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Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen Author(s): Heinrich Husmann Source: Acta Musicologica, Vol. 36, Fasc. 2/3 (Apr. - Sep., 1964), pp. 98-123 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932420 . Accessed: 16/06/2014 14:31 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 193.105.154.127 on Mon, 16 Jun 2014 14:31:36 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

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Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten ProsenAuthor(s): Heinrich HusmannSource: Acta Musicologica, Vol. 36, Fasc. 2/3 (Apr. - Sep., 1964), pp. 98-123Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932420 .

Accessed: 16/06/2014 14:31

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Notre-Dame und Saint-Victor Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

HEINRICH HUSMANN (GOTTINGEN)

INHALT

I. Der Prosenfaszikel des lat. 14872 der Bibl. Nat. und die Prosenliste des lat. 150s8 II. Vorbild, Kontrafaktur und Neusch6pfung in den Prosen von Notre-Dame und Saint-Victor

III. Die Uberlieferung der Pariser Prosenrepertoire IV. Die Melodienkreise der Pariser gereimten Prosen

A. Eigene Melodien und ihre Kontrafakturen B. Kontrafakta iilterer Melodien

I. DER PROSENFASZIKEL DES LAT. 14872 DER BIBL. NAT. UND DIE PROSENLISTE DES LAT. 15058

Als Jodocus Clichtoveus (Josse Clichtove) 1516 zu Paris sein Elucidarium eccle- siasticum ad officium ecclesiae pertinentia planius exponens erscheinen lieB, dessen 4. Buch ,,prosas, quae in sancti altaris sacrificio ante evangelium dicuntur, tam de

tempore quam de sanctis facili annotatione dilucidat", gab er den einzelnen Stiik- ken, insbesondere den Prosen, soweit es ihm m6glich war, begriindete und von ihm gepriifte Autorenangaben bei und leitete damit die moderne philologische Unter-

suchung der mittelalterlichen liturgischen Dichtungen ein. Unter anderem bezeichnete er 36 Prosen des gereimten Stils als von Adam von Saint-Victor herriihrend, mit der

Begriindung, diese Zuordnung in den Handschriften der Klosterbibliothek gefunden zu haben. Da der Wortlaut ffir die Beurteilung sowohl seiner wie seiner Nachfolger Auffassung und Leistung entscheidend ist, sei er hier mitgeteilt (f. 119 der Ausgabe Paris 1516 - das in Zitaten iibliche Datum 1513 habe ich nicht verifizieren k6nnen, die Vorrede der Ausgabe von 1516 ist 1515 datiert -, Exemplar Res B 58 bis der

Bibliotheque Nationale):

,,Autor eius [ndimlich der Weihnachtsprose Splendor patris et figura] venerandus pater Adam de sancto Victore, qui religiosam regularisque disciplinae observantissimam domum sancti Victoris in Parisiorum suburbiis constructam, cum vixit, insigni doctrinae splendore et vitae sanctimonia illustravit. Apud quam et hanc prosam et alias quamplurimas suis in locis annotatas et deinceps annotandas illi ut authori ascriptas inveni eoque subnixus testimonio eidem illas inscripsi et quamque eorum suo loco ipse (ut ex cuius emanaverit officina) assignavi."

Das besagt doch sehr klar, daB Clichtoveus ,,diese und andere Prosen ihm als Autor zugeschrieben fand, von denen so viele wie m6glich an ihrer jeweiligen Stelle

mitgeteilt wurden oder noch mitzuteilen sind". Trotzdem hat man immer wieder auf Grund von Clichtoveus' Ausgabe gemeint, Adam hitte nur 37 Prosen komponiert. Insbesondere hat L. Gautier in seiner Ausgabe CEuvres poktiques d'Adam de Saint-

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Victor, Paris 1858, diese Ansicht Clichtoveus selbst zugeschoben und sich in wenig sch6ner Weise dariiber moquiert (a. a. O., Bd. I, S. CLXI):

,,Si Clichtove n'a point rencontr6 plus de trente-sept proses dans les manuscripts de Saint- Victor, c'est qu'il a bien mal cherche, ou plut6t qu'il n'a pas cherch6 du tout."

Wir wissen nicht, von wie vielen Prosen Adams Clichtoveus die Zuteilung als echt annahm, aber wenn er (s. oben) davon spricht, daB er ,,so viele wie m6glich" ver6ffentlicht und bei Gelegenheit der Prose Zima vetus expurgetur (Ausgabe 1516, f. 165) von Adam sagt:

,Quod [nfimlich seine Bewandertheit in der Heiligen Schrift] et in complusculis prosis a se compositis (quarum permultae huic libro inseruntur) gnariter observat.. . .

d. h., daB er ,,sehr viele" Prosen Adams seinem Buch eingefiigt hat, so diirfte er, wenn sein Werk 36 Posen enthkilt, vielleicht an 45-50 gedacht haben - und das ist

genau dieselbe Zahl (45), die L. Gautier in der 2. Auflage seines Werkes von 1881 nach den vernichtenden Kritiken von L. Delisle und E. Misset von den urspriinglich 103 Stiicken der 1. Auflage noch aufrecht erhielt.

DaB Clichtoveus, wenn er schon die meisten Adamschen Prosen aufnahm, doch nicht alle abdruckte, erklirt sich vielleicht aus dem Charakter seines Werkes. Dieses

bringt niimlich nicht die Prosenreihe einer bestimmten Di6zese, sondern mischt deutsche und franz6sische Prosen und leitet sich damit von einem handschriftlichen, rein literarischen Prosatyp her, der um 1500 sehr beliebt war und auch noch in einem zweiten Merkmal mit Clichtoveus' Werk iibereinstimmte, der ausfifhrlichen

Kommentierung der Texte, in den Handschriften in Form von Rand- und Intermar-

ginalglossen. Es wire untersuchenswert, ob sich nicht iiberhaupt ein direktes Vorbild findet, das mit Clichtoveus ganz iibereinstimmt (zumindest in der Auswahl der deut- schen Prosen, gewiB nicht in der Kommentierung). Die Aufnahme gerade slawischer und ungarischer Heiliger, Adalbert, Ladislaus, Stephan (K6nig von Ungarn) kann hier den Weg weisen, ebenso die dem Bischof von Raab gewidmete Vorrede. Jeden- falls muBte es von dieser zentraleren Auffassung aus Clichtoveus sicher unangebracht erscheinen, so spezielle Viktoriner Prosen, wie etwa die auf die Ulberfiihrung der

Reliquien St. Victors u. a., aufzunehmen. Leider sagt uns Clichtoveus nicht genau, wo er die Zuteilung von Prosen an

Adam von St. Victor gefunden hat - und gerade das wire fiir die Beurteilung des

ganzen Problems von der entscheidenden Bedeutung. So wird man zundchst vermuten, daB es dieselben Quellen sind, auf Grund deren man in der modernen Wissenschaft eine gr6Bere oder kleinere Anzahl Prosen Adam zugeschrieben hat. Es ist zweifellos das Verdienst von L. Gautier, durch Heranziehung hanclschriftlicher Fakten die

Forschung auf eine philologische Basis gestellt zu haben, auch wenn diese sich nicht als so sicher herausstellte, wie er zuntichst glaubte. Sein Hauptzeuge ist eine kurze Behandlung der Werke Adams, die in den Handschriften St. Victor 554, heute Bibl. Nat. lat. 14970, und St. Victor 842, heute Bibl. Nat. lat. 15058, auf den Seiten f. 72v. bzw. f. 16v. (nicht f. 71, wie Gautier zumeist schreibt) steht und der in der letzteren Handschrift eine Liste von Prosen folgt. Die erste Handschrift weist

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L. Delisle in seiner Besprechung der Ausgabe L. Gautiers in der Bibliotheque de

l'icole des Chartes, 20. Jahr, Bd. 5, Serie 4, 1859, S. 196-198, auf S. 197 dem An-

fang des 15. Jhdts. zu, wdihrend er sie im Inventaire des manuscrits de l'abbaye de Saint-Victor, Paris 1869, S. 62, in das 14. Jhdt setzt. Filr die zweite Handschrift

gibt er beide Male (S. 197 bzw. S. 69) iibereinstimmend mit Recht das 16. Jhdt an. Der in der 1. Hailfte des 17. Jhdts schreibende Viktoriner Annalist Jean de Toulouse, dessen Werk in der Handschrift St. Victor 1037, jetzt Bibl. Nat. lat. 14679, vor-

liegt, weist die Werkbeschreibung mit der Prosenliste dem 1349 gestorbenen Abt von Saint-Victor Guillaume de Saint-L6 zu, was L. Gautier kritiklos iibernahm, L. Delisle aber als unglaubwiirdig zuriidcwies. Die Frage ist an sich ohne weitere

Bedeutung; denn ob die kleine Abhandlung aus der 1. Hdilfte des 14. Jhdts oder aus dem Beginn des 15. Jhdts stammt, macht wenig Unterschied, wenn man ihre Beweis- kraft fiir Dinge des 12. Jhdts untersucht. Entscheidender ist schon, daB Delisle die Prosenliste als eine Zutat der zweiten, aus dem 16. Jhdt stammenden Handschrift ansieht. Aber das scheint mir nicht unbedingt sicher: da in der ersten Handschrift

(lat. 14970) die Lebensskizze Adams den Titel Tabula magistri ade de sancto victore

traigt, was fiir die kurzen Werkbeschreibungen der nur eine Seite langen Notiz

wenig sinnvoll erscheint, diirfte diese Handschrift wohl aus einer anderen geschrieben haben, die die Prosenliste enthielt, und k6nnte sie aus nicht weiter zu diskutierenden

Griinden weggelassen haben, wdihrend die zweite Handschrift (lat. 15058) sie mit abschrieb. Die Liste k6nnte dann sehr wohl noch aus dem 14. Jhdt stammen. Das wird durch die Notiz selbst bestitigt, die iiber Adams Tiitigkeit als Prosenkomponist berichtet:

Illud etiam non immerito debet memorie commendari quod valde multas prosas fecit de benedicta trinitate, de sancto spiritu et de gloriosa virgine Maria, ad quam specialem devotio- nem noscitur habuisse, de apostolis et aliis sanctis, quae.....

,,Valde multas" trifft auf die 89 Nummern enthaltende Prosenliste durchaus zu.

