschaffenden Kraft der wahrenMusik: durch sie wird die Erscheinung noch ärmer,als sie ist, während durch die dionysische Musik dieeinzelne Erscheinung sich zum Weltbilde bereichertund erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undiony-sischen Geistes, als er, in der Entfaltung des neuerenDithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet undsie zur Sklavin der Erscheinung herabgedrückt hatte.Euripides, der in einem höheren Sinne eine durchausunmusikalische Natur genannt werden muß, ist aus

Page 158: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

157Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

eben diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger derneueren dithyrambischen Musik und verwendet mitder Freigebigkeit eines Räubers alle ihre Effektstückeund Manieren.

Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft diesesundionysischen, gegen den Mythus gerichteten Gei-stes in Tätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf dasÜberhandnehmen der Charakterdarstellung und despsychologischen Raffinements in der Tragödie vonSophokles ab richten. Der Charakter soll sich nichtmehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern imGegenteil so durch künstliche Nebenzüge und Schat-tierungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien in-dividuell wirken, daß der Zuschauer überhaupt nichtmehr den Mythus, sondern die mächtige Naturwahr-heit und die Imitationskraft des Künstlers empfindet.Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinungüber das Allgemeine und die Lust an dem einzelnengleichsam anatomischen Präparat, wir atmen bereitsdie Luft einer theoretischen Welt, welcher die wissen-schaftliche Erkenntnis höher gilt als die KünstlerischeWiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung aufder Linie des Charakteristischen geht schnell weiter:während noch Sophokles ganze Charaktere malt undzu ihrer raffinierten Entfaltung den Mythus ins Jochspannt, malt Euripides bereits nur noch große ein-zelne Charakterzüge, die sich in heftigen

Page 159: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

158Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Leidenschaften zu äußern wissen; in der neuern atti-schen Komödie gibt es nur noch Masken mit einemAusdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, ver-schmitzte Sklaven in unermüdlicher Wiederholung.Wohin ist jetzt der Mythen, bildende Geist derMusik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das istentweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik, d.h.entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und ver-brauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die ersterekommt es auf den untergelegten Text kaum noch an:schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oderChöre erst zu singen anfangen, recht liederlich zu;wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekom-men sein?

Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neueundionysische Geist in den Schlüssen der neuerenDramen. In der alten Tragödie war der metaphysischeTrost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lustan der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist: amreinsten tönt vielleicht im Ödipus auf Kolonos derversöhnende Klang aus einer anderen Welt. Jetzt, alsder Genius der Musik aus der Tragödie entflohen war,ist, im strengen Sinne, die Tragödie tot: denn wohersollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfenkönnen? Man suchte daher nach einer irdischen Lö-sung der tragischen Dissonanz; der Held, nachdem erdurch das Schicksal hinreichend gemartert war,

Page 160: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

159Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehren-bezeugungen einen wohlverdienten Lohn. Der Heldwar zum Gladiator geworden, dem man, nachdem ertüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war,gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex ma-china ist an Stelle des metaphysischen Trostes getre-ten. Ich will nicht sagen, daß die tragische Weltbe-trachtung überall und völlig durch den andrängendenGeist des Undionysischen zerstört wurde: wir wissennur, daß sie sich aus der Kunst gleichsam in die Un-terwelt, in einer Entartung zum Geheimkult, flüchtenmußte. Aber auf dem weitesten Gebiete der Oberflä-che des hellenischen Wesens wütete der verzehrendeHauch jenes Geistes, welcher sich in jener Form der»griechischen Heiterkeit« kundgibt, von der bereitsfrüher, als von einer greisenhaft unproduktiven Da-seinslust, die Rede war; diese Heiterkeit ist ein Ge-genstück zu der herrlichen »Naivität« der älterenGriechen, wie sie, nach der gegebenen Charakteristik,zu fassen ist als die aus einem düsteren Abgrunde her-vorwachsende Blüte der apollinischen Kultur, als derSieg, den der hellenische Wille durch seine Schön-heitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit desLeidens davonträgt. Die edelste Form jener anderenForm der »griechischen Heiterkeit«, der alexandrini-schen, ist die Heiterkeit des theoretischen Menschen:sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die

Page 161: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

160Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ablei-tete, - daß sie die dionysische Weisheit und Kunstbekämpft, daß sie den Mythus aufzulösen trachtet,daß sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eineirdische Konsonanz, ja einen eigenen deus ex machi-na setzt, nämlich den Gott der Maschinen undSchmelztiegel, d.h. die im Dienste des höheren Egois-mus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgei-ster, daß sie an eine Korrektur der Welt durch dasWissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetesLeben glaubt und auch wirklich imstande ist, den ein-zelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lös-baren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiterzum Leben sagt: »Ich will dich: du bist wert erkanntzu werden.«

18

Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gie-rige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge ge-breitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhal-ten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesseltdie sokratische Lust des Erkennens und der Wahn,durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilenzu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen we-hende verführerische Schönheitsschleier der Kunst,

Page 162: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

161Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

jenen wiederum der metaphysische Trost, daß unterdem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben un-zerstörbar weiterfließt: um von den gemeineren undfast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille injedem Augenblick bereithält, zu schweigen. Jene dreiIllusionsstufen sind überhaupt nur für die edler ausge-statteten Naturen, von denen die Last und schwere desDaseins überhaupt mit tieferer Unlust empfundenwird, und die durch ausgesuchte Reizmittel über dieseUnlust hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmit-teln besteht alles, was wir Kultur nennen: je nach derProportion der Mischungen haben wir eine vorzugs-weise sokratische oder künstlerische oder tragischeKultur; oder wenn man historische Exemplifikationenerlauben will: es gibt entweder eine alexandrinischeoder eine hellenische oder eine buddhaistische Kultur.

Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz deralexandrinischen Kultur befangen und kennt als Idealden mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüsteten, imDienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischenMenschen, dessen Urbild und Stammvater Sokratesist. Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglichdieses Ideal im Auge: jede andere Existenz hat sichmühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nichtals beabsichtigte Existenz. In einem fast erschrecken-den Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete alleinin der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst

Page 163: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

162Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrtenImitationen entwickeln müssen, und in dem Hauptef-fekt des Reimes erkennen wir noch die Entstehung un-serer poetischen Form aus künstlichen Experimentenmit einer nicht heimischen, recht eigentlich gelehrtenSprache. Wie unverständlich müßte einem echtenGriechen der an sich verständliche moderne Kultur-mensch Faust erscheinen, der durch alle Fakultätenunbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb da Magieund dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Ver-gleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu er-kennen, daß der moderne Mensch die Grenzen jenersokratischen Erkenntnislust zu ahnen beginnt und ausdem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küsteverlangt. Wenn Goethe einmal zu Eckermann, mitBezug auf Napoleon, äußert: »Ja mein Guter, es gibtauch eine Produktivität der Taten«, so hat er, in an-mutig naiver Weise, daran erinnert, daß der nichttheoretische Mensch für den modernen Menschenetwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist,so daß es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf,um auch eine so befremdende Existenzform begreif-lich, ja verzeihlich zu finden.

Und nun soll man sich nicht verbergen, was imSchoße dieser sokratischen Kultur verborgen liegt!Der unumschränkt sich wähnende Optimismus! Nunsoll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses

Page 164: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

163Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Optimismus reifen, wenn die von einer derartigenKultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durch-säuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wal-lungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaubean das Erdenglück aller, wenn der Glaube an dieMöglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenskulturallmählich in die drohende Forderung eines solchenalexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörungeines euripideischen deus ex machina umschlägt!Man soll es merken: die alexandrinische Kulturbraucht einen Sklavenstand, um auf die Dauer existie-ren zu können; aber sie leugnet, in ihrer optimisti-schen Betrachtung des Daseins, die Notwendigkeiteines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Ef-fekt ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungs-worte von der »Würde des Menschen« und der»Würde der Arbeit« verbraucht ist, allmählich einergrauenvollen Vernichtung entgegen. Es gibt nichtsFurchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand,der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten ge-lernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, son-dern für alle Generationen Rache zu nehmen. Werwagt es, solchen drohenden Stürmen entgegen, siche-ren Mutes an unsere blassen und ermüdeten Religio-nen zu appelieren, die selbst in ihren Fundamenten zuGelehrtenreligionen entartet sind: so daß der Mythus,die notwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits

Page 165: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

164Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

überall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereichjener optimistische Geist zur Herrschaft gekommenist, den wir als den Vernichtungskeim unserer Gesell-schaft eben bezeichnet haben.