Jedenfalls hatte man im 14. Jhdt die Meinung, daB Adam von Saint-Victor ,,sehr viele" Prosen komponiert hatte - gleichgiiltig, ob es nun die der Liste des lat. 15058

sind oder nicht. Und jedenfalls muB man andererseits aber genauso entschieden fest-

stellen, daB eine solche Meinung des 14. Jhdts fiur Tatsachen des 12. Jhdts ohne jede

Bedeutung ist, wenn sie sich nicht in anderer Weise stiitzen oder wenigstens plausibel machen l idt.

(Iber die Bedeutung unserer Liste lassen sich tatstchlich auch noch einige weitere

Angaben machen, die ihren Charakter und damit ihren Wert beleuchten. Wenn eine

solche Liste nicht, wie in modernerer Zeit iiblich, auf eine oder mehrere Werklisten

zuriickgeht, die der Komponist zu verschiedenen Zeiten seines Lebens oder vor seinem

Tode angefertigt hat, so bleibt nur die M6glichkeit, daB man sie nach vorhandenen

Sammlungen seiner Werke zusammengestellt hat. Solche Prosenfaszikel besitzen wir in der Tat in Handschriften von Saint-Victor, und schon Jean de Toulouse ver- merkt, daB man die Prosen Adams ja in den Handschriften HH3 und BBB II besitze. Ist die letztere Handschrift auch anscheinend verloren (s. dariiber L. Delisle, a. a. O., S. 198, Anm. 1), so ist die erstere nichts anderes als die Handschrift Saint-Victor 577,

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heute Bibl. Nat. lat. 14872. So bildete sie Gautiers zweiten wichtigen Zeugen, da das auf f. 88-121 dieser Handschrift stehende Prosar tatsdchlich auf f. 121v. eine Zu-

weisung an Adam trfigt. Das f. 121 bildete einstmals den SchluB der Handschrift, der heute ein weiteres Prosar, das des Viktoriner Fraters N. Duhamel von 1574-1575, angebunden ist, und so erhielt es auf seiner leeren Riuckseite die Inhaltsangabe und einige die Handschrift charakterisierende Daten. Der betreffende Klosterbibliothekar bemerkte zum Prosenfaszikel der Handschrift:

Prose edite a magistro Adam Britonis, quondam canonici sancti Victoris Parisiensis, de deo, virgine Maria et de diverses sanctis.

Der Prosenfaszikel stammt im Gegensatz zu den ihm vorangehenden Schriften

Hugos von Saint-Victor, die um 1200 niedergeschrieben wurden, aus dem 14. Jhdt (s. L. Delisle, Inventaire, S. 55), ist dem Hauptteil der Handschrift f. 1-87 also ebenso unorganisch angefiigt, wie ihm wiederum der spitere Prosenfaszikel Duhamels (der immerhin als Prosenfaszikel wenigstens zu ihm, wenn auch nicht zum iibrigen Inhalt der Handschrift, pa3t), aber die Bibliothekarseintragung ist nicht zeitgenis- sisch, wie Gautier annahm, sondern geschah, wie Delisle in seiner Besprechung (a. a. O., S. 197) mit Recht betont, erst gegen 1500 und kommt vielleicht von dem Bibliothekar Claude de Grandi Vico. flbrigens ist diese Zuweisung fiur Delisle nur eine Vermutung, da er ,,probablement" sagt - erst Cl. Blume (Analecta hymnica, Bd. 54, S. X) tut unbekiimmert so, als ob es sich um eine feststehende Tatsache handele. Aber witre die Eintragung nicht von 1500, sondern von 1400, wie Gautier annahm, so wfire sie ebensowenig beweiskriftig - die Zurechtriickung Delisles verschairft das Ganze nur ein wenig.

Vergleicht man nun die Prosenliste des lat. 15058 mit dem Prosenfaszikel des lat. 14872, so stellt man fest, daB die Liste einerseits einige gereimte Prosen des Faszikels nicht auffiihrt, nimlich

In natale salvatoris Jubilemus salvatori, quem celestes Mane prima sabbati Qui procedis ab utroque Veni sancte spiritus Lauda syon salvatorem Gaude syon et letare Jubilemus salvatori, qui spem Letabundi jubilemus Regis et pontificis Gratulemur in hac die Ave Maria gratia plena Veni virgo virginum Cordis sonet ex interno,

vor allem merkwilrdigerweise iiberhaupt keine Prosen fir den Ordenspatron Au- gustinus enthilt, wtihrend im lat. 14874 folgende fiinf stehen:

Interni festi gaudia Augustino presuli

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De profundis tenebrarum Ad honorem trinitatis Augustini preconia,

daB umgekehrt aber auch die Liste eine Reihe Prosen verzeichnet, die nicht im Pro- senfaszikel enthalten sind, ndimlich

Exultemus et letemur Iherusalem et syon filie Missus Gabriel de celis Paranymphus salutat virginem Salve crux arbor Laudemus Apollinarem Pangat chorus in hac die Ecce dies attollenda In eadem spei (?) visum Lux advenit veneranda Christo laudes persolvat.

Mithin besitzt der lat. 14872 19 nicht im lat. 15058 zitierte Prosen, dazu treten 18 Prosen der lilteren und mittleren Epoche, die ebenfalls nicht im lat. 15058 auf-

gefithrt werden (was andeutet, daB es sich hier tatsichlich bewult um eine Liste neuerer Prosen handelt), endlich das beiden Handschriften gemeinsame Korpus von Prosen, 77 an der Zahl, so daB die Handschrift insgesamt 114 Prosen enthilt, von denen sie zwei irrtiimlich ein zweites Mal schreibt, so daB sie auf 116 Nummern kommt. Die Prosenliste im lat. 15058 fiihrt demgegeniiber 11 nicht im lat. 14872 stehende Prosen auf; da sie eine Prose des Grundkorpus zweimal bringt, zitiert sie also insgesamt 88 Prosen unter 89 Nummern. Sieht man von den ilteren Prosen ab, so stehen im lat. 14872 77 gemeinsame Stiicke unter insgesamt 96 neuen Prosen, in der Liste des lat. 15058 77 gemeinsame Stickke unter insgesamt 88 neuen Prosen. In Prozentzahlen hei3t das, daB das Grundkorpus im lat. 14872 87,50/o des Gesamt- inhalts ausmacht, im lat. 15058 800/0, daB entsprechend im lat. 14872 12,50/o

singulire Stiicke stehen, im lat. 15058 200/o1. Das bedeutet, daB beide Codices nicht einer aus dem anderen abgeleitet werden k6nnen, daB sie aber andererseits unter den Prosen neuen Stils ein so groBes Korpus gemeinsamer Stiicke besitzen, daB man sie als nahe verwandt ansehen kann. Wenn die Liste des lat. 15058 also nicht nach dem Prosenfaszikel des lat. 14972 angefertigt ist, so muB es doch eine verwandte Handschrift mit einem Prosenfaszikel gewesen sein - und da ist die nichstliegende Vermutung die, daB dies eben der leider verlorengegangene Codex BBB II gewesen sein k6nnte.

Der Codex BBB II (s. Delisle, Besprechung Gautier, S. 198, Anm. 1) war ganz

tihnlich aufgebaut wie der lat. 14072, da il1teren Werken, im lat. 14072 theologischen und historischen Werken Hugos von Saint-Victor, im BBB II historischen und kornm-

1 Diese Zahlen k6nnen sich noch leicht indern, wenn man, da die Grenze zwischen mittleren und neuen Prosen flieBend ist, weitere mittlere Prosen als neue Prosen auffaBt, etwa Clara chorus oder Victime paschali laudes. Dadurch wird dann die Gesamtzahl im lat. 14 872 entsprechend h6her, so daB die Prozentzahl des gemeinsamen Korpus im lat. 14 872 etwas heruntergeht.

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putistischen Traktaten, der Prosenfaszikel unorganisch angefiigt war - ob er ebenso wie im lat. 14872 auch aus spaiterer Zeit als der iibrige Inhalt stammte, entzieht sich unserer Kenntnis. Wenn der Prosenfaszikel des BBB II m6glicherweise doch nicht die direkte Vorlage der Liste des 15058 war, so war er dann aber sehr wahrscheinlich also ein enger Verwandter der Gruppe 14872-15058. Jedenfalls war er auch eine Texthandschrift wie der lat. 14872. War er nicht die Vorlage der Liste des 15058, so darf man entsprechend annehmen, daB deren tiberhaupt nicht naiher bekannte Vor- lage wohl auch eine Texthandschrift wie der lat. 14872 und der BBB II war. Indessen sind diese Prosenfaszikel des 14. Jhdts noch nicht das letzte Glied, das wir suchen, denn ihnen gehen in den dilteren Jahrhunderten liturgische Handschriften voraus, Gradualien mit voller Musik, Missalien mit und ohne Musik, beide Gruppen ent- weder mit Prosenfaszikeln am Ende, seltener die Prosen an den jeweiligen Stellen in den Hauptteil eingegliedert. Sieht man daraufhin die liturgischen Handschriften von Saint-Victor durch - es sind erhalten die Gradualien Bibl. Nat. lat. 14452 und 14819 und das nur Text bietende Missale lat. 14448, in allen drei Handschriften die Prosen als geschlossener Faszikel am Ende - so bemerkt man sofort, daB die Prosensamm- lungen lat. 14872-15058 eine erhebliche Anzahl von Stficken enthalten, die nicht in jenen Handschriften enthalten sind, auch nicht in den jiingere Stficke nachtragenden Anhingen, wie der lat. 14452 zwei besitzt, der zweite unter anderem auch wieder

Stficke Duhamels enthaltend. Vergleicht man das Gesamtkorpus der neuen Prosen der beiden Handschriften lat. 14872 und 15058, d. h. das Grundkorpus von 77 Stiicken und die beiden singuliren Gruppen von 19 bzw. 11 Stiicken, das sind im gan- zen 107 Prosen, etwa mit dem Bestand des ebenfalls aus dem 15. Jhdt stammenden Missale lat. 14448 (vgl. L. Delisle, Inventaire, S. 15) 2, so stellt sich heraus, daB nur 60 Stiicke unserer 107 in ihm enthalten sind, d. h. 560/o, also nur wenig mehr als die Hilfte, - die Prozentzahlen hier wie im folgenden stets auf volle Prozente ab- gerundet.

Um die iibrigen Stiicke zu finden, liegt es am niichsten, sie in der allgemeinen Pariser Praxis, die der Notre-Dame-Kathedrale folgt, zu suchen. Freilich verspricht das zunaichst wenig Erfolg, da das Kloster Saint-Victor wie viele Augustinerabteien die Liturgie der zustindigen Kathedrale, in diesem Falle eben Notre-Dame, fiber- nommen hatte. Doch finden sich stets kleinere Unterschiede im Heiligenkalender - in diesem Falle verehrt Notre-Dame etwa viele seiner Bisch6fe, die in Saint-Victor keine Beachtung finden, waihrend umgekehrt Saint-Victor insbesondere seinem Patron besondere Verehrung widmet, die in Notre-Dame keinen Widerhall findet. Aber auch dariiber hinaus gibt es speziell im Prosenrepertoire kleinere Differenzen, die in diesem Falle eben das entscheidende sind. Vergleicht man als Repraisentanten der Pariser Me61iturgie also etwa die Plenarmissalien Bibl. Nat. lat. 830 und lat. 861, so zeigt sich, dae nur noch 52 Prosen gemeinsam sind, also nur noch 490/0 anstelle

2 Die Handschrift ist am Ende, das einige im Haupttext fehlende Prosen nachtrggt, nicht mehr voll- staindig. Doch diirfte, wie der Vergleich mit den beiden Viktoriner Gradualien zeigt, nur wenig fehlen, so daB die sich ergebenden Prozentzahlen nur wenig von dem hier errechneten abweichen. Ich wollte aber gerade diese Handschrift als Grundlage des Vergleichs wihlen, da sie als Handschrift des 15. Jhdts der Gruppe lat. 14 872-15 058 am nichsten steht.

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104 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

von 560/0 mit dem Saint-Victor-Repertoire gemeinsamen Fillen. Die Zahl zeigt, sehr wenig unterschieden, doch eine etwas gr6t3ere Verwandtschaft der Gruppe lat. 14872-15058 zu Saint-Victor als zu Notre-Dame auf. Aber erst die genauere Ana-

lyse zeigt das entscheidende Resultat: in Wirklichkeit sind nur 43 Prosen, d. h. 400/0 der Prosen der Gruppe lat. 14872-15058, Notre-Dame und Saint-Victor gemein- sam; die iibrigen 9 Prosen, d. h. 8%/o, sind Stiicke, die nur im liturgischen Notre-

Dame-Repertoire existieren. Besitzt die Gruppe lat. 14872-15058 also auch - wie zu erwarten war - eine gr6t3ere Affinitdit zum liturgischen Prosenrepertoire des Saint-

Victor-Repertoires, so stammt doch fast ein Zehntel ihrer Prosen aus dem Bestand des Repertoires der Notre-Dame-Kathedrale. Jedenfalls ergibt sich ein, wenn auch nicht bedeutender, so doch keinesfalls zu unterschitzender EinfluB des Repertoires der Notre-Dame-Kathedrale auf das des Klosters Saint-Victor, wdihrend das Gegen- teil, wie ein entsprechender Vergleich zeigt, nicht der Fall ist.

Die gleiche Tatsache ergibt sich ebenso bereits ffir das liturgische Saint-Victor-

Repertoire. Die Handschrift Bibl. Nat. lat. 14452, der ehemalige Codex Saint-Victor 431 (s. H. Omont, Concordances des manuscrits latins de la Bibliotheque Nationale, Paris 1903, S. 103), hat dem normalen Repertoire eines Graduale inklusive Prosen- faszikel zwei weitere Prosenfaszikel angefiigt. Der erste dieser Ergainzungsfaszikel ist noch im 15. Jhdt geschrieben, wdihrend die Handschrift selbst aus dem 13. Jhdt stammt, der zweite Erginzungsfaszikel aus dem 16. Jhdt. Der erste Ergdinzungs- faszikel enthallt die Prosen:

Ave Maria gratia plena Virginis Marie laudes Martyris Victoris laudes Athleta Sebastianus Precursorem summi regis Hac clara die Precursoris et baptiste

mit dem Vermerk: Autor Heinricus Pistoris religiosus Sancti Victoris

Veni mater gratie Ecce dies triumphalis / Digne Virginalis turma sexus Gaude superna

mit dem Autorenvermerk: Adam de Sancto Victore

Hier finden sich eine Reihe weitverbreiteter Prosen, Hac clara die noch aus der

alten Epoche der Prosendichtung, Ave Maria gratia plena und Virginis Marie laudes

aus der mittieren Epoche - die beiden ersten Stiicke in Notre-Dame im Hauptreper- toire stehend. Auch Virginalis turma sexus ist weitverbreitet, hat hier aber eine neue

Melodie erhalten. Demgegeniiber sind Martyris Victoris laudes, Athleta Sebastianus, Veni mater gratie und Ecce dies triumphalis (auf den Ordenspatron Augustinus) nur in Saint-Victor anzutreffen und offenbar Schipfungen dieses Klosters. Aber Pre- cursorem summi regis, Precursoris et baptiste und Gaude supernia sind aus dem

Hauptrepertoire von Notre-Dame entnommen, wobei Precursoris et baptiste mit

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einer neuen Melodie versehen wurde. Daher sind die Autorenangaben, die Texte betreffend, auch in keiner Weise als authentisch anzusehen - die Zuweisung an H. Pistor k6nnte ohnehin nur fiir die Melodie in Frage kommen (s. unten). Ins- besondere ist Gaude superna das Stiick fiir den Notre-Dame-Bischof Marcellus, dessen Name in den liturgischen Handschriften im commune confessorum als stellvertretend fir diese ganze Heiligenklasse benutzt wird - es ist schwer verstindlich, daB ein sol- ches Stiick von einem Viktoriner gemacht wurde, ohne sich in den Viktoriner Hand- schriften zu finden, in die es dann spiter doch noch aufgenommen wurde. Precursorem summi regis ist mit Sicherheit ein Stiick, das zum Grundstock des Pariser Prosen-

repertoires geh6rt, da es im lat. 1086 und im Aachener Arnolduskodex schon iiber- liefert ist - allerdings mit anderen Melodien. Da der Anhang des lat. 14452 gerade die Notre-Dame-Melodie iibernommen hat, ist der Zusammenhang mit Notre-Dame hier besonders klar.

Auch der zweite Prosenfaszikel zeigt denselben Charakter: Neudichtungen von Saint-Victor einerseits, Nachholung weitverbreiteter Prosen und flbernahme aus dem

Notre-Dame-Repertoire andererseits. Zu den Sch6pfungen Saint-Victors gehbren etwa Augustini magni patris, Psallat nostra concio, Exultet ecclesia ex Victoris victoria, endlich die auch hier erscheinenden Stiicke N. Duhamels, zu den weitver- breiteten Stiicken geh6ren Mittit ad virginem u. a., aus dem Notre-Dame-Repertoire stammen Ave mundi spes Maria und Virgines egregiae.

Liefert das Notre-Dame-Repertoire also auch eine Anzahl von Stiicken zum litur- gischen Repertoire Saint-Victors wie andererseits zur Gruppe lat. 14872-15058, so bleiben doch noch eine ganze Anzahl von Prosen iibrig, die nur in dieser Gruppe vorkommen. Darunter sind einige, die wir iiberhaupt nicht aus anderen Handschriften kennen, insbesondere einige Fdille der Prosenliste, so daB wir von diesen Prosen also

iiberhaupt nur die Anfangszeile kennen. Filr eine ganze Reihe von Prosen li8t sich aber eine weitere, ihnen allen sogar gemeinsame Quelle finden. Damit kommt die Gruppe lat. 14872-15058 nunmehr in ein engeres Verhdiltnis zu unseren bekannten Handschriften und tritt so aus der Isolierung heraus, in die die rein negative Kritik Delisles und Missets sie gesto8en hatte. Es handelt sich um die Handschrift Assisi, Bibl. Comm., 695, die in so auffailliger Weise gerade fiir die sonst unauffindbaren Stiicke der Gruppe lat. 14872-15058 die Konkordanzen liefert. Sie enthilt drei Prosare, die ich als Ass I, Ass II und Ass III bezeichnen will, von denen das erste aus Reims stammt, das zweite enge Beziehungen zu Saint-Victor hat, das dritte dagegen, wie ich unten weiter zeige, niher zu Notre-Dame tritt. Ass II enthiilt von den weder in den liturgischen Notre-Dame-Handschriften noch in den liturgischen Saint-Victor- Handschriften auftretenden Prosen nur Lux est orta gentibus, Celebremus victoriam, Paranymtpl'us salutat virginemo und lesse virgamt humtidavit, Ass III bringt Potestate non natura, Spiritus paraclitus, Rosa novum dans odoret, Triumtphalis lux illuxit, Martyris egregii, Pangat chorus in hac die, Congaudentes/Qui triumphat, Ad hono- rem patris Maglorii, Per unius casum grani. Das sind 4 Stiicke in Ass II, 8 in Ass III, also 12 gerade der seltenen Stiicke. Um das Verwandtschaftsverhiltnis von Ass zur Gruppe 14872-15058 iiberhaupt zu erhellen, sei mitgeteilt, daB 41 Prosen der

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106 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

Gruppe auch in Ass II stehen, 22 in Ass III, insgesamt also 63 Prosen der 107 Prosen der Gruppe in Ass II/III vorkommen, d. h. 59o/o. Dabei vertritt Ass II mit 380/0 den Kontakt mit Notre-Dame, so daB auch in diesen neuen Konkordanzen ein sogar recht starker Einflu3 von Notre-Dame sichtbar wird.

Weitere Konkordanzen lassen sich nur noch in einzelnen Fdillen finden, Hac die

festa concinat steht im lat. 1339 und in den Prosaren von Sitten, Aquas plenas amaritudine im lat. 1086, Pia mater plangat ecclesia in den Sittener Prosaren u. i. Sieht man von diesen verstreuten Einzelkonkordanzen ab, so kann man zusammen- fassend feststellen, daB die Prosensammlung des lat. 14872 und die Prosenliste des lat. 15058 angefertigt sind nach - sicher mit Musik versehenen - Prosaren des

Typs Assisi 695, die einen von Saint-Victor stammenden Grundstock von Prosen, wie er in den liturgischen Handschriften von Saint-Victor iiberliefert ist, um Prosen erweiterten, die einerseits allgemeinere Verbreitung, vorwiegend in Nordfrankreich

(und von dort Uiber Mittelfrankreich bis ins Wallis hinein) besaBen, andererseits aber zu einem gewichtigen Teil aus dem Repertoire der Notre-Dame-Kathedrale stammen. Von Einzelkompositionen abgesehen, tritt Notre-Dame damit als einfluB- reiches Zentrum der Prosenkomposition neben Saint-Victor.