Während das im Schoße der theoretischen Kulturschlummernde Unheil allmählich den modernen Men-schen zu ängstigen beginnt, und er, unruhig, aus demSchatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, umdie Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittelrecht zu glauben; während er also seine eigenen Kon-sequenzen zu ahnen beginnt haben große allgemeinangelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnen-heit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benüt-zen gewußt, um die Grenzen und die Bedingtheit desErkennens überhaupt darzulegen und damit den An-spruch der Wissenschaft auf universale Geltung unduniversale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei wel-chem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstel-lung als solche erkannt wurde, welche, an der Handder Kausalität, sich anmaßt, das innerste Wesen derDinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapfer-keit und Weisheit Kants und Schopenhauers ist derschwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesender Logik verborgen liegenden Optimismus, der wie-derum der Untergrund unserer Kultur ist. Wenn dieseran die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welt-rätsel, gestützt auf die ihm unbedenklichen aeternae

Page 166: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

165Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Kausalität alsgänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gül-tigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese ei-gentlich nur dazu dienten, die bloße Erscheinung, dasWerk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zuerheben und sie an die Stelle des innersten und wah-ren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Er-kenntnis von diesem dadurch unmöglich zu machen,d.h., nach einem Schopenhauerschen Ausspruche denTräumer noch fester einzuschläfern (W. a. W. u. V. I,S. 498). Mit dieser Erkenntnis ist eine Kultur einge-leitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnenwage: deren wichtigstes Merkmal ist, daß an die Stel-le der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit ge-rückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführeri-schen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbe-wegtem Blicke dem Gesamtbilde der Welt zuwendetund in diesem das ewige Leiden mit sympathischerLiebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifensucht. Denken wir uns eine heranwachsende Genera-tion mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit die-sem heroischen Zug ins Ungeheure, denken wir unsden kühnen Schritt dieser Drachentöter, die stolzeVerwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeits-doktrinen jenes Optimismus den Rücken kehren, umim Ganzen und Vollen »resolut zu leben«: sollte esnicht nötig sein, daß der tragische Mensch dieser

Page 167: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

166Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Kultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zumSchrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysi-schen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörigeHelena begehren und mit Faust ausrufen muß:

Und sollt ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?

Nachdem aber die sokratische Kultur von zwei Sei-ten aus erschüttert ist und das Szepter ihrer Unfehl-barkeit nur noch mit zitternden Händen zu halten ver-mag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Konsequen-zen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weilsie selbst von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamen-tes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauenüberzeugt ist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wiesich der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer aufneue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen, und siedann plötzlich wieder, wie Mephistopheles die ver-führerischen Lamien, schaudernd fahren läßt. Das istja das Merkmal jenes »Bruches«, von dem jedermannals von dem Urleiden der modernen Kultur zu redenpflegt, daß der theoretische Mensch vor seinen Kon-sequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehrwagt, sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins an-zuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Erwill nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der

Page 168: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

167Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

natürlichen Grausamkeit der Dinge. soweit hat ihndas optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er,wie eine Kultur, die auf dem Prinzip der Wissenschaftaufgebaut ist, zugrunde gehen muß, wenn sie anfängt,unlogisch zu werden d.h. vor ihren Konsequenzen zu-rückzuziehen. Unsere Kunst offenbart diese allge-meine Not: umsonst, daß man sich an alle großen pro-duktiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt,umsonst, daß man die ganze »Weltliteratur« zum Tro-ste des modernen Menschen um ihn versammelt undihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zei-ten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Tieren,einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hun-gernde, der »Kritiker« ohne Lust und Kraft, der alex-andrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar undKorrektor ist und an Bücherstaub und Druckfehlernelend erblindet.

19

Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischenKultur nicht schärfer bezeichnen, als wenn man siedie Kultur der Oper nennt: denn auf diesem Gebietehat sich die Kultur mit eigener Naivität über ihr Wol-len und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwun-derung, wenn wir die Genesis der Oper und die

Page 169: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

168Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Tatsache der Opernentwicklung mit den ewigenWahrheiten des Apollinischen und des Dionysischenzusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entste-hung des stilo rappresentativo und des Rezitativs. Istes glaublich, daß diese gänzlich veräußerlichte, derAndacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mitschwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiederge-burt aller wahren Musik, empfangen und gehegt wer-den konnte, aus der sich soeben die unaussprechbarerhabene und heilige Musik Palestrinas erhobenhatte? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreu-ungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise unddie Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so un-gestüm sich verbreitende Lust an der Oper verant-wortlich machen? Daß in derselben Zeit, ja in demsel-ben Volke neben dem Gewölbebau PalestrinascherHarmonien, an dem das gesamte christliche Mittelal-ter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusi-kalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur auseiner im Wesen des Rezitativs mitwirkenden außer-künstlerischen Tendenz zu erklären.

Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesangedeutlich vernehmen will, entspricht der Sänger da-durch, daß er mehr spricht als singt und daß er denpathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesangeverschärft: durch diese Verschärfung des Pathos er-leichtert er das Verständnis des Wortes und

Page 170: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

169Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik.Die eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die,daß er der Musik einmal zur Unzeit das Übergewichterteilt, wodurch sofort Pathos der Rede und Deutlich-keit des Wortes zugrunde gehen müßte: während erandrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entla-dung und zu virtuosenhafter Präsentation seiner Stim-me fühlt. Hier kommt ihm der »Dichter« zu Hilfe, derihm genug Gelegenheit zu lyrischen Interjektionen,Wort- und Sentenzenwiederholungen usw. zu bietenweiß: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem reinmusikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf dasWort, ausruhen kann. Dieser Wechsel affektvoll ein-dringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganzgesungener Interjektion, der im Wesen des stilo rap-presentativo liegt, dies rasch wechselnde Bemühen,bald auf den Begriff und die Vorstellung, bald auf denmusikalischen Grund des Zuhörers zu wirken, istetwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrie-ben des Dionysischen und des Apollinischen in glei-cher Weise so innerlich Widersprechendes, daß manauf einen Ursprung des Rezitativs zu schließen hat,der außerhalb aller künstlerischen Instinkte liegt. DasRezitativ ist nach dieser Schilderung zu definieren alsdie Vermischung des epischen und des lyrischen Vor-trags und zwar keinesfalls die innerlich beständigeMischung, die bei so gänzlich disparaten Dingen

Page 171: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

170Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

nicht erreicht werden konnte, sondern die äußerlichstemosaikartige Konglutination, wie etwas derartiges imBereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vor-bildlos ist. Dies war aber nicht die Meinung jenerErfinder des Rezitativs: vielmehr glauben sie selbstund mit ihnen ihr Zeitalter, daß durch jenen stilo rap-presentativo das Geheimnis der antiken Musik gelöstsei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung einesOrpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödieerklären lasse. Der neue Stil galt als die Wiederer-weckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechi-schen: ja man durfte sich, bei der allgemeinen undganz volkstümlichen Auffassung der homerischenWelt als der Urwelt, dem Traume überlassen, jetztwieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheithinabgestiegen zu sein, in der notwendig auch dieMusik jene unübertroffne Reinheit, Macht und Un-schuld gehabt haben müßte, von der die Dichter inihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wußten.Hier sehen wir in das innerlichste Werten dieser rechteigentlich modernen Kunstgattung, der Oper: einmächtiges Bedürfnis erzwingt sich hier eine Kunst,aber ein Bedürfnis unästhetischer Art: die Sehnsuchtzum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenzdes künstlerischen und guten Menschen. Das Rezita-tiv galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmen-schen; die Oper als das wiederaufgefundene Land

Page 172: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

171Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens, das zu-gleich in allen seinen Handlungen einem natürlichenKunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat,wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühls-erregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es istfür uns jetzt gleichgültig, daß mit diesem neugeschaf-fenen Bilde des paradiesischen Künstlers die damali-gen Humanisten gegen die alte kirchliche Vorstellungvom an sich verderbten und verlornen Menschen an-kämpften: so daß die Oper als das Oppositionsdogmavom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aberzugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus ge-funden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jenerZeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustän-de, am stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir er-kannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit dieGenesis dieser neuen Kunstform in der Befriedigungeines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses liegt, inder optimistischen Verherrlichung des Menschen ansich, in der Auffassung des Urmenschen als des vonNatur guten und künstlerischen Menschen: welchesPrinzip der Oper sich allmählich in eine drohende undentsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, imAngesicht der sozialistischen Bewegungen der Gegen-wart, nicht mehr überhören können. Der »gute Ur-mensch« will seine Rechte: welche paradiesischenAussichten!

Page 173: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

172Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Ich stelle daneben noch eine ebenso deutliche Be-stätigung meiner Ansicht, daß die Oper auf den glei-chen Prinzipien mit unserer alexandrinischen Kulturaufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des theoreti-schen Menschen, des kritischen Laien, nicht desKünstlers: eine der befremdlichsten Tatsachen in derGeschichte aller Künste. Es war die Forderung rechteigentlich unmusikalischer Zuhörer, daß man vorallem das Wort verstehen müsse: so daß eine Wieder-geburt der Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn manirgendeine Gesangsweise entdecken werde, bei wel-cher das Textwort über den Kontrapunkt wie der Herrüber den Diener herrsche. Denn die Worte seien umso viel edler als das begleitende harmonische System,um wieviel die Seele edler als der Körper sei. Mit derlaienhaft unmusikalischen Rohheit dieser Ansichtenwurde in den Anfängen der Oper die Verbindung vonMusik, Bild und Wort behandelt; im Sinne dieser Äs-thetik kam es auch in den vornehmen Laienkreisenvon Florenz, durch hier patronisierte Dichter und Sän-ger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmäch-tige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, geradedadurch, daß er der unkünstlerische Mensch an sichist. Weil er die dionysische liefe der Musik nicht ahnt,verwandelt er sich den Musikgenuß zur verstandes-mäßigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft imstilo rappresentativo und zur Wollust der

Page 174: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

173Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Gesangeskünste; weil er keine Vision zu schauen ver-mag, zwingt er den Maschinisten und Dekorations-künstler in seinen Dienst; weil er das wahre Wesendes Künstlers nicht zu erfassen weiß, zaubert er vorsich den »künstlerischen Urmenschen« nach seinemGeschmack hin, d.h. den Menschen, der in der Lei-denschaft singt und Verse spricht. Er träumt sich ineine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, umGesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob je derAffekt imstande gewesen sei, etwas Künstlerisches zuschaffen. Die Voraussetzung der Oper ist ein falscherGlaube über den künstlerischen Prozeß, und zwarjener idyllische Glaube, daß eigentlich jeder empfin-dende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubensist die Oper der Ausdruck des Laientums in derKunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismusdes theoretischen Menschen diktiert.

Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilder-ten, bei der Entstehung der Oper wirksamen Vorstel-lungen unter einen Begriff zu vereinigen, so würdeuns nur übrig bleiben, von einer idyllischen Tendenzder Oper zu sprechen: wobei wir uns allein der Aus-drucksweise und Erklärung Schillers zu bedienen hät-ten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das Idealein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren,dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sindein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich

Page 175: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

174Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

vorgestellt werden. Das erste gibt die Elegie in enge-rer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung. Hierist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener bei-den Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksamzu machen, daß in ihnen das Ideal nicht als unerreicht,die Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gabnach dieser Empfindung eine Urzeit des Menschen, inder er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natür-lichkeit zugleich das Ideal der Menschheit, in einerparadiesischen Güte und Künstlerschaft, erreichthatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wiralle abstammen sollten, ja dessen getreues Ebenbildwir noch wären: nur müßten wir einiges von uns wer-fen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zuerkennen, vermöge einer freiwilligen Entäußerungvon überäussiger Gelehrsamkeit, von überreicherKultur. Der Bildungsmensch der Renaissance ließsich durch seine opernhafte Imitation der griechischenTragödie zu einem solchen zusammenklang vonNatur und Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zu-rückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Danteden Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Para-dieses geführt zu werden: während er von hier ausselbständig noch weiter schritt und von einer Imitati-on der höchsten griechischen Kunstform zu einer»Wiederbringung aller Dinge«, zu einer Nachbildungder ursprünglichen Kunstwelt des Menschen

Page 176: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

175Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

überging. Welche zuversichtliche Gutmütigkeit dieserverwegenen Bestrebungen, mitten im Schoße dertheoretischen Kultur! -einzig nur aus dem tröstendenGlauben zu erklären, daß »der Mensch an sich« derewig tugendhafte Opernheld, der ewig flötende odersingende Schäfer sei, der sich endlich immer als sol-chen wiederfinden müsse, falls er sich selbst irgend-wann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe,einzig die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefeder sokratischen Weltbetrachtung hier wie eine süß-lich verführerische Duftsäule emporsteigt.

Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfallsjener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, viel-mehr die Heiterkeit des ewigen Wiederfindens, die be-queme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die manwenigstens sich als wirklich in jedem Augenblickevorstellen kann: wobei man vielleicht einmal ahnt,daß diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein phan-tastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es andem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messenund mit den eigentlichen Urszenen der Menschheits-anfänge zu vergleichen vermöchte, mit Ekel zurufenmüßte: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würde mansich täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändeln-des Wesen, wie die Oper ist, einfach durch einen kräf-tigen Anruf, wie ein Gespenst, verscheuchen zu kön-nen. Wer die Oper vernichten will, muß den Kampf

Page 177: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

176Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen diesich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung aus-spricht, ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was istaber für die Kunst selbst von dem Wirken einerKunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhauptnicht im ästhetischen Bereiche liegen, die sich viel-mehr aus einer halb moralischen Sphäre auf daskünstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und überdiese hybride Entstehung nur hier und da einmal hin-wegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährtsich dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht vondenen der wahren Kunst? Wird nicht zu Mutmaßensein, daß, unter seinen idyllischen Verführungen,unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, diehöchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabeder Kunst - das Auge vom Blick ins Grauen derNacht zu erlösen und das Subjekt durch den heilendenBalsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensre-gungen zu retten - zu einer leeren und zerstreuendenErgötzlichkeitstendenz entarten werde? Was wird ausden ewigen Wahrheiten des Dionysischen und desApollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wieich sie am Wesen des stilo rappresentativo dargelegthabe? wo die Musik als Diener, das Textwort als Herrbetrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwortmit der Seele verglichen wird? wo das höchste Zielbestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei

Page 178: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

177Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen atti-schen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre Würde,dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdetist, so daß ihr nur übrig bleibt, als Sklavin der Er-scheinung, das Formenwesen der Erscheinung nach-zuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportio-nen eine äußerliche Ergötzung zu erregen. Einer stren-gen Betrachtung fällt dieser verhängnisvolle Einflußder Oper auf die Musik geradezu mit der gesamtenmodernen Musikentwicklung zusammen; dem in derGenesis der Oper und im Wesen der durch sie reprä-sentierten Kultur lauernden Optimismus ist es in be-ängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrerdionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihreinen formenspielerischen, vergnüglichen Charakteraufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa dieMetamorphose des äschyleischen Menschen in denalexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichenwerden dürfte.

Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeute-ten Exemplifikation das Entschwinden des dionysi-schen Geistes mit einer höchstauffälligen, aber bisherunerklärten Umwandlung und Degeneration des grie-chischen Menschen in Zusammenhang gebrachthaben - welche Hoffnungen müssen in uns aufleben,wenn uns die allersichersten Auspizien den umge-kehrten Prozeß, das allmähliche Erwachen des

Page 179: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

178Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt,verbürgen! Es ist nicht möglich, daß die göttlicheKraft des Herakles ewig im üppigen Frondienste derOmphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grundedes deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen,die mit den Urbedingungen der sokratischen Kulturnichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklärennoch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kulturals das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermäch-tig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik,wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnen-laufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zuWagner zu verstehen haben. Was vermag die erkennt-nislüsterne Sokratik unserer Tage günstigenfalls mitdiesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigendenDämon zu beginnen? Weder von dem Zacken, undArabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hilfedes arithmetischen Rechenbretts der Fuge und derkontrapunktischen Dialektik will sich die Formel fin-den lassen, in deren dreimal gewaltigem Licht manjenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zumReden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel,wenn jetzt unsere Ästhetiker, mit dem Fangnetz einerihnen eignen »Schönheit«, nach dem vor ihnen mitunbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgeniusschlagen und haschen, unter Bewegungen, die nachder ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem

Page 180: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

179Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Erhabenen beurteilt werden wollen. Man mag sich nurdiese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähebesehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schön-heit! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoße desSchönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinderder Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr fürdie eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form,für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen äs-thetischen Vorwand suchen: wobei ich z.B. an OttoJahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sichder Lügner und Heuchler in acht nehmen: denn geradesie ist, inmitten aller unserer Kultur, der einzig reine,lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zudem hin, wie in der Lehre des großen Heraklit vonEphesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn be-wegen: alles, was wir jetzt Kultur, Bildung, Zivilisati-on nennen, wird einmal vor dem untrüglichen RichterDionysus erscheinen müssen.

Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichenQuellen strömenden Geiste der deutschen Philoso-phie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglichtwar, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichenSokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu ver-nichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlichtiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragenund der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu alsdie in Begriffe gefaßte dionysische Weisheit

Page 181: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

180Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

bezeichnen können: wohin weist uns das Mysteriumdieser Einheit zwischen der deutschen Musik und derdeutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Da-seinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus helleni-schen Analogien ahnend unterrichten können? Denndiesen unausmeßbaren Wert behält für uns, die wir ander Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsfor-men stehen, das hellenische Vorbild, daß in ihm auchalle jene Übergänge und Kämpfe zu einer klas-sisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur daß wirgleichsam in umgekehrter Ordnung die großenHauptepochen des hellenischen Wesens analogischdurcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexan-drinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragö-die zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Emp-findung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitaltersfür den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sichselbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe,nachdem für eine lange Zeit ungeheure von außen hereindringende Mächte den in hilfloser Barbarei derForm Dahinlebenden zu einer Knechtschaft unterihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er,nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens,vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängel-band einer romanischen Zivilisation, einherzuschrei-ten wagen: wenn er nur von einem Volke unentwegtzu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu

Page 182: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

181Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

können schon ein hoher Ruhm und eine auszeich-nende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wannbrauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehrals jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragödie erle-ben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher siekommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will?