Kommen wir nun wieder auf den vielgeschmiihten Clichtoveus zuriick, so zeigt sich

einerseits, daB er die Werknotiz der Handschriften lat. 14970 und 15058 - und damit auch die Prosenliste der letzteren Handschrift - wohl gekannt haben diirfte, da manche Phrasen seiner Kommentierung sehr an diesen Bericht erinnern. Insbeson- dere die Beschreibung der Prose Zima vetus expurgetur:

Et sane haec prosa admodum divina est, paucis multa complectens et tota ex sacris litteris praeclare desumpta; cuius et historias et sententias congruenter copioseque adaptat proposito ...

scheint direkt aus dem Bericht entnommen zu sein:

In quibus (nimlich prosis) et cum inserat prophetias et figuras, quae in sensu, quem ostendunt, videntur obscurissime, tamen sic eas adaptat ad suum propositum, manifeste ut magis videatur historiam texere quam figuram. Quae tamen stante cum eo, quod in eis nihil addit superfluum, nihil in eis conveniens diminutum.

Aber trotzdem ist das Prosenverzeichnis des lat. 15058 nicht seine einzige Quelle

gewesen, und den lat. 14872 hat er vielleicht nicht einmal gekannt, da er Prosen

bringt, wie Laudes crucis attollamus und Psallat chorus corde mundo, die er beide

Adam von Saint-Victor zuweist, obwohl beide weder im lat. 14872 noch im 15058 stehen. So bleibt nur der SchluB, daB er auch liturgische Handschriften von Saint-

Victor kannte (falls man nicht auf den heute verlorenen BBB II rekurrieren will). Das

wird besonders nahegelegt dadurch, daB er auch Precursoris et baptiste bringt, das er

dem t. 14452 entsprechend dem Heinrich Pistoris zuteilt. Psallat chorus corde mundo steht iiberhaupt nur in liturgischen Notre-Dame-Handschriften und in Ass III. Wenn Clichtoveus aber auf die liturgischen Handschriften zuriickgeht, dann tut er nichts anderes als unsere modernen Editoren auch, die - vielleicht mit Recht - davon iber-

zeugt sind, daB des Adam von Saint-Victor Dichtungen nur im Grundkorpus der

liturgischen Handschriften von Saint-Victor stecken k6nnen. Dabei brauchte sich

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H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 1o07

Clichtoveus nicht einmal aus Saint-Victor herauszubemiihen, um Notre-Dame-Hand- schriften zu finden. Bei der engen Verbundenheit von Saint-Victor mit Notre-Dame ist es nicht erstaunlich, daB Saint-Victor auch Handschriften von Notre-Dame besa3. So kommt etwa die Handschrift Bibl. Nat. lat. 14282 aus Saint-Victor -, es ist aber, wie der Titel selbst schon sagt, ein ,,missale ad usum parisiensem". Ein anderer Fall: im Kodex Bibl. de l'Arsenal 1116, dem PP 14 der Bibliothek von Saint-Victor, steht auf f. 199-206 die ,,Historia beati Thome martiris Cantuarensis archiepiscopi secun- dum usum Parisiensem" -, iibrigens mitvollstindiger Musik. Die eben herangezogene Prose Psallat chorus corde mundo steht im lat. 14282 auf f. 292 -, freilich ist sie nicht, wie Clichtoveus es tut, Adam von Saint-Victor zugeteilt.

Von Interesse ist auch der Vergleich mit dem 1529 in Paris gedruckten Missale von Saint-Victor (zwei wundervoll handilluminierte, auf Pergament gedruckte Exem- plare Paris, Bibl. Nat., VWlins 243 und 244). Diese hat in h6chst unliturgischer Weise ebenfalls Verfasserangaben, aber erheblich mehr als Clichtoveus, nirmlich 59 Zuwei- sungen an Adam von Saint-Victor im Prosar und zwei weitere im Hauptkorpus bei den beiden fiir die commemoratio Augustins bestimmten Prosen Ave verbi dux et cleri und De profundis tenebrarum, ebenso Zuteilungen an Bernardus, H. Pistoris (nicht nur Precursoris, sondern auch Athleta Sebastianus), Robertus, Thomas von Aquino und Abaelard. Von ihm kann gewi8 eine handschriftliche Vorlage aus der Zeit von 1500 im Kloster vorhanden gewesen sein, die Clichtoveus mit ihren Zuwei- sungen hitte studiert haben k6nnen. Aber das erkliirt immer noch nicht die Zuteilun- gen der singuliren Notre-Dame-Stiicke an Adam -, die sich aber in der Notiz des lat. 14872 und in der Liste des lat. 15058 findet, fiir Psallat chorus corde mundo frei- lich auch wieder woanders herstammen muB, aus dem verlorenen BBB II, einer

ihnlichen Handschrift oder von Clichtoveus selbst.

II. VORBILD, KONTRAFAKTUR UND NEUSCH6PFUNG IN DEN PROSEN VON

NOTRE-DAME UND SAINT-VICTOR

Der Umschwung in der modernen Philologie der Adamischen Prosen kniipft sich an die auch hier schon mehrfach herangezogene Besprechung Delisles, in der er, rein philologisch vorgehend, der Autoreneintragung im lat. 14872 und der Notiz bzw. Prosenliste im 14970 bzw. 15058 eine authentische Bedeutung abspricht, was im I. Abschnitt dieser Studie durch Repertoireuntersuchungen noch weiter erliutert und plausibel gemacht werden konnte. Die Folge war, daB sich die weiteren Untersuchun- gen von E. Misset und L. Gautier selbst auf die liturgischen Handschriften von Saint- Victor zuriickzogen und die spliteren Prosenzuteilungen unberiicksichtigt lieBen -, 1881 erschienen ziemlich gleichzeitig Eugene Missets Poesie rythmique du moyen age (Essai philologique et litteraire sur les oeuvres poetiques d'Adam de Saint-Victor) und Leon Gautiers grundlegend geinderte 2. Auflage seiner Oeuvres podtiques d'Adam de Saint-Victor3. Wie der Untertitel von Missets Schrift schon angibt, geht

s Es ist ein besonderer Witz, daB im selben Jahr auch DIGLEY S. WRANGHAMS Buch The liturgical poetry of Adam of St. Victor, London 1881, herauskam, das noch einmal die Texte der 1. Auflage Gautiers (mit englischer tlbersetzung und ausfiihrliclem Kommentar) vollstindig abdruckt.

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108 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

Misset aber nicht nur philologisch, sondern auch literarisch, d. h. in modernem Aus- druck: stilkritisch, vor, und ebenso zihlt L. Gautier, Einleitung S. XV, als Haupt- gesichtspunkte auf:

En resume, nous ne considcrons une prose comme appartenant veritablement a Adam, que si elle se trouve au graduel de Saint-Victor; si, en second lieu, elle lui est nominalement attribuee par ABC, ou tout au moins par AC (A ist der lat. 15058, B die Eintragung in lat. 14872, C die Annalen des Jean de Toulouse), et si enfin la rhythmique en est r6gulibrement conforme A la rhythmique d'Adam.

Der Umschwung kam offensichtlich daher, daB Gaston Paris gegen L. Gautier mit Entschiedenheit den rein akzentuierenden Charakter des Mittellateinischen verfocht, insbesondere in seiner - von E. Misset, a. a. O., S. 7, ausdriicklich zitierten - Studie Lettre

' M. Leon Gautier sur la versification latine rhythmique, Paris 1866. Im

Innern des Verses sind Umstellungen der Akzentordnung zugelassen, wobei nur nicht zwei betonte Silben nebeneinandertreten diirfen, aber der Reim kann seinen Akzent- charakter nie verindern: sonum reimt auf pronum, aber nicht consonum (G. Paris, a. a. O., S. 7). Dabei mul der Reim auch ganzlich rein sein, wie E. Misset sehr sch6n auseinandersetzt - filium (a. a. O., S. 4) kann nicht auf publicum reimen, wohl aber

unicum, das sich damit als richtige Lesart erweist. So richtig das alles ist, so wenig ist doch die bei Misset wie bei Gautier damit ver-

koppelte Meinung fundiert, daB (s. oben) die Rhythmik eines Adam zusprechbaren Gedichtes ,,conforme

' la rhythmique d'Adam" sein mu8. Wenn ich nicht weiB, welche

Gedichte ihm wirklich zukommen, kann ich auch nicht wissen, welches die Eigenarten seiner Rhythmik sind. Ich will gern zugeben, da6 Adam wirklich ein so groBer und

untadeliger Dichter ist, wie G. Paris, L. Gautier und E. Misset glauben -, aber wis- senschaftlich gesichert ist das absolut nicht. So l16t sich denn auch gleich ein eklatanter Fehler nachweisen: E. Misset teilt Laudes crucis attollamus (E. Misset und Pierre

Aubry, Les proses d'Adam de Saint-Victor, Paris 1900, Nr. XVIII, Text S. 189, Musik S. 260 ) dem Adam zu, und L. Gautier druckt es im Anhang (S. 225) der 2. Auflage ab mit der Begriindung (S. 224), daB die Zuweisung ,,demeure tres probable". Aber

diese so weitverbreitete Prose ist in einem Nekrolog der Kathedrale von Orlans, die

ja dem Heiligen Kreuz geweiht ist, einem Magister Hugo von Orleans zugeschrieben, wie N. Weisbein gefunden hat (Le Laudes crucis attollamus de Maitre Hugues d'Orlhians dit le Primat, in: Revue du Moyen Age latin, III, 1947, S. 5-26), und ich

habe versucht, eine besonders eindrucksvolle Gelegenheit fiir die Dichtung der Prose

zu finden und habe (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Artikel Notre-Dame-

Epoche, Bd. 9, 1961, Sp. 1706) auf die tiberbringung einer Kreuzesreliquie ins Abend-

land 1109 (croix d'Anseau in Notre-Dame) hingewiesen, was zu Hugos Wirkungszeit und zur Tatsache seiner engen Verbundenheit mit Paris gut pa6t. DaB die Quellen-

lage gegen eine Zuteilung an Adam spricht, da die Prose zu seinen angeblichen

4 Ein Jahr spliter, 1901, erschien in Paris eine weitere, ebenfalls Text und Musik bringende Ausgabe ADAMS: Dorm Hildebrand Prevost, Recueil complet des celebres Sequences du vkn&rable maitre Adam le

Breton, Ligng6 1901. Die Ausgabe enthilt zuntichst die 45 Prosen, die Gautiers 2. Auflage fiir echt

halt, darauf als ,,deuxie~me partie" 30 weitere Prosen (darunter eine nicht in Gautiers 1. Auflage ent-

haltene) und 2 Hymnen.

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H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 109

Lebenszeiten bereits in ganz Europa verbreitet war, haben Cl. Blume und H. M. Ban- nister (Analecta hymnica 54, 1915, S. 192) mit vollem Recht auseinandergesetzt -, wiihrend sich diese Autoren in anderen Faillen freilich auch mit stilkritischen Erwi- gungen begniigen.

Da Philologie nun einmal eben nicht durch Stilkritik ersetzt werden kann, soll hier von stilkritischen Er6rterungen ganz abgesehen werden und auf Grund von Reper- toireuntersuchungen unter Heranziehung der Melodien versucht werden, einige Ergebnisse zu erzielen, die die ganze Frage zwar nicht mit letzter Sicherheit entschei- den k6nnen, aber doch manchen Hinweis zu geben verm6gen. Hier sind Cl. Blume und H. M. Bannister in den Bdinden 53--55 ihrer Analecta hymnica schon gut voran-

gekommen -, in vielen Fillen k6nnen sie auf Grund der Verbreitung einer Prose

Fragen der Herkunft kliren. Freilich die flberlieferung der Melodien zu beriicksich- tigen, hat der zu friihe Tod Bannisters nicht mehr erlaubt -, so haben sie nur von Fall zu Fall einmal angemerkt, wieviele verschiedene Melodien ihnen zu einem Text

begegnet sind. Das Entscheidende aber ist offensichtlich wiederum die Verbreitung jeder dieser Melodien -, wenn man fiberhaupt die Einheit von Text und Melodie auch ffir die gereimten Prosen aufrecht erhalten will und nicht vielmehr angesichts der oft

geradezu aussichtslosen Verworrenheit der musikalischen Quellenlage und ihrer Disharmonie zur Verbreitung des Textes annehmen will, daB die gereimten Prosen der 2. Epoche rein literarisch nur als Texte konzipiert waren und sich auch so ver- breiteten.

Untersucht man zunichst das Prosenrepertoire der Notre-Dame-Kathedrale, wobei ich die Handschrift Bibl. Nat. lat. 830 zugrunde lege, so kann man mit den Heraus-

gebern der Analecta hymnica drei Perioden unterscheiden, eine erste Epoche, eine

Ubergangsepoche und eine zweite Epoche. Ich spreche hier bequemer von alten (oder friihen), mittleren und neuen Prosen. Die alten Prosen sind urspriinglich die Textie-

rungen der Sequenzen (d. h. der bei der Wiederholung des Alleluya nach dem Vers

verliingerten Alleluyajubilen) und werden mit ihnen in der ailteren Praxis zusammen - meist versikelweise abwechselnd - ausgefiihrt. Der Text ist Prosa und kennt in Frankreich Assonanz der Versikelenden auf -a, das SchluB-a des Wortes Alleluya. Die mittleren Prosen gehen zum Teil noch auf Alleluya zurtick, etwa Laudes crucis attollamus verwendet in der 1. Zeile die Melodie des Alleluya Dulce lignum -, diese Alleluya haben sich am iingsten in den Handschriften des Primonstratenserordens erhalten, die an dieser Eigenschaft sofort kenntlich sind, etwa Bibl. Nat. lat. 833

(hier Mane prima, Victime, Clara chorus, Congaudentes, Ave Maria, Laudes crucis). Der Text verwendet Assonanz oder (guten oder schlechten) Endreim, zum Teil Binnen- reim. Die neuen Prosen besitzen keinen Zusammenhang mehr mit dem Alleluya (von einigen spiteren Fdllen abgesehen, in denen man auf die alte Praxis zurfickgriff), der Text benutzt Binnen- und Endreim. Die Entscheidung, ob eine Prose der mittleren oder neuen Epoche zuzuweisen ist, hat aber in jedem Fall auch durch das Studium der handschriftlichen iberlieferung zu erfolgen. So sind zweifellos mittlere Prosen Leta-

bundus, Mane prima sabbati, Ave Maria gratia plena, Laudes crucis attollamus, Stola

iocunditatis, Congaudentes exultemus, wiihrend die Zuteilung von Zima vetus, Salve

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110 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

mater salvatoris, Hodierne lux diei, Ave mundi spes Maria und Virginis egregie an die mittlere Epoche nicht so eindeutig aus der Quellenlage hervorgeht wie bei den

vorigen. Die Verteilung der drei verschiedenen Prosengattungen auf die Texte des

Kirchenjahres in der Notre-Dame-Kathedrale zeigt dann die folgende Tabelle.

Verteilung des Prosenrepertoires von Notre-Dame

Datum Sonntag bzw. Fest alt mittel neu

1. Advent Salus eterna 2. Advent Regnantem 3. Advent Qui regis sceptra 4. Advent Jubilemus omnes

25. 12. 1. Messe Weihn. ,,Salus 25. 12. 2. Messe Weihn. ,Regnantem 25. 12. GroBe Messe W. Letabundus 25. 12. Vesper Weihn. Hac clara

Sonntag nach W. Splendor patris In excelsis canitur Nato nobis salvatore Ante thronum virg.

1. 1. Neujahr ,,Letabundus oder eine von Sonn- tag nach W.

6. 1. Dreik6nige Epiphaniam Ostern Fulgens preclara fer. II nach 0. Mane prima fer. III nach 0. Zima vetus fer. IV nach 0. Ecce dies celebris fer. V nach 0. Lux illuxit fer. VI nach O0. Sexta passus sabb. nach 0. Mundi renovatio oct. nach 0. Salve dies dierum

folgende Sonntage Alleluya agnus Himmelfahrt Rex omnipotens Sonntag nach H. Postquam hostem

Pfingsten Erweiterung Fulgens fer. II nach P. Sancti spiritus fer. III nach P. Lux iocunda fer. IV nach P. Simplex in ess. fer. V nach P. Qui procedis fer. VI nach P. Alma chorus sabb. nach P. ,,Sancti spiritus spiter:

Veni sancte spiritus Trinittit Profitentes

27. 7. Verkliirung Christi Benedicta semper

26. 12. Stephanus Magnus deus Heri mundus 27. 12. Joh. evang. Gratulemur ad

festivum 28. 12. Unschuld. Kindlein Celsa pueri

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Page 15: Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor III

Datum Sonntag bzw. Fest alt mittel neu

29. 12. Thomas Cant. Gaude syon et letare kanon. 1173 Transl. 1220

31. 12. Sylvester Superne matris (divisio: Hic sanctus)

3. 1. Genovefa Genovefe soll. 15. 1. Maurus ,,Superne matris 20. 1. Fabian/Sebastian Mirabilis 21. 1. Agnes Animemur 22. 1. Vincenz Ecce dies preoptata 25. 1. Conv. Pauli Corde voce 27. 1. Julian ,,Superne matris 2. 2. purificatio B.M.V. ,,Hac clara Lux advenit ven. 5. 2. Agathe Regina virginum

25. 3. annuntiatio B.M.V. Salve mater salv.

Ave Maria 22. 4. inventio Dionysii Gaude prole 25. 4. Marcus evang. ,,Alleluya agnus

1. 5. Philipp / Jacobus Clare sanctorum 3. 5. inventio crucis Laudes crucis 6. 5. Joh. ante ,,Clare sanctorum

portam latinam 28. 5. Germanus Paris. Lux illuxit 10. 6. Landericus Landerice inclite 11. 6. Barnabas apl. ,,Clare sanctorum 19. 6. Gervas/Prothas Mundi etate 24. 6. Joh. bapt. Precursoris et bapt.

Ad honorem tuum 25. 6. Eligius ,,Eligi inclite 25. 6. Joh./Paulus ,,Mirabilis 29. 6. Petrus Gaude Roma 30. 6. Paulus ,,Clare sanctorum 4. 7. transl. Martini Xpisto inclita

candida (1. divisio: Martine inclite 2. divisio: Regina Virginum)

6. 7. oct. apostolorum Roma Petro 11. 7. Benedict. ,,Superne 13. 7. Turian ,,Turiane inclite 18. 7. Arnulph ,,Hic sanctus 22. 7. Maria Magdalena ,,Mane prima 25. 7. Jacobus ,,Clare sanctorum 26. 7. Marcellus Gaude superna 31. 7. Germanus Antiss. ,,Superne

1. 8. vincula petri ,,Clare sanctorum 3. 8. inventio Stephani Organicis

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112 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

Datum Sonntag bzw. Fest alt mittel neu

10. 8. Laurentius Stola iocun- Prunis datum ditatis

13. 8. Ypolit ,,Mirabilis 15. 8. assumptio B.M.V. ,,Letabundus

ad vesperas B.M.V. ,Hac clara 16. 8. fer. II B.M.V. Hodierne

lux diei 17. 8. fer. III B.M.V. ,,Ave Maria 18. 8. fer. IV B.M.V. O Maria maris

stella 19. 8. fer. V B.M.V. Ave virgo/Nos in 20. 8. fer. VI B.M.V. Ave mundi Vergente mundi

spes 21. 8. de B.M. Aurea virga 22. 8. oct. ass. ,,Salve mater

salv. 24. 8. Bartholomeus ,Clare sanctorum Laudemus omnes 26. 8. Bernardus ,,Superne 27. 8. Georg/Aurel ,Mirabilis 28. 8. Augustin ,,Superne 29. 8. decoll. Joh. bapt. Precursorem

1. 9. Egidius Promat pia vox 7. 9. Clodoald ,,Hic sanctus 8. 9. nativitas B.M.V. ,,Hac clara 9. 9. fer. II B.M.V. ,,Ave mundi

10. 9. fer. III B.M.V. Res est admirabilis

[ ] Inviolata Ave mater iesu

14. 9. exaltatio crucis Salve crux arbor 21. 9. Matheus evang. Iocundare plebs 22. 9. Mauricius ,,Mirabilis 27. 9. Cosmas/Demian ,,Superne 29. 9. Michael Laus erumpat 30. 9. Jeronimus ,,Mundi etate