20

Es möchte einmal, unter den Augen eines unbesto-chenen Richters, abgewogen werden, in welcher Zeitund in welchen Männern bisher der deutsche Geistvon den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungenhat; und wenn wir mit Zuversicht annehmen, daß demedelsten Bildungskampfe Goethes, Schillers undWinckelmanns dieses einzige Lob zugesprochen wer-den müßte, so wäre jedenfalls hinzuzufugen, daß seitjener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenesKampfes das Streben, auf einer gleichen Bahn zurBildung und zu den Griechen zu kommen, in unbe-greiflicher Weise schwächer und schwächer gewordenist. Sollten wir, um nicht ganz an dem deutschenGeist verzweifeln zu müssen, nicht daraus den Schlußziehen dürfen, daß in irgendwelchem Hauptpunkte esauch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, inden Kern des hellenischen Wesens einzudringen und

Page 183: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

182Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschenund der griechischen Kultur herzustellen? - so daßvielleicht ein unbewußtes Erkennen jenes Mangelsauch in den ernsteren Naturen den verzagten Zweifelerregte, ob sie, nach solchen Vorgängern, auf diesemBildungswege noch weiter wie jene und überhauptzum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seitjener Zeit das Urteil über den Wert der Griechen fürdie Bildung in der bedenklichsten Weise entarten, derAusdruck mitleidiger Überlegenheit ist in den ver-schiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungei-stes zu hören; anderwärts tändelt eine gänzlich wir-kungslose Schönrednerei mit der »griechischen Har-monie«, der »griechischen Schönheit«, der »griechi-schen Heiterkeit«. Und gerade in den Kreisen, derenWürde es sein könnte, aus dem griechischen Strom-bett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung, zuschöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höherenBildungsanstalten, hat man am besten gelernt, sichmit den Griechen zeitig und in bequemer Weise abzu-finden, nicht selten bis zu einem skeptischen Preisge-ben des hellenischen Ideals und bis zu einer gänzli-chen Verkehrung der wahren Absicht aller Altertums-studien. Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nichtvöllig in dem Bemühen, ein zuverlässiger Korrektorvon alten Texten oder ein naturhistorischer Sprachmi-kroskopiker zu sein, er, schöpft hat, der sucht

Page 184: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

183Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

vielleicht auch das griechische Altertum, neben ande-ren Altertümern, sich »historisch« anzueignen, aberjedenfalls nach der Methode und mit den überlegenenMienen unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschrei-bung. Wenn demnach die eigentliche Bildungskraftder höheren Lehranstalten wohl noch niemals niedri-ger und schwächlicher gewesen ist wie in der Gegen-wart, wenn der »Journalist«, der papierne Sklave desTages, in jeder Rücksicht auf Bildung den Sieg überden höheren Lehrer davongetragen hat, und letzteremnur noch die bereits oft erlebte Metamorphose übrig-bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise desJournalisten, mit der »leichten Eleganz« dieser Sphä-re, als heiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen -in welcher peinlichen Verwirrung müssen die derartigGebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomenanstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde desbisher unbegriffnen hellenischen Genius analogischzu begreifen wäre, das Wiedererwachen des dionysi-schen Geistes und die Wiedergeburt der Tragödie? Esgibt keine andere Kunstperiode, in der sich die soge-nannte Bildung und die eigentliche Kunst so befrem-det und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wirdas in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehenes, warum eine so schwächliche Bildung die wahreKunst haßt; denn sie fürchtet durch sie ihren Unter-gang. Aber sollte nicht eine ganze Art der Kultur,

Page 185: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

184Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

nämlich jene sokratisch-alexandrinische, sich ausge-lebt haben, nachdem sie in eine so zier-lich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bil-dung ist, auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden,wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jeneverzauberte Pforte zu erbrechen, die in den helleni-schen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem MutigstenRingen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenemsehnsüchtigen Blick, den die Goethesche Iphigenievom barbarischen Tauris aus nach der Heimat überdas Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcherHelden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, aneiner ganz anderen, von allen Bemühungen der bishe-rigen Kultur unberührten Seite die Pforte von selbstauftäte - unter dem mystischen Klange der wiederer-weckten Tragödienmusik.

Möge uns niemand unsern Glauben an eine nochbevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alter-tums zu verkümmern suchen; denn in ihm finden wirallein unsere Hoffnung für eine Erneuerung und Läu-terung des deutschen Geistes durch den Feuerzauberder Musik. Was wüßten wir sonst zu nennen, was inder Verödung und Ermattung der jetzigen Kultur ir-gendwelche tröstliche Erwartung für die Zukunft er-wecken könnte? Vergebens spähen wir nach einer ein-zigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleckfruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub,

Page 186: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

185Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich eintrostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählenkönnen, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihnuns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Rittermit dem erzenen, harten Blicke, der seinenSchreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefähr-ten, und doch hoffnungslos, allein mit Roß und Hundzu nehmen weiß. Ein solcher Dürerscher Ritter warunser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aberer wollte die Wahrheit. Es gibt nicht seinesgleichen. -

Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so dü-ster geschilderte Wildnis unserer ermüdeten Kultur,wenn sie der dionysische Zauber berührt! Ein Sturm-wind packt alles Abgelebte, Morsche, zerbrochne,Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rote Staub-wolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte. Ver-wirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwunde-nen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkungans goldne Licht gestiegen, so voll und grün, soüppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermeßlich. DieTragödie sitzt inmitten dieses Überflusses an Leben,Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horchteinem fernen schwermütigen Gesange - er erzählt vonden Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn,Wille, Wehe. - Ja, meine Freunde, glaubt mit mir andas dionysische Leben und an die Wiedergeburt derTragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist

Page 187: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

186Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsus-stab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tigerund Panther sich schmeichelnd zu euren Knien nieder-legen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein:denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischenFestzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rü-stet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wundereures Gottes!

21

Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmungzurückgleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wie-derhole ich, daß nur von den Griechen gelernt werdenkann, was ein solches wundergleiches plötzlichesAufwachen der Tragödie für den innersten Lebens-grund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist das Volkder tragischen Mysterien, das die Perserschlachtenschlägt: und wiederum braucht das Volk, das jeneKriege geführt hat, die Tragödie als notwendigen Ge-nesungstrank. Wer würde gerade bei diesem Volke,nachdem es durch mehrere Generationen von denstärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis insInnerste erregt wurde, noch einen so gleichmäßigkräftigen Erguß des einfachsten politischen Gefühls,der natürlichsten Heimatsinstinkte, der

Page 188: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

187Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

ursprünglichen männlichen Kampflust vermuten? Istes doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen diony-sischer Erregungen immer zu spüren, wie die dionysi-sche Lösung von den Fesseln des Individuums sicham allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, jaFeindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der poli-tischen Instinkte fühlbar macht, so gewiß andererseitsder staatenbildende Apollo auch der Genius des prin-cipii individuationis ist, und Staat und Heimatsinnnicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeitleben können. Von dem Orgiasmus aus führt für einVolk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhais-mus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht insNichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischenZustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und In-dividuum bedarf: wie diese wiederum eine Philoso-phie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlustder Zwischenzustände durch eine Vorstellung zuüberwinden. Ebenso notwendig gerät ein Volk, vonder unbedingten Geltung der politischen Triebe aus,in eine Bahn äußerster Verweltlichung, deren großar-tigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das rö-mische imperium ist.

Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu ver-führerischer Wahl gedrängt, ist es den Griechen ge-lungen, in klassischer Reinheit eine dritte Form hin-zuzuerfinden, freilich nicht zu langem eigenen

Page 189: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

188Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Gebrauche aber eben darum für die Unsterblichkeit.Denn daß die Lieblinge der Götter früh sterben, gilt inallen Dingen, aber ebenso gewiß, daß sie mit denGöttern dann ewig leben. Man verlange doch von demAlleredelsten nicht, daß es die haltbare Zähigkeit desLeders habe, die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z.B.dem römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehörtwahrscheinlich nicht zu den notwendigen Prädikatender Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit wel-chem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, inihrer großen Zeit, bei der außerordentlichen Stärkeihrer dionysischen und politischen Triebe, wederdurch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzeh-rendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zuerschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu errei-chen, wie sie ein edler, zugleich befeuernder und be-schaulich stimmender Wein hat, so müssen wir derungeheuren, das ganze Volksleben erregenden, reini-genden und entladenden Gewalt der Tragödie einge-denk sein; deren höchsten Wert wir erst ahnen wer-den, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als Inbegriffaller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischenden stärksten und an sich verhängnisvollsten Eigen-schaften des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.

Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmusin sich hinein, so daß sie geradezu die Musik, bei denGriechen wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt

Page 190: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

189Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

dann aber den tragischen Mythus und den tragischenHelden daneben, der dann, einem mächtigen Titanengleich, die ganze dionysische Welt auf seinen Rückennimmt und uns davon entlastet: während sie andrer-seits durch denselben tragischen Mythus, in der Per-son des tragischen Helden, von dem gierigen Drangenach diesem Dasein zu erlösen weiß und mit mahnen-der Hand an ein anderes sein und an eine höhere Lusterinnert, zu welcher der kämpfende Held durch seinenUntergang, nicht durch seine Siege, sich ahnungsvollvorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die univer-sale Geltung ihrer Musik und den dionysisch emp-fänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichnis, den My-thus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob dieMusik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Bele-bung der plastischen Welt des Mythus sei. Dieseredlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Gliederzum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbe-denklich einem orgiastischen Gefühle der Freiheithingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jeneTäuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. DerMythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrer-seits erst die höchste Freiheit gibt. Dafür verleiht dieMusik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythuseine so eindringliche und überzeugende metaphysi-sche Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jeneeinzige Hilfe, nie zu erreichen vermögen; und

Page 191: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

190Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zu-schauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchstenLust, zu der der Weg durch Untergang und Vernei-nung führt, so daß er zu hören meint, als ob der inner-ste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche.

Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit denletzten Sätzen vielleicht nur einen vorläufigen, für we-nige sofort verständlichen Ausdruck zu geben ver-mocht, so darf ich gerade an dieser Stelle nicht ablas-sen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versucheanzureizen und sie zu bitten, an einem einzelnen Bei-spiele unsrer gemeinsamen Erfahrung sich für die Er-kenntnis des allgemeinen Satzes vorzubereiten. Beidiesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn,welche die Bilder der szenischen Vorgänge, die Worteund Affekte der handelnden Personen benutzen, umsich mit dieser Hilfe der Musikempfindung anzunä-hern; denn diese alle reden nicht Musik als Mutter-sprache und kommen auch, trotz jener Hilfe, nichtweiter als in die Vorhallen der Musikperzeption, ohneje deren innerste Heiligtümer berühren zu dürfen;manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf die-sem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nuran diejenigen habe ich mich zu wenden, die unmittel-bar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihrenMutterschoß haben und mit den Dingen fast nur durchunbewußte Musikrelationen in Verbindung stehen.

Page 192: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

191Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

An diese echten Musiker richte ich die Frage, ob siesich einen Menschen denken können, der den drittenAkt von »Tristan und Isolde« ohne alle Beihilfe vonWort und Bild, rein als ungeheuren symphonischenSatz zu perzipieren imstande wäre, ohne unter einemkrampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu ver-atmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsaman die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, derdas rasende Begehren zum Dasein als donnerndenStrom oder als zartesten zerstäubten Bach von hieraus in alle Adern der Welt sich ergießen fühlt, er soll-te nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, inder elenden gläsernen Hülle des menschlichen Indivi-duums, den Widerklang zahlloser Lust- und Weherufeaus dem »weiten Raum der Weltennacht« zu verneh-men, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysiksich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten.Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes perzi-piert werden kann, ohne Verneinung der Individuale-xistenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen wer-den konnte, ohne ihren Schöpfer zu zerschmettern -woher nehmen wir die Lösung eines solchen Wider-spruches?

Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musiker-regung und jene Musik der tragische Mythus und dertragische Held, im Grunde nur als Gleichnis der aller-universalsten Tatsachen, von denen allein die Musik

Page 193: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

192Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

auf direktem Wege reden kann. Als Gleichnis würdenun aber der Mythus, wenn wir als rein dionysischeWesen empfänden, gänzlich wirkungslos und unbe-achtet neben uns stehen bleiben und uns keinen Au-genblick abwendig davon machen, unser Ohr demWiderklang der universalia ante rem zu bieten. Hierbricht jedoch die apollinische Kraft, auf Wiederher-stellung des fast zersprengten Individuums gerichtet,mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschunghervor: plötzlich glauben wir nur noch Tristan zusehen, wie er bewegungslos und dumpf sich fragt:»die alte Weise was weckt sie mich? « Und was unsfrüher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunktedes Seins anmutete, das will uns jetzt nur sagen, wie»öd und leer das Meer«. Und wo wir atemlos zu erlö-schen wähnten, im krampfartigen Sichausrecken allerGefühle, und nur ein weniges uns mit dieser Existenzzusammenknüpfte, hören und sehen wir jetzt nur denzum Tode verwundeten und doch nicht sterbendenHelden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe: »Seh-nen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehn-sucht nicht zu sterben!« Und wenn früher der Jubeldes Horns nach solchem Übermaß und solcher Über-zahl verzehrender Qualen fast wie der Qualen höchsteuns das Herz zerschnitt, so steht jetzt zwischen unsund diesem »Jubel an sich« der jauchzende Kurwenal,dem Schiffe, das Isolden trägt, zugewandt. So

Page 194: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

193Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

gewaltig auch das Mitleiden in uns hineingreift, ineinem gewissen Sinne rettet uns doch das Mit leidenvor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnisbild desMythus uns vor dem unmittelbaren Anschauen derhöchsten Weltidee, wie der Gedanke und das Wortuns vor dem ungedämmten Ergusse des unbewußtenWillens rettet. Durch jene herrliche apollinische Täu-schung dünkt es uns, als ob uns selbst das Tonreichwie eine plastische Welt gegenüberträte, als ob auchin ihr nur Tristans und Isoldens Schicksal wie ineinem allerzartesten und ausdrucksfähigsten Stoffe,geformt und bildnerisch ausgeprägt worden sei.

So entreißt uns das Apollinische der dionysischenAllgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; andiese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diesebefriedigt es den nach großen und erhabenen Formenlechzenden Schönheitssinn; es führt an uns Lebensbil-der vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassendes in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der unge-heuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischenLehre, der sympathischen Erregung reißt das Apolli-nische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbst-vernichtung empor und täuscht ihn über die Allge-meinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu demWahne, daß er ein einzelnes Weltbild, z.B. Tristanund Isolde, sehe und es durch die Musik, nur nochbesser und innerlicher sehen solle. Was vermag nicht

Page 195: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

194Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

der heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst inuns die Täuschung aufregen kann, als ob wirklich dasDionysische, im Dienste des Apollinischen, dessenWirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die Musiksogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollini-schen Inhalt sei?

Bei jener prästabilierten Harmonie, die zwischendem vollendeten Drama und seiner Musik waltet, er-reicht das Drama einen höchsten, für das Wortdramasonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. Wiealle lebendigen Gestalten der Szene in den selbständigbewegten Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der ge-schwungenen Linie vor uns vereinfachen, ertönt unsdas Nebeneinander dieser Linien in dem mit dem be-wegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisieren-den Harmonienwechsel: durch welchen uns die Rela-tionen der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keines-falls abstrakter Weise, unmittelbar vernehmbar wer-den, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, daß erstin diesen Relationen das Wesen eines Charakters undeiner Melodienlinie sich rein offenbare. Und währenduns so die Musik zwingt, mehr und innerlicher alssonst zu sehen und den Vorgang der Szene wie einzartes Gespinst vor uns auszubreiten, ist für unservergeistigtes, ins Innere blickende Auge die Welt derBühne ebenso unendlich erweitert als von innen her-aus erleuchtet. Was vermöchte der Wortdichter

Page 196: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

195Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Analoges zu bieten, der mit einem viel vollkommne-ren Mechanismus, auf indirektem Wege, vom Wortund vom Begriff aus, jene innerliche Erweiterung derschaubaren Bühnenwelt und ihre innere Erleuchtungzu erreichen sich abmüht? Nimmt nun zwar auch diemusikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann siedoch zugleich den Untergrund und die Geburtsstättedes Wortes danebenstellen und uns das Werden desWortes, von innen heraus, verdeutlichen.

Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre dochebenso bestimmt zu sagen, daß er nur ein herrlicherSchein, nämlich jene vorhin erwähnte appolinischeTäuschung sei, durch deren Wirkung wir von demdionysischen Andrange und Übermaße entlastet wer-den sollen. Im Grunde ist ja das Verhältnis der Musikzum Drama gerade das um gekehrte: die Musik ist dieeigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanzdieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben.Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der le-bendigen Gestalt, zwischen der Harmonie und denCharakterrelationen jener Gestalt ist in einem entge-gengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschaunder musikalischen Tragödie, dünken möchte. Wirmögen die Gestalt uns auf das sichtbarste bewegen,beleben und von innen heraus beleuchten, sie bleibtimmer nur die Erscheinung, von der es keine Brückegibt, die in die wahre Realität, ins Herz der Welt

Page 197: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

196Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

führte. Aus diesem Herzen heraus aber redet dieMusik; und zahllose Erscheinungen jener Art dürftenan der gleichen Musik vorüberziehn, sie würden niedas Wesen derselben erschöpfen, sondern immer nurihre veräußerlichten Abbilder sein. Mit dem populä-ren und gänzlich falschen Gegensatz von Seele undKörper ist freilich für das schwierige Verhältnis vonMusik und Drama nichts zu erklären und alles zu ver-wirren; aber die unphilosophische Rohheit jenes Ge-gensatzes scheint gerade bei unseren Ästhetikern, werweiß aus welchen Gründen, zu einem gern bekanntenGlaubensartikel geworden zu sein, während sie übereinen Gegensatz der Erscheinung und des Dinges ansich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls unbe-kannten Gründen, nichts lernen mochten.

Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben,daß das Apollinische in der Tragödie durch seineTäuschung völlig den Sieg über das dionysischeUrelement der Musik davongetragen und sich diese zuihren Absichten, nämlich zu einer höchsten Verdeutli-chung des Dramas, nutzbar gemacht habe, so wärefreilich eine sehr wichtige Einschränkung hinzuzufü-gen: in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene apolli-nische Täuschung durchbrochen und vernichtet. DasDrama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeitaller Bewegungen und Gestalten, mit Hilfe der Musik,sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe am

Page 198: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

197Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Webstuhl im Auf- und Niederzucken entstehensehen - erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseitsaller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der Ge-samtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysischewieder das Übergewicht; sie schließt mit einem Klan-ge, der niemals von dem Reiche der apollinischenKunst her tönen könnte. Und damit erweist sich dieapollinische Täuschung als das, was sie ist, als diewährend der Dauer der Tragödie anhaltende Um-schleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung:die doch so mächtig ist, am Schluß das apollinischeDrama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mitdionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo essich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit ver-neint. So wäre wirklich das schwierige Verhältnis desApollinischen und des Dionysischen in der Tragödiedurch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbo-lisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo,Apollo aber schließlich die Sprache Dionysus: womitdas höchste Ziel der Tragödie und der Kunst über-haupt erreicht ist.