1. 10. Remigius ,,Remigi inclite 4. 10. Aurea Virgines

egregie 9. 10. Dionys ,,Gaude prole

10. 10. fer. II B.M.V. ,Mirabilis 11. 10. fer. III B.M.V. ,,Mundi etate

dominica B.M.V. ,,Gaude prole 18. 10. Lucas Psallat chorus corde 24. 10. Maglorius ,,Maglori inclite 28. 10. Simon/Judas ,,Clare sanctorum 30. 10. Lucan ,,Superne matris

1. 11. Allerheiligen ,,Xpisto inclita

3. 11. Marcellus ,Gaude superna 11. 11. Martin Gaude syon que

diem 13. 11. Gendulph Ecce magno sal.

kanon. 1235

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H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 113

Datum Sonntag bzw. Fest alt mittel neu

19. 11. Elyzabeth (steht Mulier laudabilis 830 nach Severin vor Katherina)

22. 11. Cecilia ,Virgines egregie

23. 11. Clemens ,,Organicis 24. 11. Severin ,,Superne 25. 11. Katherina Vox sonora 26. 11. mirac. ardentium ,,Inviolata

(1129) 30. 11. Andreas Exultemus et letemur

1. 12. Eligius ,,Xpisto inclita 4. 12. inventio reliquiarum ,,Letabundus

(1182) 6. 12. Nicolaus Congaudentes

11. 12. Fuscian ,,Mirabilis 13. 12. Lucia ,,Regina virginum 21. 12. Thomas apl. ,,Clare sanctorum

Kirchweih Iherusalem et syon Rex salomon Quam dilecta

Betrachtet man die Gesamtzahl der Fiille, in denen alle Prosen - zum Teil mehr- fach - verwendet werden, so treten die alten Prosen 54mal, die mittleren 19mal, die neuen 69mal auf. Bei einer Gesamtzahl von demnach 142 Fillen sind das 38 /o ftir die alten, 13 o/o fiir die mittleren und 48 o/o fiir die neuen Prosen. Indessen werden diese 142 Fdille durch mehrfache Benutzung von insgesamt nur 85 Prosen bewdiltigt (Regina virginum als 2. Teil von Christo inclita nicht gezaihlt), von denen 21 der alten, 11 der mittleren und 53 der neuen Epoche angehbren. Das sind Werte von 25 0/0 fir die alten, 13 /o fiir die mittleren und 62 O/o fiir die neuen Prosen. Interessiert man sich fiir das Verhiiltnis der Mehrfachverwendungen zu den Originalstellen, so erscheinen 33 Zitate alter Prosen, 8 von mittleren, 16 von neuen, insgesamt 57 Zitate. Die Prozentzahlen sind hierfiir 5s8/o, 140/0, 280/0. Man sieht deutlich, wie die neuen Prosen gerade mehr individuell fiir besondere Gelegenheiten bestimmt sind (16 Wie- derholungen gegen 53 Originalstellen), bei den mittleren beides einander die Waage hilt (8 gegen 11) und bei den alten die Mehrfachverwendung iiberwiegt (33 gegen 21). Das ergibt sich genauso, wenn man bedenkt, daB die Mehrfachbenutzung statt- findet bei 10 alten (N. inclite als selbstaindig geredchnet), 4 mittleren und 6 neuen Prosen (Hic sanctus als selbstaindig angesehen).

Unternimmt man dieselbe Analyse des Prosenrepertoires von Saint-Victor, so ergibt sich bei Zugrundelegung des Hauptkorpus der Handschrift Bibl. Nat. lat. 14452 (iiber ihre Anhdinge wurde oben gesprochen) die folgende Tabelle, wenn wir uns der Einfachheit halber auf die Originalstellen beschrinken.

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114 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

Verteilung des Prosenrepertoires von Saint-Victor

Datum Sonntag bzw. Fest alt mittel neu

1. Advent Salus eterna 2. Advent Regnantem 3. Advent Qui regis 4. Advent Jubilemus

25. 12. 1. Messe Weihn. (Nato canunt) 2. Messe Weihn. (Letabundus) Grol3e Messe W. In natale salvatoris

26. 12. Stephanus Heri mundus 27. 12. Joh. evang. Gratulemur ad fest. 28. 12. Unschuld. Kindlein Celsa pueri 29. 12. Thomas Cant. Gaude syon et letare 30. 12. am Tag n. Thomas Splendor patris

[Sonntag n. W.] Jubilemus salvatori / Pax

1. 1. Neujahr In excelsis canitur 3. 1. Genovefa Genovefe soll. 6. 1. Dreik6nige Epiphaniam

13. 1. Dreik6nigsoktav Virgo mater salva- toris

22. 1. Vincenz Ecce dies preoptata 25. 1. Cony. Pauli Jubilemus salvatori /

Quando 2. 2. purificatio B.M.V. Templum cordis

Ostern Fulgens preclara fer. II Ecce dies celebris fer. III Lux illuxit dom. fer. IV Salve dies dierum fer. V Mane prima fer. VI Sexta passus sabb. Mundi renovatio oct. Zima vetus quando necesse est Victime

3. 5./14. 9. de cruce Laudes crucis Himmelfahrt Rex omnipotens Sonntag n. H. Postquam hostem Pfingsten Sancti spiritus fer. II Lux iocunda fer. III Qui procedis fer. IV Almiphona fer. V Simplex in essentia fer. VI Veni sancte spiritus Trinitat Profitentes

5. 6. Kirchweihe Clara chorus Sonntag n. Kirchw. Quam dilecta

12. 6. Kirchweihoktav Rex salomon 17. 6. Reliquien Ex radice caritatis

St. Viktors 24. 6. Petrus Gaude Roma

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Page 19: Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 115

Datum Sonntag bzw. Fest alt mittel neu

30. 6. Paulus Corde voce 6. 7. Aposteloktav Roma Petro

21. 7. Victor Ecce dies / Mente 27. 7. Verklirung Christi Letabundi iubilemus 10. 8. Laurentius Prunis datum 15. 8. assumptio B.M.V. Aurea virga

sabb. nach ass. Ave virgo/Tota Sonntag nach ass. Ave virgo/Nos

22. 8. oct. ass. Gratulemur in hac die

24. 8. Bartholomeus Laudemus omnes 28. 8. Augustinus Interni festi

8. 9. nativitas B.M.V. Salve mater salv.

21. 9. Matheus Iocundare plebs 29. 9. Michael Laus erumpat 2. 10. Leodegar Cordis sonet 9. 10. Dionysius Gaude prole 1. 11. Allerheiligen Xpristo inclita

11. 11. Martin Gaude syon que diem

25. 11. Katherina Vox sonora 30. 11. Andreas Exultemus et letemur 6. 12. Nicolaus Congaudentes

21. 12. Thomas apl. Congaudeant hodie

Apostelfeste Clare sanctorum Cor angustum Apostelfeste Stola regni quodlibet sancto Superne matris Marienfeste Hodierne lux O Maria maris stella

Im Prosenrepertoire von Saint-Victor finden sich also 16 alte, 9 mittlere und 49 neue Prosen, also 22 /o, 12 /o und 66 /o der Gesamtzahl 74. Das sind fast dieselben Werte, wie sie sich fiir die Notre-Dame-Kathedrale ergeben haben (25 /o., 130/0,

62%/o). Dagegen ist das Notre-Dame-Repertoire mit 85 Prosen erheblich reicher als das Saint-Victor-Repertoire mit nur 74 Prosen, woran auch die mittleren (11 gegen 9) und neuen Prosen (53 gegen 49) ihren Anteil haben.

Gehen wir nunmehr zur Untersuchung der neuen Prosen iiber, so zeigt der Ver- gleich der neuen Prosen des Notre-Dame-Repertoires mit denen des Saint-Victor- Repertoires erhebliche Unterschiede in der Zusammensetzung des Repertoires auf. Noch auffallender ist, daB selbst da, wo Texte gemeinsam sind, doch die Melodien verschieden sind. Die nichste Tabelle gibt die genauen Belege, wobei ND [Notre- Dame] = Vc [Saint-Victor] Melodiegleichheit, ND I Vc Melodieverschiedenheit bedeutet.

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116 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

Die neuen Prosen des Notre-Dame- und des Saint-Victor-Repertoires

Datum Tag oder Fest ND ND = Vc ND I Vc Vc

Weihnachtszeit Nato nobis Splendor patris In natale salv. Ante thronum

1. 1. Neujahr In excelsis canitur

13. 1. Dreik6nigsokt. Virgo mater salv. Osterzeit All. agnus Ecce dies cel. Zima vetus

Mundi ren. Lux illuxit dom. Sexta passus Salve dies

dierum Himmelfahrt Postquam hostem Pfingstzeit Simplex in Lux iocunda Veni sancte

ess. spiritus Qui procedis

Trinitait Profitentes 27. 7. Verklirung Letabundi/

Ad hon.

26. 12. Stephan Heri mundus 27. 12.

Josh. evang. Gratulemur

ad festivum 29. 12. Thomas Cant. Gaude syon

et letare 31. 12. Sylvester Superne Jubilemus/Pax

matris 3. 1. Genovefa Genovefa

soll. 21. 1. Agnes Animemur 22. 1. Vincenz Ecce dies

preoptata 25. 1. Cony. Pauli Corde voce Jubilemus/

Quando 2. 2. purific. B.M.V. Lux advenit Templum cordis

25. 3. annunt. B.M.V. Salve mater 22. 4. inv. Dionysii Gaude prole

1. 5. Phil./Jac. Cor angustum 28. 5. Germanus Par. Lux illuxit

trium. 17. 6. reliq. Victoris Ex radice 24. 6. Joh. bapt. Precursoris et Ad honorem

bapt. 29. 6. Petrus Gaude Roma

6. 7. oct. apost. Roma Petro 21. 7. Victor Ecce dies/Mente 26. 7. transl. Marcelli Gaude superna 10. 8. Laurentius Prunis datum 15. 8. ass. B.M.V. Ave mundi spes Hodierne lux Ave virgo/ Ave virgo/Tota

Nos

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Page 21: Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 117

Datum Tag oder Fest ND ND = Vc ND I Vc Vc

Vergente O Maria Gratulemur in mundi stella

24. 8. Bartholomeus Laudemus omnes

29. 8. decoll.Joh.bapt. Precursorem 1. 9. Egidius Promat pia 8. 9. nat. B.M.V. Res sit admira-

bilis Ave mater iesu

14. 9. exalt. crucis Salve crux 21. 9. Matheus Jocundare 29. 9. Michael Laus erumpat 2. 10. Leodegar Cordis sonet 4. 10. Aurea Virgines

egregie 18. 10. Lucas Psallat chorus 28. 10. Simon/Judas Stola regni 11. 11. Martin Gaude syon que 13. 11. Gendulph Ecce magno

sac. 19. 11. Elizabeth Mulier laud. 25. 11. Katherina Vox sonora 30. 11. Andreas Exultemus et

let. 21. 12. Thomas apost. Congaudeant

Kirchweih Jerusalem et Rex salomon Quam dilecta

Diese Tabelle zeigt bereits ein sehr entscheidendes Ergebnis. Von den insgesamt 72 Prosen sind 37 (51 o/o) beiden Repertoiren gemeinsam, wobei 16 (22 O/o) dieselbe Melodie verwenden, 21 (29 o/o) dagegen verschiedene Melodien. Vom Gesamtreper- toire finden sich 20 Prosen (28 /o) nur in Notre-Dame, 15 Prosen (21 /o) nur in Saint-Victor. Notre-Dame hat also einen um ein Drittel (20 gegen 15 Prosen), daher ganz erheblich h6heren Anteil an singuliren Prosen. Man wird im Gegensatz zu Gautier (1. Auflage) und der Meinung des Saint-Victor-Klosters vom 14. Jhdt ab kaum mehr die Ansicht vertreten k6nnen, daB ein einziger Dichter, eben Adam von Saint-Victor, sdimtliche gereimten Prosen geschaffen hat. Ebenso ist es wohl nicht wahrscheinlich, daB alle 72 Prosen des Grundrepertoires von einem einzigen Dichter stammen. M6gen vielleicht die gemeinsamen Texte des Pariser Gesamtrepertoires einem einzigen Dichter zugeschrieben werden k6nnen - oder wenigstens ihr gr6t3ter Teil -, so ist es doch plausibler, anzunehmen, daB die in Notre-Dame singulairen Texte auch dort verfertigt wurden, die in Saint-Victor singuliren in Saint-Victor. Noch weitergehend ist es sogar wahrscheinlich, daB nicht an jeder Stelle nur eine Per- s6nlichkeit wirksam war, sondern daB sowohl in Notre-Dame wie in Saint-Victor mehrere Personen von Fall zu Fall das Grundrepertoire erweiterten. Man wird endlich sich kaum vorstellen, daB eine der Personen, die die Erweiterungen verfalten, iden- tisch ist mit der Person oder einer der Personen, die das Grundkorpus schufen -, oder

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Page 22: Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

118 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

aber, daB doch nur wenige Erganzungen von dem Dichter des Grundkorpus selbst kommen, da sie sich ja doch wohl zusammen mit dem Grundkorpus verbreitet haben

miiften. Von einer der Ergdnzungen, Veni sancte spiritus, wissen wir ohnehin, daB sie iiberhaupt nicht in Paris geschaffen wurde, da die sehr alte Zuweisung dieser Prose an Papst Innozenz III. durchaus glaubhaft ist (vgl. Analecta hymnica 54, S. 234, Nr. 153). Interessant ist, wie sich verfolgen la8t,

wie diese Prose zuerst in Saint-Victor im Grundkorpus der Handschriften steht, wahrend sie in Notre-Dame erst spater das altere Sancti spiritus assit verdrangt.

Was das Musikalische betrifft, so ist verbliiffend, daB ein so hoher Prozentsatz der Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsamen Prosen, namlich 21 von 37, d. h.

57 /o, an beiden Stellen eine verschiedene Melodie besitzt. Ist dieser Grundbestand in Notre-Dame entstanden, so miiBte, wenn man an der Einheit von Dichter und

Komponist festhalten will, die Melodie von Notre-Dame die urspriingliche sein, die in 570/0 der Falle in Saint-Victor durch eine neue Melodie ersetzt worden ware. Anderenfalls hitte eine melodische Umarbeitung in Notre-Dame stattgefunden. Hdtte der Dichter nur den Text geschaffen, so k6nnte man fiir Notre-Dame wie fuir Saint-Victor je einen eigenen Komponisten annehmen. Dann ist aber nicht erklart, warum die 16 anderen Prosen in beiden Kirchen dieselbe Melodie haben -, man

miiBte annehmen, daB diese Stiicke von einem anderen, vielleicht etwas alteren Dichter stammen, der die Melodien selbst dazukomponierte. Um zwischen diesen

M6glichkeiten besser entscheiden zu k6nnen, sind genauere melodische Analysen erforderlich. Diese zeigen, daB die verschiedenen Melodien nicht immer Neusch6pfun-

gen sind, sondern haufig nur Umarbeitungen Alterer Melodien, also Kontrafakta -,

hieriiber hat schon H. Spanke (Die Kompositionskunst der Sequenzen Adams von

Saint-Victor, in: Studi medievali, Nuova Serie, XIV, 1941, S. 1 ff.) im AnschluB an

Misset-Aubry eingehend gehandelt 5, was die Melodien von Saint-Victor anbetrifft.

Nimmt man die entsprechende Untersuchung auch fiir die Melodien von Notre-Dame

vor, so la8t sich das Gesamtergebnis, was die Prosen mit in Notre-Dame und Saint-

Victor verschiedener Melodie anbetrifft, in der folgenden Tabelle der jeweils benutz-

ten Originalmelodien zusammenfassen, wobei ND bzw. Vc hinter einer Melodie

bedeutet, daB bei verschiedener Fassung in ND bzw. Vc die jeweilige Sondermelodie

gemeint ist.

Vorbilder der Prosen mit in ND und Vc verschiedener Melodie

Datum Tag oder Fest ND I Vc Vorbild ND Vorbild Vc

Sonntag n. W. Splendor patris eigen Superne Sonntag n. W. In excelsis Splendor ND Congaudentes Osterwoche Zima vetus Laudes crucis eigen Osterwoche Lux illuxit dom. Superne Interni festi

5 Die Melodien von Saint-Victor sind in den zitierten Ausgaben von MISSET-AuBRY bzw. PREVOST enthalten, die wohl auch einmal durch eine moderne Faksimileausgabe zu ersetzen wiren, die Melo-

dien von Notre-Dame sind in Faksimile publiziert bei R. J. HESBERT, Le prosaire de la Sainte-Chapelle (Monumenta musicae sacrae I), Macon 1952.

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Page 23: Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 119

Datum Tag oder Fest ND I Vc Vorbild

Osterwoche Sexta passus eigen O Maria stella Osterwoche Salve dies dierum eigen eigen Sonntag nach Postquam hostem eigen Laudes crucis Himmelfahrt Pfingstwoche Lux iocunda eigen Laudes crucis Pfingstwoche Profitentes eigen Laudes crucis

27. 12. Joh. evang. Gratulemur ad f. Salve mater Gaude Roma Vc 29. 12. Thomas Cant. Gaude syon et let. Laudes crucis Prunis Vc 22. 1. Vincenz Ecce dies preoptata eigen 25. 1. cony. Pauli Corde voce pulsa Laudes crucis Laudes crucis

(Rest) 30. 6. Petrus Gaude Roma Salve mater eigen 6. 7. Aposteloktav Roma Petro Laudes crucis Prunis Vc

10. 8. Laurentius Prunis datum Laudes crucis eigen (15. 8.) Woche nach ass. Ave virgo/Nos eigen locundare Vc. 21. 9. Matheus evang. Jocundare eigen eigen 11. 11. Martin Gaude syon que Salve dies ND Salve dies Vc

diem 30. 11. Andreas Exultemus et 1. Salve mater Mane prima

Kirchweih Quam dilecta eigen eigen

Was die Hiiufigkeit der Benutzung der jeweiligen Vorbilder betrifft, so 1iiBt sich das Ergebnis, zugleich in Prozentzahlen ausgedriickt, leicht in der folgenden Auf-

stellung iibersehen.

ND: Laudes crucis 5 24 o/o Superne 1 5 o/o Salve mater 3 14 o/o Splendor ND 1 5 o/o Salve dies ND 1 5 o/o eigen 10 48 o/o

21

Vc: Laudes crucis 4 19 o/o Congaudentes 1 5 o/o Interni festi 1 5 o/o Mane prima 1 5 o/o Superne 1 5 o/o O Maria stelia 1 5 o/o Salve dies Vc 1 5 o/o Gaude Roma Vc 2 10 o/o Prunis Vc 2 10 o/o locundare Vc 1 5 o/o eigen 6 29 o/o

21

Das Ergebnis ist also wieder ein sehr charakteristisches: nur in 290/0 der Fille schafft Saint-Victor eigene Melodien, benutzt in 710/o dagegen Kontrafakturen, wiihrend Notre-Dame in fast der Hilfte der Fille (48 o/o) eigene Melodien verwendet und nur in etwas mehr als der Hilfte (52 /o) Kontrafakturen heranzieht. Wichtig ist zu bemerken, daB einerseits mittlere Prosen, Laudes crucis attollamus, Mane prima sabbati u. a., als Vorbilder benutzt werden, andererseits aber auch neuere, die in einigen Faillen, wie Salve Mater salvatoris u. a., eine Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsame Melodie haben, in anderen, wie Splendor patris ND oder Gaude Roma Vc usw., Sondermelodien sind, wobei letzteres sowohl in Notre-Dame wie in Saint-

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120 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

Victor vorkommt. Dabei ist der Prozentsatz der verwandten Sondermelodien in Notre-Dame (2 Melodien = 10 o/o) wesentlich kleiner als in Saint-Victor (6 Falle = 30 /o).

Es wird interessant sein, auch die in Notre-Dame wie die in Saint-Victor singu- liren Prosen zu untersuchen, um zu sehen, ob sich das Ergebnis dort bestaitigt. Die folgende Tabelle weist die Vorbilder der in Notre-Dame singulhren Prosen auf.