Page 199: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

198Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

22

Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkungeiner wahren musikalischen Tragödie rein und unver-mischt, nach seinen Erfahrungen, vergegenwärtigen.Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beidenSeiten hin so beschrieben zu haben, daß er sich seineeignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Erwird sich nämlich erinnern, wie er, im Hinblick aufden vor ihm sich bewegenden Mythus, zu einer Artvon Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetztdie Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraftsei, sondern ins Innere zu dringen vermöge, und alsob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Mo-tive, den anschwellenden Strom der Leidenschaften,jetzt, mit Hilfe der Musik, gleichsam sinnlich sicht-bar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Fi-guren vor sich sehe und damit bis in die zartesten Ge-heimnisse unbewußter Regungen hinabtauchen könne.Während er so einer höchsten Steigerung seiner aufSichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe be-wußt wird, fühlt er doch ebenso bestimmt, daß dieselange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nichtjenes beglückte Verharren in willenlosem Anschauenerzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter,also die eigentlich apollinischen Künstler, durch ihre

Page 200: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

199Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Kunstwerke bei ihm hervorbringen: das heißt die injenem Anschauen erreichte Rechtfertigung der Weltder individuatio, als welche die Spitze und der Inbe-griff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die ver-klärte Welt der Bühne und verneint sie doch. Er siehtden tragischen Helden vor sich in epischer Deutlich-keit und Schönheit und erfreut sich doch an seinerVernichtung. Er begreift bis ins Innerste den Vorgangder Szene und flüchtet sich gern ins Unbegreifliche.Er fühlt die Handlungen des Helden als gerechtfertigtund ist doch noch mehr erhoben, wenn diese Hand-lungen den Urheber vernichten. Er schaudert vor denLeiden, die den Helden treffen werden, und ahnt dochbei ihnen eine höhere, viel übermächtigere Lust. Erschaut mehr und tiefer als je und wünscht sich docherblindet. Woher werden wir diese wunderbareSelbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischenSpitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem dionysi-schen Zauber, der, zum Schein die apollinischen Re-gungen aufs höchste reizend, doch noch diesen Über-schwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zuzwingen vermag. Der tragische Mythus ist nur zuverstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weis-heit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Weltder Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbstverneint und wieder in den Schoß der wahren und ein-zigen Realitäten zurückzuflüchten sucht; wo sie dann,

Page 201: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

200Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

mit Isolden, ihren metaphysischen Schwanengesangalso anzustimmen scheint:

In des Wonnemeereswogendem Schwall,in der Duft-Wellentönendem Schall,in des Weltatemswehendem All -ertrinken - versinken -unbewußt - höchste Lust!

So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungendes wahrhaft ästhetischen Zuhörers, den tragischenKünstler selbst, wie er, gleich einer üppigen Gottheitder individuatio, seine Gestalten schafft, in welchemSinne sein Werk kaum als »Nachahmung der Natur«zu begreifen wäre, - wie dann aber sein ungeheurerdionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinun-gen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernich-tung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoßedes Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen vondieser Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbundeder beiden Kunstgottheiten in der Tragödie und vonder sowohl apollinischen als dionysischen Erregungdes Zuhörers unsere Ästhetiker nichts zu berichten,während sie nicht müde werden, den Kampf des

Page 202: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

201Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichenWeltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkteEntladung von Affekten als das eigentlich Tragischezu charakterisieren: welche Unverdrossenheit michauf den Gedanken bringt, sie möchten überhauptkeine ästhetisch erregbaren Menschen sein und beimAnhören der Tragödie vielleicht nur als moralischeWesen in Betracht kommen. Noch nie, seit Aristote-les, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung gege-ben worden, aus der auf künstlerische Zustände, aufeine ästhetische Tätigkeit der Zuhörer geschlossenwerden dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeitdurch die ernsten Vorgänge zu einer erleichterndenEntladung gedrängt werden, bald sollen wir uns beidem Sieg guter und edler Prinzipien, bei der Aufopfe-rung des Helden im Sinne einer sittlichen Weltbe-trachtung erhoben und begeistert fühlen; und sogewiß ich glaube, daß für zahlreiche Menschen gera-de das, und nur das, die Wirkung der Tragödie ist, sodeutlich ergibt sich daraus, daß diese alle, samt ihreninterpretierenden Ästhetikern, von der Tragödie alseiner höchsten Kunst nichts erfahren haben. Jene pa-thologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles,von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unterdie medizinischen oder die moralischen Phänomenezu rechnen sei, erinnert an eine merkwürdige AhnungGoethes. »Ohne ein lebhaftes pathologisches

Page 203: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

202Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Interesse«, sagt er, »ist es auch mir niemals gelungen,irgendeine tragische Situation zu bearbeiten, und ichhabe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Solltees wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewe-sen sein, daß das höchste Pathetische auch nur ästhe-tisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns dieNaturwahrheit mitwirken muß, um ein solches Werkhervorzubringen?« Diese so tiefsinnige letzte Fragedürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen,bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischenTragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich dashöchste Pathetische doch nur ein ästhetisches Spielsein kann: weshalb wir glauben dürfen, daß erst jetztdas Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolgzu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stell-vertretenden Wirkungen aus außerästhetischen Sphä-ren zu erzählen hat und über den patholo-gisch-moralischen Prozeß sich nicht hinausgehobenfühlt, mag nur an seiner ästhetischen Natur verzwei-feln: wogegen wir ihm die Interpretation Shakespea-res nach der Manier des Gervinus und das fleißigeAufspüren der »poetischen Gerechtigkeit« als un-schuldigen Ersatz anempfehlen.

So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch derästhetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stellebisher in den Theaterräumen ein seltsames Quidpro-quo, mit halb moralischen und halb gelehrten

Page 204: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

203Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der »Kritiker«. In sei-ner bisherigen Sphäre war alles künstlich und nur miteinem Scheine des Lebens übertüncht. Der darstel-lende Künstler wußte in der Tat nicht mehr, was ermit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörerzu beginnen habe und spähte daher, samt dem ihn in-spirierenden Dramatiker oder Opernkomponisten, un-ruhig nach den letzten Resten des Lebens in diesemanspruchsvoll öden und zum Genießen unfähigenWesen. Aus derartigen »Kritikern« bestand aber bis-her das Publikum; der Student, der Schulknabe, jaselbst das harmloseste weibliche Geschöpf war widersein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zueiner gleichen Perzeption eines Kunstwerks vorberei-tet. Die edleren Naturen unter den Künstlern rechne-ten bei einem solchen Publikum auf die Erregung mo-ralisch-religiöser Kräfte, und der Anruf der »sittlichenWeltordnung« trat vikarierend ein, wo eigentlich eingewaltiger Kunstzauber den echten Zuhörer entzückensollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine großarti-gere, mindestens aufregende Tendenz der politischenund sozialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, daßder Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessenund sich ähnlichen Affekten überlassen konnte, wie inpatriotischen oder kriegerischen Momenten, oder vorder Rednerbühne des Parlaments, oder bei der Verur-teilung des Verbrechens und des Lasters: welche

Page 205: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

204Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Entfremdung der eigentlichen Kunstabsichten hierund da geradezu zu einem Kultus der Tendenz führenmußte. Doch hier trat ein, was bei allen erkünsteltenKünsten von jeher eingetreten ist, eine reißend schnel-le Depravation jener Tendenzen, so daß zum Beispieldie Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur mora-lischen Volksbildung zu verwenden, die zu SchillersZeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die un-glaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bil-dung gerechnet wird.

Während der Kritiker in Theater und Konzert, derJournalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaftzur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zueinem Unterhaltungsobjekt der niedrigsten Art, unddie ästhetische Kritik wurde als das Bindemittel einereitlen, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärm-lich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinnjene Schopenhauerische Parabel von den Stachel-schweinen zu verstehen gibt; so daß zu keiner Zeit soviel über Kunst geschwatzt und so wenig von derKunst gehalten worden ist. Kann man aber mit einemMenschen noch verkehren, der imstande ist, sich überBeethoven und Shakespeare zu unterhalten? Magjeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: erwird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sichunter »Bildung« vorstellt, vorausgesetzt, daß er dieFrage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor

Page 206: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

205Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Überraschung bereits verstummt ist.Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der

Natur Befähigte, ob er gleich in der geschildertenWeise allmählich zum kritischen Barbaren gewordenwar, von einer ebenso unerwarteten als gänzlich un-verständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwaeine glücklich gelungene Lohengrinaufführung auf ihnausübte: nur daß ihm vielleicht jede Hand fehlte, dieihn mahnend und deutend anfaßte, so daß auch jeneunbegreiflich verschiedenartige und durchaus unver-gleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte,vereinzelt blieb und wie ein rätselhaftes Gestirn nachkurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt,was der ästhetische Zuhörer ist.

23

Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr erdem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oderzur Gemeinschaft der sokratisch-kritischen Menschengehört, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfin-dung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellteWunder empfängt: ob er etwa dabei seinen histori-schen, auf strenge psychologische Kausalität gerichte-ten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollen-den Konzession gleichsam das Wunder als ein der

Page 207: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

206Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomenzuläßt, oder ob er irgend etwas anderes dabei erleidet.Daran nämlich wird er messen können, wieweit erüberhaupt befähigt ist, denMythus, das zusammenge-zogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviaturder Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann.Das Wahrscheinliche ist aber, daß fast jeder, beistrenger Prüfung, sich so durch den kri-tisch-historischen Geist unserer Bildung zersetztfühlt, um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermit-telnde Abstraktionen, sich die einstmalige Existenzdes Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus abergeht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Natur-kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Hori-zont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheitab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischenTraumes werden erst durch den Mythus aus ihremwahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder desMythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dä-monischen Wächter sein, unter deren Hut die jungeSeele heran, wächst, an deren Zeichen der Mann sichsein Leben und seine Kämpfe deutet: und selbst derStaat kennt keine mächtigeren ungeschriebnen Geset-ze als das mythische Fundament, das seinen Zusam-menhang mit der Religion, sein Herauswachsen ausmythischen Vorstellungen verbürgt.