Die Vorbilder der in Notre-Dame singuliren Prosen

Datum Tag oder Fest ND Vorbild

Sonntag nach Weih. Nato nobis salvatorem Hodierne Sonntag nach Weih. Ante thronum virg. Laudes crucis Sonntage nach Ost. Alleluya agnus Victime

21. 1. Agnes Animemur ad ag. Salve mater 2. 2. purific. B.M.V. Lux advenit ven. eigen

28. 5. Germanus Par. ep. Lux illuxit triumph. Lux iocunda ND 24. 6. Joh. bapt. Precursoris et bapt. eigen 26. 7. Marcelus Par. ep. Gaude superna Superne matris (15. 8.) Woche nach ass. Ave mundi spes eigen

B. M. V. dto. Vergente mundi eigen

29. 8. decoll. Joh. bapt Precursorem summi Laudes crucis 1. 9. Egidius Promat pia vox eigen

(8. 9.) Woche nach nat. Res est admirabilis Mane prima B. M. V. dto. Ave mater iesu Salve mater

14. 9. exalt. crucis Salve crux arbor Ave Maria 4. 10. Aurea Virgines egregie fremd oder ilter

18. 10. Lucas Psallat chorus eigen 13. 11. Gendulph Par. ep. Ecce magno sac. Laudes crucis 19. 11. Elizabeth Mulier laudabilis Virgines egregie

Kirchweih Jerusalem et syon Salve dies ND

Studiert man wieder, welche Vorbilder vorkommen und wie oft jedes von ihnen, so zeigt die folgende Aufstellung das Resultat.

Laudes crucis 3 15 o/o Hodierne 1 5 o/o Victime 1 5 o/o Salve mater 2 10 o/o Superne 1 5 o/o Mane prima 1 5 o/o Ave Maria 1 5 o/o Virgines egregie 1 5 O/o Lux iocunda 1 5 o/o Salve dies 1 5 o/o fremd 6 3o /o

20

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H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 121

Es sind also mittlere und neuere Prosen unter den Vorbildern vertreten -, da6 Sondermelodien nicht vorkommen, mag Zufall sein, entspricht aber der vorigen Tabelle, wo Notre-Dame ja auch nur 100/o Sondermelodien benutzte. DaB der Prozentsatz der Neuschipfungen auf 30%/o gegeniiber 48%/o in der vorigen Tabelle zuriickgegangen ist, erfordert Beachtung.

Die entsprechenden Verhiltnisse gehen fiir Saint-Victor aus der folgenden Tabelle hervor.

Die Vorbilder der in Saint-Victor singuldiren Prosen

Datum Tag oder Fest Vc Vorbild

24. 12. Weihnachten In natale salvatoris Zima vetus Vc 13. 1. Dreik6nigsoktav Virgo mater salvatoris locundare Vc

Pfingstzeit Veni sancte spiritus fremd 27. 7. Verklairung Christi Letabundi/Ad hon. Laudes crucis 31. 12. Sylvester Jubilemus/Pax O Maria stella 25. 1. cony. Pauli Jubilemus/Quando Hodierne 2. 2. purific. B. M. V. Templum cordis O Maria stella 1. 5. Philipp/Jacob Cor angustum Gaude Roma Vc

17. 6. reliq. Victoris Ex radice Gaude Roma Vc 21. 7. Victor Ecce dies/Mente Prunis Vc (15.8.) Woche nach ass. Ave virgo/Tota O Maria stella

B. M. Woche nach ass. Gratulemur in hac Zima vetus Vc B. M.

2. 10. Leodegar Cordis sonet Prunis Vc 28. 10. Simon/Judas Stola regni Prunis Vc 21. 12. Thomas apost. Congaudeant Mane prima

Die einzelnen Vorbilder und ihre Hdiufigkeit zeigt die folgende Aufstellung.

Laudes crucis 1 7 o/o Hodierne 1 7 O/o O Maria stella 3 20 o/o Mane prima 1 7 o/o Zima vetus Vc 2 13 o/o locundare Vc 1 7 o/o Gaude Roma Vc 2 13 o/o Prunis Vc 3 20 o/o fremd 1 7 o/o

15

Das Ergebnis stimmt aufs beste mit dem oben gewonnenen tiberein: Als Vorbilder verwendet Saint-Victor sowohl mittlere wie neue Prosen, wobei der Prozentsatz der Sondermelodien wieder weit h6her ist als in Notre-Dame - 8 F5ille (53 o/o) gegen keinen -, er ist diesmal allerdings besonders hoch, denn die vorige Tabelle zeigte ja nur 30 /o. Umgekehrt ist die Zahl der Neusch6pfungen besonders klein - ntimlich

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122 H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor

keine. Sie ist also wie in Notre-Dame erheblich zuriickgegangen, dort von 48 /o auf 30 /o, hier von 29 O/o auf 0 /o. Dabei ist das Hauptergebnis, daB Notre-Dame erheb- lich mehr Neusch6pfungen aufweist als Saint-Victor, erhalten geblieben: 300/o

gegen 0 o/o. Mit Hilfe dieser charakteristischen Resultate iiber die unterschiedliche Kompo-

sitionstechnik von Notre-Dame und Saint-Victor kann man nun den iibriggebliebenen Grundbestand der beiden religi6sen Zentren (auch Saint-Victor war von weitreichen- der Bedeutung - war es doch eines der vier Hauptkl6ster der Augustiner, dem rund 150 Abteien, Prioreien und Pfarren unterstanden) untersuchen. Die folgende Tabelle

zeigt die verwendeten Vorbilder und ihre Kontrafakta.

Die Vorbilder der Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsamen Prosen

Datum Tag oder Fest ND I Vc Vorbild

Osterwoche Ecce dies celebris Mane prima Osterwoche Mundi renovatio Victime Pfingstwoche Simplex in essentia Mane prima Pfingstwoche Qui procedis eigen

26. 12. Stephanus Heri mundus Laudes crucis 31. 12. Silvester Superne matris eigen 3. 1. Genovefa Genovefe soll. Superne matris

25. 3. annunt. B. M. V. Salve mater salv. eigen 22. 4. Dionysius Gaude prole Mane prima 24. 6. Joh. bapt. Ad honorem tuum Congaudentes (15. 8.) Woche n. ass. B. M. Hodierne lux dei eigen

Woche n. ass. B. M. O Maria stella maris eigen 24. 8. Bartholomeus Laudemus omnes Superne matris 29. 9. Michael Laus erumpat Laudes crucis 25. 11. Katherina Vox sonora Laudes crucis

Kirchweihe Rex salomon O Maria stella

Die Vorbilder und die Haiufigkeit ihrer Verwendung zeigt wieder eine kurze

Aufstellung. Laudes crucis 3 19 o/o Mane prima 3 19 o/o Victime 1 6 o/o Congaudentes 1 6 o/o Superne matris 2 12,5 o/o O Maria stella 1 6 o/o eigen 5 31 0/0

16

Die Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsamen Texte mit in beiden identischer Melodie verwenden also mittlere und neue Prosen als Vorbilder, aber von letzteren keine Sondermelodien. Den 69 O/o Kontrafakturen stehen dabei 31 O/o Eigenmelodien

gegeniiber. Dies sind aufs allergenaueste (s. oben 700/0 gegen 300/0) die Zahlen, die

sich auch bei der Untersuchung der in Notre-Dame singuliren Prosen ergeben haben

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Page 27: Notre-Dame und Saint-Victor. Repertoire-Studien zur Geschichte der gereimten Prosen

H. Husmann: Notre-Dame und Saint-Victor 123

und wie sie in nicht allzusehr abweichendem Verhiltnis (52 o/o gegen 48 O/o) auch bei den Sondermelodien von Notre-Dame auftreten. Damit ergibt sich eine ganz ein- deutige Entscheidung tiber die Zugeh6rigkeit des Grundkorpus der Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsamen Prosen: sie zeigen die Kompositionstechnik von Notre- Dame und k6nnen, im Falle nur Notre-Dame oder Saint-Victor in Frage kommen (und

daB das der Fall ist, zeigt bei vielen Stiicken die fIberlieferung), nur in Notre-Dame komponiert worden sein. Oder um es besser umgekehrt auszudriicken: die in Notre- Dame singuliren Stiicke haben die Kompositionstechnik der ilteren Notre-Dame- Prosen, die mit ihren Melodien in Saint-Victor ebenfalls verwendet werden, bei- behalten, wihrend die in Saint-Victor singuliren Prosen eine modernere Technik zeigen, die durch gr6t3ere Bevorzugung der Kontrafakturen, insbesondere auf jiingere eigene Sondermelodien, gekennzeichnet sind. Dann kann man nunmehr aber auch einen weiteren Schlu3 wagen: da auch die Kompositionstechnik der Notre-Dame eigenen Melodien gemeinsamer Texte der Technik von Notre-Dame sehr nahesteht,

wihrend die Saint-Victor eigenen Melodien dieser Texte der Technik der in Saint- Victor singuliren Prosen niher verwandt sind, ergibt sich das geschichtlich einfachere und iiberzeugendere Bild iiber die Entstehung der Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsamen Texte mit in beiden verschiedenen Melodien dann, wenn man diese Texte Notre-Dame zuteilt: die Notre-Dame-Melodien wiren dann die Original- melodien, die Saint-Victor spaiter durch andere Melodien in seiner moderneren Tech- nik ersetzt hitte. Die umgekehrte Annahme, daB die Originalmelodien in Saint- Victor erhalten sind (und mit den Texten dort entstanden) und in Notre-Dame durch Melodien in dessen ilterer Technik, wie sie in den Notre-Dame und Saint-Victor gemeinsamen Melodien vorliegt, zuriickentwickelt wurden, ist offensichtlich sehr viel schwerer vorstellbar. Dies Gesamtresultat der Untersuchung der Kompositionstechnik der Prosen von Notre-Dame und Saint-Victor wird sich in der folgenden Untersuchung der Verbreitung der Pariser Prosen auf das beste bestitigen. (Schlu3 folgt)

Die Erforschung mittelalterlicher Musik in der Romantik und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund

TIBOR KNEIF, GOTTINGEN

1. Monographie - die neue Form der Forschung 2. Die Erscheinungsformen der Romantik 3. Irrationalismus 4. Inadliquate Musikanschauung 5. Musikgeschichte als NaturprozeB 6. Die Idee von der Nation 7. Neuer Universalismus 8. Sammlungen von alten Volksliedern

Die musikalische Mediivistik ist - wie die moderne, historisch orientierte Musik- forschung iiberhaupt - ein ,,Abk*'mmling der romantischen Geisteswissenschaften" (W. Gurlitt); ihre Entstehung bildet nicht nur ein Kapitel gelehrter Forschung, son-

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