Man stelle jetzt daneben den abstrakten, ohne

Page 208: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

207Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Mythen geleiteten Menschen, die abstrakte Erziehung,die abstrakte Sitte, das abstrakte Recht, den abstrak-ten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose,von keinem heimischen Mythus gezügelte schweifender künstlerischen Phantasie: man denke sich eineKultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, son-dern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allenKulturen sich kümmerlich zu nähren verurteilt ist -das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Ver-nichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Undnun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd,unter allen Vergangenheiten und sucht grabend undwühlend nach Wurzeln, sei es daß er auch in den ent-legensten Altertümern nach ihnen graben müßte.Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis derunbefriedigten modernen Kultur, das Umsichsammelnzahlloser anderer Kulturen, das verzehrende Erken-nenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus,auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythi-schen Mutterschoßes? Man frage sich, ob das fieber-hafte und so unheimliche Sichregen dieser Kulturetwas anderes ist als das gierige Zugreifen undNach-Nahrung-Haschen des Hungernden - und wermöchte einer solchen Kultur noch etwas geben wol-len, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sätti-gen ist, und bei deren Berührung sich die kräftigste,heilsamste Nahrung in »Historie und Kritik« zu

Page 209: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

208Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

verwandeln pflegt?Man müßte auch an unserem deutschen Wesen

schmerzlich verzweifeln, wenn es bereits in gleicherWeise mit seiner Kultur unlösbar verstrickt, ja einsgeworden wäre, wie wir das an dem zivilisiertenFrankreich zu unserem Entsetzen beobachten können;und das, was lange Zeit der große Vorzug Frankreichsund die Ursache seines ungeheuren Übergewichtswar, eben jenes Einssein von Volk und Kultur, dürfteuns, bei diesem Anblick, nötigen, darin das Glück zupreisen, daß diese unsere so fragwürdige Kultur bisjetzt mit dem edlen Kerne unseres Volkscharaktersnichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen streckensich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrneh-mung aus, daß unter diesem unruhig auf und niederzuckenden Kulturleben und Bildungskrampfe eineherrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgenliegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sichgewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zu-künftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Ab-grunde ist die deutsche Reformation hervorgewach-sen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschenMusik zuerst erklang. So tief, Mutig und Seelenvoll,so überschwänglich gut und zart tönte dieser ChoralLuthers, als der erste dionysische Lockruf, der ausdichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Früh-lings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem

Page 210: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

209Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Widerhall jener weihevoll übermütige Festzug diony-sischer Schwärmer, denen wir die deutsche Musikdanken - und denen wir die Wiedergeburt des deut-schen Mythus danken werden!

Ich weiß, daß ich jetzt den teilnehmend folgendenFreund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Be-trachtungen führen muß, wo er nur wenige Gefährtenhaben wird, und rufe ihm ermutigend zu, daß wir unsan unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzu-halten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Rei-nigung unserer ästhetischen Erkenntnis, jene beidenGötterbilder entlehnt, von denen jedes ein gesondertesKunstreich für sich beherrscht, und über deren gegen-seitige Berührung und Steigerung wir durch die grie-chische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch einmerkwürdiges Auseinanderreißen beider künstleri-scher Urtriebe mußte uns der Untergang der griechi-schen Tragödie herbeigeführt erscheinen: mit wel-chem Vorgange eine Degeneration und Umwandlungdes griechischen Volkscharakters im Einklang war,uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie notwen-dig und eng die Kunst und das Volk, Mythus undSitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten ver-wachsen sind. Jener Untergang der Tragödie war zu-gleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren dieGriechen unwillkürlich genötigt, alles Erlebte sofortan ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese

Page 211: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

210Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächsteGegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in ge-wissem Sinne als Zeitlos erscheinen mußte. In diesenStrom des Zeitlosen aber tauchte sich ebenso derStaat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und derGier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nurso viel ist ein Volk - wie übrigens auch ein Mensch -wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewi-gen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsamentweltlicht und zeigt seine unbewußte innerlicheÜberzeugung von der Relativität der Zeit und von derwahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Le-bens. Das Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volkanfängt, sich historisch zu begreifen und die mythi-schen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern:womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung,ein Bruch mit der unbewußten Metaphysik seines frü-heren Daseins, in allen ethischen Konsequenzen, ver-bunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlichdie griechische Tragödie hielt vor allem die Vernich-tung des Mythus auf: man mußte sie mit vernichten,um, losgelöst von dem heimischen Boden, ungezügeltin der Wildnis des Gedankens, der Sitte und der Tatleben zu können. Auch jetzt noch versucht jener meta-physische Trieb sich eine, wenngleich abgeschwächteForm der Verklärung zu schaffen, in dem zum Lebendrängenden Sokratismus der Wissenschaft; aber auf

Page 212: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

211Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

den niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zueinem fieberhaften suchen, das sich allmählich in einPandämonium überallher zusammengehäufter Mythenund Superstitionen verlor: in dessen Mitte der Hellenedennoch ungestillten Herzens saß, bis er es verstand,mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leicht-sinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskieren oder inirgendeinem orientalisch dumpfen Aberglauben sichvöllig zu betäuben.

Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiederer-weckung des alexandrinisch-römischen Altertums imfünfzehnten Jahrhundert, nach einem langen schwerzu beschreibenden Zwischenakte, in der auffälligstenWeise angenähert. Auf den Höhen dieselbe überreicheWissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück, dieseungeheure Verweltlichung, daneben ein heimatlosesHerumschweifen, ein gieriges Sichdrängen an fremdeTische, eine leichtsinnige Vergötterung der Gegen-wart oder stumpf betäubte Abkehr, alles sub speciesaeculi, der »Jetztzeit«: welche gleichen Symptomeauf einen gleichen Mangel im Herzen dieser Kultur zuraten geben, auf die Vernichtung des Mythus. Esscheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolgeeinen fremden Mythus überzupflanzen, ohne denBaum durch dieses Überpflanzen heillos zu beschädi-gen: welcher vielleicht einmal stark und gesund genugist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe

Page 213: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

212Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech undverkümmert oder in krampfhaftem Wuchern sich ver-zehren muß. Wir halten so viel von dem reinen undkräftigen Kerne des deutschen Wesens, daß wir gera-de von ihm jene Ausscheidung gewaltsam einge-pflanzter fremder Elemente zu erwarten wagen und esfür möglich erachten, daß der deutsche Geist sich aufsich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird manchermeinen, jener Geist müsse seinen Kampf mit der Aus-scheidung des Romanischen beginnen: wozu er eineäußerliche Vorbereitung und Ermutigung in der sieg-reichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letztenKrieges erkennen dürfte, die innerliche Nötigung aberin dem Wetteifer suchen muß, der erhabenen Vor-kämpfer auf dieser Bahn, Luthers ebensowohl als un-serer großen Künstler und Dichter, stets wert zu sein.Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohneseine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohneein »Wiederbringen« aller deutschen Dinge, kämpfenzu können! Und wenn der Deutsche zagend sich nacheinem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in dielängst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege undStege er kaum mehr kennt - so mag er nur dem won-nig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lau-schen, der über ihm sich wiegt und ihm den Wegdahin deuten will.

Page 214: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

213Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

24

Wir hatten unter den eigentümlichen Kunstwirkun-gen der musikalischen Tragödie eine apollinischeTäuschung hervorzuheben, durch die wir vor dem un-mittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik ge-rettet werden sollen, während unsre musikalische Er-regung sich auf einem apollinischen Gebiete und aneiner dazwischengeschobenen sichtbaren Mittelweltentladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zuhaben, wie eben durch diese Entladung jene Mittel-welt des szenischen Vorgangs, überhaupt das Drama,in einem Grade von innen heraus sichtbar und ver-ständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischenKunst unerreichbar ist: so daß wir hier, wo diesegleichsam durch den Geist der Musik beschwingt undemporgetragen war, die höchste Steigerung ihrerKräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollound des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollini-schen als der dionysischen Kunstabsichten anerken-nen mußten.

Freilich erreichte das apollinische Lichtbild geradebei der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht dieeigentümliche Wirkung der schwächeren Grade apol-linischer Kunst; was das Epos oder der beseelte Steinvermögen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen

Page 215: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

214Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Entzücken an der Welt der individuatio zu zwingen,das wollte sich hier, trotz einer höheren Beseeltheitund Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir schautendas Drama an und drangen mit bohrendem Blick inseine innere bewegte Welt der Motive - und doch waruns, als ob nur ein Gleichnisbild an uns vorüberzöge,dessen tiefsten Sinn wir fast zu erraten glaubten unddas wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten,um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellsteDeutlichkeit des Bildes genügte uns nicht: denn die-ses schien ebensowohl etwas zu offenbaren als zu ver-hüllen; und während es mit seiner gleichnisartigen Of-fenbarung zum zerreißen des Schleiers, zur Enthül-lung des geheimnisvollen Hintergrundes aufzufordernschien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete All-sichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tieferzu dringen.

Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müs-sen und zugleich über das schauen hinaus sich zu seh-nen, wird sich schwerlich vorstellen, wie bestimmtund klar diese beiden Prozesse bei der Betrachtungdes tragischen Mythus nebeneinander bestehen undnebeneinander empfunden werden: während die wahr-haft ästhetischen Zuschauer mir bestätigen werden,daß unter den eigentümlichen Wirkungen der Tragö-die jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Manübertrage sich nun dieses Phänomen des ästhetischen

Page 216: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

215Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Zuschauers in einen analogen Prozeß im tragischenKünstler, und man wird die Genesis des tragischenMythus verstanden haben. Er teilt mit der apollini-schen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und amSchauen und zugleich verneint er diese Lust und hateine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung dersichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tragischen My-thus ist zunächst ein episches Ereignis mit der Ver-herrlichung des kämpfenden Helden: woher stammtaber jener an sich rätselhafte Zug, daß das Leiden imSchicksale des Helden, die schmerzlichsten Überwin-dungen, die qualvollsten Gegensätze der Motive, kurzdie Exemplifikation jener Weisheit des Silen, oder,ästhetisch ausgedrückt, das Häßliche und Disharmo-nische, in so zahllosen Formen, mit solcher Vorliebeimmer von neuem dargestellt wird und gerade in demüppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes,wenn nicht gerade an diesem allen eine höhere Lustperzipiert wird?

Denn daß es im Leben wirklich so tragisch zugeht,würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstformerklären, wenn anders die Kunst nicht nur Nachah-mung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein meta-physisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zuderen Überwindung neben sie gestellt. Der tragischeMythus, sofern er überhaupt zur Kunst gehört, nimmtauch vollen Anteil an dieser metaphysischen

Page 217: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

216Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt: was verklärter aber, wenn er die Erscheinungswelt unter demBilde des leidenden Helden vorführt? Die »Realität«dieser Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagtuns gerade: »seht hin! seht genau hin! Dies ist euerLeben! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseins-uhr!«

Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor unsdamit zu verklären? Wenn aber nicht, worin liegtdann die ästhetische Lust, mit der wir auch jene Bil-der an uns vorüberziehen lassen? Ich frage nach derästhetischen Lust und weiß recht wohl, daß viele die-ser Bilder außerdem mitunter noch eine moralischeErgötzung, etwa unter der Form des Mitleidens odereines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer dieWirkung des Tragischen aber allein aus diesen mora-lischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in derÄsthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nichtglauben, etwas für die Kunst damit getan zu haben:die vor allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangenmuß. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist esgerade die erste Forderung, die ihm eigentümlicheLust in der rein ästhetischen Sphäre zu suchen, ohnein das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des Sitt-lich-Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Häßlicheund das Disharmonische, der Inhalt des tragischenMythus, eine ästhetische Lust erregen?

Page 218: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

217Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Hier nun wird es nötig, uns mit einem kühnen An-lauf in eine Metaphysik der Kunst hineinzuschwin-gen, indem ich den früheren Satz wiederhole, daß nurals ein ästhetisches Phänomen das Dasein und dieWelt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne unsgerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, daßselbst das Häßliche und Disharmonische ein künstle-risches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigenFülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwerzu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wirdaber auf direktem Wege einzig verständlich und un-mittelbar erfaßt in der wunderbaren Bedeutung dermusikalischen Dissonanz: wie überhaupt die Musik,neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davongeben kann, was unter der Rechtfertigung der Weltals eines ästhetischen Phänomens zu verstehen ist.Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat einegleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung derDissonanz in der Musik. Das Dionysische, mit seinerselbst am Schmerz perzipierten Urlust, ist der ge-meinsame Geburtsschoß der Musik und des tragi-schen Mythus.

Sollte sich nicht inzwischen dadurch, daß wir dieMusikrelation der Dissonanz zu Hilfe nahmen, jenesschwierige Problem der tragischen Wirkung wesent-lich erleichtert haben? Verstehen wir doch jetzt, wases heißen will, in der Tragödie zugleich schauen zu

Page 219: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

218Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

wollen und sich über das schauen hinaus zu sehnen:welchen Zustand wir in betreff der künstlerisch ver-wendeten Dissonanz eben so zu charakterisieren hät-ten, daß wir hören wollen und über das Hören uns zu-gleich hinaus, sehnen. Jenes Streben ins Unendliche,der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lustan der deutlich perzipierten Wirklichkeit, erinnerndaran, daß wir in beiden Zuständen ein dionysischesPhänomen zu erkennen haben, das uns immer vonneuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrüm-mern der Individualwelt als den Ausfluß einer Urlustoffenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn vonHeraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einemKinde verglichen wird, das spielend Steine hin undher setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.

Um also die dionysische Befähigung eines Volkesrichtig abzuschärzen, dürften wir nicht nur an dieMusik des Volkes, sondern ebenso notwendig an dentragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten Zeu-gen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, beidieser engsten Verwandtschaft zwischen Musik undMythus, in gleicher Weise zu vermuten, daß mit einerEntartung und Depravation des einen eine Verküm-merung der anderen verbunden sein wird: wenn an-ders in der Schwächung des Mythus überhaupt eineAbschwächung des dionysischen Vermögens zumAusdruck kommt. Über beides dürfte uns aber ein

Page 220: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

219Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Blick auf die Entwicklung des deutschen Wesensnicht in Zweifel lassen: in der Oper wie in dem ab-strakten Charakter unseres mythenlosen Daseins, ineiner zur Ergötzlichkeit herabgesunkenen Kunst wiein einem vom Begriff geleiteten Leben, hatte sich unsjene gleich unkünstlerische, als am Leben zehrendeNatur des sokratischen Optimismus enthüllt. Zu unse-rem Troste aber gab es Anzeichen dafür, daß trotzdemder deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe unddionysischer Kraft unzerstört, gleich einem zumSchlummer niedergesunknen Ritter, in einem unzu-gänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchemAbgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt,um uns zu verstehen zu geben, daß dieser deutscheRitter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen My-thus in selig-ernsten Visionen träumt. Glaube nie-mand, daß der deutsche Geist seine mythische Heimatauf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch dieVogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzäh-len. Eines Tages wird er sich wach finden, in allerMorgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wirder Drachen töten, die tückischen Zwerge vernichtenund Brünnhilde erwecken - und Wotans Speer selbstwird seinen Weg nicht hemmen können!

Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysischeMusik glaubt, ihr wißt auch, was für uns die Tragödiebedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der

Page 221: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

220Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

Musik, den tragischen Mythus - und in ihm dürft ihralles hoffen und das Schmerzlichste vergessen! DasSchmerzlichste aber ist für uns alle - die lange Ent-würdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdetvon Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwergelebte. Ihr versteht das Wort - wie ihr auch, zumSchluß, meine Hoffnungen verstehen werdet.

25

Musik und tragischer Mythus sind in gleicherWeise Ausdruck der dionysischen Befähigung einesVolkes und voneinander untrennbar. Beide entstam-men einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollini-schen liegt; beide verklären eine Region, in derenLustakkorden die Dissonanz ebenso wie das schreck-liche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mitdem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigenZauberkünsten vertrauend; beide rechtfertigen durchdieses Spiel die Existenz selbst der »schlechtestenWelt«. Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apol-linischen gemessen, als die ewige und ursprünglicheKunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Er-scheinung ins Dasein ruft: in deren Mitte ein neuerVerklärungsschein nötig wird, um die belebte Weltder Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir

Page 222: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

221Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken -und was ist sonst der Mensch? -, so würde diese Dis-sonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusionbrauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihreignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsichtdes Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosenIllusionen des schönen Scheins zusammenfassen, diein jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebens-wert machen und zum Erleben des nächsten Augen-blicks drängen.

Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz,von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genaunur soviel dem menschlichen Individuum ins Bewußt-sein treten, als von jener apollinischen Verklärungs-kraft wieder überwunden werden kann, so daß diesebeiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselsei-tiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtig-keit, zu entfalten genötigt sind. Wo sich die dionysi-schen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erle-ben, da muß auch bereits Apollo, in eine Wolke ge-hüllt, zu uns herniedergestiegen sein; dessen üppigsteSchönheitswirkungen wohl eine nächste Generationschauen wird.

Daß diese Wirkung aber nötig sei, dies würde jederam sichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenner einmal, sei es auch im Traume, in eine althelleni-sche Existenz sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln

Page 223: Nietzsche Friedrich - Die Geburt der Tragödie

222Nietzsche: Die Geburt der Tragödie

unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärts-blickend zu einem Horizont, der durch reine und edleLinien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelun-gen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor,rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegteMenschen, mit harmonisch tönenden Lauten undrhythmischer Gebärdensprache - würde er nicht, beidiesem fortwährenden Einströmen der Schönheit, zuApollo die Hand erhebend ausrufen müssen: »SeligesVolk der Hellenen! Wie groß muß unter euch Diony-sus sein, wenn der delische Gott solche Zauber fürnötig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zuheilen!« - Einem so Gestimmten dürfte aber ein grei-ser Athener, mit dem erhabenen Auge des Äschyluszu ihm aufblickend, entgegnen: »sage aber auch dies,du wunderlicher Fremdling: wieviel mußte dies Volkleiden, um so schön werden zu können! Jetzt aberfolge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempelbeider Gottheiten!«